Vergiß mein nicht
Bibliothek der besten Romane
Band 378
Roman von
Waltraud Kebla.
Verlag moderner Lektüre, G. m. b. H., Berlin 26,
Elisabethufer 44.
Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten.
Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G.m.b.H.
Berlin.
1. Kapitel
Ein warmer Aprilabend. Fast schon sommerlich lau die Luft. Wie Maiahnen war’s. Und all die Mädels, die aus dem Seitenportal des Warenhauses Gebrüder Freymann herausströmten und lachend und schwatzend sich über den Holzmarkt verteilten, an dem der mächtige Bau des Kaufhauses protzig sich erhob, hatten leuchtende Augen und Maisehnen im Herzen, – alle, ob jung, ob alt, ob schön oder häßlich.
Dicht neben der Straßenlaterne gegenüber dem Ausgang stand auch heute wieder derselbe Herr im karierten Ulster und weichen, gestreiften Filzhut mit kleiner Krempe. Stand und hatte im Mundwinkel wieder die glimmende Zigarette und die Hände in den aufgesteppten, großen Manteltaschen.
Die Mädels stießen sich an, schauten nach ihm hin. Sie kannten ihn schon. Zum dritten Male sahen sie ihn jetzt. Drei Abende hintereinander an derselben Stelle ein so sehr nach einem Amerikaner oder Engländer ausschauender Herr, – das konnte ihnen nicht entgehen.
Sie stießen sich an, machten sich gegenseitig auf ihn aufmerksam, kicherten verstohlen. Aber das harmlose, etwas kokette Lachen verstummte stets, wenn der Fremde mit seinen starren, farblosen Augen die übermütigen Gesichter streifte. In diesen Augen war ein unnennbares Etwas, das jede Heiterkeit verscheuchte, das eine ganz leise Angst hervorrief.
Hilde Kröhnke schritt Arm in Arm mit ihrer Intimsten Lisbeth Gronau an dem Fremden vorüber, tat, als bemerke sie ihn gar nicht.
Sie gingen nach dem Stadttheater zu, dessen drei farbige, breite Foyerfenster bereits erleuchtet waren.
„Du, Hilde, das war er wieder!“ flüsterte Lisbeth der blonden Freundin zu. „Scheußliche Augen hat er. So – so wie die eines erblindeten Hundes, so milchig, so ohne Ausdruck.“
„Laß doch den Menschen! Was geht er uns an!“ meinte Hilde fast ärgerlich. „Natürlich irgend ein Ausländer, der ein Abenteuer sucht.“
Lisbeth drückte Hildes Arm. „Du hast gut reden! Du bist versorgt! Aber unsereiner! Wenn ich so denke, ich sollte unverheiratet bleiben, alte Jungfer werden und tagaus, tagein nichts haben als das Warenhaus als Pflichtenkreis, – Hilde, – mir graut davor.“
„Der Karierte mit den Milchaugen wird als ernsthafter Freier wohl kaum für jemand von uns in Betracht kommen,“ sagte Hilde zerstreut und spähte nach Winfried aus.
„Da magst du recht haben. Aber – was kann er hier eigentlich beabsichtigen? Weshalb steht er nun schon drei Abende dort neben der Laterne? – Anschluß sucht er, ein Abenteuer? – Hm, das glaube ich nicht, Hilde, wirklich nicht. Der hat bisher nicht eine einzige von uns angesprochen oder ist einer nachgestiegen. Nur – so – so durchdringend mustern tut er stets jede, die aus der Tür tritt, so, als ob er auf ein bekanntes Gesicht hofft.“
Hilde hatte Winfried bemerkt, der soeben vom Kohlenmarkt her auf sie zukam.
Winfried Berger war Steuermann auf dem Dampfer ‚Weichsel‘, der im Sommer die regelmäßigern Fahrten von Danzig nach Hela machte. Der stattliche, schlanke Mann in dem blauen Tuchanzug mit der goldbetreßten Mütze und dem blonden Spitzbart winkte schon von weitem fröhlich mit der Hand.
„Na – dann bin ich ja in Ungnade entlassen, wenn der Schatz in Sicht ist,“ lachte Lisbeth und zog ihren Arm aus dem der Freundin. „Ich verschwinde – auf Wiedersehen!“
Indessen hatte Winfried seine Hilde begrüßt, hatte heiter gesagt: „Schatz, ich bin den Abend frei. Wir gehen ins Wilhelmtheater. Dort treten jetzt die berühmten indischen Fakire auf. Die mußt du sehen. Biletts habe glich schon. Ich muß nur noch in der Wohnung Kapitän Rümkers eine Bestellung ausrichten. Beeil’ dich also, Hillusch, daß du nach Hause kommst, noch einen Happen genießt und dich fein machstrecht fein! Wir haben Logenplätze.“
Sie trennten sich vor dem Seiteneingang des Stadttheaters, nickten sich heiter zu, tauschten einen zärtlichen Händedruck und entfernten sich in entgegengesetzter Richtung. –
Berger betrat fünf Minuten drauf in der Hundegasse eins der schmalen, hohen, spitzgiebeligen Häuser, erledigte die Bestellung an Kapitän Rümler und war wieder zehn Minuten drauf in der Danziger Altstadt mit ihren engen Gassen, wunderlichen Häuschen und lärmenden Kinderscharen.
Der Oberlehrer a.D. Doktor Magnus Kröhnke wohnte in einem dieser uralten Häuschen in der Spendhausneugasse. Die mit großen Eisennägeln versehene, verwitterte Haustür führte in einen stockdunklen Flur. Aber Winfried Berger wußte hier Bescheid, kam glücklich die steile Treppe empor und klopfte sofort an die Kückentür.
Magnus Kröhnkes heisere Stimme rief ‚Herein‘.
Der Steuermann streckte seinem wie immer mit Schlafrock und Morgenschuhen bekleideten Schwiegervater die Hand hin. Kröhnke stand van klärten und briet auf der Pfanne Kartoffeln. Die Küche war angefüllt mit Bratendunst und Tabakrauch, denn selbst jetzt hatte der alte Herr die kurze Jägerpfeife im Munde.
„Wie geht’s, Vater?“ meinte Berger gewohnheitsgemäß.
Doktor Kröhnke zuckte nur die Achseln, schaute schon wieder auf die Pfanne. Sein bartloses, bleiches, faltiges Gesicht verlor nie den verbitterten, feindseligen Ausdruck. Hinter jedem freundlichen Wort witterte er Mitleid. Und – er haßte das Mitleid! Er argwöhnte stets, man bedauere ihn, der seine amtliche Stellung vor vielen Jahren infolge Verurteilung zu zweijähriger Gefängnisstrafe wegen fahrlässiger Tötung verloren hatte, der bald nach Verbüßung der Strafe seine vergrämte Frau begraben mußte und der fortan als meschenscheuer Sonderling in den drei Stuben des ersten Stockes von Spendhausneugasse 16 zusammen mit seinem einzigen Kinde wohnte, mühselig sich durch schriftstellerische Arbeiten durchschlug und nebenbei noch seiner großen Leidenschaft, dem Sammeln von Kuriositäten, mit fast kindischem Eifer frönte.
„Wo ist Hilde?“ meinte er nun und drehte das Gas aus. „Sie müßte längst daheim sein. Hast du sie nicht getroffen, Winfried?“
Der Steuermann schüttelte überrascht den Kopf.
„Wie, sie ist nicht hier, Vater? – Ja, ich habe sie getroffen. Wir wollten ins Wilhelmtheater,“ sagte er grübelnd. „Ob sie noch zum Friseur gegangen ist?“
Kröhnke legte die Bratkartoffeln auf einen Teller.
„Das sähe ihr ähnlich!“ brummte er. „Du wirst überhaupt achtgeben müssen, Winfried, daß sie diese übertriebene Putzsucht läßt. Na – ich habe dich ja gewarnt, bevor ihr euch verlobtet. Hilde hat mehr Panksches Blut in den Adern, als ihr dienlich. Meine gute Frau konnte sich’s auch schwer abgewöhnen, nur seidene Unterröcke zu tragen. Die Panks waren alle so sehr verhöhnt. Und als dann das Reedereigeschäft fallierte1, da gab’s Tränen und Lamento genug, weil nun plötzlich mit Pfennigen gerechnet werden mußte.“
Er seufzte. „Ein vernünftiger Mann heiratet überhaupt nicht, Winfried. Weiber sind lästige Anhängsel und unzulängliche Geschöpfe, van der Natur mit Fehlern und Schwächen bedacht, zu denen auch die Eitelkeit gehört. Auch meine Anna hatte so manches zu verbergen. Was – dahinter bin ich nie gekommen, habe mir auch keine große Mühe gegeben, es zu ergründen, da ich mir schon denken konnte, daß nichts Aufregendes dahinter steckte. Aber – diese Sucht nach Geheimniskrämerei stört. Also, Winfried, – merke dir’s: Halte die Börse zu, wenn’s um Putz geht, und drücke die Augen zu, wenn du Hilde auf kleinen Lügen ertappst. Drücke sie zu, sonst hast du nur Ärger.“
Steuermann Berger schaute ihm mit gerunzelter Stirn zu. – Sollte man nun über den Alten, der sein eigenes Kind dem Verlobten gegenüber förmlich anschwärzte, sich ärgern oder über diese Reden lachen?! – Gewiß, Hilde war eitel. Der größte Teil ihres Verdienstes ging für ihre Kleidung drauf. Zur Wirtschaftskasse steuerte sie wenig bei, obwohl sie wußte, wie knapp des Vaters Einnahmen waren.
Das schoß Berger jetzt so durch den Kopf.
Er fühlte, die frohe Stimmung von vorhin war wie weggewischt. – Der Alte hatte ja nicht so ganz unrecht mit seiner Warnung. Anfang Juni wollte man heiraten. Und – das Gehalt als Steuermann war klein, zwang zum Haushalten.
Berger stand jetzt neben dem Tisch, trommelte mit den Fingerspitzen auf die Platte.
„Natürlich werden wir zu spät ins Theater kommen!“ meinte er gereizt. „So ein Unfug, noch zum Friseur zu laufen. Hätte ich nur nichts davon gesagt, daß wir Logenplätze haben.“
Die Kuckuckuhr verkündete mit drei Rufen dreiviertel acht. – Der blonde Steuermann sprang auf.
„Ich gehe mal zu Friseur Schneider, Vater. Vielleicht sitzt Hilde dort und wartet, bis sie dran ist. Die Weiber sind wirklich –“
Da war er schon zur Tür hinaus.
Doktor Kröhnke aß bedächtig. Seine kleinen Augen waren hinter den Brillengläsern frömmsten fast ganz zusammengekniffen. Seine Gedanken wurden zu leisem Selbstgespräch.
„– kann’s doch niemandem sagen, daß an allem, was Panksches Blut in sich hat, nichts dran ist – gar nichts! Habe den Berger weiß Gott abgeschreckt! Aber – wenn’s erst mal um die sogenannte Liebe geht, werden die Klügsten zu Narren.“
Er grübelte eine Weile vor sich hin.
„– sehr gern rausgekriegt, sehr gern!“ murmelte er dann finster. „Aber sie war so schlau. Und log so gewandt! Log –! Weiß der Himmel, was sie immer in der verufenen Gasse wollte! Das Haus hatte ja zwei Ausgänge. Vielleicht ging sie nur deshalb dorthin und nachher – nachher, – ja, wohin ging sie dann?! – Sie haben alle ihre Geheimnisse, alle! Armer Berger! Armer Narr!“
Er seufzte, lachte dann kurz auf.
Da kehrte der Steuermann hastig zurück.
„Vater – sie ist nicht beim Friseur,“ rief er. „Ich begreife nicht, wo in aller Welt sie stecken rann. Ich bin wirklich schon etwas ängstlich. Vielleicht ist ihr was zugestoßen –“
Der alte Mann hatte sich zurückgelehnt, schaute seinen Schwiegersohn gelassen an, meinte:
„Ich wundere mich bekanntlich über nichts mehr – über nichts! Ich habe es mir abgewöhnt, als ich einen Monat verheiratet war. Besser – da fing ich an, mir’s abzugewöhnen. Ganz tat ich’s im Gefängnis beim Filzpantoffelnähen. Wenn ich diese angenehme Arbeit erledigt und mir dabei ins Gedächtnis zurief, daß ich bestraft worden war, weil ich als Physiklehrer beim Experimentieren zwei Säuren verwechselte und weil es dann die furchtbare Explosion gab, der die beiden armen Jungen zum Opfer fielen, dann –“
„Vater – das kenne ich ja schon alles,“ unterbrach Berger ihn ungeduldig. „Denkst du denn gar nicht an Hilde?! Es muß gleich acht schlagen! Vierzig Minuten müßte sie schon hier sein. – Wo ist sie?!“
Doktor Kröhnke hob die mageren Schultern.
„Sie haben alle ihre Geheimnisse, Winfried, – alle! Sie wird schon kommen. Und dann wird sie lachen, dir einen Kuß geben und erzählen, – irgend was! Und du wirst es glauben müssen. Glaubst du es nicht, dann mault sie.“
Berger hatte eine heftige Erwiderung auf den Lippen, schwieg jedoch, setzte sich wieder ans Fenster und steckte sich eine Zigarre an.
Um neun Uhr hielt er es nicht länger aus, ging zur Polizei. Um zehn Uhr war Hilde noch nicht gefunden. Um elf Uhr war auch Kriminalinspektor Detlefsen überzeugt, daß hier irgend etwas besonderes vorliege.
2. Kapitel
In Langfuhr, dem Vorort von Danzig, lag am Ende der Hauptstraße nach Olivia zu inmitten eines alten Gartens die Villa des Oberingenieurs der Danziger Schichau-Werft, des lebensfrohen, fünfundvierzigjährigen Herrn Waldemar Raßmussen.
Am Abend nach dem bisher unaufgeklärt gebliebenen Verschwinden der schönen Hilde Kröhnke gab Raßmussen ein Herrenessen zu Ehren des Mexikaners Alvaro Maltavesta, der mit Schichau wegen Ankaufs zweier Handelsdampfer in Unterhandlung stand.
In dem großen, dreifenstrigen Speisezimmer ging es um neun Uhr bereits sehr lebhaft zu. Raßmussen liebte einen guten Tropfen. Mit Abstinenzlern verkehrte er nicht. Wer nicht trinkfest, war für ihn kein Mann.
Die Deckenbeleuchtung mit ihren dreißig matten Birnen bestrahlte die weingeröteten, angeregten Gesichter von elf Herren. Wenn die Unterhaltung trotz Burgunder und altem Madeira, den es zu Fisch und Vorgericht gegeben, doch nie auf ein zweideutiges Gebiete hinüberglitt, wie dies zumeist in Herrenkreisen nach den ersten Gängen zu geschehen pflegt, so lag dies lediglich an dem einzigen weiblichen Mitglied der Tafelrunde, an Frau Helga Meizen.
Sie, der erklärte Liebling Raßmussens, der ihrem Gatten erst die Anstellung als Chemiker bei der Schichau-Werft besorgt hatte, durfte nie fehlen, wenn der Oberingenieur eins seiner berühmten Diners oder Soupers gab.
„Eine Dame mit an der Tafel wirkt wie Selter – dämpfend!“ meinte er stets, wenn jemand sich wunderte, daß man bei ihm nie ganz ‚unter uns Männern‘ war.
Helga Meizen, die aus Berlin stammte und von der niemand so recht wußte, was ihre Eltern gewesen, war ein Typ von Weib für sich. Obwohl erst dreiundzwanzig Jahre alt und erst ein halbes Jahr verheiratet, verfüge sie über eine gesellschaftliche Sicherheit und eine Fähigkeit, die große Dame zu spielen, die im Verein mit ihrer Lebhaftigkeit, ihrer sonnigen Heiterkeit und unverwüstlich guten Laune sowie ihrer Neigung, in scheinbar harmloser Weise mit jungen und alten Herren zu kokettieren, ein ihrem pikanten Äußeren ein Frauenbild von ganz eigenem Reiz abgaben.
Daß sie gerade den so überaus bescheidenen, stillen und ernsten Chemiker Doktor Meizen geheiratet hatte, war allen ein Rätsel. Freilich hatte Erich Meizen etwas in die Wagschale zu werfen, das nicht vielen Männern beschieden: eine tadellose Figur und einen Charakterkopf mit etwas melancholischen Zügen, zu dem die braunen Schwärmeraugen und ein schön gezeichneter Mund vorzüglich paßten. –
Raßmussen hatte das junge Paar kurz nach dessen Hochzeit in Berlin kennen gelernt und sofort für diese beiden im Charakter so grundverschiedenen Menschen eine besondere Zuneigung gefaßt. Nicht etwa, daß Waldemar Raßmussen dann lediglich der pikanten Frau Helga wegen dem Chemiker die gut bezahlte Stelle in Danzig sofort verschafft hatte. Nein – das Kapitel Weib war für den Oberingenieur endgültig abgeschlossen nach der einen herben Enttäuschung, die er als Dreißigjähriger erlebt hatte. –
Es stand auch noch nicht ganz fest, ob diese Sympathie mehr Frau Helga oder ihrem Gatten gehörte. Tatsache war jedenfalls, daß diese Freundschaft zwischen ihm und dem Ehepaare von seiner Seite durchaus selbstlos und ohne jeden Nebengedanken eingebrannt Streiches blieb. –
Helga saß zwischen Raßmussen und dem eleganten und so interessant aussehenden Sennor Alvaro Maltavesta, der das Deutsche ziemlich geläufig sprach.
