Sittenroman
von
Wilhelm v. Berg
Verlag moderner Lektüre
— — — — — G.m.b.H. — — — — —
Berlin SO16, Michaelkirchstraße 23a
Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrechte vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre
G. m. b. H., Berlin 26. — 1923.
Druck: Buchdruckerei P. Lehmann G m. b. H., Berlin
Bajazzo und Kolombine, Don Juan und Donna Anna, Joseph und die Potiphar, wie das durcheinander wirbelt in bacchantischen Jubel nach den prickelnden Tönen eines straußschen Walzers. Und in den Kabinetts apart macht sich im Gegensatz dazu die bekannte Stimmung bemerkbar, die durch den Dreiklang Wein — Walzer — Venus ausgelöst wird: Zärtliches Geflüster, heiße Küsse, stammelnde, wahnwitzige Liebesworte und seliges Schmiegen und Pressen Busen an Busen.
Der Rechtsanwalt Doktor Gradinger schwimmt mit Behagen im Strudel, er trägt das Kostüm eines Pierrot, das ihm gestattet, seiner tollen Laune die Zügel schießen und seine schnellfertigen Witze in allen Farben schillern zu lassen. Er ist ein eleganter Lebemann, bei den Damen aller Schattierungen außerordentlich beliebt, von den Ehemännern allgemein gefürchtet. Von ihm geht die Sage, daß er einem seiner Freunde, dessen Frau mit einem bildhübschen Kunstreiter durchgegangen war, teilnehmend die Hand schüttelte und nicht ohne Bewegung sagte:
„Armer Freund, wie konnte sie uns das antun?“
Jetzt flattert er, wie es seine Art ist, von einer schönen Maske zur anderen, jeder etwas ins Ohr flüstern, und sie schreien, quietschen, kichern oder schlagen mit dem Fächer, je nachdem sie gelaunt oder veranlagt sind.
„Schöne Venus,“ raunt er jetzt einer Maske in antikem Kostüm zu, „schade, daß Du den Apfel schon hast, ich würde sonst mit dem größten Vergnügen Dein Paris sein, aber Du müßtest Dich enthüllen, gerade wie —“
„Ah — geh, der Paris hat net Jura studiert g’habt,“ kam es lachend unter der Larve hervor, durch deren Augenhöhlen man zwei dunkle Sterne schalkhaft und übermütig hervorblitzen sah.
„Was? Du kennst mich? Nun, das erleichtert die Sache. Vielleicht darf ich aber für diese Nacht Dein Tannhäuser sein?“
„Ach was, red net so dalket daher! Und dann sieh Di au fei’ vor, Dei Frau is hier, mei lieber Dokter Gradinger!“
Er zuckt doch einen Augenblick zusammen, dann flüstert er ihr hastig zu:
„Stad bist! Ich bin abergläubisch, was meine Frau angeht. Woher kennst Du mich überhaupt? Und wer bist denn Du? Es wär’ doch richtig —“
„Daß man fei selbst erriete, wer so a schöne Masken wär, aber sich net aufs Ausfragen legte. Denn Du bist doch a Advokat und ka Untersuchungsrichter net! Und was sagst denn da vorher? Du bist abergläubisch, was Dei Frau angeht?“
„Bin ich auch! Ich will das Sprichwort vom Wolf nicht anwenden, der da wie telephonisch herbeigerufen erscheint, wenn man ihn nennt. Daß meine Frau hierherkäme, ist ganz ausgeschlossen.“
„Und wenn i Dir doch sage, sie is hier!“
„Dann sage ich dir, Du hast Dich getäuscht!“
„Und warum?“
„Na Du mein Gott, verstehst mich denn nicht? Weil’s halt meine Frau ist!“
“O, ich waß, da ist sie halt a garstiges, langweiliges Ding!“
„Garstig, nein, das ist sie nicht. Sogar recht hübsch und niedlich, so ungefähr wie Du! Und langweilig? Gott, ich habe schon langweiligere getroffen, obgleich ich nicht mit ihnen verheiratet war. Aber weißt, das Verheiratetsein, in der Länge liegt die schwere, auch hier! Ich spür’s jetzt schon, und bin doch noch nicht zwei Jahre unter der Haube!“
„Brr, is dees wirkli so? Na, da bin i halt froh, daß i noch net verheirat’ bin.“
„O, das ist mir auch durchaus nicht unangenehm, mein Schatz, und wenn Du denn noch frei bist wie der Vogel in der Luft, da bin ich auch so frei, auf meinen Vorschlag von vorhin zurückzukommen.“
„I hab Dir doch scho g’sagt, daß Dei Frau hier is!“
„Halt, Vöglein, jetzt hab ich Dich gefangen!“ sagte er lachend und schob seinen Arm unter den ihrigen. „Vorher kanntest Du meine Frau doch gar nicht und jetzt —“
„Ah, dees hab i nur gsagt, um Di a wenig auszuhorchen!“
„Na, mir einerlei, jedenfalls habe ich jetzt einen ganz unerlaubten Durst, und Du mußt mir helfen ihn zu stillen.
„I — i wer —“
„Nichts da! Du wirst doch eine Flasche Pommery nicht verschmähen? Ich trinke nämlich nur in Gesellschaft, allein schmeckt mir’s nicht.“
„Wie, Du mußt immer in Gesellschaft —“
„Aber natürlich; allein trinken, brr, das wär gerade so wie allein küssen!“
„Schau, ist does aber gspaßi!“
„Gspaßi oder nicht, mein liebes Kind, jedenfalls darfst Du mir meine Bitte nicht abschlagen, das wäre gegen die Maskenfreiheit!“
„Freili, dees woar a Verbrechen! Also komm!“
Als er sie aber in eines jener verschwiegenen Kabinettchen führen wollte, wo nach dem Worte eines biederen bayerischen Gebirgswirtes „zwoa nei komme, wo sich gern haben“, da machte sie sich los, blieb stehen und sagte resolut:
„Na, da geh i net nei, dees gibt’s fel’ net!“
„Aber warum denn nicht, mein Kind? Du weißt, ich bin ein Mann der Öffentlichkeit, aber hier? Was sollen wir denn nun machen?“
„Schau, da soan do Marmortischln gnug — da kann ‘r fei sei Fläschle trinke!“
Er seufzte ein wenig.
„Na, wenns nicht anders sein kann! — Aber wie Du dann nachher meinen Wunsch erfüllen willst —“
„Davon kann doch überhaupt net die Red’ sein. Du bist ja verheiratet, i kann do fei net mit Dir geh’n!“
„Warum denn nicht? Wenn doch, wie Du sagst, meine Frau hier ist?“
„Aber sie könnt’ heim kommen! Na, na, dees geht fei net!“
Er sah, daß jeder Widerspruch seinerseits nutzlos sein würde, und man ließ sich an einem der zierlichen Marmortischchen nieder, die die Wände des Saales zierten. Der Kellner erschien sofort, man bestellte den üblichen Sekt, und zwar keine schlechte Marke, und bald erschien der Ganymed auch mit dem Verlangten. Als der elektrisierende Trank in den Gläsern perlte und schäumte, sagte er:
„So, schöne Maske, nun nimm für einen Augenblick die Larve ab, ich sehe sonst nicht ein, wie Du trinken willst.“
„Die Larve?“ lachte sie belustigt, „ah na, red net so dalket daher. Noch is ja net amal Demaskierung!“
Sie stieß mit ihm an, hob nur den losen unteren Teil der weißseidenen Larve in die Höhe und führte das Glas zum Munde. — Diesen Augenblick wollte Doktor Gradinger benutzen, um etwas von dem zu gewahren, was unter der neidischen Hülle sichtbar werden würde. Über er fuhr erstaunt zurück. Der eine Blick hatte ihm gezeigt, daß die Liebesgöttin unter der Larve noch ein Trikot oder schleierartiges, sich eng an die Formen des Gesichts anschmiegendes Gewebe trug.
„Aber schönste Liebesgöttin,“ begann er jetzt dringender, warum trägst Du Dein Gesichtchen doppelt maskiert?“
„Ja, schau,“ kicherte sie, „i hab Dir zwar g’sagt, daß i net verheiratet bin, aber gwisse Rücksichten hab i doch z’ nehmen. Un wenn sich nu heut für mir ka Adonis oder sunst a ander Freier g’funden hätt, nachher hätt’ i halt bei der Demaskierung nur die Larve abgenommen, aber den Schleier vorbehalten un wann i an Galan g’funden hätt, no — dann erst grad!“
„Nun also, schöne Maske,“ holte er jetzt zu neuem Angriff aus, „da sind wir ja gleich einen Schritt weiter, auf ein Abenteuer war es ja also doch abgesehen! Komm, nimm mit mir vorlieb, ich bitte Dich!“
„Aber i sag Dir doch, es geht nu amal net und auf a Verheiraten hatt i eh net schpekuliert!“
„Wenn Du das letzte Vorurteil besiegen könntest, so wäre uns geholfen. Magst Du nicht mit mir ein Stündchen im verschwiegenen halbdunkel des Separees zubringen, so führ’ ich Dich anderswohin, in ein gemütliches warmes Nestchen —“
„Was, a — a warm’s Nestl? Na höre amal, wie soll ich denn dös verstehen?“
„Das ist nicht unbedingt nötig, daß Du das verstehst, sagte er lachend, „Du wirst es ja schon nachher sehen. Aber warum eigentlich nachher? Können wir denn das nicht gleich haben?“
„Uijegerl, was bist Du pressiert, i moan, man könnt sich no a weng beim Tanz vergnügen!“
„Ach was, das fade Gehopse, wenn man so viel Besseres vor hat!“
Aber sie ließ nicht locker, er mußte erst den Champagner austrinken und dann noch einen feschen Walzer mit ihr tanzen. Als man dann aufbrach, hatte er wieder einen solchen Durst, daß er erst noch einen gründlichen Trunk tun mußte. Endlich war man unten auf der Straße angelangt, er hüllte seine Liebesgöttin sorglichst in seinen Pelz, sagte dem Kutscher so leise, daß sie es nicht hören konnte, das Endziel der Fahrt und fügte das Versprechen eines guten Trinkgeldes hinzu, wenn er sich recht beeile. Dann sprang Doktor Gradinger selbst in den Wagen, und der „Weißlackierte“ schlug auf seinen Gaul, als gälte es, irgendwo den ersten Preis im Traben zu erringen! Der verliebte Pierrot herzte und küßte seine Liebesgöttin stürmisch und namentlich dann, wenn sie einen Blick zum Fenster hinaustun wollte, um sich über die Richtung zu orientieren, die der Wagen nahm. Nach einer Fahrt von etwa einer Viertelstunde hatte man das Ziel erreicht, ohne daß sie eine Ahnung hatte, wo sich befand. Das Aussteigen — Gradinger hatte das Geld für den Kutscher bei Heller und Pfennig schon bereitgehalten — das Aufschließen des Hauses, das alles ging so enorm rasch, daß sie sich ebenfalls nicht zu orientieren vermochte.
Gradinger zündete ein Wachshölzchen an und geleitete seine Göttin eine teppichbelegte Treppe hinauf. Dann öffnete er eine Tür, die direkt auf den Treppenflur ging, vermittels eines kleinen Schlüssels. Was auf der Visitenkarte an der Tür stand, hatte die Göttin der Liebe nicht entziffern können.
„Aha,“ bemerkte sie mit lautem Lachen, das etwas gezwungen klang, „Zimmer mit separatem Eingang!“
„Aber natürlich!“ rief er, „immer sturmfrei!“
Man befand sich in einem hübschen gemütlichen Raum von bescheidener Eleganz. Eine Portiere trennte ihn von einem kleinen Kabinett, in das der Gast sofort einen Blick warf. Ein großes, zweischläfriges Bett — die Einrichtung Eiche.