Maltavesta hob soeben sein Glas gegen die schöne Frau, trank ihr zu mit den Worten:
„Sie verdienten, Mexikanerin zu sein, meine Gnädige.“
Seiner schwarzen Augen blickten sie dabei huldigend an.
Frau Helga lächelte schalkhaft. „Sie scheinen Ihre Landsmänninen sehr hoch einzuschätzen, Sennor,“ meinte sie und tauchte ihr Gesicht in die wundervollen Rosen, die er ihr vorhin überreich hatte.
„Gewiß. Die vornehme Mexikanerin ist die Französin Amerikas, schick, elegant, geistsprühend und temperamentvoll.“
„So – und trotzdem sind Sie noch unbeweibt, Sennor Maltavesta?“ fragte sie scherzend.
Sein gelbliches, mageres Gesicht mit dem eckigen Kinn und der ebenso brutal energischen Stirn wurde ernst.
„Ich – habe gesucht!“ sagte er leise mit seltsamer Betonung des letzten Wortes, wobei er Frau Helga aus jetzt halb verschleierten Augen fast wehmütig anschaute.
Helga wurde plötzlich eigentümlich beklommen zumute. Sie senkte den Kopf.
„Was suchten Sie denn?“ meinte sie zögernd.
„Das sage ich Ihnen nachher im Wintergarten, gnädige Frau. An dieser Tafel erzähle ich nichts, was in ein Gebiet gehört, das von vielen Menschen mit einem Achselzucken abgetan wird. Mein damaliges Erlebnis ist nichts für eine Runde übermütiger Zecher. Sie sehen – man ist auf uns schon aufmerksam geworden. Ihr Gatte schaut dauernd zu uns herüber. Ist er eifersüchtig?“
Helga schüttelte den Bann ab.
„Erich – und eifersüchtig?“ lächelte sie. „Nein. Dazu kennt er mich zu gut.“ Das klang wie eine Absage an Sennor Maltavesta, wie eine Warnung, sich ja nicht irgend welchen Hoffnungen auf einen ernsteren Flirt hinzugeben.
Raßmussen beugte sich jetzt vor und rief Maltavesta zu:
„Sennor Alvaro, eine derartige Beschlagnahme der einzigen hier anwesenden Vertreterin des schönen Geschlechts ist streng verboten! – Liebe Frau Doktor, Sie haben gar nicht gehört, welch interessanten Gegenstand wir soeben hier behandelten. Haben Sie schon das Neueste über das Verschwinden der blonden Freymann-Verkäuferin in der Zeitung gelesen? Heute mittag brachte der Anschlag an den Säulen, den der besorgte Bräutigam veranlaßt hat, eigentlich nichts besonderes, eben nur die Tatsache, daß Fräulein Kröhnke gestern abend nicht heimgekehrt ist und daß –“
Rechtsanwalt Bernhardi am anderen Ende der Tafel hatte ein Zeitungsblatt geschwenkt und den Oberingenieur zu dem Schweigen veranlaßt.
„Ich lese vor, gnädige Frau,“ meinte Bernhardi, der mit seinem Monokel und spärlich behaarten Schädel wie ein Lebemann aus einem Witzblatt aussah. Dabei war er aber der gesuchteste Strafverteidiger Danzigs und ein Original, drückte auf der Straße manchem abgerissenen Pennbruder kameradschaftlich die Hand und nahm jede Einladung von Seiten seiner fragwürdigen Klienten zu einem Schnaps ohne weiteres an.
Er las sehr laut. Die Hauptsachen betonte er besonders.
„– haben verschiedene Verkäuferinnen ausgesagt, so auch die beste Freundin Hilde Kröhnkes, daß an den letzten drei Abenden ein Mann, der wie ein Amerikaner oder Engländer aussah, vor dem Seitenausgang des Warenhauses gestanden und die herausströmenden Angestellten auffallend scharf gemustert habe –“
Der Rechtsanwalt beendete den Artikel, ließ dann das Blatt sinken und meinte achselzuckend:
„Ich möchte fast annehmen, hier liegt eine freiwillige Entfernung vor. Die Kröhnke wird – sie soll ja sehr putz- und genußsüchtig sein –“ sein Blick glitt schnell zu Frau Helga hin – „vielleicht eingesehen haben, daß der brave Steuermann Berger ihr das doch nicht bieten könne, was sie vom Leben verlangt.“
Maltavesta hatte gespannt zugehört. Als Bernhardi die Sätze von dem geheimnisvollen Fremden vorlas, flog ein ärgerlicher Ausdruck über sein Gesicht. Dann schaute er nachdenklich auf den Teller, wobei seine Linke nervös mit der silbernen Gabel spielte.
Helga hatte Bernhardis Blick bemerkt, war flüchtig errötet und hatte unwillkürlich zu ihrem Manne hingesehen, begegnete dessen ernsten, schwermütigen Augen und preßte nun wie im Trotz die vollen Lippen fest aufeinander.
Raßmussen merkte, daß etwas wie elektrische Spannung in der Luft lag. Bernhardi war als rücksichtslos bekannt. Vielleicht spitzte sich dieses Gespräch noch mehr zu. Das wollte er nicht.
„Herrschaften,“ meinte er in seiner zwanglosen Art, „so laßt doch diese Geschichte ruhen! Ich weiß ein viel interessanteres Thema. Im Wilhelmtheater treten jetzt indische Fakire auf, die Unglaubliches zeigen, Dinge, die über unser Begriffsvermögen hinausgehen.“ Er schilderte einige der Vorführungen, worauf Maltavesta dann sehr ernst und mit einem geistesabwesenden Blick in den Augen hinzufügte:
„Es gibt Dinge, die wir mit unseren Sinnen einfach nicht fassen können. Das ist richtig. Gut – wem derartiges nie begegnet. Unsere Seele wird das stille Grauen nie mehr los, sofern wir einmal einen zaghaften Blick über die Mauer werfen, die uns von anderen Welten trennt, anderen Fähigkeiten, anderen Wesen –“
An der geschmackvoll gedeckten Tafel, die vor Kristall, Silber und vergoldeten Tafelgeräten glänzte, war es plötzlich totenstill geworden. Des Mexikaners weltentrückter Gesichtsausdruck, seine seltsam klanglose Stimme, die mit einem Male ihre sonst so angenehm weiche Tonfärbung verloren hatte, wirkten wie ein Zauber, der die Gemüter in Bann schlug.
In diese Stille fielen Frau Helgas zaudernd ausgesprochene Worte hinein: „Bitte – erzählen Sie doch, was Ihnen in dieser Beziehung begegnet ist, Sennor.“
Maltavesta schaute schräg aufwärts nach den alten Zinntellern hin, die an der Wand über der Anrichte hingen. Er saß ganz regungslos.
Eine Weile schwieg er. Dann begann er mit derselben gleichsam leeren, fremden Stimme:
„In den Sandwüsten Nordmexikos hausen die Reste eines uralten Kulturvolks, das sich selbst Mohwabiti, die Gestorbenen, nennt. Sie leben wie die Tiere menschenscheu, als Menschenhasser. Auf einem Jagdausflug von einer meiner Hazienden aus verirrte ich mich, rettete dann ein Kind aus den Zähnen und Krallen eines Bären, – einen braunen, völlig nackten Knaben, verband seine Wunden und ließ mich dann von ihm nach einer der Höhlen führen, in dem einige dreißig Mohwabiti wohnten. Es waren die ersten, die ich sah. Ich war überrascht. Ich hatte mir diese Indianer ganz anders vorgestellt. Nie wieder sah ich so viel Intelligenz und Schwermut auf den Gesichtern von Rothäuten wie dort. Die Mutter des Knaben erschöpfte sich in Danksagungen, von denen ich kein Wort verstand. Ich merkte, wie gern sie mir bewiesen hätte, was ihr Herz bewegte. Es war ein tadellos gewachsenes Weib mit wahrhaft königlicher Haltung. Ihr Antlitz hätte jedem Maler als Modell zu einer Pythia, einer Wahrsagerin, genügt. Als ich den Trupp der Roten wieder verließ, begleitete die Frau mich noch ein Stück Wegs, bedeutete mir dann, ich solle ihr in eine Höhle folgen, die sich inmitten einer einzeln stehenden Felsgruppe befand. Sie zündete ein Feuer an, hockte sich davor und zeigte mir, daß ich mich hinter ihr an den Felsen lehnen solle. Nach einer Weile breitete Sie die Hände über den Flammen aus, senkte Sie bis mitten in die Glut. Und – das Feuer erlosch plötzlich. Nur die Holzstücke glühten noch. Dann entquollen der Feuerstelle weißliche Dämpfe, die allmählich Form und Gestalt annahmen und gleichsam zum Bildnis eines jungen, eigenartig liebreizenden Mädchens erstarrten.“
Maltavesta schwieg sekundenlang.
„Es war das Bild einer Europäerin,“ fuhr er noch leiser, noch eintöniger fort, „– eines Mädchens von vielleicht siebzehn Jahren, mit dunklem Haar, mit einem großen Strohhut, den ein Schleier gefällig schmückte und eine Hutnadel mit einem Kopf in Form einer Rose auf dem Haupte festhielt. Das helle Kleid war ein wenig ausgeschnitten. Um den Hals trug das Mädchen eine Kette –“
Der Mexikaner hatte die Augen jetzt geschlossen. Sein Gesicht zeigte einen geradezu verzückten Ausdruck.
Stille. Alles wartete auf die Fortsetzung. Aber – sie kam nicht. Maltavesta blieb stumm.
Raßmussen rüttelte ihn schließlich, indem er mit der Hand hinter Helgas Stuhl herumlangte.
„Sennor Alvaro – Sennor Alvaro!“
Der Mexikaner zuckte zusammen, riß die Augen auf, murmelte: „Pardon – ich war –“
Abermals führte er den Satz nicht zu Ende.
Vom Ende des Tisches Bernhardis laute, metallisch klingende Stimme:
„Ob Sie das nicht geträumt haben, Sennor?!“
Maltavesta wandte den Kopf.
„Nein, Herr Rechtsanwalt. Denn – sechs Jahren später bin ich demselben Mädchen begegnet, hier in Deutschland. – Hierüber spreche ich jedoch nicht gern.“
Raßmussen befahl dem Diener, Sekt zu bringen.
„Herrschaften, wir müssen den Eindruck dieser Erzählung Sennor Alvaros schleunigst wegspülen,“ rief er. „Die Stimmung muß eine andere werden. – Bernhardi – los, eine Ihrer berühmten Anekdoten – mit recht scherzhaftem Schluß!“
3. Kapitel
Eine Stunde drauf war das Diner beendet. Helga hatte ihrem Manne beim Mahlzeitsagen mit scheuem Blick auf sein jetzt düster umwölbtes Gesicht die Stirn zum Kusse geboten.
Eine nicht zu überwindende Unruhe war in ihr. Sie wußte nicht, worauf sie dieses schnellere Schlagen ihres Herzens, dieses ziellose Abschweifen ihrer Gedanken zurückführen sollte. Etwa darauf, was Maltavesta vorhin in so eintönigem und doch die Nerven so grausam aufpeitschendem Tonfall erzählt hatte? Glaubte sie wirklich, daß sie – sie jenes Mädchen sein könnte, die er als übernatürliche Erscheinung gesehen zu haben behauptete? Aber – hatte sie nicht als siebzehnjährige wirklich einen solchen Strohhut mit Schleier und Hutnadel mit Rosenkopf getragen und dazu um den Hals eine Kette! Woher konnte Maltavesta dies wissen – woher?! Gerade diese Einzelheiten?!
Der Mexikaner hatte den persischen Vorhang, der den Eingang zum Wintergarten bedeckte, gelüftet und blickte regungslos auf die gesenkten Kopfes Dastehende.
„Helga!“ flüsterte er dann. Eine unendliche Sehnsucht lag in den einen Wort.
Sie fuhr herum, hob unwillkürlich abwehrend die Hände.
Dann besann sie sich auf sich selbst; ging an ihm vorüber in den Wintergarten; er hielt für sie den Vorhang hoch wie ein Lakai; stolz und sicher ging sie, setzte sich dann in den Korbsessel neben die kleine Fontäne, stemmte die ausgeschnittenen Lackschuhe auf die Marmoreinfassung des Springbrunnens und spielte mit ihrem langstieligem Lorgnon, das ihr an dünner Goldkette um den Nacken hing.
Maltavesta stand neben ihr, stützte sich mit beiden Händen leicht auf die Lehne des zweiten Korbsessels.
„Was gibt Ihnen ein Recht, mich so vertraulich anzureden, wie Sie’s soeben im Speisezimmer taten?“ sagte sie mit erkünstelter Ruhe.
„Verzeihen Sie, gnädige Frau, daß ich mich so vergaß,“ meinte er wieder mit jener farblosen Stimme. „Ich will zu meiner Entschuldigung nur das eine bemerken: ich habe seit sechs Jahren jenes Mädchen gesucht, das die Indianerin mir damals als Erscheinung zeigte und das – mich krank vor Sehnsucht gemacht hat, so krank, daß ich bereits zwei Jahre Europa jetzt bereise, um – das Mädchen zu finden. – Ich – fand es, – als Gattin eines Anderen; fand es hier in Danzig vor einer Woche in einer Theaterloge, wo Raßmussen mich – Frau Helga Meizen vorstellte.“
Er zog den Korbsessel mehr abseits, setzte sich, stützte den Kopf in die Rechte, indem er mit den langen, gelblichen Fingern die Stirn umspannte, saß ohne jede Bewegung, starrte auf den gelblichen Kies hinab.
Helgas Gesicht glühte. Eine wilde Erregung trieb ihr das Blut durch die Adern. Sie sah sich hier plötzlich Geschehnissen gegenübergestellt, die sie nicht begriff.
„Das – das kann nicht sein,“ sagte sie nun stockend. „Wie – wie soll derartiges möglich sein! Wie kann ein Indianerweib in Mexiko –“
Sie hielt inne. Ihr war etwas eingefallen.
„Sie erwähnten bei Tisch eine Kette, die die Erscheinung um den Hals trug,“ sagte sie schnell. „Was war’s für eine Kette?“
„Eine Kette aus mattroten Korallen; heran hing ein kleines Medaillon in Form eines Vierklees,“ antwortete Maltavesta lauter als vorhin.
Hella stieß einen leisen Schrei aus.
„Mein Gott – auch das stimmt!“ hauchte sie geradezu erschüttert. „Mein Gott, – ich – ich werde das nie – nie fassen, nie verstehen!“
„Glauben Sie kennen, ich verstehe es,“ kam seine Stimme so trostlos an ihr Ohr. „Ich verstehe all das genau so wenig wie Sie und alle, denen ich’s berichte. Ich weiß nur eins: daß jene Erscheinung mich für mein ganzes Leben unglücklich gemacht hat. Meine Millionen hoffte ich dem Mädchen zu Füßen zu legen, mein Herz, meine unendliche Liebe –! Und – ich fand das Mädchen als eines Anderen Weib, – obwohl mir doch jene Indianerin angedeutet hatte, die Erscheinung würde einst als meine Gattin mir das Leben in Seligkeit verwandeln.“
Helga Meizen hatte die Hände vor das Gesicht gedrückt wie ein Kind, das irgend ein Gespenst zu sehen fürchtet.
Als sie sich dann beruhigt hatte, als sie scheu nach rechts blickte, war Maltavesta verschwunden.
Um halb zwölf Uhr brachen Meizens auf. Sie bewohnten die erste Etage eines villenartigen Hauses in einer nahen Seitenstraße. Schweigend schritten sie nebeneinander durch die frische Aprilnacht dahin; heute nicht Arm in Arm wie sonst; heute nicht wie sonst Bemerkungen über das austauschend, was der Abend gebracht hatte.
Sie standen vor der Gitterpforte des Vorgartens. Eine breite Lindenallee führte auf die Villa zu, die einer reichen alten Dame gehörte, die dem Ehepaar Meizen gern bei sich die erste Etage eingeräumt hatte, um ein wenig Jugend um sich zu haben.
Meizen schloß die Pforte auf; hörte plötzlich Helgas Ausrufe neben sich:
„Licht im Salon? Was –“
Er hatte schnell aufgeschaut; er sah die beiden erleuchteten Fenster.
Da erlosch das Licht.
„Was bedeutet das?“ fragte Helga ängstlich. „Wir haben Anna doch bis zum Morgen der Hochzeit ihres Bruders wegen beurlaubt?!“
„Komm’!“ rief Meizen kurz. „Vielleicht Diebe. Obwohl doch ein Dieb kaum so unsinnig sein wird, die Krone im Salon einzuschalten!“
Im Treppenhause flammte die Beleuchtung auf. Das Ehepaar stieg hastig die gewundene Treppe hoch. Meizen schob den Schlüssel in das Schloß der Flurtür, ging dann voran.
Nirgends ein Anzeichen, daß jemand in die Wohnung eingedrungen war. – Annas Mädchenstube war ebenfalls leer. –
Meizen durchsuchte nochmals die Räume. Es mußte ja ein Fremder hier gewesen sein! Mußte! Von selbst konnte die Salonkrone nicht aufflammen!
Helga saß derweil in Erichs Arbeitszimmer in der Sofaecke. –
Er kehrte zu ihrer zurück, legte den Revolver, den er bis dahin in der Hand gehabt, auf den Schreibtisch.
„Ich begreife das nicht!“ sagte er kopfschüttelnd. „Ich habe jeden Schrank geöffnet, unter die Betten geschaut, – keine Katze hätte sich mir entziehen können!“
Er setzte sich in den Schreibsessel. „Auch die Fenster sind sämtlich geschlossen. Es müßte gerade jemand Nachschlüssel zur Flur- oder Küchentür besitzen. Aber – es ist doch nichts gestohlen, kein Fach erbrochen, alles in Ordnung –!“
Das Rätselhafte dieses Vorfalls beunruhigte ihn. Er, der kaum wußte, was Nerven sind, sprang jetzt auf und durchschritt nochmals die Zimmer; kam wieder ins Arbeitszimmer, meinte mit einem leichten Seufzer:
„Dieser Abend drängt mir mehr Unerklärliches auf, als ich auf einmal zu verarbeiten imstande bin.“ Er stand jetzt am Sofatisch vor Helga und blickte sie prüfend an. Sie hielt den Kopf gesenkt, schwieg.
„Helga!“
Sie schaute flüchtig auf, gähnte dann hinter der vorgehaltenen Hand.
„Helga, was hattest du mit Maltavesta bei Tisch zu flüstern? Weshalb veränderte sich dein Gesicht so plötzlich? Weshalb bist du noch jetzt –“
„– müde bin ich,“ unterbrach sie ihn. „Maltavesta vertraute mir im übrigen bei der Tafel nur das an, was ihr alle dann hörtet: sein Erlebnis mit der Indianerin! – Daß mir diese seltsame Geschichte noch jetzt durch den Kopf geht, ist doch nicht weiter wunderbar.“
Sie schämte sich vor sich selbst, wie gut es ihr gelang, Wahres und Erfundenes zu mischen. Sie war rot geworden, fügte jetzt noch hinzu, um Erich ja zu überzeugen, daß sie die Wahrheit spreche: „Ihr alle wart ja gleichfalls verstummt, als Maltavesta seine Erzählung beendet hatte. Raßmussen rief sogar nach Sekt, damit –“
„Helga – du verschweigst mir etwas!“ fiel er ihr ernst mahnend ins Wort.
Sie lachte ärgerlich auf. „Bist du eifersüchtig auf Maltavesta?!“
„Nein. Nur – Angst habe ich um dich, so eine unbestimmte Angst, die sich nicht recht ausdrücken läßt.“
Sie gähnte, griff nach einer Zeitung. „Du bist langweilig, Erik,“ meinte sie gleichgültig. „Entweder bekomme ich jetzt Moralpredikten zu hören, oder –“
Er hatte sich kurz umgedreht und war hinter der Tür zum Schlafzimmer verschwunden.
Helga hörte, daß er den Frack in den Schrank hing, die Lackschuhe mit Leisten versah und wegstellte.
Sie hörte dies alles, und doch waren ihre Gedanken nicht dort im Nebenzimmer, waren gleichsam geteilt, und der größere Teil weilte bei dem Manne, der ihr heute bewiesen hatte, daß sie seit sechs Jahren seine heimliche Sehnsucht war.
Sie hatte jetzt die Hände ineinander verschlungen; sie hatte sich ganz zusammengeduckt wie jemand, der irgend woher etwas auf sich zuschleichen sieht, ohne unterscheiden zu können, was es ist. Dann erhob sie sich leise, schloß den rechten Seitenschrank der mit Büchern aller Art angefüllten Bibliothek auf, in den sie die Erinnerungen an ihre freudlose Jugendzeit aufbewahrte. Sie nahm einen schlichten Holzkasten heraus, der ein Vexierschloß besaß, dessen Mechanismus selbst Erich nicht kannte. Der Kasten enthielt allerlei billigen Schmuck, ein paar Photographien, ein kleines Tagebuch und – ganz unten leider auch eine noch immer unbezahlte Rechnung der Modistin Erna – eine Rechnung, die Erich längst beglichen wähnte. Das Geld hatte Hella jedoch für andere Dinge ausgegeben. Diese vierhundertundfünfunddreißig Mark waren jetzt ihre beständige Angst. Woher sollte sie die Summe nehmen, wie es möglich machen, daß Erich nicht erfuhr, daß sie Schulden hatte?!
Jetzt dachte sie nur flüchtig an diese ihre Sorgen. Sie suchte die Korallenkette mit dem Vierklee-Medaillon. Sie hielt sie nun in der Hand. Eisig kalt schienen die Korallen zu sein. –
Oder – sind meine Hände so heiß vor innerer Aufregung? fragte sie sich. –
Sie starrte auf die blaßroten Kugeln; fragte sich weiter: Was geht in mir vor – was nur?! Weshalb muß ich immerfort an Maltavesta denken, an seine vielen Millionen und an das, was er mir zuraunte – daß ich verdiente, Mexikanerin zu sein. Bedauere ich ihn nur, weil er mich liebt und weil diese Liebe ihn unglücklich gemacht hat? Oder – verbirgt sich hinter dem Mitleid bereits etwas anderes, Gefährlicheres?
So versank sie abermals in Grübeleien. Dann fiel ihr plötzlich ein, was Maltavesta ihr zum Schluß im Wintergarten gesagt: ‚– als meine Gattin mir das Leben in Seligkeit verwandeln.‘
Als Maltavestas Gattin –! Und – es war doch bisher genau eingetroffen, was der Mexikaner damals Spukhaftes erlebt hatte! Er hatte die Erscheinung gefunden! Zwar als Frau eines Anderen, aber – das war doch kein Grund, daß die seltsame Prophezeiung der Indianerin nicht wirklich vollständig in Erfüllung ging!
Ganz hilflos, ganz verstört lauschte sie jetzt gleichsam in die tiefsten Winkel ihres Herzens hinein. Tränen füllten ihre Augen. Wenn sie jetzt den Mut fände, Erich sich anzuvertrauen, ihm alles zu beichten, wenn sie auch offen eingestand, das Geld damals für Handschuhe und andere Kleinlichkeiten vertan zu haben, wenn sie Schutz bei ihm suchte in dieser ihrer Herzensnot, dann – dann würde er sie trösten, sie aufrichten, würde ihr so gern verzeihen. Er verlangte ja nichts als restlose Offenheit, hatte so oft gesagt: ‚Nur keine Heimlichkeiten, Helga, nur stets den Mut haben, sofort durch rückhaltlose Ehrlichkeit alles hinwegzuräumen, was einen unsichtbaren Abgrund zwischen uns ziehen könnte!‘
Wenn sie den Mut fände! – Aber – da war etwas in ihr, was heute nicht lediglich als Feigheit gedeutet werden konnte; da war ein verhängnisvolles Spielen mit den Gedanken an die Prophezeiung der Indianerin; da war ein Hinübergleiten dieser Gedanken in eine märchenhafte Zukunft, wo es kein Sparen und kein Verzichten auf nirgend welche Wünsche mehr gab; da war etwas wie ein Rausch, den diese Gedanken lösten, wie eine fiebernde Sehnsucht nach Reichtum, Glanz, Ansehen, Macht.
Helga stöhnte qualvoll, preßte plötzlich die Krallenkette gegen die heiße Stirn.
Weg – weg mit alldem! – Und wieder schrie eine Stimme in ihr auf: ‚Flüchte mit deiner Not zu Erich!‘
Hastig, als wollte sie sich selbst keine Zeit zu langem Überlegen gönnen, griff sie tief in den Kasten hinein, holte die Rechnung der Modistin hervor, warf noch schnell einen Blick auf das entfaltete Papier, – stierte nun darauf hin, fuhr sich mit der Hand über die Augen, blickte ratlos um sich, schaute wieder auf das Unbegreifliche.
‚Betrag dankend erhalten.
Frau Emma Schmidtke‘
stand da in derselben Handschrift, die die Rechnung ausgeschrieben hatte.
Helga durchzuckte ein Gedanke: Erich – Erich, – nur er kann – doch ebenso schnell verwarf sie diese Annahme wieder.
Und da – hinter ihr eine liebe, gütige Stimme:
„Helga, ich finde keine Ruhe –“
Sie warf sich ihm an die Brust. Ein Strom von Tränen folgte; unklares Gestammel –:
„Ich – ich bin ja so schlecht, Erik. Ich – fürchte mich vor mir selbst. Aber – ich will mich ändern, Erik, – in allem. Ich will nur noch deine kleine Hausfrau sein, nichts anderes –“
Er streichelte ihr prachtvolles kastanienbraunes Haar; er hoffte, daß Helga nun auch von Maltavesta sprechen würde; denn – hier gab es ja ohne Zweifel noch etwas, das sie ihm vorenthielt, – hoffte, wartete.
Wurde traurig; fühlte eine wehe Enttäuschung.
Von Maltavesta erwähnte die reuige Helga nichts, – nichts von der Rechnung, die auf so geheimnisvolle Weise bezahlt worden war.
Ihre Tränen versiegten; sie wurde wieder das berückende Weib, deren Küsse wie Feuer brannten. Erich tröstete sich: Du wirst dich getäuscht haben. Es liegt doch nichts vor, das sie dir verbirgt!
4. Kapitel
Zwei Tage später. – Raßmussen hatte im Wilhelmtheater eine Loge bestellt. Man wollte sich die indischen Fakire ansehen.
Helga saß in der vorderen Reihe. Hinter ihr Maltavesta. Der Zuschauerraum war verdunkelt; die Bühne durch Rampenlicht und Scheinwerfer strahlend erhellt.
Auf der Bühne bewegten sich lautlos braune, in weiße Mäntel gehüllte Inder; zeigten ohne jedes begleitende Wort ihre Künste.
Helga, noch soeben frisch und lebenssprühend, empfand plötzlich in allen Gliedern eine beängstigende Schwere. Vor ihren Augen sprühten Funkengarben auf. Es war wie eine Ohnmachtsanwandlung.
Sie drehte sich halb um, flüsterte Maltavesta zu:
„Reichen Sie mir bitte mein Glas.“
Er gab es ihr von dem Tische, der im Hintergrund der Loge vor einem bequemen Sofa stand.
Sie trank in kleinen Schlucken den eisgekühlten Mosel, und der Mexikaner stellte das Glas auf den Tisch zurück.
Die leichte Übelkeit blieb. Es war sehr heiß im Theater. Helga sehnte sich nach frischer Luft; erhob sich ganz leise. Maltavesta rückte mit seinem Sessel zur Seite.
Erich Meizen und Raßmussen, die als nächste neben Hella saßen, schauten flüchtig nach ihr hin, sahen, daß sich die Logentür öffnete. Ihre schlanke Gestalt in dem eleganten Gesellschaftskleid zeichnete sich einen Moment scharf gegen den hellen Hintergrund des erleuchteten Ganges hinter der Loge ab.
Helga schritt jetzt langsam den Gang hinunter zu der kleinen Treppe, die in den Saal führte. Hier an der Treppe befiehl sie ein Schwindel; sie stützte sich auf ein Fensterbrett, riß den einen Fensterflügel auf, blickte über mondbeschienene Dächer hin. Ganz leise drang die Musik aus dem Saal an ihr Ohr.
Dann mußte sie die Augen schließen. Vor ihr schien sich ein Abgrund geöffnet zu haben, und ein ungeheurer Luftwirbel zog sie in rasender Umdrehung in eine bodenlose Tiefe.
Sie fühlte noch, daß jemand sie stützte, ihr einen Mantel umhing und ihren Kopf mit einem Schleier umwand. Sie war völlig willenlos. –
Maltavesta langte nach dem Weinkühler, nahm die Flasche heraus. Die Eisstücke knisterten fein. Er füllte Helgas Glas auf, schüttelte den Wein im Glase, warf einen vorsichtigen Blick auf Raßmussen und Meizen und goß den Inhalt des Glases in den Weinkühler, tauchte das Glas hinein, stellte es wieder auf den Tisch und füllte es bis zur Hälfte.
Doktor Meizen wandte sich an Maltavesta. „Ob sich meine Frau nicht ganz wohl fühlte?“
Raßmussen lachte fröhlich. „Die Inder werden ihr langweilig gewesen sein. Für mich sehr betrübend. Draußen im Gange ist’s auch sicher kühler.“
Meizen öffnete die Logentür und schaute hinaus. In dem Gange drängte sich eine Menge Menschen, die nun gleichfalls während der Pause hier frische Luft schöpfen wollten. Von Helga war nirgends etwas zu entdecken. Raßmussen schob seinen Arm in den des Doktors mit einem heiteren „Suchen wir unseren Ausreißer!“
Maltavesta saß auf der Sofalehne in der Loge und rauchte eine Zigarette. Die vier Herren, die außer ihm und dem Ehepaare Meizen hier heute Raßmussens Gäste waren, sprachen über die Kunststücke der Fakire.
Die Logentür ging auf. Raßmussen trat eilig ein.
„Herrschaften, – Frau Helga ist verschwunden!“ rief er leise. „Tatsache – verschwunden! Die Logenschließerin hat gesehen, wie ein Mann sie am Ende des Ganges in einen Mantel hüllte und ihr einen Spitzenschal um den Kopf legte. Dann hat der Mensch sie die Treppe hinabgeführt.“ –
Meizen war wie betäubt.
„Vielleicht hat sich Helga nach Hause bringen lassen,“ meinte er zögernd. Er glaubte selbst nicht an diese Möglichkeit.
Raßmussen drückte ihm warm die Hand. „Doktor – wozu wollen wir uns betrügen?! Helga hätte doch nie, ohne Sie vorher zu benachrichtigen, daß Theater verlassen.“
5. Kapitel
Um Mitternacht saß Bernhardiner in dem Studierzimmer Magnus Kröhnkes auf einem harten Glanzledersofa; neben ihm Steuermann Berger, und ihnen gegenüber der Oberlehrer a.D. –
Magnus Kröhnke ließ ein unangenehmes, kurzes, heiseres Lachen hören.
„Sie meinen, hier bei diesen beiden Fällen des Verschwindens junger Weiber käme irgend eine Liebelei nicht in Frage, Herr Rechtsanwalt,“ fragte er ironisch. „Na –Gott erhalte Ihnen Ihren Glauben an die – edlen Frauen!“
„Vater!“ rief Winfried Berger empört. „Wenn du schon mir gegenüber aus deiner geheimen Abneigung gegen das weibliche Geschlecht im allgemeinen und gegen Hilde im besonderen kein Hehl machst, so kannst du doch wenigstens vor Herrn Bernhardi –“
Kröhnke beugte sich vor, streckte den rechten Arm gegen den Steuermann aus.
„Bernhardi, he, Bernhardi gegenüber brauche ich kein Blatt vor den Mund zu nehmen, Winfried!“ sagte er mit überlegenem Lächeln. „Bernhardi kennt die Weiber. Er verachtet sie wie ich. Wenn sie es wert wären, von einem Manne gehaßt zu werden, würde er sie hassen. Aber sie sind’s nicht wert!“ Seine zur Faust geballte Hand fiel auf die Tischplatte. „Das sage ich – ich, der ich sechs Jahre verheiratet war und Vater einer Tochter bin.“
Bernhardi rauchte schweigend ein paar Züge aus seiner Zigarre. Dann schaute er Berger mitleidig an.
„Sie hören, wie Ihr eigener Schwiegervater über die wahre Ursache des Verschwindens Ihrer Braut denkt, und Sie werden gut tun, sich mit dem Gedanken abzufinden, daß Hilde einem Menschen in die Schlinge gegangen ist, der mit Ihrer Braut Absichten verfolgt, die –“ Er schwieg, räusperte sich und nickte Berger wehmütig zu.
„Bitte, Herr Rechtsanwalt, seien Sie rücksichtslos ehrlich,“ sagte der blonde Steuermann gepreßt und legte seinem Nachbar die gebräunte Hand schwer auf den Arm.
„Mädchenhändler!“ erklärte Bernhardi leise.
Berger zuckte zusammen. Er, der als Seemann die ganze Welt bereist hatte und der die verrufenen, galanten Viertel aller Hafenstädte kannte, wußte nur zu gut, was dieses Wort Mädchenhändler alles in sich barg, – ein grausiges Schicksal für ein reines Weib.
„Mein Gott,“ stöhnte mehr auf. „Das – das kann ja nicht sein! Nie hätte Hilde sich umgarnen lassen, daß sie gutwillig –“
„Es kann auch gewaltsame Entführung vorliegen,“ warf Bernhardi ein. „Hilde kann durch List irgend wohin gelockt worden sein. Genau so wie Frau Helga Meizen niemals freiwillig jenem Kerl gefolgt ist, der sie im Auto verschleppte.“
Der alte Kröhnke saß zusammengekauert in dem hochlehnigen Sessel und stieß jetzt ein heiseres Kichern aus.
„Abwarten – abwarten!“ meinte er. „Ich glaube nicht an Mädchenhändler! Ich denke an einen reichen Kerl, der Hilde allmählich umgarnt hat.“
Winfried Berger fuhr hoch. „Du – du bist –“
Er sank ihn seine Sofaecke zurück.