Nach dem die Gaskrone angezündet, legte „Venus“ sogleich ihr Oberkleid ab und warf sich, nur mit dem sehr „ausgeschnittenen“ und ärmellosen Peplos, der die feinen Spitzen der Beinkleider sehen ließ, angetan, auf ein Fauteuil1, riß die Larve vom Gesicht und rief:
„Hast hier vleicht a was z trink n?“
„Wär noch schöner, wenn ich das nicht hätte!!“
Und er holte aus einem ganz kleinen Büfett eine Flasche Bordeaux und goß die granatfarbene Flüssigkeit in die geschliffenen Kelche. sie stießen an und er sagte zu ihr mit mühsamer Beherrschung seiner bereits hochgradigen Erregung:
„Dir holde Göttin soll mein Trinkspruch tönen.
Die Du entstiegen aus der Purpurflut,
Dir Schutzgeist alles heitren, Schönen.
Rot strahlt der Wein, blau Deines Auges Glut,
Und hell wie Silber tönt Dein holdes Lachen “
Doch Du verbirgst Dein reizend Angesicht!
Den Schleier lüfte, daß es hold erwache,
Wie an des Himmels Blau der Sonne Licht.
Laß Deine Brust mein Flehen doch erweichen,
Warum willst Du dem Bild von Sais gleichen?“
Und er faßte auch schnell nach der trikotartigen Umhüllung, die ihr Gesicht noch bedeckte, nachdem die Larve entfernt war.
„Schau, dees möchst!“ rief sie, ihm auf die Hand schlagend, „na, dees gibts fei net! Schau, der Mund ist frei zum Busserln, und in die Augen kannst mir au gucken, — weiter braucht s nix. Aber Du bist ja wohl gar so a Dichter? Wie Du das alles so daher gered’t hast, ohne —“
„Ach, liebes Kind, jetzt, dees is no gar nix! Früher ja, aber das ghört net hierher!“
Sie stießen an, sie nippte, er aber trank hastig. Sie hatte sich auf seinen Schoß gesetzt und einen Arm um seinen Hals geschlungen, er hatte ihr den Peplos auch noch abgestreift und fühlte nun durch die dünne Umhüllung die Wärme und die köstliche Rundung der Formen ihres herrlichen Körpers. Das machte ihn immer heiserer und durstiger. Und als sie ihm noch ein wenig schmeichelnd zusetzte, da bekannte er:
„Ja, schau, ich bin alleweil ein lustiges Blut, ein rechter Lebemann gewesen — ich konnte damit nicht rasch brechen, auch als ich mich verheiratete. Ich behielt meine Junggesellenbude neben meiner Privatwohnung und meiner Kanzlei hier, wohin der Fuß der Eifersucht nicht gelangt, hier bewahr ich alle die herrlichen Erinnerungen aus meiner wundervollen Sturm- und Drangperiode, all die hunderte duftiger Billetts, getrockneter Blumen, seidener Bändchen, all die Gedichte, die ich in einem solchen Zustande verbrochen, sie füllen, geschrieben, ganze Bände. Alle diese Heiligtümer sind hier verwahrt, und wenn mir einmal eine liebenswürdige Freundin ein Stündchen schenkt, hier in diesem Nestchen sind wir sicher und geborgen.“
Er nestelte mit bebenden Händen an ihrer leichten Hülle herum, nahm sie in seine Arme und trug sie mit einem unterdrückten Jauchzer ins Kabinett.
Doch mitten im Liebesrausch kam Doktor Gradinger zur Besinnung. Er schaute auf den blonden Lockenkopf nieder, der sich ihm an Brust und Schulter schmiegte. Unmittelbar unter dem Haar der Stirn begann die lästige Hülle. Ganz vergebens, die Züge zu erkennen, die darunter verborgen waren. — Das Mädchen oder was sie sonst sein mochte kannte ihn, hatte ihn bei Namen genannt, hatte von seiner Frau gesprochen. Das konnte eine Falle sein, konnte aber ebenso gut auch wahr sein! Und wenn es so war, nun, sie würde reinen Mund halten, schon um ihrer selbst willen. Aber sie konnte andere unvermerkt auf seine Spur führen und das wäre äußerst peinlich gewesen.
Und er hatte keine Ahnung, wer sie war. Sicherlich eine Bekannte, die nach verbotener Frucht Gelüste trug. Wie konnte man sich später vor der kompromittieren, lächerlich machen! Er mußte wissen, wer sie war!
Der Gedanke hielt ihn wach, ja, machte ihn völlig nüchtern. Gespannt lauschte er auf ihre Atemzüge, und als es ihm schien, als gingen diese ruhig und regelmäßig, da versuchte er wiederum, ganz leise, ganz behutsam, ihr die Hülle vom Gesicht zu ziehen.
Aber mit einem raschen Griff wehrte sie ihn ab.
„Pscht! Net anfassen!“ flüsterte sie, löste sich aus seinem Arm und legte sich auf die andere Seite.
Er seufzte. Unter solchen Umständen würde es ihm schwer fallen, im buchstäblichen Sinn den Schleier zu lüften.
Plötzlich kam ihm ein Gedanke und er erhob sich nicht sehr leise und vorsichtig, um denselben zur Ausführung zu bringen.
„Was machst denn, was willst denn?“ fragte die Schöne aus den Kissen heraus mit bereits etwas verschlafener Stimme, „willst mir etwa hier alloane lass’n?“
„Warum nicht gar!“ sagte er lachend, „da könnte ich mir eine schöne Suppe einbrocken! Nein, ich habe Durst, kolossalen Durst, ich muß unbedingt noch etwas trinken!“
„Ah, dees is gscheit, meinte sie, „willst mir fei’ a was mitbringen?“
„Aber gewiß, Schatz, so viel Du willst.“
Er verließ das Schlafkabinett, wo nur eine farbige Ampel brannte, und betrat das Wohnzimmer. Hier zündete er eine Flamme der Gaskrone an, holte aus einem Wandschränkchen eine Kaffeemaschine, füllte deren kleinen Kessel mit Wasser und entzündete die Flamme darunter. Sodann ergriff er die beiden Weingläser, aus denen sie vorhin getrunken hatten, füllte das eine aus der auf der Kommode stehenden Wasserkaraffe mit Wasser und murmelte dabei:
„Mein schöner Bordeaux, verzeih’ mir die Sünde, aber der Zweck heiligt die Mittel! Wart’, Täubchen, Du sollst einen sanften, tiefen Schlaf tun, Du große Unbekannte.“
Bei den letzten Worten holte er aus dem Wandschränkchen ein Fläschchen hervor und goß daraus in das andere Glas einige Tropfen einer braunen Flüssigkeit und füllte nun beide Gläser bis zum Rande mit Bordeaux. Endlich nahm er noch aus einer Blechbüchse, die sich gleichfalls in dem Schränkchen befand, drei Lot gemahlenen Kaffee und schüttete ihn in den oberen Teil der Kaffeemaschine.
„So“, murmelte er, „wenn ich den aufbrühen, das gibt zwar Nervenzucken, hält aber wach, auch wenn man eine ganze Woche durchgebummelt hätte, und so unsolide sind wir denn doch nicht!“
Nach diesem Selbstgespräch stellte er die beiden gefüllten Weingläser auf ein Tablett und kehrte damit in das Schlafkabinett zurück.
„Du bist fei’ lang’ geblieben, Schatzl,“ sagte sie.
„Ei was,“ sagte er, ihr das Tablett präsentierend und zugleich das Glas, das zu dreiviertel Wasser enthielt, ergreifend, „das bildest Du Dir ja doch nur ein. Es sieht dort drinnen ein wenig wüst aus, und ich mußte erst einiges beiseite rücken. Und nun, prosit, Schatz!“
Sie ergriff das Glas, ein heller Klang und der Doktor hatte das seinige auf einen Zug geleert.
„Uff, dieser Durst!“ sagte er, während Frau Venus nur erst einen kleinen Zug aus dem ihrigen tat, und fuhr dann fort: „Trink, Schatz, ich möchte das Glas wieder zurück in die Stube bringen und dann noch ein wenig aufräumen. Es ist fast zwölf Uhr — und morgen früh um fünf Uhr ist die Nacht herum, wenigstens für mich. Da muß ich spätestens zu Hause sein, wenn nicht die Dienstboten — und — meine Frau etwas merken sollen. Trink, Schatz!“
Sie leerte nur das Glas zur Hälfte und sagte dann:
„Ah, ist der Wein schwer, das hatte ich vorher gar nicht so gemerkt. Er macht ordentlich müde!“
„Das ist die Reaktion nach all der Aufregung,“ belehrte er sie, trinke! Um so tiefer und gesunder wirst Du schlafen. Trink aus.“
Aber sie trank jetzt auch nur dieses halbe Glas zur Hälfte aus, und erst nach etwa einer Minute schlürfte sie langsam den Rest hinunter.
„So,“ sagte er, das Glas aus ihrer Hand nehmend, „nun Schlaf aber, ich muß wirklich da drin noch einiges in Ordnung bringen, wer weiß, ob ich morgen dazu Zeit finde. Ich komme aber gleich wieder.“
Als er sich wieder im Zimmer befand, murmelte er:
„Himmel, wenn nur das Wasser bald kochen wollte, ich halte mich kaum noch auf den Füßen, ich schlafe im Stehen ein uns morgen früh, womöglich geht sie, und ich erfahre gar nicht, wer sie ist.“
Während er das Tablett auf den Tisch niedersetzte, richtete sich Frau Venus drin auf ihrem Lager auf. Sie gähnte.
„O was bin ich müde, was bin ich müde! Doch das schadet nichts, ich kenne mich — wenn ich mir vornehme, zu einer bestimmten Stunde aufzuwachen, so bin ich auch da. Aber er, er darf — nicht früher wach — werden — wie — ich — oh diese — Müdigkeit! Ich — ich muß — den — Wecker — abstellen! — schnell!“
Und gewaltsam gegen den übermächtigen Schlaf ankämpfend, drückte sie auf den Hebel unter der Glocke, so das Läutewerk außer Tätigkeit setzend. Mit Mühe gelang es ihr noch, im Bett dieselbe Lage einzunehmen wie vorher, dann fielen ihr die Augen zu, und im nächsten Augenblick war sie tief und fest entschlummert.
Indessen kämpfte drinnen Doktor Gradinger gegen die Müdigkeit an, indem er mit großen Schritten im Zimmer auf und ab ging, in sehr derangiertem Kostüm freilich, denn er kam doch direkt aus dem Bett. Aber dank der Fürsorge der aufmerksamen Wirtin herrschte eine behagliche Wärme in dem Gemach.
„Gott sei Dank, sie singt!“ flüsterte er plötzlich stehen bleibend und sich über die Maschine neigend, „nun noch ein paar Sekunden, dann haben wir das Elixier, das uns munter hält!“
Auf den Zehen schlich er ins Schlafgemach, beugte sich über seine Gefährtin und nickte befriedigt.
„Der Himmel sei gepriesen, sie schläft. Aber noch kann ich es nicht wagen, den Schleier zu heben, flüsterte er, Morpheus muß sie erst noch fester umfangen.“
Damit kehrte er ins Wohnzimmer zurück.
„Ah, endlich!“ atmete er auf und kehrte die Kaffeemaschine um. Es war einer jener für Junggesellen so praktischen Apparate. — Durch das einfache Umdrehen des Kessels lief das kochende Wasser durch ein doppeltes Haarsieb, in dem sich der gemahlene Kaffee befand und der braune duftende Aufguß floß in die untere Hälfte des Kessels ab.