„Hm – verrückt, wahnsinnig oder dergleichen, meinst du wohl,“ sagte der Alte gleichmütig. „Oh nein – ich bin es nicht! Ich bin nur verheiratet gewesen und kenne – das Panksche Blut, mein Sohn! Weißt du, wie die Panks gelebt haben hier in Danzig?! Weißt du, was meine Frau als Mädchen sich alles leisten durfte?! Daß sie ganz allein eine Modistin hätte ernähren können, daß ihre Eltern sich zu ihren Abendgesellschaften Opernsänger aus Berlin verschrieben, die Tausende dafür bezahlt bekamen, – daß dann schließlich die gänzlich verarmte zweiundzwanzigjährige Anna Pank froh war, als der Oberlehrer Doktor Kröhnke sie heiratete, daß dieser Esel von Kröhnke dann in der Schule den Magister und daheim den Koch, Diener, Schuhputzer seiner Gattin spielte, die ihm mit ihrer Liebestollheit jede Selbstachtung aus den Knochen sog – , – mein Sohn, – sechs Jahre habe ich so gelebt wie in einem Irrenhause, habe mir auf die Stiefel selbst Flicken geklopft, habe mir die Gummikragen selbst gewaschen, – nur damit die geborene Pank seidene Höschen und Lackschuhe tragen konnte! Und ich habe dann Hilde aufwachsen sehen, habe wir alle Mühe gegeben, das verfluchte Panksche Blut ihr auszutreiben, – umsonst. Mein Sohn, du hättest eine Frau bekommen, die dich zu Grunde gerichtet haben würde! Verlange nicht von mir, daß ich dich bemitleide, weil Hilde nun ihre eigenen Wege geht! Ich – freue mich eher darüber, denn du bist ein grundehrlicher, anständiger Mensch und –“
Er schwieg erschöpft. Sein verzerrtes, von Falten zerrissenes Gesicht entspannte sich. Er vollendete den begonnenen Satz mit einer kurzen Handbewegung, die alles mögliche bedeuten konnte.
Bernhardi strich die Zigarrenasche an dem Aschteller ab.
„Ich habe Verdacht gegen jemand,“ sagte er nach einer Weile, indem er den Kopf nach Berger hin wandte. „Ich bitte Sie beide aber um allerstrengste Verschwiegenheit. Seit zwei Wochen hält sich hier ein Mexikaner auf, der mir so etwas nach Abenteurer riecht. Ich habe ja für derlei Herren eine feine Nase. Selbst Inspektor Detlefsen habe ich hiervon nichts anvertraut. Aber ein paar meiner Freunde aus der ‚Grünen Laterne‘, der Schnapsbudike neben dem Krahntor, habe ich auf den Sennor Alvaro Maltavesta scharf gemacht.“
Ein fragender Blick Bergers entlockte ihm ein feines Lächeln und die Erklärung: „Meine Freunde dort sind nicht gerade gesellschaftsfähig, aber – treuer und dankbarer als ein Pudel. Jeder von ihnen hat schon im Zuchthaus gesessen. Mich geniert das nicht weiter. Ich als Strafverteidiger lebe ja sozusagen vom Verbrechen. Meine Freunde Schuten-Anton und Gummi-Maxe sind mehr wert als ein Berliner Kriminalwachtmeister. Falls Sennor Maltavesta mit der Entführung der beiden Damen etwas zu tun hat, kriegen die beiden es bestimmt raus.“
Berger hatte nach der Uhr gesehen. „Ich muß mich verabschieden. Ich soll von ein Uhr ab unseren Ersten an Bord vertreten. –
Herr Rechtsanwalt, es kommt mir auf Geld nicht an. Ich habe mir ein paar tausend Mark gespart. Hilde muß gefunden werden – muß!“
Bernhardi reichte ihm die Hand. „Keine Sorge, ich habe ein persönliches Interesse daran, diesen Schurkenstreich aufzuklären, lieber Herr Berger. – Gute Nacht. Und – Kopf hoch, Mann! Es läßt sich alles verwinden – alles!“
6. Kapitel
Der Alte und Bernhardi waren allein in der kleinen, ärmlichen, dick vollgequalmten Stube.
Kröhnke rückte seine Brille dichter vor die Augen.
„Im Ernst – denken Sie wirklich an Mädchenhändler, Herr Rechtsanwalt?“ sagte er ungläubig.
„Ja. Weil ich nämlich keine andere Erklärung für dieses doppelte Ereignis finde. – Zwei junge, hübsche Weiber verschwinden im Verlaufe von vier Tagen. Es kann sich nur um eine Verschleppung zu einem scheußlichen Zwecke handeln. – Übrigens – haben Sie ein neueres Bild Ihrer Tochter?“
„Ein ganz neues, das Brautbild.“ Kröhnke erhob sich, schlurfte ins Nebenzimmer und brachte eine Kabinettphotographie.
Bernhardi kannte Hilde nicht einmal von Ansehen. Er stand auf, hielt das Bild dicht unter die Hängelampe und – murmelte ein: „Merkwürdige Ähnlichkeit!“ vor sich hin.
„Mit wem?“ fragte der Alte, der neben dem Tisch stehen geblieben war.
Bernhardi deckte den Zeigefinger über den großen Federhut, den Hilde auf der Photographie trug.
„Wahrhaftig – ein und dasselbe Gesicht,“ sagte er laut. Dann schaute er Kröhnke nachdenklich an, meinte:
„Ihre Tochter hat eine überraschende Ähnlichkeit mit Frau Doktor Meizen. Ich habe einen guten Blick für so etwas. Nur Helga Meizen ist dunkel. Sonst aber –“ Er versank noch mehr in ernstes Grübeln.
Magnus Kröhnke sog an seiner Pfeife und blies den Rauch stoßweise unter die Lampenglocke.
„Sie, Rechtsanwalt,“ meinte er vertraulich, „Sie redeten da vorhin von persönlichem Interesse an Hildes Verschwinden –“
„Nicht an Hildes Verschwinden, an dem Helga Meizens,“ erwiderte Bernhardi zerstreut. „Ich liebe Helga Meizen! Deshalb möchte ich sie retten.“
Kröhnke kicherte heiser. „Ein feiner Witz, Rechtsanwältchen, – Sie und lieben!“
„Es ist so, Kröhnke, wirklich. Die Frau reizt mich.“
Der alte, verbitterte man schüttelte den Kopf, das die Quaste seines Käppchens hin und her flog.
„Reizt – reizt –! Das ist doch nicht Liebe! – Wollen Sie sie denn für sich retten, he?!“
„Nein – für ihren Mann, Kröhnke. Merkwürdig – mir fällt da eben ein, auch sie ist darin Ihrer Hilde ähnlich, daß sie für eitel und putzsüchtig, genußhungrig und – eine miserable Hausfrau ist, – seltsam ist das, vielleicht sogar –“ Er starrte wieder auf das Bild.
„Sprechen Sie doch weiter,“ mahnte der Alte.
Bernhardi ließ sich wieder in seine Sofaecke fallen.
„Nicht jetzt, Kröhnke,“ sagte er kurz. „Schildern Sie mir Ihre Ehe genauer, falls Sie zu mir eben genügend Vertrauen haben. Ich bitte Sie darum nicht etwa aus Neugier. Ich habe da – also – wollen Sie?“
Doktor Magnus Kröhnke zog die Schlafrockschnur enger und begann auf und ab zu gehen.
„Natürlich hab’ ich zu Ihnen Vertrauen – und nur zu Ihnen! Sie sind ein Mensch – in allem! Sie belächeln den ganzen Kulturlack. Vor Ihren Augen platzt diese Lackschicht ab und zeigt Ihnen, was darunter ist. – Meine Ehe?! Da könnte ich eine Woche lang erzählen. Einen Roman könnte ich darüber schreiben. Er würde sehr geheimnisvoll beginnen, – mit einem Kinde, das nach sieben Monaten zur Welt kam, sieben Monate nach unserer Hochzeit. Es gibt lebensfähige Siebenmonatskinder, gewiß. Aber solche von acht Pfund Gewicht sind selten.“ Er stieß die Glut im Pfeifenkopf mit dem Zeigefinger tiefer.
„Ich verstehe,“ sagte Bernhardi da. „Sie argwöhnen, daß –“
„Ich argwöhne nicht, – ich weiß es bestimmt, Rechtsanwalt. Hilde ist nicht mein Kind! – Ich weiß es, obwohl meine Frau vor mir auf den Knien gelegen und bei ihrer Seele Seligkeit geschworen hat, ich sei der Vater! – Es war ein kaltblütiger Meineid. Ich tat, als ob ich nun alle Zweifel überwunden hätte. Denn – was hätte es für einen Zweck gehabt, diese Zweifel laut werden zu lassen?! Weiber sind falsch, sind Schlangen. –
Anna hatte es damals verwünscht eilig, unsere Hochzeit festzusetzen. Ich war nie ein Dummkopf. Ich war Korpsstudent, hatte meine Liebschaften hinter mir, kannte Frauen aller Schattierungen. Ich wünschte mir keine Kinder, denn bei Annas Lebensansprüchen hätte das Gehalt für so einen kleinen Schreihals nicht gelangt. Und doch kam das Kind.“
„Ahnen Sie, wer der Vater ist?“ fragte Bernhardi gespannt.
„Nein. Nur – meine Frau hatte sehr bald nach der Hochzeit so allerlei Heimlichkeiten, hatte eine Vorliebe für die Gegend allen der alten Gasse ‚Am brausenden Wasser‘, verschwand dort oft im Hause Nr. 4, das nach hinten noch einen Ausgang hatte. Ich spionierte ihr nach, aber – nie fand ich heraus, was sie dort trieb.“
Er stand wieder neben dem Tisch, stützte sich auf die Platte, stierte auf die verstaubte Lampenglocke.
„Sie hat mich wohl kaum betrogen während der sechs Jahre,“ meinte er mit zusammengekniffenen Augen. „Nein, das glaube ich nicht. Sie sah all ihre Fehler ein. Aber – sie konnte sich nicht ändern. Das Panksche Blut war stärker, das Blut ihrer Mutter, die aus Budapest stammte und dort eine berühmte Schauspielerin war.“
„Also deshalb!“ meinte Bernhardi.
„Ja – Komödiantenblut von der Mutter, und vom Vater das Temperament, den Ehrgeiz, zu glänzen, Einfluß zu haben. Es war eine unselige Mischung, Rechtsanwalt! Der Vater hängte sich auf, als die Unterschlagungen des Prokuristen herauskamen und der Schuft noch mit dem Reste des Vermögens floh. Die Mutter siechte dahin. Ich hatte sie nur noch ein halbes Jahr zu unterhalten. Sie war – Kartenlegerin geworden, die vornehme Frau Elena Pank!“
„Schicksale!“ sagte Bernhardi ernst. „Ich kenne diese Geschichten, war damals gerade als Referendar am Oberlandesgericht in Königsberg. Der Prokurist hieß ja wohl Paulus. Der Name entfällt einem nicht so leicht – Paulus wurde ein Saulus, ein Defraudant.“
„Stimmt. Paulus hieß er. Wer weiß, was aus ihm geworden ist. Die Polizei hat ihn nicht erwischt.“
Bernhardi steckte das Brautbild zu sich.
„Sie gestatten doch, Kröhnke. Vielleicht brauche ich’s. – Ich werde jetzt gehen. Sie wollen sicher ins Bett.“
„Ich?! Ich gehe nie vor zwei, drei Uhr morgens schlafen. Ich liebe die Nacht, Rechtsanwalt. Wenn die braven Bürger in den Federn liegen, ziehe ich mich an und gehe spazieren, stundenlang, planlos, ziellos, auf gut Glück, bei jedem Wetter. Ich – suche etwas – immerfort, auch nachts –“ Seine Stimme zitterte plötzlich.
„Was suchen Sie, lieber Kröhnke?“
„Was?! Die Antwort auf eine Frage, die Sie vorhin an mich richteten. Ich zermartere mir den Schädel; ich möchte wissen, wer – Hildes Vater ist, wer Anna Pank – sitzen ließ!“
Bernhardi nickte. „Ich verstehe Sie!“
Er stand auf. „Kommen Sie noch mit, Kröhnke? Ich begleite Sie gern noch eine Stunde auf Ihren Wegen.“
„Danke. Ich bin gewöhnt, allein zu gehen. – Gute Nacht. Ich bringe Sie noch die Hühnerstiege von Treppe hinunter.“ –
Eine Stunde später. Der Mond lag bereits ganz tief auf den Olivaer Bergen. Der alte Kröhnke wanderte am Mottlauufer mit langen Schritten dahin.
Die Gebäude hörten auf. Links lief ein endloser Holzzaun an der Straße entlang. Rechts plätscherte der Fluß, starrten schwarze Dückdalben in die Luft.
Aus der Ferne kam irgendwoher ein Ruf über das Wasser – ein Schrei.
Der Alte blieb wie angewurzelt stehen, lauschte. Der Schrei hatte ihn wie ein Faustschlag mitten vor die Stirn getroffen. Kröhnke war erwacht, horchte, spähte.
Da – abermals der Schrei.
Eine Erinnerung stieg in dem alten Menschenhasser auf; als er einmal vor drei Jahren mit dem Stock in jäh auflodernder Wut auf Hilde eingedrungen war, weil sie ohne seine Erlaubnis sich einen neuen Hut gekauft hatte – für achtzig Mark!
Da war sie vor ihm in die Küche geflohen, hatte aufgeschrien vor Angst: ‚Hilfe –!‘ Und die Stimme war ihr schrill übergeschnappt.
So – so hatte auch dieser Schrei geklungen, diese beiden Schreie –!
Stille ringsum wieder. Trotzdem wartete der alte Mann wohl zehn Minuten noch auf derselben Stelle wie angewurzelt, – wartete, horchte.
Nichts mehr – nichts!
Sein Herz klopfte schneller. Er dachte an Bernhardi. – Mädchenhändler –! – Und hier nun in der Einsamkeit, hier im Mondlicht am düsteren Flusse, wo drüben sich der schlanke Turm und die Wälle der Festung Weichselmünde erhoben, – hier packte ihn endlich das Mitgefühl mit Hildes Schicksal – mit diesem Mädchen, das er wie sein eigen Kind stets gehalten, das seinen Namen trug.
Mädchenhändler –! – Verschachert an ein Haus des Lasters, seelisch zu Grunde gerichtet, gepeinigt von ohnmächtiger Verzweiflung, – so würde ihr Geschick aussehen, das – seiner Hilde!
Der alte Mann schob den Hut aus der Stirn.
Herr Gott, – das – das durfte nicht geschehen! Das hatte Hilde nicht verdient – niemals! Gewiß – oft genug, wenn alle seine Ermahnungen an ihrer kühlen Gleichgültigkeit abprallten, hatte er insgeheim gewünscht, das Schicksal möchte ihr eine harte Prüfung senden, damit sie in sich ginge.
Aber – dies, dies Furchtbare, – nein, davor mußte sie bewahrt werden!
Hinter ihm aus dem schwarzen Schatten des Zaunes war eine hagere, kleine Gestalt herausgewachsen, glitt nun lautlos mit der Gelenkigkeit eines Affen auf ihn zu, blieb neben ihm stehen, sagte mit heiserer Schnapsstimme:
„‘n Abend, Herr Doktor.“
Kröhnke wandte den Kopf. Er, der sich das Wundern längst abgewöhnt, war auch gegen Schreck gefeit.
Der Mond beleuchtete halb von rückwärts einen mageren Strolch mit verkniffenem Gaunergesicht.
„Gestatten,“ sagte der Gelenkige gleichmütig, „ich bin nämlich der Gummi-Maxe, der Freind von ‘n Rechtsanwalt Bernhardi. Der hat mir ‘n Blauen versprochen, wenn ich rauskriege, wo die beeden Frauens jeblieben sind. Nu – ich hatte so’n bißken Archwohn auf Ihnen, Herr Doktor. Tatsache. Sehen Se, aus Ihnen wird so recht keen Mensch schlau. Lieben tun Se Ihre Tochter nich. Und unsereener hat Jelegenheit jehabt, Leite kennenzulernen, die – na, – ich bin Ihnen also nachjeschlichen. Ich hab’ den Schrei, ne, die zwei Schreie auch jehört. ‘s war ‘n Weib, das da um Hilfe rief, – eine der Mann so halb det Maul zuhielt. Herr Doktor, unsereiner versteht sich auf so was.“
Er schwieg und streckte den Arm aus, beschrieb dann einen Bogen mit der Hand. „‘s kann auf dem Fluß, aber auch an den Ufern jewesen sein. Wie wär’s, wenn wir irgendwo ‘n Boot losketteten, in dem so wat wie ‘n Ruder liegt, und mal son bißken uns umschaun täten.“
Gumm-Maxe fand ein Boot. Sie ruderten langsam am linken Ufer aufwärts; sie überquerten dann den Strom, suchten das andere Ufer ab. Auch hier nichts, das hause irgend welche besonderen Geschehnisse hingedeutet hätte.
Erst gegen zwei Uhr morgens ketteten sie das Boot wieder an und wanderten der Stadt zu.
Der Alte ging allein durch die engen Gassen heim. Der eine Gedanke ließ ihm nicht los: Das – das hat sie nicht verdient! Und ihm wurde ganz heiß vor Sorge und Angst.
In dieser Nacht merkte er, wie sehr der doch mit Hilde verwachsen war, obwohl sie seinen Namen zu Unrecht trug.
7. Kapitel
Hilde überlegte, was sie für den Logenplatz im Wilhelmtheater anziehen solle. Sie ging im Geiste ihre Garderobe durch, und sie fand, daß ihr eigentlich eine neue, ganz helle Seidenbluse fehlte. Schade – heute war’s zu spät, die Bluse noch zu kaufen. Aber morgen würde sie mit der Aufsichtsdame der Blusenabteilung von Gebrüder Freymann sprechen und bitten, ihr ratenweise Bezahlung zu gestatten.
Ihre Stimmung war jetzt nicht mehr so freudig erregt wie vor fünf Minuten, als sie sich von Winfried verabschiedet hatte. Sie hätte so gern heute in der Loge in einer neuen Bluse sich gezeigt. Daß sie es nicht konnte, brachte ihr wieder einmal zum Bewußtsein, wie viel Wünsche sie sich überhaupt versagen mußte.
Sie bog jetzt in eine enge Gasse ein. Hinter sich hörte sie das Rattern eines Automobils. Sie achtete nicht darauf. Dann aber hielt der Wagen dicht vor ihr; ein Herr beugte sich heraus, winkte.
„Fräulein Kröhnke, nicht wahr?“ fragte er hastig.
„Ja –“ Hilde war so überrascht, daß sie kaum das ‚Ja‘ über die Lippen bekam. Was wollte der blondbärtige, elegante Herr von ihr – was wohl?!
„Ihr Verlobter ist von der Straßenbahn angefahren worden und ins Krankenhaus gebracht worden. Sie gestatten: Doktor Philippi –, – steigen Sie ein, bitte, – der Steuermann möchte Sie sprechen.“
Hilde handelte ganz wie ein Automat! – Winfried verunglückt –! Vielleicht im Sterben liegend! – Sie war leichenblaß geworden. Sie überlegte nicht, – konnte nicht überlegen. In ihrem Herzen war jetzt nur Raum für die bebende Angst um den Mann, den sie liebte.
Sie liebte Winfried; in diesem Augenblick fühlte sie erst, wie sehr sie ihn liebte –!
Sie stieg ein; setzte sich neben den Herrn, lehnte sich zurück. Sie merkte, wie ihre Hände eiskalt wurden, wie ihre Lippen zitterten. Ihre Augen brannten. Aber Tränen fand sie nicht.
Der Herr neben ihr nahm ihre Hand.
„Beruhigen Sie sich, Fräulein Kröhnke. Berger wird hoffentlich gerettet werden. – Oh – wie Sie zittern. Sie werden einen Nervenanfall bekommen. Da – bitte, zerkauen Sie diesen Tablette. Sie müssen stark sein, Fräulein Kröhnke, dürfen nicht so fassungslos an das Krankenbett treten.“
Hilde ließ sich die Tablette in den Mund schieben. Der Pfefferminzgeschmack erfrischte sie. Bald spürte sie wirklich, wie eine angenehme Müdigkeit sich ihrem Körper mitteilte. Sie schloß die Augen, – schlief ein.
Das Auto verließ die Stadt, schlug den Weg an der Schichau-Werft vorbei nach Neufahrwasser ein, hielt dann dicht am Bollwerk der Mottlau neben der Laufplanke einer weißgestrichenen, als Gaffelschoner2 getakelten großen Motorjacht, an deren Bug der Name ‚Atlanta‘ in Goldbuchstaben inmitten geschnitzter Rankengewinde schimmerte.
Von der Jacht kamen zwei Matrosen an Land und hoben aus dem Auto eine große Rolle heraus, einen Teppich offenbar, trugen ihn auf das Schiff und verschwanden damit unter Deck. Ihnen folgte der Blondbärtige, der bereits auf der Treppe zu den achtern gelegenen Salons und Kabinen den falschen Bart und den Kneifer entfernte und in die Manteltasche schob.
Die Treppe mündete in den Wohnsalon der Jacht. Dort saß in einem Saffianledersessel ein dunkelhaariges, junges Weib, das den beiden Matrosen mit einem Lächeln des Triumphs nachschaute. Dann wandte sie sich an den falschen Arzt.
„Tom, die eine hätten wir also,“ sagte sie lachend und sprang auf. „Hast du viel Mühe mit ihr gehabt?“
Der angebliche Doktor Philippi zuckte die Achseln.
„Mühe?! – Es war eine Kleinigkeit.“
Er warf Mantel und Hut über ein Ecksofa.
„Trotzdem haben wir noch lange nicht gesiegt, Bell!“ fügte er hinzu und holte sein Zigarettenetui hervor. „Noch lange nicht! Maltavesta scheint mir ein wenig zu optimistisch den weiteren Verlauf zu beurteilen.“
Er sog den Zigarettenrauch ein und blies ihn gegen die getäfelte, reich vergoldete Decke des mit geradezu raffiniertem Luxus ausgestatteten Salons.
Der Salon hatte elektrische Deckenbeleuchtung. Das helle Licht ließ alle Einzelheiten der rassigen Schönheit Isabella Tourbares deutlich erkennen, ließ das Geschmeide um ihren Hals blitzen und die mit Ringen besteckten Hände in allen Farben sprühen.
Thomas Tourbare wanderte auf dem roten dicken Smyrna lautlos auf und ab.
„Jetzt kommst du zunächst heran, Bell,“ sagte er. „Sie ist nach zwei Stunden wieder munter. Dann wird sich ja herausstellen, ob Alvaro und du –“
„Oh – ich bin meiner Sache ganz sicher, Tom!“ rief sie heiter. „Ganz sicher! Mon Dieu – es handelt sich doch nur darum, sie einen simplen Steuermann vergessen zu machen.“
Die beiden Matrosen betraten wieder den Salon, jetzt ohne die große Teppichrolle.
„So,“ meinte der eine, „sie liegt nun in der Kabine auf dem Bett. – Tom, du bist doch ein Allerweltskerl!“
Es entwickelte sich eine kurze Unterhaltung, aus der hervorging, daß die Besatzung der Jacht und deren angeblicher Besitzer Thomas Tourbare sowie Bell und Maltavesta sämtlich in den großangelegten Plan eingeweiht waren, zu dessen Ausführung die aus insgesamt zwölf Köpfen bestehende Bande jetzt hier in Danzig weilte.
Die Leute sprachen unter sich nur Spanisch mit jenen kleinen sprachlichen Veränderungen, die sich in den südamerikanischen Staaten im Laufe der Jahrhunderte herausentwickelt haben.
Man erörterte abermals die Schwierigkeiten des Planes. Auch der Steuermann der ‚Atlanta‘ war jetzt noch im Salon erschienen. Es war jener Fremde, der an drei Abenden vor dem Warenhause Freymann gestanden hatte.
„Maltavesta hat alles, was zu den Maschen dieses großen Netzes gehört, in der Überzeugung aufgebaut, die beiden Weiber bei ihren Charakterschwächen packen zu können,“ sagte Steuermann Maudry bedächtig. „Zugegeben, daß Maltavesta die Weiber gut kennt.“ Er warf einen langen Blick auf Bell, die ärgerlich die Lippen aufeinander preßte. „Aber – wir werden verdammt vorsichtig und schlau sein müssen, um die Komödie glücklich zu Ende zu bringen. Ein einziger Fehler, und – die Millionen sind futsch, ebenso auch das Anlagekapital, das wir zusammengeschossen haben.“
Bell lachte kurz auf. „Es darf eben keiner von uns einen Fehler begehen. Wenn wir nur erst die Andere gleichfalls an Bord haben und in See stechen können, liegt das Schlimmste hinter uns.“ –
Hilde Kröhnke regte sich, schlug die Augen auf, schloß sie wieder. Schon der flüchtige Blick hatte genügt, ihr zu zeigen, daß sie sich in einer völlig fremden Umgebung befand.
Sie lag ganz still und dachte nach. Ihr Kopf schmerzte; ihr Körper war wie eine träge, bleischwere Masse. – Wo war sie – wo? Was war dies für ein kleines Gemach, für ein seltsames Bett? Und – die Frau, die an ihrem Bett saß, – wer war diese Frau? – Träumte sie etwa? War sie krank? Gaukelte das vom Fieber erhitzte Hirn ihr diese Bilder nur vor? – Dann ganz unvermittelt die Erinnerung an Winfried; keine klare Erinnerung; so seltsam verschwommen war das, was ihr jetzt einfiel. Winfried war doch verunglückt, und ein junger, blondbärtiger Arzt hatte sie im Auto nach dem Krankenhause bringen wollen.
Winfried verunglückt! Da erwachte jäh wieder die Sorge und Angst um ihn. Da öffnete sie die Augen abermals, richtete sich auf, stützte sich auf den rechten Arm, schaute die dunkelhaarige, schöne Frau fragend an, flüsterte scheu:
„Mein Gott, wo bin ich?“
Bell drückte Hilde sanft in die Kissen zurück, lächelte sie liebevoll an.
„Bei guten Freunden, mein Kind. – Sie waren krank, schwer krank; viele Wochen lagen Sie in einem Nervenfieber, standen auf der Schwelle des Todes. – Sie dürfen nicht sprechen. Der Gedanke, nun wieder gesund zu werden, soll Sie in Ihren Genesungsschlaf begleiten.“
Hildes Augen irrten durch das kleine Gemach, über die Deckenlampe, die runden Fenster, die mit blaßroter Seide bespannten Wände, den kostbaren Teppich, den winzigen, vergoldeten Frisiertisch, die Goldstühlchen hin.
„Und – und mein Verlobter?“ fragte sie angstvoll und tastete nach der Hand der Frau, die einen gestickten Morgenrock aus blauem Crêpe de Chine3 und im Haar einen in allen Farben sprühenden Schmuck trug.
Bell streichelte Hildes Hand. „Steuermann Berger war Ihrer nicht wert, liebes Kind. Ihre Krankheit dauerte ihm zu lange. Er hat vor vierzehn Tagen mit einer Brigg Danzig verlassen und ist nach Australien unterwegs.“
Hilde stierte die Frau fassungslos an. „Das – das ist nicht möglich!“ stöhnte sie auf. „Winfried – Winfried, der mich so über alles liebte, soll –, nein, das kann nicht sein!“
Ihr Kopf war plötzlich klarer. Sie stützte sich abermals auf den rechten Arm.
„Ich will wissen, wo ich mich befinde!“ fügte sie hastig hinzu. „Wer sind Sie, und – wo ist mein Vater?“
Bell strich ihr über das blonde Haar. „Hier – lesen Sie!“ sagte sie leise. „Aber – versprechen Sie mir eins, regen Sie sich nicht auf.“
Hilde nahm den Briefbogen, entfaltete ihn, beugte den Kopf tief darüber. – Winfrieds Schrift, und auch die lila Tinte, die er stets benutzte.
‚Liebe Hildegard! Verzeih’, wenn ich Dir hiermit Dein Jawort zurückgebe. Ich habe eingesehen, daß Du mit mir nie glücklich werden kannst. Ein Mädchen wie Du braucht anderes, als ein bescheidener Steuermann ihr bieten kann. Unsere Hochzeit wäre ja ohnedies durch Dein Krankenlager auf Monate hinausgeschoben worden. Ich verlasse Danzig für immer. Doktor Philippis Freund Thomas Tourbare, ein sehr reicher Amerikaner, und dessen Schwester haben sich Deiner ja aufs liebevollste angenommen, so daß ich Dich in besten Händen weiß. Dein Vater, deren das Geld für die Kosten Deiner Krankheit nicht mehr aufbringen konnte, war sehr einverstanden damit, als Miß Isabella Tourbare Dich als Gast mit auf die Jacht ‚Atlanta‘ nahm. –
Ich bin mit den besten Wünschen für Deine Zukunft
Dein
W. Berger‘
Wie Eiseshauch wehte des Hilde aus diesen Zeilen entgegen. So konnte nur ein Mann schreiben, der sie nie wahrhaftig geliebt hatte. Ein wehes Gefühl bitterer Enttäuschung erfüllte ihr Herz. Sie wollte die Tränen zurückdrängen. Es gelang ihr nicht. Aufschluchzend vergrub sie das Gesicht in den Kissen.
Eine Hand strich Glieder über ihr aufgelöstes Haar hin; eine weiche Stimme sprach schlichte Trostworte.
„Liebes Kind – Sie müssen versuchen zu vergessen,“ fügte Bell dann hinzu. „Sie wissen nun, wo Sie sich befinden, auf meines Bruders Jacht und zwar bei Menschen, die Ihnen wahre Freunde sein wollen. –
So, jetzt trinken Sie ganz brav diese Limonade, Hilde. Bekommen Sie einen Rückfall, kann es Ihr Tod sein. Und – Sie werden doch gerade nach diesen Wochen mehr denn je Ihr Leben genießen wollen, Kind, – in anderer Form genießen als bisher. Die Sonnenseite des Daseins sollen Sie kennen lernen. Für eine kleine Freymann-Verkäuferin waren Sie zu schade – viel zu schade.“
Sie hielt Hilde das Glas an den Mund, indem sie sie mit dem linken Arm unterstützte. Hilde trank. Sie handelte wieder wie im Traum. Dann küßte Bell sie auf die Stirn. „Gute Nacht, Kind. Das Licht lasse ich noch brennen. Ich komme nach einer halben Stunde sehen, ob Sie auch wirklich eingeschlummert sind.“
Hilde war allein. Sie starrte zur Decke der Kabine empor. – ‚Erlebe ich das alles wirklich?‘ fragte sie sich immer wieder. ‚War ich wirklich krank?‘
Sie setzte sich aufrecht. Jetzt erst sah sie, daß ihr Nachthemd allerfeinster, zartlila Batist und mit Spitze überreich garniert war; sah weiter, daß die Bezüge des Bettes aus Seide waren; betrachtete staunend den ungewohnten Luxus ringsum, den entzückenden kleinen Frisiertisch mit den Kristallflakons, den aus Silber getriebenen Puderbüchschen und Schälchen. Ihr Blick traf einen Wandkalender in Elfenbeinrahmen; eine Zahl und ein Wort leuchteten ihr schwarz und eindringlich entgegen:
14. Juni!
Juni – Juni! Und – der vierzehnte! Dann war sie ja sechs Wochen so gut wie ohne Bewußtsein gewesen; volle sechs Wochen!
Vor ihr auf dem Zudeck lag noch Bergers Brief. Sie las ihn jetzt abermals ganz langsam. Wieder kamen ihr die Tränen. Nie – niemals hätte sie Winfried diesen plötzlichen Verzicht auf eine gemeinsame Zukunft zugetraut, die er ihr doch so oft in schlichten Farben so strahlenden Auges ausgemalt hatte –! Aber – dieses Schreiben sagte genug – übergenug! Nein – er konnte sie nie wahrhaftig geliebt haben! Sie mußte ihn vergessen. Er war keine Träne wert.
So dachte sie. Und schluchzte trotzdem so trostlos, als hätte man ihr alles genommen, was ihr begehrenswert erschienen, was ihr des Daseins Inhalt gewesen. Sie weinte sich in Schlaf. Und der Schlaf kam sehr bald.
8. Kapitel
Hilde erwachte. Die Deckenlampe brannte. Neben dem Bett saß wieder die schöne Bell mit den schwarzen Glutaugen. – Heute durfte Hilde fragen, so viel sie wollte; heute erhielt sie Leckereien vorgesetzt, die sie sonst nur in Schaufenstern gesehen.
„Wo die ‚Atlanta‘ vor Anker liegt?“ lächelte Bell. „Raten Sie mal, Hilde. – Oh – Sie raten es nie – nie! Im Hafen von Stockholm. – Hat’s geschmeckt, Kind? – Fühlen Sie sich nun stark genug, so ein wenig Gardenwünsche zu äußern? Ich habe hier ein Morgenkleid von einer hiesigen Modistin kommen lassen. – Da – wie gefällt es Ihnen?“
Hildes Augen leuchteten auf. Es war ein Gedicht von Seide und Spitzen, das nun auf ihrem Bett lag, das ihre Hände förmlich liebkosten.
Bell holte einen Karton, öffnete ihn. Da waren ein paar goldgestickte Pantoffelchen; da waren hauchdünne Florstrümpfe und alles andere, was zur diskreten Toilette einer eleganten Dame gehörte. –
Bell lachte. „Natürlich sollen Sie das alles tragen, Kind – natürlich! Mein Bruder und ich sind reich, sehr reich. Uns macht es Freude, Ihnen auch des Lebens verfeinerte Genüsse vermitteln zu dürfen. Sie taten uns so leid, liebe Hilde! Ein so reizendes Geschöpf wie Sie sollte ihr Leben lang nichts anderes kennen lernen als die trübselige Arbeit einer Verkäuferin und dazu Sparen und sich Einrichten! Nein, Hilde, – Ihre Schönheit gibt Ihnen ein recht auf anderes, besseres. Die ‚Atlanta‘ wird die halbe Welt umsegeln; alle Pracht des Orients wird sich vor Ihren Augen auftun; alle Wunder der Tropen werden Sie schauen. Vornehme Hotelpaläste mit internationalem Treiben werden uns beherbergen. Um dann nehmen wir Sie mit den unsere Villa in Rio de Janeiro. –
Kind, Sie ahnen ja nicht, was die Welt alles denen bietet, die das Gold mit vollen Händen ausstreuen können; Sie sollen vergessen, daß Sie einst arm waren. Wer die Geschwister Tourbare zu Freunden hat, ist selbst reich.“
Bell streichelte Hildes in Glut getauchtes Gesicht.