Doktor Gradinger entnahm der Kommode eine Tasse und einen Teelöffel und dem Wandschränkchen ein Blechbüchschen mit feinem Zucker und goß sich die Tasse voll des duftenden Trankes. Er setzte zwei Löffel Zucker zu und erlabte sich zunächst am Geruch. Dann, nachdem sich das Getränk ein wenig abgekühlt hatte, nahm er langsam einen großen Zug.
„Uh! Wie das durch und durch geht!“ flüsterte er, „wie man’s ordentlich fühlt, wie die Geister des Alkohols das umnebelte Hirn fliehen — so ah — und noch einmal!“
Die Tasse war leer, er goß den Rest ein, der die Tasse fast noch einmal ganz füllte. Dann ging er ins Schlafzimmer, trat an den Waschtisch und füllte das Waschbecken. Er setzte dem Wasser ein diskretes Parfüm zu und wusch sich den ganzen Kopf, Gesicht und Hals mit duftender Veilchenseife, ebenso Hände und Arme. Nachdem er sich abgetrocknet, fühlte er sich wie neugeboren, aufgelegt, den Rest der Nacht bis in den hellen Morgen durchzurollen. Aber das ging leider nicht, jetzt mußte er wissen, woran er war und ob er den Plan durchführen konnte, den er gefaßt für den Fall, daß er es mit einer Bekanntschaft aus seiner Junggesellenzeit zu tun hatte. Er schlüpfte also in sein Pierrotkostüm, band die Larve vor, beugte sich über die schlafende und lauschte auf ihren Atem.
„Besser ist besser,“ flüsterte er, kehrte ins Wohnzimmer zurück, schlürfte behaglich auch noch die zweite Tasse Kaffee hinunter und betrat dann wieder das Kabinett. Vorsichtig mit angehaltenem Atem drehte er das lockige Haupt der Schlafenden völlig auf die eine Seite und löste das Band, das den Schleier festhielt und am Hinterkopf zu einer Schleife verknüpft war. Langsam zog er den Schleier Zoll für Zoll zurück und bog dann den Kopf behutsam wieder so, daß das volle Licht der Ampel auf ihn fiel. Mit einem halblauten Schrei aber fuhr er zurück.
„Ist’s möglich? Annemarie!“
Er traute offenbar seinen Augen nicht. Er entzündete eine in einem Leuchter auf dem Nachttisch steckende Kerze und leuchtete der Schläferin ins Gesicht.
Holde, süße Unschuldszüge!
Die sanft gerundeten Wangen lieblich gerötet, die langen Wimpern der geschlossenen Lider wie tiefe Schatten, ein liebes Lächeln auf dem Gesichtchen, das die blonden Löckchen umkräuselten.
„Ist’s möglich — Annemarie!“ murmelte er schier verzückt, „so lieblich bist Du? Ja, an so was geht man vorüber! Ich möchte Dich jetzt am Kopfe fassen und herzhaft abküssen, aber es geht nicht, geht absolut nicht, Deine Strafe mußt Du haben!“
Er löschte das Licht, entledigte sich der Pantoffeln und schlüpfte wieder in die zum Kostüm gehörigen weißen Lederschuhe mit den roten Pompons.
„Auf sie hätte ich allerdings nicht verfallen können,“ murmelte er, „wie meisterhaft sie ihren heimischen Dialekt noch spricht, und wie virtuos sie ihre tiefe, volle Altstimme zum hellen Diskant hinaufzuschrauben verstand. — Aber warte! Wer zuletzt lacht — Nun aber ans Werk!“
Er öffnete nun die Schranktür und alle Schubfächer, die sich nur im Zimmer befanden. Dem Schrank entnahm er zunächst einen mächtigen Reisekoffer, der wohl „für unvorhergesehene Fälle“ hier stand und begann ein Packen, als sei er ein Kassierer, der einen tiefen Griff in den „Arnheim“ seines Prinzipals getan und nun im Begriff steht, den Staub des alten Europa von den Füßen zu schütteln, aber jeden Augenblick fürchtet, die „Häscher“ möchten eintreten und ihn „in Bande“ schlagen. Er entnahm dem Schrank einen Jackettanzug, einen leichten Havelock, einen Schlapphut und einige kleinere Garderobenstücke und verstaute sie sorgsamst in die eine Hälfte des Koffers. Plötzlich unterbrach er sich aber in seiner Tätigkeit und ging wieder ins Schlafzimmer.
„Himmel,“ sprach er zu sich selbst, „ehe ich das vergesse, sie darf ja gar nicht ahnen, daß ich sie erkannt habe.“
Vorsichtig bedeckte er ihr liebliche Antlitz wieder mit dem leichten Gewebe, langsam drehte er ihr Köpfchen zur Seite und befestigte die Schleife wieder möglichst genau wie sie gewesen. Dann leerte er sogleich die Schubfächer des Waschtisches und des Toilettentisches und verpachte alle die vielen Kämmchen, Bürstchen, Schächtelchen, Döschen, Kartons in ein eigens dazu vorhandenes Etui, das er in den Koffer schob, nachdem er ins Wohnzimmer zurückgekehrt war. sodann ging’s ans Ausleeren der Kommodenschubladen. Dort lagen offenbar alle die herrlichen Erinnerungen aus der wundervollen Junggesellenzeit: kleine Pakete, mit rosaseidenen Bändchen verschnürt, eine Reihe Oktavbüchlein, in rotes Saffianleder gebunden, Schleifchen, gepreßte Blumen, hundert Nichtigkeiten, aber für ihn kostbar und unersetzlich. Er öffnete einen der Oktavbände: Richtig, auf feinstem Velinpapier mit schöner Charakterhand sauber geschriebene Verse! Er lächelte und legte alles in einen Karton, den er in den Koffer schob.
„Alles am Schnürchen,“ sagte er zufrieden, „wie gut, wenn man von klein auf an peinliche Ordnungsliebe gewöhnt worden ist. so, und nun kommt die Wirtschaft. Kaffeegeschirr, Teller zum Abendbrot, verschiedene Gläser, Büchsen und Blechschachteln, alles war mit wenigen Griffen so verpackt, daß es wiederum ein einheitliches Ganzes bildete, das im Koffer Platz fand.
„Rilke zieht!“ lächelte er vergnügt, und dann nahm er den Leuchter, dessen Licht er entzündet hatte und leuchtete in alle Ecken und Winkel der beiden Räume.
„So,“ flüsterte er, „nun soll einmal der gewiegteste Kriminalkommissarius kommen und nach Spuren des Bewohners dieser „heiligen Hallen“ suchen. Erfolg einfach ausgeschlossen!“
Einen Blick warf er auf die Uhr.
„Zwei! Keine Zeit zu verlieren, aber auch keine Übereilung nötig.“
Am Rahmen der Tür hing der zweite Stubenschlüssel, er ließ ihn hängen, steckte einen anderen Schlüssel, den er an seiner Schlüsselkette in der Tasche trug, in das Schlüsselloch und schloß auf. Dann, nach einem Rundblick durch beide Zimmer, drehte er erst die Ampel im Schlafgemach und dann die eine Flamme der Gaskrone aus, nachdem er noch den Pelz angezogen und den Hut aufgesetzt hatte. Er verließ die Wohnung, schloß wieder ab und schritt mit dem Koffer in der Hand geräuschlos die Treppe hinab.
Draußen auf der Straße war es herrlich — eine mäßig kalte sternklare Nacht, die Straßen trocken und sauber. So rief er denn nicht, wie er anfangs beabsichtigt hatte, sogleich eine Droschke herbei, sondern durchschritt erst zu Fuß einige Straßen — es war auch besser so. Dann rief er einen Weißlackierten, gab ihm das Ziel der Fahrt an, und der Gaul lief, was er konnte.
„Auch eine hübsche Gewohnheit von mir,“ lachte der Rechtsanwalt in sich hinein, „alle Schlüssel bei mir zu tragen, „wie könnte ich sonst in meine Kanzlei?“
Nach einer Viertelstunde gelangte das Gefährt in eine der belebtesten Geschäftsstraßen. Der Kutscher hielt vor einem großen Hause an einer Ecke. Gradinger lohnte ihn ab, betrat aber nicht das Haus, das er dem Kutscher bezeichnet hatte, sondern ging wenigstens noch hundert Schritte weiter. Er gelangte ohne irgend welches Aufsehen ins Haus, in seine in der Beletage gelegene Kanzlei und versenkte dort den ominösen Koffer in den unergründlichen Schlund eines riesigen Aktenschrankes. Nachdem er das Haus verlassen hatte, durchschritt er wieder mehrere Straßen und nahm dann erst eine Droschke, die ihn nach dem Ausgangspunkt der abenteuerlichen Rundreise, dem großen Festlokal zurückbrachte, in welchem die Redoute abgehalten wurde.
Ein Maskenverleiher war unten zur Stelle, er war derselbe, von dem Doktor Gradinger sich den Pierrot am vergangenen Tage besorgt hatte und zwar hatte er ihn unter dem Namen „Hans Hupfeld“ durch einen Dienstmann holen lassen. Jetzt begab er sich in einen Ankleideraum, wo seine „Zivilkleider“ hingen, denn mit gutem Grunde hatte er den Anzug nicht nach Hause bringen lassen. Sollte doch seine Frau, die gern überall herumschnüffelte, nichts von seinem lockeren Abenteuer wissen. Dort, in jenem Ankleidezimmer hing auch noch das Kostüm eines Maltesers — schwarzer spanischer Anzug mit weißem Kreuz am Halse und auf dem Mantel. Doktor Gradinger, als routinierter Redoutenbesucher, gebrauchte diese Vorsicht stets. Um sich vor denjenigen Masken zu retten, denen er allzu kühne Liebenswürigkeiten in die Ohren geflüstert hatte, verschwand er in der Regel eine halbe Stunde vor der Demaskierung und kehrte noch vor zwölf Uhr in einem anderen Kostüm zurück. Heute war die Sache völlig unbedenklich, denn es waren wenigstens ein halbes Dutzend Malteser vorhanden. Man konnte also beliebig irgendwo auftauchen. Diesen Anzug hatte sich Gradinger aber persönlich und unter seinem eigenen Namen besorgt.
Im Saale war verhältnismäßig wenig mehr zu machen. Ein „Jeder“ hatte bereits seine „Jede“ gefunden, eine ganze Menge „Unverbesserlicher“, nur Herren, hatten sich zu einer trunkfesten Tafelrunde vereinigt und es herrschte an ihrem Tische Herrenabendstimmung in des Wortes verwegenster Bedeutung. Einige abgegriffene dürftige Nachtvögel flatterten noch hier und dort im Saale umher, um vielleicht noch einen Fang (im Stillen hatten sie anfangs auf einen Gimpelfang gehofft) zu tun, hatten sich aber jetzt wohl schon halb und halb überzeugt, daß es verlorene Liebesmüh sein werde. Dr. Gradinger ulkte sie ein wenig an, trank hier ein Glas mit, setzte sich einen Augenblick an die Tafel der Trunkfesten und gab dort einige der saftigsten Geschichten zum besten, die er auf Lager hatte, aber immer mit der ihm eigenen Grazie, mit dem liebenswürdigsten Esprit, was auch das Faustdicke pikant und genießbar macht. Lautes Gejohle erscholl bald an jenem Tisch, so daß die übrigen Festbesucher aufmerksam wurden. Einige von der Tafelrunde machten sogar Miene, ihn hochleben zu lassen, er aber bat als echter Posa, die Gedankenfreiheit nicht gleich mit einem Toast zu bestrafen, und nahm bald darauf französischen Abschied. Er tauchte an einem anderen Tische auf, wo Männlein und Weiblein beieinander saßen, und ließ dort einige recht gepfefferte Sächelchen vom Stapel, die mit lautem Gekreisch oder verschämtem Gekicher quittiert wurden. Kurz er zeigte sich überall, es schien ordentlich, als ob er sie, für alle Fälle ein Alibi sichern wollte. Einen Carlos, der die Probe mit der Dielenritze schwerlich noch hätte bestehen können, überzeugte er mit Erfolg davon, daß er schon gleich bei der Demaskierung Arm in Arm mit ihm sein Jahrhundert in die Schranken gefordert habe, und dieser war einem anderen Ungläubigen gegenüber auch wirklich bereit, dies mit seinem Ehrenwort zu bekräftigen.