„Nicht wahr, Kind, – das sind andere Zukunftsaussichten als die, die Ihnen bisher Ihre Phantasie zeigte! – Hier, Hilde, – dies hier gestattet sich mein Bruder Tom ihnen als Gastgeschenk zu verehren.“ Sie legte ein längliches Schmuckkästchen auf das Zudeck.
Hilde wehrte ab. „Nein, nein, – das – das ist zu viel!“ stammelte sie. Und doch ruhten ihre Blicke nun wie verzückt auf der Halskette aus Brillanten, auf dem sprühenden Haarpfeil, den drei kostbaren Ringen.
Bell erhob sich. „Hilde, hier ist auch ein Roman. Vertreiben Sie sich die Zeit. Das Bett dürfen Sie erst nach vier – fünf Tagen verlassen. Tom ist Arzt, wenn er es auch nicht nötig hat, zu praktizieren. –
Auf Wiedersehen. Wenn Sie Wünsche haben, dort ist der Druckknopf der Klingel. Sie brauchen nur die Hand auszustrecken.“
Isabella nickte ihr heiter zu und verschwand, nachdem sie für Hilde noch einen kostbaren Wandspiegel auf das Nachtschränkchen gelegt hatte.
„Ich träume!“ flüsterte Hilde. Und – streifte die Ringe über. – Nein – kein Traum! Alles Wirklichkeit. Vor ihr breitete sich eine schillernde, märchenhaft schöne Zukunft aus, – Orient, Tropen, Hotelpaläste. – Sie griff nach dem Spiegel sie tat das Brillantenkollier um; beschaute sich, lächelte selig. – Keine Sorgen mehr, – kein Sparen, – Reichtum, Luxus – alles, was sie heimlich so oft ersehnt hatte, – alles war ihr in den Schoß gefallen.
Ihre Wangen brannten. Ach – nur erst gesund sein, das Bett verlassen dürfen und dann – das Leben genießen in vollen Zügen –, – würde das herrlich werden!
Da – wie ein schmerzhafter Stich in es durch ihr Herz. – Wie kam’s, daß ihr plötzlich Winfried eingefallen war?! Winfried Berger, der – Treulose!
Sie legte den Spiegel hin; sie fühlte, wie kalt das Brillanthalsband auf ihrer Haut ruhte; ein Frösteln lief ihr über den Leib.
Doch – das ging schnell vorüber. – Winfried?! Wer war’s?! Ein einfacher Steuermann! Ein Mensch, so genügsam, so bescheiden, mit dem ganzen so engen Horizont des schlichten Seemannes! Wer war’s? Für sie nur noch ein Fremder, für sie, vor der das Leben nun wie ein köstlicher, bunter Teppich lag, auf dem sie ganz nach Wunsch dahinwandeln konnte.
Sie steckte sich das Haar auf; schob den blitzenden, funkelnden Haarpfeil in den blonden Knoten, beschaute sich wieder im Spiegel. –
Am folgenden Nachmittag fragte Bell, ob Hilde Tom empfangen wollte. Bell hatte eine Spitzenmatinee mitgebracht, und als Hilde dann, im Rücken durch Kissen gestützt, Tom, ihrem Wohltäter, die Hand entgegenstreckte, als Thomas Tourbare diese Hand küßte und dann so zwanglos vergnügt zu plaudern wußte, als der vor Hildes Augen lockende Bilder entstehen ließ, die man im den großen Hafenstädten Indiens und Chinas würde schauen dürfen, da verlor Hilde auch den letzten Rest von scheu und Zweifeln; da taute sie auf, stieß fröhlich mit Bell und Tom mit perlenden Sektschalen auf innige Freundschaft an und fand Tom einfach bezaubernd. –
*
– Frau Helga wußte nicht, was mit ihr geschah. Willenlos, halb ohnmächtig ließ sie sich von dem fremden Manne ins Freie führen, in das Auto heben, verlor hier sehr bald das Bewußtsein.
Das Auto brachte sie hinaus in das Fabrikviertel an der Mottlau. Wieder wurde eine Teppichrolle auf die Jacht getragen. Und wieder umhüllte sie ein betäubtes Weib.
Die Matrosen hatten Helga in einer der größeren Kabinen auf der Backbordseite auf das Bett gelegt. Dicht hinter ihnen waren Bell und Tom eingetreten. Die vier betrachteten eine Weile schweigend die Ohnmächtige, bis Bell dann sagte:
„Wer sich auf Gesichtszüge versteht, sieht sofort, daß die beiden Schwestern sind. – Ob Alvaros Mittel genügt, oder ob wir ihr noch ein Schlafmittel eingeben, Tom?“
„Maltavesta meinte, wir sollten ihr erst gegen vier Uhr morgens Morphium einflößen. Wir wollen nicht gegen seine Anordnungen verstoßen.“
„Gut. Laßt mich mit ihr allein. Ich werde sie entkleiden.“
Die drei Männer zogen sich zurück. Bell streifte der Bewußtlosen ein Spitzennachthemd über, das noch weit eleganter als das Hildes war. Und Bell dachte dabei mit leicht gerunzelter Stirn: ‚Ein gefährliches Spiel. Diese Helga ist ein reifes, verführerisches Weib! Ich werde achtgeben müssen, daß Alvaro nicht über dieser Helga seine verliebte Bell vergißt!‘
Dann setzte sie sich in einen niedrigen Sessel neben das runde Tischchen, nachdem sie das Licht ausgedreht hatte. Sie wollte hier wachen, bis es Zeit war, Helgas Betäubung durch Morphium auf weitere Stunden auszudehnen.
Bell besaß Energie wie selten eine Frau. Tom und sie waren seit Jahren Hochstapler gewesen, erstklassige Hochstapler, die sich mit Kleinigkeiten nicht abgaben. In Rio de Janeiro hatten sie ihren festen Wohnsitz als ehrbare Geschwister. Sie waren jedoch selten dort; stets nur für Tage. Dann reisten sie wieder ab, neuen Abenteuern entgegen. Vor einem halben Jahr hatten sie dann in Mexiko den arg verschuldeten Haziendenbesitzer Alvaro Maltavesta kennen gelernt. Bell, die bisher ihre pikante Schönheit stets nur als Lockmittel benutzt und die bei all ihren Flirts nur das Geschäft im Auge gehabt hatte, verliebte sich sofort in den Mexikaner, der dann sehr bald in den Geschwistern die Verbündeten fand, deren er zur Verwirklichung eines längst geplanten Schurkenstreichs bedurfte. Die drei berieten tagelang; berechneten jeden Schachzug des gefährlichen, kostspieligen Unterfangens; webten in Gedanken Masche an Masche, bis das große Netz fertig war. Maltavesta, obwohl bereits dicht vor dem Ruin, brachte doch noch eine größere Summe auf; die Geschwister steuerten gleichfalls alles bei, was sie an Geld zur Verfügung hatten, warben dann noch mit aller Vorsicht weitere Verbündete an. Bell war es wieder, die einem mehrfachen Millionär die Jacht ‚Atlanta‘ für eine Europareise abschmeichelte. Der dicke Viehzüchter ließ sich umgarnen, und die ‚Atlanta‘ ging mit Maltavestas Bande in See. Dieser selbst war bereits vorausgeeilt, um in Danzig das Terrain zu sondieren. Als die Jacht in Danzig anlangte, verkehrten die Leute auf der ‚Atlanta‘ mit Maltavesta nur unter den größten Vorsichtsmaßregeln. Es durfte um keinen Preis bekannt werden, daß Maltavesta zu der ‚Atlanta‘ irgendwie Beziehungen unterhielt. –
Bell wollte wach bleiben. Sie merkte nicht, daß ihr die Lider zufielen, daß ihre Gedanken hinüberglitten in das phantastische Reich wirrer, durch keine Logik gehemmter Träume.
Auf dem Bett an der anderen Wand regte es sich.
Helga war zu sich gekommen, hatte sich aufgerichtet.
Durch die beiden runden Fenster flutete das Mondlicht auf den Teppich, auf vergoldete Stühle, auf die glänzenden Lackschuhe Bells, die die Füße weit von sich gestreckt hatte.
Helga preßte die Hände gegen die schmerzenden Schläfen und schaute wie gebannt auf diese winzigen Lackschuhchen.
Wo befand sie sich? Was war mit ihr geschehen? Was nur – das?! Und – wer war die Frau dort in dem Sessel?
Helga vermochte keine Klarheit in ihr Denken zu bringen. In ihrem Hirn gab es etwas wie eine Hemmung, die für sie jede deutliche Erinnerung an die letzten Vorgänge versperrte. Ach – wenn nur der Kopf weniger geschmerzt hätte! Wenn nicht jede Bewegung sofort ein so starkes Schwindelgefühl erzeugt hätte.
Ganz allmählich brachte sie es fertig, sich auf den Bettrand zu setzen. Staunend wurde sie dabei gewahrt, daß sie ein überaus kostbares Spitzenhemd trug.
Sie saß und fror leicht. Aber das Frostgefühl trat ihr wohl. Ihre Lebensgeister erwachten immer mehr.
Das Mondlicht erfüllte die elegante Schiffskabine mit ganz schwacher Helle. Nur dort, wo die Strahlen den Teppich trafen, waren Einzelheiten zu erkennen.
Helga wollte aufstehen, fiel jedoch matt zurück.
Das Geräusch genügte, Bell zu ermuntern. Sie sprang auf die Füße; sie sah die weiße Gestalt auf dem Bettrand, eilte auf sie zu, rief beschwörend:
„Ich bitte Sie, legen Sie sich sofort nieder. Sie sind schwerkrank. Es kann Ihr Tod sein, wenn Sie sich erkälten.“
„Wer – sind – Sie?!“ lallte Helga mit bleierner Zunge. „Ich – kenne – Sie – nicht. Ich will wissen, wo ich bin.“
„Oh – so hören Sie doch auf mich!“ flehte Bell. „Bei guten Freunden sind Sie! Wollen Sie denn einen Rückfall bekommen?“ Sie drückte Helga in die Kissen mit sanfter Gewalt.
Aber Helgas Mißtrauen war schon rege geworden. Ein ganz unbestimmtes Mißtrauen. Sie wehrte sich; sie fand die Kraft, sich den Händen der Unbekannten zu entwinden. Sie wußte durch Raßmussen auf Schiffen gut Bescheid; lief zu dem nächsten Fenster hin, riß es auf, steckte den Kopf hindurch –:
„Hilfe – Hilfe –!“
Da hatte Bell sie bereits zurückgezerrt. Und – da war’s mit ihrer Kraft schon zu Ende. Sie schwankte, sank Bell ohnmächtig in die Arme.
Und – erwachte erst nach zwei Tagen wieder, gerade als die ‚Atlanta‘ den Leuchtturm von Neufahrwasser mit Kurs auf die Ostspitze von Hela passierte; erwachte nur für fünf Minuten; fühlte sich so sterbensmatt, versank wieder in einen natürlichen Schlaf vor Erschöpfung nach all den starken Schlafmitteln, die man ihr beigebracht hatte.
Morgens gegen neun Uhr war die Jacht in See gegangen; abends gegen sieben Uhr gab es für Frau Helga das zweite Erwachen an Bord der ‚Atlanta‘.
Sie versuchte den Kopf zu heben, sich aufzurichten. Es gelang. – Sie bezwang den Schwindelanfall mit aller Energie; blickte nach rechts in die Kabine hinein.
Bespannte Wände; eine getäfelte Decke; daran eine kostbare elektrische Lampe in Form einer durchsichtigen, vielfarbigen Muschel, aus der ein zauberhaftes Licht sich über dieses Schmuckkästchen von Schlafgemach ergoß.
Helgas gleitender, staunender Blick blieb auf dem Wandkalender haften. Er hing links neben der Tür. Und – das oberste Blatt zeigte das Datum des 19. Juni.
Dann tat sich leise die Tür auf. Bell trat ein, markierte ein Stutzen, rief freudig:
„Ah – endlich – endlich bei Bewußtsein, liebe Frau Doktor, – endlich! – Bitte – ganz gehorsam sein – ganz gehorsam sich wieder niederlegen! Nichts fragen. Ich werde Ihnen alles erklären.“
Sie hatte Helga umschlungen, drückte sie an sich, lächelte sie heiter an. „Gehorsam sein – bitte, bitte! Machen Sie unsere Mühe nicht zu schanden, mit der wir immer wieder den Tod von Ihrem Lager scheuchten. Viele Wochen hat das Fieber Sie zu überwältigen versucht. –
So – das ist brav! Nur ganz still liegen, an nichts denken – an nichts! Nur das Bewußtsein hier geborgen zu sein, darf Sie erfüllen.“
Helga schloß die Augen. Wie – wie matt sie doch war. Und – wie – zart diese schöne Fremde ihr nun die Kissen zurechtrückte, wie zart sie ihr die Stirn mit Kölnischem Wasser betupfte.
Dann saß die Fremde auf ihrem Bettrand, hielt ihre Rechte, sprach leise, mitleidig und gütig:
„Würde ich Ihnen alles sagen, wie Sie hier an Bord der Jacht meines Bruders gelangt sind, liebe Frau Doktor, so wäre das geradezu ein Verbrechen. Nur eins sollen Sie wissen; Ihr Gatte hatte Sie schon längere Zeit beobachten lassen. Er vermutete, daß Sie auf seinen Namen Schulden machten. Und als er dann jene bezahlte Rechnung fand, hat er sich trotz Raßmussens Bitten und Warnungen von Ihnen losgesagt. Er, dieser kaltherzige Pedant, hat ja nie ein Verständnis für Ihre so wohlberechtigte Sehnsucht nach verfeinerten Lebensgenüssen gehabt. Er war Plebejer; Sie dagegen ein schöner Schmetterling, der der Sonne zustrebte. –
Hier sind Sie bei treuen Freunden; hier wird sich Ihnen eine neue Welt öffnen, hier beginnt das neue Leben für Sie, ein Leben, das Ihnen jeden Wunsch erfüllen wird – jeden!“
Sie schwieg und drückte Helgas Hand. Die Saat, die sie einer Ahnungslosen in die Seele gepflanzt wie giftige Stacheln, keimte schnell.
Helga hörte nur noch eins, hörte es wie etwas Unfaßbares: „– hat er sich von Ihnen losgesagt!“
Erich – Erich sollte – sollte –, nein, das war ja undenkbar, das war unmöglich!
Siedehitze strömte ihr vor Erregung zum Herzen; eine heiße Blutwelle färbte ihr Gesicht dunkler.
„Mein Mann – hat mich aufgegeben, verstoßen?“ rief sie und richtete sich mit einem Ruck hoch. „Reden Sie – ich flehe Sie an, – reden Sie!“
Bell schien vor Mitgefühl dem Weinen nahe.
„Sie – Sie Ärmste! – Bleiben Sie ruhig. Bedenken Sie; jede Gemütsbewegung kann Ihnen schaden! – Ja, Ihr Gatte will sich scheiden lassen. Selbst Ihre schwere Erkrankung stimmte ihn nicht milder. Und deshalb bat Sennor Maltavesta meinem Bruder, der Arzt ist, Ihre Behandlung zu übernehmen. –
Maltavesta ist schuld an allem. Das kann ich Ihnen jetzt nicht auseinandersetzen. Er mag es selber tun.“
Helga sank in die Kissen zurück. Sie begriff nichts von alledem. Nur eins; daß Erich mit einer unverständlichen Herzenshärte sie verstoßen hatte.
9. Kapitel
Die Komödie ging weiter. Alvaro Maltavesta war ein überaus schlauer Regisseur. Jeder Schachzug war schlau berechnet; jeder der Bande war auf die ihm obliegende Rolle eingedrillt. –
Zwei Tage drauf befand sich die ‚Atlanta‘ bereits im gehörigem Öresund, passierte die dänischen Inseln. Die abendliche Silhouette Kopenhagens zeichnete sich scharf gegen den in Flammenrot stehenden westlichen Himmel ab.
Bell hatte soeben Helga Meizen zum ersten Male an Deck geführt. Geschützt vor dem Winde durch den Treppenaufbau standen da zwei Liegestühle. Helga setzte sich, und Bell breitete eine Decke über ihre Knie, sagte dann schelmisch lächelnd:
„Darf Maltavesta Ihnen jetzt seine Glückwünsche zu Ihrer Genesung zu Füßen legen, liebe Helga?“ –
Sie wartete eine Antwort gar nicht ab, sondern eilte schon wieder die Treppe hinab.
Maltavesta im Sportanzug mit Seglermütze erschien, küßte Helga die Hand, benahm sich überaus zurückhaltend, spielte lediglich den treubesorgten Freund, erreichte so, daß Helgas Verlegenheit schnell schwand. Dann begann er das Gewebe von Lug und Trug vor ihr auszubreiten, sprach leise, oft zögernd, schlug zuweilen wie unbewußt warme Herzenstöne an, tastete nach Helgas Hand, behielt sie in der seinen.