Endlich aber entging Doktor Gradinger doch seinem Schicksale nicht. Ein armseliges Geschöpfchen, das nur wenige Groschen in der Tasche haben und schon den ganzen Abend ausgeschaut haben mochte, wo etwa für sie ein warmes Abendbrot abfiele, hängte sich ihm an den Arm und klagte ihm, daß es unter den heutigen Männern keine Idealisten mehr gäbe. Er verstand, er führte sie in eines der Seitenzimmer des Saales, ließ sich mit ihr an einem kleinen Tische nieder und befahl dem Kellner die Speisekarte zu bringen. Übrigens fand er, daß das an sich eine ganz nette Idee sei, denn bei ihm machte sich ganz gewaltig ein sehr menschliches Gefühl bemerkbar, das man insgemein Hunger nennt.
„Aber sage mal, redete ihn die Kleine mit schmachtenden Augen an, „warum denn hier — so auf dem Präsentierteller? Gibt es doch noch Plätzchen, wo man ungestört und unbeobachtet ist.“
„O, lieber Schatz,“ sagte er harmlos, „was wir tun, braucht doch der sonne Licht nicht zu scheuen. Außerdem ist es doch — wenn ich mir das Vergnügen mache, eine junge Dame zum Abendbrot einzuladen, kein gutes Werk, das man heimlich tun müßte.“
„Dummkopf,“ platzte sie plötzlich ganz unparlamentarisch und in einem Ton heraus, der sich wesentlich von dem schmachten unterschied, das sie bisher an ihn verschwendet.
Er lachte sie vergnügt an.
„Meinst Du? Vielleicht bin ich aber doch gar nicht so dumm wie ich aussehe.“
„Pardon, so habe ich es ja auch nicht gemeint. Aber sieh, ich bin — ich habe —“
„Na, machen wir’s kurz: wieviel brauchst Du?“
„Gott, sieh mal, glaube doch ja nicht so was! Aber mein Baron, es ist doch eigentlich eine Gemeinheit, er hat mich kürzlich versetzt, gerade vor dem Ersten —
„Na, also hatte ich doch recht! Aber es ist jetzt bereits ein stark angebrochener Nachmittag, also was kostet der Scherz? Und da meine Zeit diesmal knapp ist, so erlaube, daß ich mich von allem übrigen loskaufe.“
Sie nannte, da der Kellner mit der Speisekarte herbeikam, flüsternd ein kleine Summe und wählte dann auf der Karte; er tat das gleiche und fragte.
„Und was für Wein?“
Sie zögerte.
„Nun, da wir nicht lange Zeit haben, so wollen wir uns die Einleitung schenken, also eine Denne Cliquot!“
Als dann der Kellner die Kuverts gebracht hatte, schob er ihr verstohlen ein Stück Papier unter den Teller. Sie öffnete, zwei Goldstücke blitzten ihr entgegen.
„Ja, aber soviel machts ja nicht, sagte sie bestürzt.
„Macht nichts!“ kam es lakonisch zurück.
„Na höre mal, ein Knauser bist Du nicht. Kann ich denn das nicht wieder gut machen, das heißt auf andere Weise, als ich zuerst meinte?“
Jetzt war die Reihe an ihm, sie betroffen anzusehen.
„Das wäre ja leicht einmal möglich! — Willst Du mir nicht Deine Adresse sagen?“
„Warum denn nicht?“ Und sie gab bereitwilligst Auskunft. —
„Und ich bin Doktor Grabinger, ein bekannter —“
„Rechtsanwalt,“ fiel sie ein. „so, der bist Du?“
„Ja, allerdings, und es könnte sein, daß man von mir wird wissen wollen, was ich diese Nacht hier getrieben habe. Da könnte mir Dein Zeugnis denn doch wohl nützen.“
„Mit Vergnügen. Aber sage —“
„Nein, erlaube, erst muß ich mal was sagen. Wie kommst Du eigentlich hierher? Du bewegst Dich hier sehr ungeschickt, meine Liebe, und scheinst wenig Routine zu besitzen. Meiner Ansicht nach ist das hier doch nichts für Dich, und dann, verzeih, daß ich es Dir sage, denn es klingt grob, aber ich kann Dir’s nicht ersparen, und dann bist Du „dazu“ auch nicht hübsch genug! Also, was bist Du eigentlich?“
„Ich — ich bin Klapperschlange — oder Tippeuse oder Schreibmaschinenfräulein, — wie Du willst. Ich war bei einem Deiner Kollegen und wurde ganz plötzlich entlassen, weil — er kurzsichtig war.“
„Was, weil er —?“
„Nun ja, verstehst Du denn nicht? Eines Tages wollte er seine Frau küssen und — kriegte mich zu fassen. Das war schon faul. Noch fauler aber wurde die Sache, als seine Frau gerade dazukam. Es half mir auch nichts, daß ich ihn hinter die Ohren schlug. Sie drangen beide zeternd auf mich ein und versicherten, ich sei auf der Stelle entlassen, sie wegen des Kusses, er wegen der Ohrfeige.“
„Ja, gingst Du denn?“
„Natürlich, ich fürchtete ja einen Skandal. Ich nahm dummer Weise auch mein Gehalt nur bis zum Tage der Entlassung. Es reichte nur bis drei Tage vor dem Ersten. Und nun gings bergab. Ich habe nach Stellung gesucht wie eine Wahnsinnige — aber als Maschinendame, es wollte sich nichts finden, ich hatte ja keine Zeugnisse!“ sie brach kurz ab und lachte hart auf.
„Aber ich bin auch nicht recht bei Troste, sagte sie dann, „Dir das zu erzählen. Erstlich kann Dir das doch alles Wurst sein — und dann auf einer Redoute —“
„Du irrst, mein Kind,“ sagte er jetzt plötzlich ganz ernst, „es interessiert mich im höchsten Grade. Und ich hoffe sogar, etwas für Dich tun zu können, wenn — nun — wenn Du mir die ganze Wahrheit sagst.“
Das Essen kam. sie schlang mit einem wahren Wolfshunger hinein, aber er wunderte sich, daß sie trotzdem Messer und Gabel nicht nur richtig, sondern sogar mit einer gewissen Grazie handhabte.
„Na, meinetwegen,“ sagte sie dann, „obgleich es eigentlich eine schlechte Zugabe zu dem Essen ist. Also ich lief mir die Hacken ab und hatte bereits seit zwei Tagen außer der Semmel zum Kaffee keinen Bissen mehr genossen. Am Morgen des Letzten im Monat stand ich auf und wäre beinahe zusammengefallen, so matt war ich. Ich wollte mich gerade wieder hinlegen, da trat die Wirtin ein und sagte ziemlich barsch. „hören se mal, Fräuleinchen, haben se nu fürn Ersten wieder Stellung? Nee? Können se mir denn wenigstens morgen die Miete für den nächsten Monat geben? Sie wissen’s nicht? Das kann mir nischt nützen. Ich bin Witwe und brauche mein Geld. Denn werde ich heute man wieder den grauen Zettel raushängen“. „Ich bitte sie, Frau Ewald, warten sie noch bis heute abend, ich werde es unter allen Umständen möglich zu machen suchen.“ „Suchen? Wat ick mir dafor koofe! Ich muß wissen.“ „Gut,“ log ich, „ich zahle morgen unter allen Umständen. Ich habe da noch eine Tante, der werd’ ich es sagen; ich tu’s zwar ungern.“ Da grinste sie breit: „Na, Gott sei Dank, endlich nehmen sie Vernunft an, und schad’t ja auch nischt, wenn die alte Tante ein junger Onkel oder ein noch jüngerer Cousin ist. Ich hätte sie in ihr grinsendes Mundwerk schlagen mögen, bezwang mich aber und trank meinen Kaffee, den sie mir brachte. Bis morgen mußte ich mich schon gedulden, — konnte ich da nicht zahlen, so war ich entschlossen, ein Ende mit Schrecken zu machen. Wieder lief ich den ganzen Tag umher, eine Stellung zu suchen. Abends gegen acht Uhr brach ich zusammen auf offener Straße, ich war völlig erschöpft. Ich fühlte mich von zwei kräftigen Armen aufgefangen. „Was ist Ihnen, Fräulein?“ hörte ich es an meinem Ohr. „Hunger,“ stöhnte ich, „Hunger!“ —Ja, mein Gott“, antwortete es, „da kann doch geholfen werden. Freilich, in ein Lokal kann ich sie so nicht mitnehmen, aber sagen sie mir Ihre Wohnung, dann wollen wir das bald heben.“ Ich tat, was er verlangte; er rief einen Kutscher, schob mich in die Droschke und befahl zu warten. Mit Brot, Butter, Aufschnitt und anderen guten Dingen und zwei Flaschen Mein kam er bald zurück, stieg ein und schob mir eine belegte Semmel in die Hand. Als ich meine Gedanken wieder beisammen hatte, rief ich.; „Wir können nicht nach meiner Wohnung, die Wirtin will morgen die Miete, und ich kann sie ihr nicht geben. „Bitte, lassen sie die Bagatelle“, bat er, „das kriegen wir schon“! Zu hause rief er die Wirtin, warf ihr die Miete fast vor die Füße, wenigstens auf den Tisch und forderte zwei Gläser. Er entkorkte die Flaschen und nötigte mich zu trinken. Verschmachtet wie ich war, trank ich in großen Zügen. Beim Essen wurde ich sehr müde, ich schlief, die Gabel in der Hand, ein, und als ich wieder erwachte, da war’s geschehen! Ich schrie, tobte, weinte, jammerte — jetzt wollte ich erst recht ins Wasser und fluchte ihm, weil er mich nicht habe verhungern lassen. Aber er wußte mich so nett zu trösten — und am anderen Morgen sagte mir die Wirtin grinsend: Na, sehen se, Fräulein, endlich sind se auf dem richtigen Wege, Vogel friß oder stirb! Ja, siehst Du,“ wandte sie sich jetzt, von ihrem Putenbraten aufsehend, zu Gradinger, „so geht’s!“
„Ja, ja, erwiderte er, immer dieselbe Geschichte mit irgend einer neuen Nuance. Und nun?“
„Nun? Jetzt bin ich bald wieder so weit wie damals! Ein halbes Jahr hat die Freundschaft mit dem Baron gedauert. Na, und dann wars ihm eben über. Du siehst, ich habe inzwischen was gelernt, bin nicht mehr treppauf, treppab gelaufen. Freilich, was nun werden soll ist mir schleierhaft. — Du bist nobel! Außer zur Miete reicht es noch mehrere Tage. Aber dann -“
„Höre mal, also Maschine klapperst Du?“
„Ja.“
„Wieviel Silben?“
„Wohl fast hundert.“
„Bon, hier hast Du eine Adresse, und hier schreib’ ich Dir auf meine Karte ein paar empfehlende Worte. Der Mann ist ein Schriftsteller, aber ein Anfänger. Du wirst mit einem mäßigen Honorar zufrieden sein müssen.“
„Ich nehme mit allem vorlieb. Wie soll ich Dir nur danken?“
„Unsinn! Übrigens, meine Empfehlung ist zwar für die Maschinenschreiberin eine Empfehlung aber für das junge Mädchen nicht! Ich stehe im Rufe eines Don Juan.“
„Du lieber Gott,“ sagte sie, geringschätzig die Achseln zuckend, „darüber bin ich nun weg.“
„Na, dann ist ja alles in Ordnung, mein Kind,“ sagte er, indem er seinen Teller beiseite schob und sich eine Zigarette drehte, „daher nun laß uns ein Ende machen. Es wird am besten sein, Du gehst jetzt nach Hause; satt bist Du, die Miete hast Du — und morgen bist Du auch in Stellung. — Oder nimmst Du noch eine Tasse Kaffee und eine Zigarette?“
„M. w. Du siehst, ich hin nicht blöde.“
„Wäre auch schlecht angebracht.“
Als man auch damit zu Ende war, beauftragte er den Kellner, für das Mädchen eine Droschke bringen zu lassen. Dann zahlte er und notierte sich ihre Adresse, auch die Nummer des Kellners und die Adresse des Maskengarderobiers, und schließlich auch noch den Namen des Schriftstellers, dem er das Mädchen empfehlen wollte. Dann geleitete er sie aus dem Saale, die Treppe hinunter und in die Maskengarderobe, wo sie den schwarzen Domino, den sie trug, wieder abgab.
„Sie können das Malteserkostüm morgen früh bei mir holen lassen,“ sagte Gradinger zu dem Maskenverleiher.
„Gewiß, Herr Doktor.“
Die Droschke hielt vor der Tür. Gradinger lohnte den Kutscher ab, half seinem Schützling in den Wagen und notierte die Droschkennummer. Dann ging er noch einen Augenblick zu dem Maskenverleiher.
„Nein, sagte er zu diesem, „lassen Sie’s lieber sein mit dem Abholen, ich werden das Kostüm Ihnen zuschicken.“
„Schön, Herr Doktor.“
„Ich kann wohl gleich hier durch nach dem Saal?“
„Gewiß, aber wieder in den Saal? Ich glaubte, der Herr Doktor wollten“ —
„Nee, nee, rief Gradinger nachdrücklich, is nich!“
Damit war er verschwunden. Droben setzte er sich wieder zu den „Trunkfesten“, und man zechte fröhlich, bis sich der Schwarm verlaufen hatte und auch die letzten schwankenden Gestalten ihren heimischen Penaten zusteuerten.
Kellner Nummer 11 dienerte zum Abschied vor Doktor Gradinger besonders tief; er hatte ein ausgezeichnetes Trinkgeld erhalten. —
Zu Hause angelangt, fand Doktor Gradinger Lisette, das Zimmermädchen, schon auf. Es meldete ihm mit verstörter Miene, die gnädige Frau sei heute nacht nicht nach Hause gekommen.
— — — — — — — —
Nur spärlich fiel das Licht des nebligen Februartages in das Schlafzimmer der Junggesellenwohnung, wohin Doktor Gradinger in dieser Nacht seine Venus geführt hatte. Durch die dicht zusammengezogenen Vorhänge des breiten Himmelbettes drangen die wenigen Lichtstrahlen gar nicht. Die Göttin selbst — oder Annemarie, wie sie Gradinger vorher selber genannt hatte, lag noch in die weichen Kissen geschmiegt völlig regungslos und schlief den Schlaf des Gerechten.
An die Tür wurde gepocht — einmal — zweimal. — Nichts zu hören! Nach einer Viertelstunde kehrte das Pochen wieder, heftiger, dringender.
„Herr Hupfeld!“ rief eine kreischende Stimme, „es wird Zeit!“
Keine Antwort!
Jetzt donnerte die Weckerin mit beiden Fäusten gegen die Tür.
„Herr Hupfeld, sie müssen raus, hören sie nicht?!“
Annemarie dehnte sich und reckte sich. — sie öffnete die Augen, schlug sie blinzelnd auf, rieb sie und reckte sich wieder.
„Was fällt der Lisette nur ein!“ murmelte Annemarie, „so an die Tür zu klopfen. Schon wieder. Ja, ich höre!“ rief sie aus. Nun richtete sie sich auf. Das Bett kam ihr doch so anders vor? Ja, wo war sie denn? Sie zog den Bettvorhang zur Seite. Um Gottes willen, was ist denn das? Wo in aller Welt ist sie nur! Und wie spät mag es denn sein? Ah, da auf dem Nachttisch steht eine Uhr. Dreiviertel neun! Sie möchte am liebsten laut schreien. Träumt sie denn, oder ist sie wahnsinnig?! Sie, die sonst so streng auf Anstand und gute Sitte hielt, sie in einer fremden Wohnung! Und vermutlich war sie die ganze Nacht hier gewesen!
Was ist das nur? Wo war sie denn? Sie kann sich ja auf gar nichts mehr besinnen. sonst ist ihr ganz wohl und behaglich, nur diese Müdigkeit, oh, diese Müdigkeit. sie schüttelt die Schwäche herzhaft ab und setzt sich im Bett auf. Wieder schreit sie fast laut auf: Da, auf einem Stuhl vor ihrem Bette, liegt das Kostüm der Venus. Ja, jetzt wußte sie’s, wie konnte sie das nur vergessen. Sie fuhr sich dabei mit der Hand über die Stirn, richtig, da war ja noch die Gesichtshülle.
„Herr Hupfeld, es wird wirklich Zeit,“ ertönte die Stimme wieder draußen.
„Gleich, gleich!“ antwortete Annemarie mit verstellter Stimme.
Was wollte denn die Person da draußen nur mit ihrem „Herr Hupfeld?“ Der der diese Wohnung gemietet hatte, um darin seine intimen Feste zu feiern, hieß doch Doktor Erwin Gradinger!
Ja, gewiß, sie wollte ja heute morgen schrecklich Gericht über ihn halten. Deswegen war sie doch gestern auf die Redoute gegangen, um seinen Schleichwegen nachzuspüren, um ihn in flagranti zu ertappen, wenn er sie betrog. O, viel früher als er hatte sie erwachen, ihr Gesicht ihm zeigen und dann Gericht über ihn halten wollen. Natürlich, oh, sie wußte ja nun alles! — Darum hatte sie ja auch nur von dem Wein genippt, den er in vollen Zügen trank. — Darum hatte sie ja auch das Läutewerk der Weckuhr abgestellt! Und nun, nun war er doch früher aufgewacht als sie? Unbegreiflich! Und auch wie furchtbar unangenehm! Wie soll sie ihm denn nun mit handgreiflichen Beweisen kommen? Aber wart’, die wird sie schon finden. Sie braucht ja nur irgend eine Schublade aufzuziehen und eines jener kostbaren Andenken aus seiner herrlichen Junggesellenzeit hervorzuholen, mitzunehmen und ihm vor die bestürzten Augen zu halten. Freilich, das wird sie tun!
Mit einem Satz ist sie aus dem Bette — im Hemde läuft sie in das Wohnzimmer. — Aber wiederum möchte sie am liebsten gerade hinausschreien! Ja, wo um der Götter willen ist sie denn? Das ist ja ein ganz anderes Zimmer, oder ist es dasselbe? — Nur so leer, so kahl! Sie läuft zum Schrank, reißt ihn auf — leer! Sie eilt zur Kommode — alle Schubladen leer! Nichts, gar nichts! Ein paar leere Weinflaschen und ein paar Gläser, wahrscheinlich der Wirtin gehörig, sind das einzige, was noch an den gestrigen Abend erinnert. Sie kehrt in das Schlafzimmer zurück, schlüpft in die Unterkleider und dann in das Venuskostüm. Darüber zieht sie ihren langen Mantel und setzt den Hut auf. Dann geht sie zur Tür. Der Schlüssel, der dort hängt, wird wohl passen? Ja, es ist richtig! Sie öffnet geräuschlos die Tür und wirft einen scheuen Blick auf die Visitenkarte, die draußen angebracht ist.
„Hans Hupfeld, Schriftsteller,“ liest sie.
Sie wankt, sie möchte laut schreien, aber sie hält gewaltsam an sich. Wo ist sie, was ist mit ihr geschehen? Hat sie das alles nur geträumt? Nein, das ist ausgeschlossen!
Oder — ha! Es wäre gräßlich hat sie sich durch eine vielleicht auffallende Ähnlichkeit von Stimme, Gestalt und Gesicht täuschen lassen? Hat der Mann, der sie auf der Redoute ansprach und den sie mit Doktor Gradinger anredete, sich diese Anrede gefallen lassen, um sie in eine Falle zu locken? Gräßlich! Fürchterlich!
Sie muß Gewißheit haben. sie schließt die Tür, aber nicht lautlos, sondern ziemlich vernehmlich. Sie hat richtig kalkuliert, wenige Augenblicke später klopft es an die Tür. Auf ihr vernehmliches „Herein“ erscheint eine behäbige, starkknochige Frau mit groben, aber nicht gerade häßlichen Gesichtszügen. Nur die kleinen Augen haben zuweilen einen listigen Ausdruck.
Sie sieht sich im Zimmer um und auf ihren Mienen ist jetzt sittliche Entrüstung zu lesen, als sie den breiten Mund öffnet und in unverfälschtem breitem Ostpreußisch hervorsprudelt:
„Erbarmung, was fällt denn dem Herrn Doktor ein? Ich hab’ ihm gesagt: Herr Doktor, hab’ ich ihm gesagt, ich vermiet’ sie das Zimmer gewissermaßen als Absteigequartier, sie können darin tun und lassen was sie wollen. Aber eins, hab’ ich gesagt, muß ich zur Bedingung machen: behalten sie mich die Kesinen, die sie mit raufbringen, nich’ bis in den hellen Tag hier — machen sie mich keine Ungelegenheiten mit die Polizei, denn mit die Polizei will ich nichts zu tun haben, hab’ ich gesagt!“
Annemarie hatte ihr anfangs geradezu sprachlos zugehört. Sie begriff die Sache nicht gleich. Bald aber ging ihr ein Licht auf und gern hätte sie den Redeschwall der guten Frau unterbrochen, allein deren Rede schien ein unerschöpflicher Quell, der nicht zu verstopfen war. Endlich, bei dem letzten energisch hervorgestoßenen „Hab’ ich gesagt“ ging ihr die „Puste“ aus. sie schnappte nach Luft, und diese Kunstpause benutzte Annemarie, die inzwischen ihr Portemonnaie gezogen und ein Zehnmarkstück auf den Tisch gelegt hatte, um ihr in die Rede zu fallen:
„Um etwas dergleichen handelt es sich nicht, Frau — Frau —“
„Ewald!“
„Frau Ewald; denken sie vorläufig darüber wie sie wollen, denn ich kann es Ihnen nicht so ohne weiteres erklären. — Jedenfalls bin ich auf eine ganz eigentümliche Art in diese Wohnung gekommen und unter den Schutz des Inhabers derselben geraten. Der Herr hat mich aber nur hergebracht und ist bald wieder gegangen. Sie müssen das doch gehört haben!“
Sie sagte das auf gut Glück, denn gehört hatte sie natürlich nichts, aber sie war bestrebt, ihre Anwesenheit auf irgend eine harmlose, dabei aber auch glaubhafte Art zu motivieren.