„– wozu soll ich’s leugnen?!“ sagte er nun. „Ich hatte erfahren, daß Sie bei Ihrer Modistin noch eine kleine Verpflichtung hatten. – Oh – es war ja so unüberlegt, so kurzsichtig von mir. Ich ließ mich eben von meinen Gefühlen für Sie fortreißen. –
Frau Helga – ich bezahlte die Rechnung, ich war damals abends in Ihrer Wohnung und hatte die quittierte Rechnung in den Kasten gelegt –“
„Sie – Sie?“ stammelte Helga fassungslos.
„Ja, – wir Mexikaner verehren ein Weib anders als die deutschen Männer. Wir wagen alles für die Geliebte. Ich wollte nicht, daß Sie Sorgen hätten. –
Ja – und doch war diese gutgemeinte Tat dann der Anlaß dazu, daß Ihr Gatte – Sie verstieß. Wie er’s erfahren hat, daß ich die kleine Schuld beglichen, – ich weiß es nicht. Er stellte mich zur Rede; er warf mir vor, ich hätte Sie zu einem Treuebruch verführt; sie seien meine – Geliebte. –
Ersparen Sie mir die Einzelheiten, Helga. Es kam jedenfalls zum Duell. Es verlief unblutig. Und dann holte Isabella Sie aus dem Krankenhause auf die Jacht. –
Frau Helga, können Sie mir verzeihen? Ich trage ja die Schuld daran, daß Ihr Gatte so schnell an Ihrer Treue zweifelte, daß – Ihnen nun die Augen geöffnet worden sein müssen über das, was er Liebe nannte.“
Helga schaute in das verglühende Abendrot. Ihre Hände waren eisig kalt.
Maltavesta sprach weiter; von der zauberhaften Schönheit des Orients, die er Helga erschließen würde; von einem neuen Leben, das keinen Verzicht auf irgend welche Wünsche kannte.
Es waren dieselben Phrasen, die auch Hilde gehört hatte; es waren Lockungen, poetisch umrankt, die mit Helgas Eitelkeit, Gefallsucht und ihren anderen kleinen Schwächen rechneten. –
Und Maltavesta verstand es meisterlich, Helga durch seine farbenprächtige, berückende Zukunftsmalerei in einen wahren Rausch zu versetzen. –
Ihr Schmerz um Erichs Verlust wurde gleichsam erstickt durch die Überfülle von Eindrücken, die ihr Geist empfing.
Die Abendröte schwand. Maltavesta erhob sich, bat Helga ihm in den Salon zu folgen.
Sie hatte den vorderen Salon bisher nicht in seiner Überfülle von Licht gesehen; sie stand wie geblendet in der Tür. In der Mitte war ein runder Tisch für fünf Personen gedeckt. Selbst Raßmussens Tafeldekorationen waren nur matte Versuche, etwas geschmackvoll-prächtiges zu schaffen, gegenüber dieser prunkvollen Aufmachung.
Bell kam Helga entgegengeeilt, schloß sie in die Arme.
„Oh, meine liebe Frau Doktor, – wie frisch Sie aussehen, wie frisch! – Gestatten Sie, daß ich Sie mit unserem zweiten lieben Gast, Fräulein Hilde Kröhnke, bekannt mache.“
Es war ein kritischer Augenblick, diese erste Begegnung zwischen den beiden Opfern hier an Bord der Jacht. Maltavesta wußte dies. Helga kannte ja die Einzelheiten des Verschwindens Hilde Kröhnkes. Wenn Hilde von ihr erfuhr, daß Winfried Berger niemals verunglückt war, konnte der ganze Erfolg des Ränkespiels in Frage gestellt werden.
Maltavesta übernahm es daher auch in eigener Person, diese Klippe umsteuern zu helfen.
„Nicht wahr, Frau Helga, das ist eine große Überraschung für Sie!“ rief er harmlos heiter. „Ja – in Ihren wilden Fieberphantasien sprachen Sie zuweilen auch von Fräulein Hilde. Aber die Vorgänge damals schienen Ihnen nur noch in arger Entstellung im Gedächtnis zu haften. Unsere liebe Hilde befindet sich in ähnlicher Lage wie Sie. Auch sie hat alle Ursache, den Mann schleunigst zu vergessen, der ihr mit so wenig Verständnis für Ihre persönliche Eigenart entgegentrat. –
Wir wollen uns aber die Stimmung durch diese Erinnerungen nicht verderben. – Gestatten Sie, Fräulein Helga, – das ist mein alter Freund Thomas, Bells Bruder.“
Helga hatte Hilde Kröhnke leicht verlegen die Hand gereicht. Sie war geradezu verblüfft, was in so kurzer Zeit aus der bescheidenen Freymann-Verkäuferin geworden, die ihr ja selbst eine Robe verkauft hatte.
Dann streckte sie Tom mit freierem Lächeln die Hand hin, sagte herzlich:
„Ich freue mich, Ihnen endlich meinen Dank für alles, was Sie an mir getan, aussprechen zu können, Herr Tourbare.“
„Gnädige Frau, bitte – keinen Dank! Es war ja nichts als Nächstenpflicht, sowohl Ihnen als auch Fräulein Kröhnke ein wenig beizustehen. –
Ich denke, wir feiern jetzt in recht froher Stimmung Ihre und Fräulein Hildes Genesung.“
Hinter einem Vorhang begann ein vorzügliches Grammophon einen lustigen Marsch zu spielen. Man nahm Platz. Einer der Matrosen in schneeweißem Anzug bediente den Tisch. Es gab sofort Sekt. Die erlesensten Delikatessen wurden gereicht. Sehr bald entwickelte sich eine Ausgelassenheit, an der lediglich der Wein schuld war.
Nachher tanzte man zu den Klängen des Grammophons. Bell sang auch kleine Schelmenlieder. Ein Hauch von zügelloser Lebensfreude wehte durch den Salon der Jacht. Sowohl Helga wie Hilde hatten noch nie so vergnügte, sorgenlose Stunden durchlebt. Dabei blieben Maltavesta und Tom stets die tadellosen Kavaliere, erlaubten sich nicht die geringsten Freiheiten, behandelten die Damen bis zum fröhlichen Auseinandergehen gegen ein Uhr morgens mit größtem Respekt, wenn auch mit kameradschaftlicher Liebenswürdigkeit, küßten ihnen beim ‚Gute Nacht‘ die Hände, wünschten angenehme Ruhe und – lächelten sich dann triumphierend an, als Bell die beiden Opfer noch in ihre Kabinen begleitete.
Maltavesta warf sich in einen der Sessel.
„Tom – das haben wir großartig gemacht!“ meinte er. „Dieser Abend war das gefährlichste unseres Planes, die böseste Klippe! Wir sind darüber hinweg, Gott sei Dank! Alles andere ist ein Kinderspiel.“
Tom goß sich einen Likör ein. „Du Alvaro,“ flüsterte er, „sei vorsichtig! Denk’ daran, daß Bell dich geradezu unsinnig liebt. Ich rate dir, lege dir etwas mehr Zwang als Verehrer Frau Helgas auf! – Bell ist eine Katze mit Krallen und eifersüchtiger als ein türkischer Pascha!“
Alvaro runzelte die Stirn. „Lächerlich! Bell weiß doch, daß alles nur Komödie ist.“
Tom trank den Likör, meinte achselzuckend: „Es soll vorkommen, daß Männer ihre Neigungen wechseln.“
Maltavesta wurde rot. „Unsinn! Hör’ auf damit!“
Bell trat ein, kam langsam auf Alvaro zu, sagte gereizt: „Du – ich warne dich! Du geht’s weit über das hinaus, was ich gestatten kann und – will! – Du verstehst mich wohl!“
Er lächelte etwas gezwungen, legte den Arm um sie. „Kleine Närrin – eifersüchtig?!“
Bell schlang ihm die Arme leidenschaftlich um den Hals.
„Alvaro, Liebster, – sage mir, daß du mich über alles liebst – nur mich!“
Tom lachte ironisch auf. „Ich darf mich wohl verabschieden. Ich fühle mich hier überflüssig. – Gute Nacht!“
Maltavesta hatte Bell auf ein Ecksofa gezogen. Sie saß auf seinen Knien, küßte ihn. Und er – er gab sich alle Mühe, sich nicht merken zu lassen, daß er ihrer bereits überdrüssig war. –
Helga lag mit offenen Augen aufgestützt in ihrem Bett. Auf dem Nachtschränkchen glühte die kleine, mattrosa Lampe.
Die Jacht schaukelte leicht und regelmäßig.
Helgas durch den Wein erhitztes Blut kam langsam zur Ruhe; der Glanz ihrer Augen erlosch; der Zauber der letzten übermütigen Stunden schwand; Helgas Blicke trübten sich; Tränen kamen, Tränen, immer zahlreicher.
Sie preßte das Gesicht in die Kissen; schluchzte, daß ihr Leid wie im Fieber flog. Ihre Gedanken spürten den Ursachen nach, die ihr Erich geraubt hatten. Und – mit entsetzlicher Deutlichkeit sah sie da Eitelkeit und die Sucht die große Dame zu spielen, hatten sie verblendet, hatten jene unselige Rechnung verschuldet, die dann Erich Grund zu so falschen Schlüssen gegeben! –
In der anderen Kabine stand Hilde Kröhnke am kleinen, runden Fenster im Nachtgewand, schaute hinweg über die dunklen Wogen des nächtlichen Meeres, sah ein großes Schiff mit weißen Segeln hinter der schnelleren Jacht zurückbleiben.
Wo – wo mochte jetzt Winfried sahen, wo nur – wo?!
Sie wollte nicht mehr an ihn denken! Die Liebe war stärker gewesen; die Sehnsucht hatte sie hochgetrieben von ihrem Lager.
Wo mochte Winfried sein?! Und – wie hatte er sie nur so plötzlich aufgeben können?! – Hatte er sich von ihr nur deshalb vielleicht losgesagt, weil er sie endlich durchschaut hatte, sie und ihre lächerliche Putzsucht, dieses Bestreben, durch ihren Anzug mehr zu scheinen, als sie war?! War sie ihm wirklich zu anspruchsvoll, ihm, dem schlichten, geraden Manne?! –
Auch Hilde weinte sich in den Schlaf. –
Weiter trug die elegante Jacht sie nach England, nach London; weiter nach Trouville, dem vornehmsten Bade an der französischen Nordküste.
10. Kapitel
Raßmussen war sehr enttäuscht, als Maltavesta ihm eines Tages erklärte, er müsse den Ankauf der beiden Dampfer noch hinausschieben, da ihm in Berlin ein großartiges Geschäft winke.
„Ich hoffe, nochmals hierher zurückzukehren,“ fügte er hinzu. „Jedenfalls empfehlen Sie mich aber den bekannten Herren, denen ich jetzt leider nicht persönlich lebewohl sagen kann.“
Eine Stunde drauf läutete Bernhardi den Oberingenieur an.
„Was Neues, Raßmussen? Ich meine in Bezug auf die beiden Frauen? Die Polizei hat bisher nichts, gar nichts ausgerichtet. Wir geht es genau so. Ich bin geradezu niedergeschlagen deswegen. –
So? Maltavesta reist mittags nach Berlin? – Sehr bedauerlich für Schichau, daß das Dampfergeschäft sich zu zerschlagen droht.“ –
Bernhardi legte den Hörer auf die Stützen, nahm Hut und Stock und suchte in Gummi-Maxes Stammdestille nach seinem Verbündeten, fand ihn auch am Hafen im ‚Goldenen Anker‘ und setzte sich zu ihm.
„Gummi-Maxe, Maltavesta reist –“
„Weeß ik schon – nach Berlin,“ unterbrach ihn der geriebene Gauner. „Ich habe jute Beziehungen zu’s Zentralhotel, wo er wohnt.“
Nach wenigen Minuten händigte Bernhardi Gummi-Maxe dreihundert Mark aus. –
Und als Maltavesta in Dirschau heimlich den Zug verließ, blieb jemand ihm beständig auf den Fersen; stieß einen leisen Pfiff aus, als Maltavesta dann mit aller Vorsicht nach Danzig zurückkehrte und die ‚Atlanta‘ betrat. –
Bernhardi hörte nichts mehr von Gummi-Maxe. Vierzehn Tage verstrichen. Es erschien ihm undenkbar, daß sein Verbündeter ihn im Stiche gelassen und das Geld verjubelt haben sollte.
Dann erschien eines Nachmittags Doktor Kröhnke bei Bernhardi. Die letzten Wochen seit Hildes Verschwinden hatten den alten Mann fast zum Skelett förmlich verzehrt. Und so und so oft war er zu Bernhardi gekommen und hatte sich erkundigt, ob man denn noch immer keine Spur von den beiden verschleppten Frauen gefunden hätte.
Heute brannte hektische Röte auf seinen Wangen. Bernhardi sah ihm die hochgradige Erregung sofort an.
„Was gibt’s, Kröhnke? – Irgend etwas muß –“
Der Alte reichte ihm schon mit zitternder Hand einen Brief. –
„Da – lesen Sie, Rechtsanwalt! – Wir sind auf ganz falscher Fährte gewesen! Lesen Sie – lesen Sie –!“
Der Brief trug eine ausländische Marke. ‚Mexiko‘, entzifferte Bernhardi. – Dann zog er den Bogen aus dem Umschlag. –
‚Mexiko, den 9. Mai 19…
Geehrter Herr!
Soeben habe ich in der hiesigen deutschen Zeitung eine Notiz, Kabeldepesche über das Verschwinden zweier junger Frauen aus Danzig gelesen. Da ich nun vermute, daß hier ein Schurkenstreich vorliegt, der mit meiner Person zusammenhängt, will ich im Interesse meiner Kinder Hilde und Helga –‘
Hier ließ Bernhardi den Brief sinken, sagte: „Lieber Kröhnke, daß die beiden Geschwister sind, habe ich längst als gewiß angenommen. Die Ähnlichkeit ist zu groß. Ich ließ auch in Berlin Nachforschungen nach Frau Helgas Eltern anstellen, konnte jedoch nur ermitteln, daß ihre inzwischen gestorbene Mutter Klara Marholz Helga an Kindesstatt angenommen hatte. Dann zerriß der Faden wieder, an dem ich mich in das Dunkel dieser Entführungsgeschichte hineintasten zu können gehofft hatte.“
Er las weiter. –
‚Es sind meine Kinder. Heute will ich’s ehrlich bekennen. Anna Pank war meine Geliebte. Heiraten wollte ich sie nicht, da schon damals die Panksche Reederei, deren Prokurist ich war, vor dem Ruin stand. –
Helga, das ältere der Kinder, wurde in Berlin bei einer Witwe Marholz in Pflege gegeben, die es dann adoptierte. Hilde trägt Ihren Namen, Herr Doktor Kröhnke, – zu Unrecht.–
Wer ich bin, wissen Sie nun: Hugo Paulus, der Defraudant. –
Jahrelang irrte ich von Land zu Land, bis ich hier in Mexiko heimisch wurde und das Glück hatte, eine Silberader zu finden, durch deren Abbau ich dann reich wurde, sehr reich. Mein Vermögen beträgt heute an fünfzig Millionen. –
Ich wurde hier mit einem Haziendenbesitzer näher bekannt, einem gewissen Alvaro Maltavesta, den ich sehr bald volles Vertrauen schenkte. Erst als ich ihn eines Tages dabei überraschte, wie er mein Testament aus meinem Schreibtisch unerlaubterweise herausgenommen hatte, kam es vor etwa sieben Monaten zwischen uns zum Bruch. Ich war damals so schwer nierenleidend, daß die Ärzte mir kein Jahr mehr auf dieser Erde bewilligten. Sie meinten, ich würde in spätestens neun Monaten sterben. Nun – ich lebe noch, und – es geht mir jetzt so gut, daß ich gar nicht daran denke, so sehr bald mich in das Jenseits zu empfehlen. –
Maltavesta ist nun von hier vor einigen Wochen nach Europa gereist, nachdem er sehr eifrig mit einem übelberüchtigten Geschwisterpaare verkehrt hatte. Diese Geschwister sind mit einer Jacht ‚Atlanta‘ dann gleichfalls nach Europa in See gegange. –
Ich argwöhne, daß der über und über verschuldete Maltavesta, dem bekannt war, daß ich Helga und Hilde zu gleichen Teilen zu Erben eingesetzt habe, die beiden Frauen vielleicht in der Absicht aus Danzig fortgelockt hat, irgendwie durch sie mein Vermögen nach meinem Tode an sich zu bringen, auf den er in Kürze rechnen mag. –
Herr Doktor, längst quält mich die Reue, weil ich damals –‘
Ein Schreiber betrat mit einer Depesche das Zimmer. „Soeben eingetroffen, Herr Rechtsanwalt,“ erklärte er.
Bernhardi riß das Telegramm auf. Es lautete:
‚Beide hier in Bad Trouville zu sechstägigem Aufenthalt. Bitte telegraphisch fünfhundert Mark an hiesige Deutsche Bodega, Inhaber Fritz Pilz. – Gummi-Maxe‘
Bernhardi sprang auf. „Doktor – hurra – wir haben sie! Da – lesen Sie! – Ich läute Meizen an, und Sie holen Steuermann Berger –“
11. Kapitel
Maltavesta, Tom und die drei Damen hatten selbst hier Aufsehen erregt. Zu gern hätte man im Hotel d’Angleterre, wo sie täglich speisten, ihre Bekanntschaft gemacht. Aber Maltavesta verstand es sehr gut, jeden Fremden von den Damen fernzuhalten.