Die brave Frau Ewald wußte trotz ihres durch lange Erfahrung erworbenen Scharfblicks nicht recht, was sie aus der Sache machen sollte. Die Fremde, von deren Hut ein dichter Schleier herabfiel, sah doch so „anders“ aus, drückte sich so anders aus, bewegte sich so anders; es konnte ja sein — Na schließlich ging sie es ja aber auch weiter nichts an. So fiel sie ihr denn, um ein Entgegenkommen zu beweisen, bei den letzten Worten in die Rede:
„Ach so, das war der Herr Doktor selber, ich hab’s wohl gehört, um zwei Uhr is er gegangen. Ich dacht schon, es wäre die Kesine, die gleich wieder gegangen wäre, wie ich es verlangte. Aber Ihr Geld behalten Sie man, Fräulein —“
„Ich bin Frau!“
„Also, Madam, ich krieg die Miete vom Herrn Doktor, und da wäre mir’s unangenehm, wenn —“
„Der Herr Doktor soll nichts erfahren, behalten sie!“
„Ich danke schönstens, Madamchen, trautestes!“
„Nichts zu danken. Beantworten sie mir nur einige Fragen: sie nennen den Mieter dieses Zimmers, „Herr Doktor?“ Da draußen auf der Visitenkarte steht aber nur Hans Hupfeld, Schriftsteller, das ist also bloß ein angenommener Name?“
„Nein, Madamchen. Erbarmung, wo denken sie hin! Es ist sein richtiger Name, und ich darf ihn auch nur Herr Hupfeld nennen. „Ich hab’ nich’ promoviert“, fährt er mich immer an, wenn ich Herr Doktor auf ihn sage. Aber wissen sie, Madamchen, trautestes, mit das „Herr Doktor“, das is’ mich noch so geläufig, denn ich hab’ ja früher an Studenten vermietet jehabt, und die nennt man immer Herr Doktor. Und wie ein Studierter ist er doch auch und auf die sagt man doch immer —“
„Ja, ja, schon recht, Frau Ewald, aber wie können sie nur an einen verheirateten Mann vermieten, der hier seine unerlaubten Stelldichein —“
„Verheiratet? Erbarmung, Madamchen! Ein Junggeselle ist er, ein braver Mann, der seine Schwester bei sich hat und sich nicht verheiratet, weil sie noch nicht versorgt ist. Na, da hat er ja nu’ keine Junggesellenbude — und in die Wohnung, wo seine Schwester den Haushalt führt, kann er doch nicht —“
„Schon gut, schon gut, also der Mann heißt wirklich Hans Hupfeld, ist Schriftsteller und unverheiratet?“
„Ja, aber Madamchen —“
„Na, dann ist es gut. Sorgen sie jetzt für eine Droschke, ich möchte möglichst ohne Aufsehen wieder weg.
— — — — — — — —
Im Wagen überlegte Annemarie: Gewiß, es muß Gradinger gewesen sein, der sie hergebracht hat. Er hatte ja nachher, als sie schon in der Wohnung des „Hans Hupfeld!“ waren, auch noch von seiner „Frau“ gesprochen, vor der er alle seine kleinen Abenteuer verbergen müsse, in das Paradies, das er sich geschaffen, finde der Fuß der Eifersucht nicht hinein. Oder — und bei dieser Möglichkeit sträubte sich ihr das Haar — oder er war wirklich dieser „Hans Hupfeld“, und er hatte, wie sie das schon vorher sich zurecht gelegt, die Rolle gespielt, die sie ihm infolge eines Irrtums zugeteilt hatte.
„Gewiß,“ flüsterte sie, habe ich ihn ohne Larve gesehen, aber immer nur in dem fremdartigen Kostüm und nachher beim ungewissen Licht der Ampel. Ich meine, es muß Erwin gewesen sein. Aber ein Mann sieht doch auch beispielsweise in Uniform ganz anders aus als in Zivil. Ist es nun wirklich Hans Hupfeld gewesen, und der muß geradezu ein Doppelgänger von Erwin sein, so sieht er vielleicht in bürgerlicher Kleidung ganz anders aus als im Maskenkostüm, und ganz anders aus als Erwin. Oh, es wäre nicht auszudenken!“
Der Wagen hielt. Annemarie stieg aus, ging um die nächste Straßenecke, winkte dann einer Motordroschke und setzte darin ihren Weg fort. Sie stürmte die Treppe hinauf, und wo auf einem Marmorschild mit goldenen Buchstaben zu lesen war: „Dr. E. Gradinger, Rechtsanwalt“, da schloß sie die Korridortür auf.
Lisette trat ihr entgegen, sie unterdrückte einen leichten Aufschrei: „Gott sei Dank, daß gnädige Frau wieder da sind; was haben wir uns geängstigt!“
„Still! Ist der gnädige Herr zu Hause?“
„Der gnädige Herr sitzt beim Kaffee!“
„Was, jetzt erst?“
„Ja, gnädige Frau, der gnädige Herr ist erst gegen sechs Uhr nach Hause gekommen.“
„So, so! Nein, laß,“ fügte sie energisch hinzu, als die Kammerfratze ihr behilflich sein wollte, den langen Regenmantel auszuziehen. sie trat vor den Spiegel auf dem Korridor, band den Schleier ab, der vom Hut herabwallte und entfernte dann die darunter befindliche Gesichtshülle. So betrat sie das Speisezimmer.
Dort saß, wie Lisette bereits berichtet hatte, Dr. Gradinger behaglich in einen Sessel gelehnt, beim Kaffee und las seine Zeitung. Er war vielleicht ein Schein blasser als sonst, aber ein zufriedenes Lächeln umspielte seine Lippen.
„Guten Morgen!“ sagte Annemarie heiser. Die Kehle war ihr wie zugeschnürt, sie zitterte vor Aufregung.
Er legte die Zeitung mit einem Ruck auf den Tisch nieder stieß dabei beinahe seine Tasse um. Seine Mienen drückten namenloses Erstaunen aus.
„Guten Morgen,“ sagte er gedehnt, „nanu, wo kommst Du denn her? In einer halben Stunde hätte ich zur Polizei geschickt.“
Sie stand wie Lots Weib. Die furchtbare Anklage, die sie für ihn in Bereitschaft hatte, blieb ihr in der Kehle stecken, über ihre Lippen kam nichts, obwohl diese weit geöffnet waren.
Ist das nun bodenlose Unverfrorenheit im Bunde mit meisterhafter Schauspielerei oder — oder — Immer noch starrt sie ihn an. Sein schwarzes lockiges Haar war frisch frisiert, der Mann von gestern abend, der war genial zerzaust. Und jetzt die Tagesbeleuchtung! Herr Gott, wenn sie ihm jetzt ein Corpus delicti, einen handgreiflichen Beweis vor die Augen halten könnte. Aber was tat sie nur, wenn er sich etwa aufs Leugnen legte?
„Nun,“ unterbricht er mit leiser Ungeduld in der Stimme ihren Gedankengang, „hältst Du mich etwa nicht einmal einer Antwort wert?“
„Wo ich war?“ stotterte sie. Und dann faßte sie der Zorn und sie setzte mit starker Stimme hinzu: „Und das fragst Du mich?“
„Ja, Du sagst es mir doch nicht, und soll ich mich vielleicht aufs Raten legen? — Dazu ist mir die Sache doch zu ernst!“
„Erwin!“
„Nanu?“ sagte er jetzt direkt in verweisendem Ton, „was soll denn der dramatische Akzent? Ich nahm an, Du seiest zu Winslers nach Erkner gefahren, und Deine Schwester habe Dich, wie gewöhnlich, festgehalten, so daß Du den letzten Zug versäumtest. Nur aus diesem Grunde habe ich die Polizei noch nicht benachrichtigt. Allerdings hätte ich es in Ordnung gefunden, wenn Du mich und vor allen Dingen die Dienerschaft von der Absicht des Besuches in Kenntnis gesetzt hättest. Ich kann Dir nicht verhehlen, daß Dein Verhalten bei den Dienstboten Aufsehen erregt hat und nur allzu geeignet ist, bei diesen zu Missdeutungen Anlaß zu geben. Lisette zum Beispiel war heute morgen ganz verstört, weil die gnädige Frau nicht nach Hause gekommen war.“
„Wie, höre ich denn recht?“ fragte Annemarie, „ist es denn möglich? Du liest mir den Text, Du mir?“
„Na, erlaube mal, Deine Empörung ist hier wenig am Platze. Ein Mann hat tausenderlei oft recht dringliche Anlässe, ab und zu eine Nacht außer dem Hause zu zubringen, und wenn eine Dame der Gesellschaft einen Ball besucht und erst des Morgens nach Hause kommt, so ist auch nichts dabei, vorausgesetzt, daß ihr Ehemann dabei ist — aber so —“
„Nun bitte ich aber ernstlich.“ unterbrach sie ihn entschieden, laß das Komödienspiel! Also ich war heute nacht auf Deiner Spur!“
„Annemarie!“
„Bemüh Dich nicht! — Der strenge Ton zieht bei mir nicht! Ja, ich habe schon so lange bemerkt, mein Lieber, daß Du mich betrügst! Ich habe diese Nacht mehr über Dich erfahren, als eine Frau eigentlich erfahren darf. Ich weiß, daß Du in lockerer Gesellschaft Redouten besuchst, daß Du für Deine geheimen Liebesabenteuer ein eigenes Logis gemietet hast, wo Du ungestört bist!“
„Was, was willst Du da gehört haben, und von wem?“
„Frag’ doch nicht, was Du selbst am besten weißt!“
„Annemarie,“ sagte er jetzt mit starker Stimme, „ich muß sehr bitten, daß Du mir nicht mit solch haltlosen Verdächtigungen und niederträchtigen Verleumdungen kommst, ohne mir den Ehrabschneider zu nennen, damit ich ihn vor den Strafrichter bringen und gehörig bestrafen lassen kann.“
„Nun denn, geh’ hin, klage Dich selbst an, plädiere auf „schuldig“ und zugleich auf Freisprechung und auf mildernde Umstände, denn Du selbst bist der Verleumder!“
„Ich? Annemarie, ich muß bitten, laß die Possen!“
„Wohlan,“ rief Annemarie jetzt außer sich vor Zorn, riß die Knöpfe ihres Mantels auf, ließ ihn fallen und stand als Venus vor ihm.
„Wa — was!“ rief er nun ganz baff, „Du — ist es denn möglich? Nein, es kann aber doch wohl nicht sein, es wäre ja entsetzlich!“
„Ja, es ist entsetzlich! Wisse denn, Verräter, treuloser, abscheulicher, diese Venus gestern abend auf der Redoute. Du weißt ja, diese Venus, die Du so dreist ansprachst, die Dich warnte, weil Deine Frau anwesend sei — die mit Dir Champagner trank, die Du — welch plumper Reinfall! — mit in Dein molliges Nest locktest, wo Du Deine abscheulichen Liebesabenteuer feierst, in jenes Paradies, dessen Schwelle der Fuß der Eifersucht nicht naht, jene Venus, der Du im Liebestaumel alle Deine geheimen Schliche selbst verrietest, jene Venus, die Dir trotz Deiner flehentlichsten Bitten und süßesten Worte ihr Antlitz auch dann nicht enthüllte, als sie Dir ein Schäferstündchen gewährte, diese Venus war ich, Deine Dir gesetzlich angetraute Gattin!“
Was Doktor Gradinger jetzt tat, das hätte dem routiniertesten Schauspieler Ehre gemacht. Er starrte zunächst seine Frau mit weit aufgerissenen Augen entsetzt an, dann taumelte er einige Schritte zurück, endlich bedeckte er das Gesicht mit den Händen, fiel in einen Sessel und rief aufschluchzend:
„Annemarie, oh Annemarie! Warum hast Du mir das getan?“
„Ja,“ sagte sie triumphierend, „das sind die Früchte Deines Lebenswandels!“
Sie kam nicht weiter; wie rasend sprang er auf, rannte im Zimmer umher und rief gedämpft, wie im tiefsten Herzen verwundet:
„Meine Ehre ist besudelt, mein Name dem Gespött preisgeben, die Gassenbuben werden mit Fingern auf mich zeigen, oh!“ und mit geballten Fäusten trat er dicht vor sie hin: „oh Du — Du!“
Sie sah ihm kalt, voller Verachtung in das erregte Antlitz.