Es war Abend. Die Bordgesellschaft der ‚Atlanta‘ saß an der Brüstung der Terrasse an dem ständig für sie reservierten Tische und genoß den Zauber eines klaren Sonnenunterganges bei einer leichten Ananasbowle. –
Bell plapperte in einem fort und machte Helga und Hilde auf diese oder jene Gestalt des Menschenstromes aufmerksam, der unten auf der Promenade vorbeiflutete. Aber ihre Lebhaftigkeit fand keinen Widerhall bei den Opfern der Ränke Maltavestas. Nein – Helga und Hilde hatten jedes Interesse an dem Leben und Treiben an dieser Stätte heiteren Genießens eingebüßt. Das, was sie nie für möglich gehalten, war nur zu schnell eingetreten; sie fühlten, wie wenig dieses Dasein, wie sie es jetzt führten, auf die Dauer die trostlose Leere in ihren Herzen ausfüllen und ihnen Ersatz für das bieten konnte, was sie verloren hatten.
Tom rauchte schweigend eine Zigarre nach der anderen. Seine Stirn war umwölkt. Bisher hatte der ja mit seinem vorsichtigen Werben bei Hilde nicht den geringsten Erfolg gehabt. Er verzweifelte bereits an der Möglichkeit, dieses blonde deutsche Gänschen soweit zu umgarnen, wie es für die Pläne der Bande Alvaro Maltavestas nötig war.
Maltavesta selbst beobachtete heimlich Helgas feines, pikantes Gesichtchen mit glühenden Augen. In seinem Innern lohte ein Brand wilder Leidenschaft. Er liebte diese Frau jetzt mit einer geradezu rücksichtslosen, unverständigen Tollheit. Es kostete ihn täglich die schwersten Kämpfe, sie nicht an sich zu reißen und nicht in diesen verträumten traurigen Augen durch Küsse und heißes Liebesgestammel jenes Flackern wachzurufen, das er bei so vielen anderen Weibern hervorgezaubert hatte. Auch er hatte jetzt erkannt, wie sehr er sich in Helga getäuscht hatte. Er hatte mit etwas nicht gerechnet: mit Helgas Liebe zu ihrem Gatten und ebensowenig mit den Folgen, die dieses durch nichts zu besänftigende, stille Klagen um das verlorene Eheglück nach sich ziehen mußte.
Bells Geplauder war fahrig und nervös. Für jeden schärferen Beobachter hatten ihre Heiterkeit, ihre Spötteleien über die Vorbeiwandelnden und ihre Versuche, Hilde und Frau Meizen ihrem trüben Sinnen zu entreißen, etwas Erzwungenes und Gequältes. –
Bell hatte seit Tagen deutlich gemerkt, daß Maltavesta ihr zu entgleiten drohte. Sie hatte sich aber gehütet, ihm etwa erregte Eifersuchtsszenen zu machen. Sie wußte, daß kein Weib eine erkaltete Leidenschaft dadurch wieder zu beleben vermag. Heimlich hatte sie mit ihrem Bruder bereits darüber beraten, wie man sich verhalten solle, falls dieses große Netz doch nicht fein genug gewoben war, um die beiden Opfer für dauernd einzufangen.
Maltavesta beugte sich zu Tom hinüber. „Folge mir,“ flüsterte er und erhob sich. Kurz darauf betraten sie das Vestibül des Hotels.
„Tom – wir müssen noch heute eine Entscheidung herbeiführen,“ sagte er ernst. „Ich werde das Gefühl nicht los, daß Hilde Kröhnke Argwohn geschöpft hat. Wir soupieren jetzt, trinken reichlich Sekt und machen dann noch einen Mondscheinspaziergang am Strande entlang. Bell muß Kopfweh vorschützen und auf die Jacht zurückkehren.“–
Hilde hatte sofort nach den beiden Herren die Terrasse verlassen. „Ich will der armen Blumenverkäuferin dort ein paar Rosen abnehmen,“ hatte sie zu Bell gesagt, worauf diese ihr zurief, das könnte doch Tom nachher erledigen. Hilde war jedoch bereits die Treppe hinabgeeilt, schien Bells Worte nicht mehr gehört zu haben.
Sie atmete erleichtert auf, als sie nun vor dem Tischchen der Blumenverkäuferin stand und sich über die Rosen beugte. Nie – nie durfte sie ja ohne Begleitung allein irgendwohin gehen. Stets waren Bell oder Tom dabei. Längst hatte sie gemerkt, daß dies geradezu eine geschickt verhüllte Überwachung darstellte. Und gestern abend hatte sie dann beim Souper endlich auch eine der Speisekarten des Hotels die täglich neu gedruckt wurden, in die Finger bekommen nachdem sie schon früher festgestellt hatte, daß Maltavesta und Tom dies bisher durch allerlei Manöver vereitelt hatten. Die Speisekarte aber trug das Datum des 17. Mai!
Hilde nahm jetzt all ihre französischen Sprachkenntnisse zusammen und fragte die Verkäuferin, welches Datum man heute habe.
„Den 18. Mai,“ erklärte das ärmliche Weiblein.
Hilde wußte genug. – Sie wählte sechs blaßrosa Rosen aus, legte dafür zehn Franken hin. Schon wollte sie sich abwenden und der Treppe wieder zuschreiten, als ein mit stark schäbiger Eleganz gekleideter Mann an den Blumentisch dicht neben sie trat und ihr in deutscher Sprache zuraunte:
„Achtung – ich stecke Ihnen einen Zettel zu.“
Hilde kehrte auf die Terrasse an den Tisch zurück. Tom und Maltavesta waren erstaunt, wie sehr sie plötzlich auflebte, wie fröhlich sie wurde. Sie ahnten nicht, daß Hildes Herz vor innerem Jubel sich weitete. Sie wußte jetzt ja, daß sie nie wochenlang krank gewesen, daß man ihr nur eine raffinierte Komödie vorgespielt und daß sie aus Danzig – entführt worden war, daß Winfried Bergers Absagebrief fraglos nur eine geschickte Fälschung und all ihre Trauer um den Verlust des Geliebten unnötig gewesen.
Sie hatte jetzt nur einen Gedanken; sich mit Frau Helga aussprechen zu können, mit ihr – die Flucht zu verabreden. Sie fürchtete weder Bell noch Maltavesta, ebensowenig Tom. Sie war kein Mädchen, das in Weltfremdheit aufgewachsen; sie kannte das Leben sehr gut; sie kannte es jetzt bessert als ehedem, nachdem sie auch des Daseins glänzendste Seiten mit wachsendem Überdruß genossen.
Scherzend befestigte sie nun, sich von hinten über Frau Helgas Stuhl beugend, an deren Spitzenbluse eine Rose, flüsterte dabei: „Vorsicht – nicht allzuviel trinken.“
Maltavesta hatte wenig Erfolg mit seinem geplanten Sektgelage; noch weniger mit der Aufforderung, die er Bell ins Ohr raunte, daß sie die beiden Paare jetzt allein lassen solle.
Bell blieb. Und Maltavesta mußte es aufgeben, heute das zu erreichen, was die halbe Krönung des schlauen Werkes gewesen: eine Doppelverlobung. Trotzdem tat er, als sei er in bester Laune. Man kehrte gegen halb zwölf auf die ‚Atlanta‘ zurück, sagte sich im Salon gute Nacht. Hilde und Helga wurden wie immer von Bell in ihre Kabinen begleitet, wo wie immer sehr zärtliche Küsse ausgetauscht wurden.
Im Salon schritt Maltavesta jetzt mit drohend gerunzelter Stirn auf und ab. Tom hatte sich noch auf Deck gegeben. Er ahnte, daß zwischen Alvaro und Bell eine böse Auseinandersetzung stattfinden würde. –
Bell trat ein. Maltavesta machte dicht vor ihr halt.
„Bell – was soll diese Widersetzlichkeit?!“ begann er finster.
Sie zuckte die Achseln. „Alvaro – ich durchschaue dich!“ meinte sie höhnisch. „Helgas Millionen und sie selbst dazu – das ist jetzt dein Ziel! – Du Tor, du wirst es nie erreichen! Nie! Soll ich als Weib dir sagen, wie die Dinge hier liegen?! Muß ich dir erst klarmachen, daß deine ganze Spekulation auf die leichtfertigen Charaktere dieser beiden Frauen verfehlt war, weil Helga und Hilde eben doch weit mehr seelischen Gehalt haben als du voraussetztest?! –
Alvaro ich warne dich! Wir wollen das ganze Spiel besser jetzt gleich als morgen aufgeben. Wir können den beiden sofort noch irgendwie einen Schlaftrunk beibringen, können sie von Bord schaffen, können fliehen, ehe man uns vielleicht verhaftet.“
„Du – du bist verrückt!“ fuhr Maltavesta auf. „Wir werden sie zwingen – zwingen, Tom und mich zum Schein zu heiraten! Es gibt noch besseres als einen Schlaftrunk, gibt Mittel, die das Blut in Siedehitze bringen, die –“
Bell lachte schneidend auf. „So – und unsere Abmachung, Alvaro?“ fiel sie ihm ins Wort. „Glaubst du, ich habe Neigung, dich einer Anderen zu gewähren?! Niemals Alvaro! Du weißt, du hattest mir versprochen, sofort nach der Eheschließung Helga unter einem Vorwand zu verlassen und ebenso sofort nach ihres Vaters Ableben ihr eine Scheidung nahe zu legen, wobei du unschwer ihr einen Teil ihres Millionenerbes abgeschwindelt hättest. Dann – sollte ich dein Weib werden, Alvaro! –
Und jetzt – jetzt verschlingst du Helga mit Blicken, die mir genug verraten!“
Maltavesta war bleich geworden. Aber er beherrschte sich, schritt stumm hinaus und ging nach seiner Kabine. Hier warf er sich in einen Sessel, blickte drohend vor sich hin. Seine Gedanken eilten rückwärts, überschauten nochmals alles, was in diesen Wochen sich ereignet hatte. Und – sein Gesichtsausdruck wurde weicher; sein Blick wurde fast melancholisch; seine Lippen formten halblaute Worte im Selbstgespräch:
„Das große Netz! – Wer hat sich darin gefangen?! Ich selbst! – Seltsame Tragik; zum Verbrecher aus Habgier geworden, und nun – Sklave Helgas, – Ein Sklave, der auf alle Schätze der Erde verzichten würde, wenn er dieses Weib erringen könnte!“
12. Kapitel
Helga verließ leise ihr Lager, schlüpfte in den kostbaren Kimono, öffnete im Dunkeln die Kabinentür, drückte sie lautlos wieder zu und tastete sich den Gang entlang bis nach Hildes Kabine hin.
Hilde war wach. Als sie das leise Klopfen vernahm, stand sie schnell auf, ließ Hella ein. –
Helga zitterte vor Aufregung. Kraftlos sank sie in einen Stuhl. „Mut!“ flüsterte Hilde. „Mut! Wir haben einen Verbündeten hier. –
Da – lesen Sie diesen Zettel, liebe Frau Doktor.“ –
Helga riß ihn ihr fast aus der Hand.
‚Ich hatte mich in Danzig kurz vor der Abfahrt an Bord geschlichen, hatte mich in der Proviantkammer verbergen können. Erst hier in Trouville konnte ich an Land. Ich habe an Rechtsanwalt Bernhardi depeschiert. Er wird vielleicht noch heute hier eintreffen. – Ein deutscher Freund.‘
Helga begann zu weinen. Und oft unterbrochen von Schluchzen erklärte sie Hilde nun, daß sie gleichfalls den Maltavesta und die anderen bereits Verdacht geschöpft hätte. –
„Vieles, was sie mir über meine Krankheit einreden wollten, erschien mir bei näherer Prüfung so unwahrscheinlich, daß ich den Gedanken nicht los wurde, ich sei hier mehr eine Gefangene als ein Gast Toms,“ sagte sie unter anderem.
Hilde kniete jetzt neben ihr, hatte sie umschlungen.
„Wir sind schändlich betrogen worden,“ flüsterte sie. „Ein geradezu ungeheuerliches Gaukelspiel fand hier auf der ‚Atlanta‘ statt. Auch ihre Tränen flossen. „Man wollte uns durch Toiletten, Schmuck, durch ein Leben voller eitler Genüsse betäuben. – Oh mein Gott, es war eine furchtbare Prüfung für mich.“
Frau Helga küßte sie auf den Mund. „Hilde, liebe Hilde, – Sie sprechen nur meine geheimsten Gedanken aus. Sie haben recht, es war eine furchtbare Prüfung, eine Läuterung unserer Seelen! – Und jetzt – nur fort von hier –“
Maltavesta stand vor Helgas Kabinentür, legte die Hand auf den Drücker. –
Ah – unverschlossen! – Er trat ein; lauschte; dann schlich er auf das von dem hellblauen Baldachin überwölbte Bett zu.
Hinter ihm ein Geräusch. Ein leises Knacken. Bell hatte die Deckenlampe eingeschaltet, kicherte ironisch.
„Schau’ an, – Alvaro auf Liebespfaden! Aber – du kommst zu spät. Helga ist bei Hilde drüben. Und – auf dem Bollwerk treiben sich verdächtige Gestalten umher. Ich fürchte, das Spiel ist aus! Mir tut’s nicht leid!“ Sie lachte heiser auf. „Nein – das Netz, in dem die Maschen der Liebe die Hauptrollen spielten, hat mir – deine Liebe genommen! Und deshalb – mag kommen, was da will!“
Maltavesta hatte sich zusammengeduckt. Ein Satz dann – und er hatte Bell in den Armen, umklammerte brutal ihre Kehle, zischte in halb irrer Wut:
„Ich werde doch siegen, du Närrin! Du sollst mich kennen lernen! Du wirst –“
Bell hatte einen gellenden Hilferuf ausgestoßen.
„Ah – Bestie, ich werde dich still bekommen!“ Seine Finger umkrallten ihren Hals. Sie wehrte sich. Sie stießen im Ringenden miteinander hart an den Frisiertisch. Das Kristallglas mit Helgas Hutnadeln fiel um. Und – ein Zufall war’s, daß Bell eine der langen Nadeln in die Hand bekam. Bereits mit schwindendem Bewußtsein stieß sie zu – stieß die Nadel Alvaro in den Rücken – nochmals – nochmals.
Da schleuderte er sie von sich, taumelte, sank langsam neben der Tür zusammen, stützte sich auf den Boden mit vorgestreckten Händen, stierte Bell an, die an der Bordwand neben dem kleinen Fenster lehnte.
„Du – hast – mich gemordet,“ stammelte er. „Du wirst nie –“ Er fiel plötzlich nach vorn über.
Mit einem wilden Aufschrei warf Bell sich neben ihm in die Knie.
„Du darfst nicht sterben – du sollst leben – für mich – für mich!“ heulte sie jammernd hinaus, suchte Alvaro aufzurichten, hob seinen Kopf, schaute in ein Paar gebrochene Augen.
Draußen im Gang lautes Rufen. Die Tür flog auf. Bernhardi stürmte herein; stutzte. Er hatte Maltavesta erkannt; wollte das ihm fremde Weib etwas fragen, hörte hinter sich zwei Rufe namenlosen Glücks.
Und Steuermann Berger und Doktor Meizen hielten die Erlösten umschlungen, – die doppelt Erlösten – erlöst aus den Händen einer ganzen Verbrecherbande, erlöst von den Schwächen so manchen Weibescharakters.
Und stumm und ergriffen stand Doktor Magnus Kröhnke dabei; stumm stand Gummi-Maxe und überlegte, wie viel blaue Scheine ihm seine Schlauheit und seine Seereise in den untersten Räumen der Jacht als blinder Passagier wohl einbringen würden.
Er konnte zufrieden sein; sehr zufrieden. Längst war es sein heimlicher Wunsch gewesen, einen kleinen Zigarrenladen zu besitzen und aus der Pennbrüdergilde auszutreten. Dieser Traum wurde wahr, als drei Wochen später Hilde Kröhnke mit Winfried Berger Hochzeit feierte, zu der auch er geladen war. Von Amerika war Hugo Paulus erschienen, dessen Straftaten ja längst verjährt waren und der nun an den Kindern Anna Panks, an seinen Kindern, alles wieder gutmachen wollte, was er einst gesündigt. –
Frau Helga Meizen und Frau Hilde Berger hätten sich jetzt jeden Wunsch erfüllen können, jeden! Aber sie blieben bescheiden in allem; sie vergaßen die harte Prüfung nicht, die sie hatten durchmachen müssen; sie waren geläutert für immer.
Ihr Heim war ihre Welt; ihr Eheglück das Höchste, was es für sie gab. Sie waren dem großen Netz entronnen, hatten in seinen Maschen nur zurück gelassen, was ihrer Liebe hätte verhängnisvoll werden können: Die kleinen Schwächen so vieler Frauen: Eitelkeit, Prunkenwollen und Genußsucht!
Fußnoten:
1 in Konkurs gehen
2 Gaffel = am oberen Teil eines Schiffsmastes angebrachtes, schräg nach hinten aufwärts ragendes Rundholz, an dem die Oberkante des Großsegels befestigt wird
3 Chinakrepp = leinwandbindiges Gewebe mit hartgedrehten Garnen, wodurch eine feinnarbige Oberfläche entsteht