„Deine Reue,“ sagte sie ruhig, „äußert sich zwar seltsam, allein sie kommt dennoch zu spät. Ich habe Beweise die Fülle in Händen, ich mache die Scheidungsklage heute noch anhängig und ich rate Ihnen, nehmen sie sich einen recht tüchtigen geriebenen Rechtsanwalt, Monsieur Pierrot!“
Er lachte gellend auf.
„Reue?“ schrie er, „ja, Reue über meine Dummheit, über meine Kurzsichtigkeit! Und den Rechtsanwalt, den wirst Du bald recht, recht nötig haben, mein Kind. Ja, ich war bodenlos dumm! Dieses Venuskostüm, ein Prachtstück, jedem mußte es auffallen! Diese Figur, diese Haltung, das ist doch Annemarie! sagte ich mir, Du kennst sie doch! — schon wollte ich Dich ansprechen, aber ein unausstehlich frecher Pierrot kam mir zuvor!“
„Der Pierrot warst Du!“
„Bitte, höre zu Ende. Ich wollte mich überzeugen, welche Doppelgängerin von Dir unter der Hülle steckte, denn daß Du es selbst seiest, schien mir bei genauer Erwägung doch ausgeschlossen, Du, eine Dame der Gesellschaft, auf einer solchen Redoute! Ich ging auch an Dir vorüber, nachdem er Dich angesprochen. Der süddeutsche Dialekt, das war ja ungefähr der Deine, Du beherrschst ihn ja vollendet, aber dieser Sopran, nein, das war Dein voller weicher Alt nicht. Und dann ging ich mehrfach an Euch vorüber, als Ihr da recht ungeniert Champagner trankt. Ja, hattest Du denn vor lauter Verliebtheit keine Augen! Ja, sahest Du denn den Malteser nicht, der immer um Euch herumging?“
„Was willst Du gewesen sein? Ein Malteser? Der Pierrot warst Du!“
„Es ist mir zu lächerlich, meine Liebe, darüber auch nur ein einziges Wörtchen zu verlieren,“ sagte er kalt, „da die Beweise noch zur Stelle sind. Als Du kamst, fiel mir mit Schrecken ein, daß ich den Maskenanzug noch nicht wieder weggeschickt hatte. Nun aber segne ich meine Vergeßlichkeit. Wenn Du ihn sehen willst, so komm!“
Seine Sicherheit, sein meisterhaftes Komödienspiel, verfehlten ihre Wirkung auf Annemarie nicht; ihr wurde doch nun seltsam beklommen zumute. Wenn es nun wirklich war, wie er sagte, was dann? Aber nein, es konnte doch nicht sein!?
Inzwischen waren sie im Schlafzimmer angekommen.
„Hältst Du das für ein Pierrotkostüm?“ fragte er, auf das Kostüm eines Malteserritters deutend, das über einem Bügel sorgfältig aufgehängt war.
„Das — das war Dein Kostüm?“
„Wie du siehst! Und nun, Du warst also mit jenem — jenem anderen — jenem Pierrot — in — in seiner Wohnung?“
„Nicht in seiner Wohnung! Du hattest sie gemietet, wohntest aber nicht da.“
„Ich? stand denn mein Name an der Tür?“
„Nein, so ungeschickt warst Du nicht, da stand ein anderer Name, und selbst die Wirtin kannte Dich nur unter dem Namen Hans Hupfeld.“
„Hans Hupfeld! Ha, nun weiß ich den Schandbuben, ich werde ihn finden, — ich werde ihn töten. Heute nachmittag — jetzt kann ich nicht, denn ich habe auf dem Landgericht in einer Ehescheidungssache zu plädieren — heute nachmittag, da gehe ich mit Dir zu der alten Kuppelhexe und werde sie fragen, wo der Elende seine sonstige Wohnung hat, und da kannst Du Dich ja gleich davon überzeugen, ob sie mich mit „Hans Hupfeld“ begrüßen wird. Adieu!“
Er ging zur Tür. Aber plötzlich kehrte er um und trat auf sie zu, ihr beide Hände entgegenstreckend.
„Annemarie,“ sagte er weich.
„Erwin,“ gab sie scheu und unsicher zurück.
„Nein, wie ich nur so reinfallen konnte? Nein, nicht wahr, es war doch von Dir alles nur Komödie? Sieh mal, so muß es sein: Du warst eifersüchtig, man hatte Dir einen Wink gegeben, Du wolltest mir nachspüren, konntest es aber natürlich nicht selbst tun. Du beauftragtest also irgend eine abenteuerlustige Person damit. Für Geld und gute Worte war sie dazu bereit, aber sie fing’s ungeschickt an. Ist’s nicht so?“
‚Will er mir eine goldene Brücke bauen?‘ dachte sie, ‚oder ist es eine neue List? — Jedenfalls schadet es nichts, wenn ich darauf so lange eingehe, bis ich Beweise habe.‘ Laut sagte sie dann: „Ja, Erwin, es ist so.“
„Du konntest es dann hier zu Hause nicht aushalten, Du fuhrst gestern abend mit plötzlichem Entschluß nach Erkner! Mit dem ersten Zuge kamst Du zurück, Du wußtest Dich vor Ungeduld ja kaum zu lassen, fragtest Deine Abgesandte aus und verfielst zuletzt sogar noch auf den tollen Gedanken, ihr Kostüm anzulegen, so vor mich hinzutreten und mir dadurch im ersten Schrecken das Geständnis zu erpressen. War’s nicht so, Annemarie?“
„Ja, Erwin, so war’s.“
Er setzte sich auf einen Stuhl und zog sie auf seine Knie, was sie sich mit einigem Widerstreben gefallen ließ.
„Höre, liebes Herz, ich will Dir offen bekennen, ja, ich gehe manchmal zur Redoute, ich war auch gestern abend dort, ich leugne ja nicht. Aber mich zieht etwas anderes dahin, als Du denkst. Du weißt, ich schriftstellere ein wenig in meinen Mußestunden, und nirgends kann man Studien machen und Beobachtungen, als bei solchen Gelegenheiten. Und sieh, Du kennst das Wortspiel von der Eifersucht. Nichts ist wahrer als das. Sie hat schon manches sonnenhelle Glück zerstört. Merk Dir’s, Liebchen, sei tapfer und kämpfe sie nieder! Gelt, das versprichst Du mir?“
Er küßte sie zärtlich schob sie sanft von sich ab, stand auf und ging.
„Frechheit sei gepriesen“, murmelte er draußen, während er auf dem Korridor den Pelz anzog und den Zylinder aufsetzte, „steh mir auch weiter bei, und das Blättchen, das ich dort drinnen verloren habe, es wird seine Wirkung schon tun.“
Er ging. Annemarie stand völlig betäubt noch eine Weile im Schlafzimmer.
„Wie ist es möglich,“ murmelte sie, „wie ist es möglich! Wäre es wirklich, ich wäre ja vernichtet!“
Da fiel ihr Blick auf etwas Weißes, das auf dem Bettvorleger lag. Blitzschnell bückte sie sich danach, es war ein kleines weißes Kärtchen und darauf verschiedene Notizen.
„Was ist das?“ sagte sie, „Erwins Hand? Sollte das —? Laß doch sehen. — hm. Maskengarderobe — die Adresse einer Dame oder eines Frauenzimmers!? Ah — eine Droschkennummer. Die Nummer eines Kellners. Ah, mein Gott im Himmel sei gepriesen, vielleicht gibt mir das Gewißheit in meiner fürchterlichen Lage!“
Sie kleidete sich um, nahm ein Bad, machte Toilette und ging aus. Zunächst fuhr sie zu der Maskengarderobe, deren Adresse sie auf dem Zettel gefunden. —
„Guten Tag. Frau Doktor Gradinger! Mein Mann sagte mir, er habe gestern ein Maskenkostüm geliehen.“
„Werde gleich mal nachsehen, gnä’ Frau. Natürlich, hier ist es —“
„Ein Pierrot, nicht wahr? —“
„Nein, ein Malteser, gnä’ Frau! —“
Sie zuckte leicht zusammen. —
„Sollten sie sich nicht irren?!“ —
„Ausgeschlossen, gnä’ Frau. Herr Doktor Gradinger war, soviel ich sehen konnte, von Anfang der Redoute da, ich war nämlich auch mit Kostümen dort, und gegen Morgen hab’ ich ihn sogar selbst gesprochen.“
„Wann war das? Glauben sie nicht, daß es Indiskretion oder Neugierde von mir ist, mein Mann ist beschäftigt, sonst wäre er selbst gekommen, es liegt ihm sehr viel an Ihren Angaben.“
„Es war gegen vier Uhr, der Herr Doktor begleitete eine Dame zur Droschke und kam dann gleich wieder herein. Die Dame gab ihren Domino bei mir ab, ich sprach den Herrn Doktor bei dieser Gelegenheit.“
„Aber einen Pierrot hat er doch auch gehabt?“
„Er hat nur ein Kostüm gehabt. Einen Pierrot, den einzigen, der geliehen wurde, hatte ein Herr Hans Hupfeld.“
„Es ist gut, ich danke.“
Sie stürzte hinaus. Er sah ihr kopfschüttelnd nach. Sie fuhr nach dem Festlokal, in dem gestern abend die Redoute stattgefunden, und ließ sich Kellner Nummer 11 holen. Als er kam, schob sie ihm ein Zwanzigmarkstück hin.
„Herr Doktor Gradinger hat gestern abend vergessen, bei Ihnen Verschiedenes zu bezahlen. Wollen sie bitte abziehen?“
„Herr Doktor Gradinger, pardon, nein! Der ging um sechs Uhr heute früh und bezahlte alles.“
„Ganz recht, aber im Cabinet apart —“
Der Befrackte schüttelte sein wohlfrisiertes Haupt.
„Ich muß wiederum um Entschuldigung bitten, der Herr Doktor ist da gar nimmer gewesen, den ganzen Abend nicht. Wo er war, hat man immer gewußt, denn da ging es am lautesten und lustigsten zu. Einmal hat er mit einer Dame soupiert, aber ganz offen vor aller Augen. Sie schien nicht bei Kasse zu sein, aber daß er kein — nun — kein Interesse an ihr hatte, sah man auf zehn Meilen! Um vier verließ er mit ihr den Saal, aber nach fünf Minuten war er wieder da, er hat sie offenbar nur zu der Droschke begleitet. Die Zeit weiß ich genau, denn er sagte, als er ging: „Ober, ich komme gleich wieder und zahle dann!“
Und, dann weiß er selber nicht, was er zu zahlen hatte. — Es ist gut, ich danke Ihnen!“
Annemarie verließ das Lokal, und nun blieb ihr noch eine Hoffnung: die Droschke und das Mädchen, dessen Adresse jener Zettel enthielt.
Sie hatte Glück. Die Droschke hielt an dem Lokale zunächst gelegenen Halteplatze. Sie trat heran und nannte die Adresse.
„Sagen sie mal,“ fügte sie hinzu, dem Kutscher das Fahrgeld und ein ansehnliches Trinkgeld einhändigend, „haben sie nicht heute früh gegen vier Uhr eine Dame und einen Herrn dahingefahren?“
„Eine Dame ja, einen Herrn, nein! — Der Herr begleitete sie bis an den Wagen, dann ging er aber wieder ins Lokal.“
„So? Danke!“ —
In jenem Hause fand sie bald im zweiten Stockwerk das Schild der Wirtin, deren Name auf der Adresse mit angegeben war. Die Person machte auf Annemarie einen unendlich widerwärtigen Eindruck, aber sie überwand ihr Mißbehagen und stellte sich als ein Mitglied der inneren Mission vor. Man habe dort in Erfahrung gebracht, das junge Mädchen sei in schlechte Hände geraten, ja, sie leide Not und man wolle nun etwas für sie tun und sie womöglich retten.
„Nee, nee!“ sagte da die Wirtin, „nee, meine jute Dame, da sind sie auf dem Holzwege. Die Lene in schlechten Händen? Nee! Na ja, ein paar Tage jing’t ihr ja freilich een bisken mau, aber des Mädel hat Jlück. Denken sie sich, da war se jestern abend auf so nem Maskenball, da hat sie nen Herrn kennen gelernt, einen Rechtsanwalt, der hat ihr ne Stelle verschafft, ne janz feine Stelle. Das arme Ding hat vor Freude geweint, wie sie’s mir erzählt hat. Wenn se die Stelle nich kriegte, sagte se nur, wie se heute früh wegjing, denn wollte se jleich wiederkommen, kriegte sie se aber, denn bliebe se jleich da. Na, um achte jing sie, jetzt is es zwölf vorbei, se is noch nich wieder da! Da wird se ihr wohl jekriegt haben!“
„So, das wäre ja sehr erfreulich.“
„Na natürlich, is dem armen Dinge auch zu gönnen. Und sie hat gar nicht Worte genug, um zu preisen, wie nobel und anständig der Herr, der Rechtsanwalt, war. Een feinet Abendbrot hat er ihr spendiert, weil sie vor Hunger fast umfallen wollte und doch kein Geld jehabt hat, sich was zu kaufen — und die Stelle hat er ihr verschafft, alles, ohne auch nur det jeringste dafür zu verlangen. Wenn sie von die innere Mission sind, meine Dame, denn wissen sie ja ooch, wie die feinen Herren so sind; der aber — nich mal een Küßchen hat er von se verlangt, ne Droschke hat er ihr besorgt und bezahlt, aber mitjefahren is er nich!“
Während sie noch so redete, kam Lene nach Hause. Auf Aufforderung ihrer Wirtin mußte auch sie die ganze Geschichte erzählen, und sie sang Annemarie ein begeistertes Loblied auf den guten, edlen, uneigennützigen Doktor Gradinger vor, daß diese mit äußerst gemischten Gefühlen anhörte.
‚Ist das nun Edelmut von Erwin?‘ dachte sie, ‚denn er hat mir ja nichts davon erzählt!‘
Aber sie wehrte den Gedanken ab und meinte, als sie das dürftige, elende Geschöpf ansah, mit dem Edelmut und der Selbstlosigkeit ihres Gatten sei es doch nicht so weit her! Ja, wenn das Geschöpf da anders aussähe!
Sie machte der Litanei endlich mit kurzem Danke ein Ende und fuhr nach Hause.
Sie war außer sich. Nichts hatte sie erreicht, aber auch gar nichts! Kein Lichtstrahl war in das Dunkel gefallen, nicht den Schatten eines Beweises hatte sie herbeischaffen können. Sie konnte immer nur wie vorher ihrem Gatten sagen: Ich habe mich nicht vergessen, ich habe nichts strafbares begangen, Du allein bist der schuldige, Du warst der Pierrot! Und daß er es war, das stand jetzt, nachdem sie Zeit genug gehabt hatte, die Sache ganz kalt zu erwägen, fester als je. Er hatte — so viel Juristin war sie an seiner Seite auch schon geworden — alle Beweise vernichtet und sich ein glänzendes Alibi geschaffen. Und wenn er ihr lachend alles ableugnete, sie mußte es hinnehmen und konnte höchstens ihr Teil dabei denken!
Eine Möglichkeit blieb noch: die Gegenüberstellung mit Frau Ewald. Die hatte er zwar selber angeboten, allein er würde sich hüten, es wirklich darauf ankommen zu lassen. Und wenn sie ihn daran erinnerte, so würde er schon irgend etwas haben, was ihn hinderte, mit ihr zusammen hinzugehen.
Sie kam nach Hause, kleidete sich zum Essen um, und Erwin kam pünktlich um zwei Uhr nach Hause. Er war aufgeräumt und vergnügt.
„Nun, mein Kind,“ sagte er dann plötzlich, nachdem er ihr erzählt, daß er durch ein glänzendes Plaidoyer seinen Klienten, einen sehr bedrängten Ehemann, aus der Patsche herausgehauen habe, nun, mein Kind, über das tolle Zeug von heute nacht bist Du jetzt wohl im klaren und lachst selbst über Deine tolle, abenteuerliche Idee. Ich denke, wir breiten jetzt über die ganze verrückte Geschichte den Schleier des Vergessens.“
‚Aha,‘ dachte sie, ‚er denkt, er überlistet mich, aber das soll ihm nicht gelingen!‘ — Und laut fügte sie hinzu:
„Natürlich, das ist das beste! Du hast ganz recht, ich stimme Dir völlig bei! Es wäre auch zu unangenehm für Dich, wenn Du in meiner Gegenwart vor die gute Frau Ewald hintreten solltest!“
„Oho, Kind,“ rief er lebhaft, „nein, so war es nicht gemeint. Selbstverständlich gehen wir dahin. Du mußt mich hinführen. Das Weib soll mir Rede stehen.“
Und wirklich, um fünf Uhr trat er in Pelz und Zylinder in Annemaries Boudoir.
„Nun, Kind, bist Du noch nicht fertig? Wir wollen doch der guten Dame Ewald unsere Aufwartung machen.“
„Ja, Erwin, einen Augenblick.“
Als sie eine halbe Stunde später vor dem betreffenden Hause aus der Droschke stiegen, bemerkte Annemarie sogleich, daß eine graue Tafel da hing, welche besagte, daß in der so und soundsovielten Etage ein möbliertes Zimmer nebst Kabinett zu vermieten sei. Und als sie vor der Korridortür anlangten, auf der zu lesen stand: „E. Ewald Wwe.“, da sah Annemarie zu ihrer Überraschung, daß an der Tür der „sturmfreien Bude“ die Visitenkarte fehlte.
Die Klingel ertönte — die Korridortür wurde geöffnet und in der Tür erschien die umfangreiche Figur der ehrsamen Wittib.
„Guten Tag! — Doktor Gradinger! Ich sehe da, daß bei Ihnen ein Zimmer mit Kabinett zu vermieten ist. Ein Neffe von mir kommt demnächst nach Berlin, um hier einige Semester zu studieren. Er hat mich gebeten, nach einem passenden Zimmer für ihn auszuschauen. Kann ich das Ihrige mal sehen?“
„Gewiß, Herr Doktor, gewiß!“ erwiderte Frau Ewald mit breitem Grinsen. „Wollen sie sich nur hereinbemühen. Der vorige Zimmerherr hat mir heute gekündigt, auch das Zimmer gleich geräumt und für den nächsten Monat noch voll bezahlt.“
„Alle Wetter! Was war das für ein Herr?“
„Ein Schriftsteller, Herr Hans Hupfeld!“
„Hans Hupfeld? Donner noch! Kenn’ ich denn den nicht? Wissen sie nicht, wohin er gezogen ist?“
„Nein, das heißt, er — er wird wohl noch in seiner früheren Wohnung wohnen.“
„Wie?“
„Na,“ sagte sie, ihm zuzwinkernd, mit einem Seitenblick auf die Dame, „hier hat er nur zeitweise gewohnt, so ab und zu mal nachts.“
„Ach so, ich verstehe! Aber wo ist denn seine — seine eigentliche Wohnung?“
„Ja, Herrchen trautestes, das weiß ich nich, das hat er mich nie nich gesagt, ich habe ihn auch immer nur auf ganz kurze Zeit gesehen, am längsten, wie er vor einem Jahr hier war, um zu mieten.“
„Sie wissen seine Wohnung nicht? Oh, das ist peinlich. Können sie mir ihn nicht wenigstens ein wenig beschreiben?“
„Na, was soll ich da sagen — er glich vielleicht Ihnen ein bißchen, Herr Doktor,“
„Mir?“ rief Doktor Gradinger lebhaft, „sehr?“
„Na ja, sehen sie mal, der Bart war ein bißchen anders — das Haar — alles nicht so gepflegt und fein wie bei sie, und dann kleidete er sich auch nicht so patent wie sie, er ging immer in einem alten Havelock und einem Schlapphut!“
„Na, dann ist er es,“ sagte Gradinger laut, „dann werde ich ihn schon finden!“ Leise aber fügte er hinzu: „Nur gut, daß der Räuberhut und der Banditenmantel in meiner Kanzlei immer gehangen haben.“
„Oh weh,“ dachte Annemarie, „Havelock und Schlapphut hat er nicht!“
Man besah sich das Zimmer, lobte dies und tadelte jenes, und endlich sagte Gradinger, er werde sie seine Entscheidung wissen lassen und gleich die erste Mietsrate, über die man sich schon ohne weiteres verständigte, mitsenden.
Dann verabschiedeten sie sich, verließen das Haus und fuhren heim.
In der Droschke wurde kein Wort gesprochen. Zu Hause aber sagte Doktor Gradinger:
„Nun, Schatz, ich habe Dir Zeit gelassen. Was sagst Du nun?“
„Ja, sagte sie nachdenklich, „die Wirtin kannte Dich nicht, ich habe sie genau beobachtet, so kann sich die dumme Person meiner Ansicht nach nicht verstellen. sie hat Dich nicht erkannt, selbst nicht, als sie von der Ähnlichkeit zu sprechen anfing.“
Und heimlich dachte sie: ‚Wer weiß, was er für Mittel angewendet hat, um sich unkenntlich zu machen, und wo er Hut und Havelock versteckt hat.‘
„Na, siehst Du,“ sagte der Gatte, den Arm schäkernd um sie legen, „Du würdest mit einem Prozeß schön hineinfallen, denn selbst wenn ich getan hätte, wessen Du mich beschuldigst, so hättest Du ja keine Beweise!“
„Allerdings, die hätte ich nicht!“
„Na, siehst Du, und ohne die geht’s nun einmal vor Gericht nicht. Also wollen wir die ganze Geschichte tot und begraben sein lassen. Ich schwöre Dir, daß ich nie wieder mit einer Silbe darauf zurückkommen will — und Du schwöre mir dasselbe und daß Du ein für allemal von der törichten Eifersucht ablassen willst.“
„Ich schwöre!“ sagte Annemarie fest.
— — — — — — — —
Einige Wochen später! Es ist Frühling! Frau Doktor Gradinger hat versprochen, ihren Mann aus seiner Kanzlei abzuholen, sie wollten einen Spaziergang machen.
Einige Minuten nach sechs ist sie da, das Personal gegangen; der Rechtsanwalt hat noch eine Besprechung mit einem Klienten im Sprechzimmer. Sie befindet sich im Hauptbureau und wartet. Sie sieht sich im Zimmer um. Eine Schranktür steht ein wenig offen. Sie öffnet vollends und — schreit laut auf.
Drinnen hört sie, wie der Klient sich verabschiedet und durch die Tür nach dem Korridor hinausgeht. Schnell nimmt Frau Annemarie ihr schickes Frühjahrshütchen vom blonden Haar, greift in den Schrank, stülpt einen riesigen Schlapphut auf und hängt sich einen alten Havelock um.
Als ihr Gatte aus dem Sprechzimmer kommt, tritt sie ihm entgegen, erhebt scherzhaft drohend die Hand und spricht mit Grabesstimme:
„Erwin, Erwin, wie gut für Dich, daß ich geschworen habe!“
Fußnote:
1 Sessel