Vergiß mein nicht
Bibliothek der besten Romane
Band 398
Der Leidensweg der Traude Brinken
Roman von
Waltraud Kebla.
Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin 26, Elisabethufer 44
Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin.
I. Teil
Das siebente Kind
1. Kapitel
Mutterglück
„Sieben sind’s nun, Herr Doktor, – sieben lebende Kinder! ‘n bißchen viel für ‘n Monteur mit dem kleinen Einkommen und für ‘n Zweizimmerwohnung,“ meinte der glückliche Vater zu dem Arzt, der Frau Anna Schmiedecke in ihrer schweren Stunde beigestanden hatte.
Gustav Schmiedecke hielt das Neugeborene auf dem Arm und schaute sehr ernst in das krebsrote, winzige Gesichtchen. Doch dieser Ausdruck auf seinem frischen, stets ein wenig verträumten Antlitz verschwand plötzlich. Es leuchtete auf wie in gutmütiger Zärtlichkeit und freudigem Vaterstolz.
„Na – wo sechse satt geworden sind, wird auch dieses Püppchen nicht zu verhungern brauchen,“ fuhr er nun fort und nickte seiner im Bett liegenden Frau lächelnd zu. „Nicht wahr, Anna, – ‘s wird schon wie werden! Die Hauptsache ist ja, dein Herzenswunsch ist erfüllt. ‘s ist ‘n Mädel geworden –“
„Und was für eins!“ sagte Doktor Stelter, der sich gerade die Hände wusch. „Säuglinge schaun meist wie nackte, rote Kaulquappen aus,“ scherzte er und trocknete sich die Hände ab. „Aber Ihr Kleinchen, Frau Schmiedecke, das ist ein Ausnahmefall – wirklich! Ich will Ihnen nicht schmeicheln. Ich habe tatsächlich noch nie ein so reizendes Püppchen gesehen.“
Frau Anna strahlte. Sie winkte ihrem Manne und nahm ihm das so sehnlichst erwünschte Töchterchen wieder ab. Sie fühlte sich so kräftig und gesund, als ob die letzten schweren Stunden schon tagelang hinter ihr lägen. Was machte ihr es aus, einem neuen Weltenbürger das Leben zu geben, ihr, die keine Krankheit kannte, die schon als Mädchen von vierzehn Jahren so schlank und so üppig wie eine Erwachsene gewesen.
„Traude soll sie heißen, Herr Doktor,“ sagte sie nun zu dem jungen Arzt, der im Vorderhause wohnte und bei dem Schmiedecke letztens noch die neue elektrische Krone angebracht hatte. Und da hatte Doktor Stelter dem Monteur erklärt: „Wenn Sie mich mal brauchen, Herr Schmiedecke, – in Familien mit über drei Kindern behandele ich gratis und franko –“ –
Er hatte es ja dazu, den Menschenfreund zu spielen. Er stammte selbst aus kleinen Verhältnissen und war nun Gatte einer jungen Witwe mit vielen Millionen, die sich in den lebenslustigen Harry Selter, der trotz seiner dreißig Jahre noch immer so etwas fideler Korpsstudent war, ehrlich verliebt hatte.
„Traude – Traude!“ rief Selter und schwenkte das Handtuch wie eine Fahne. „So heißt ja meine Frau mit Vornamen! Hören Sie, da muß meine Traude bei Ihrem Traudchen Pate werden!“
Gustav Schmiedeckes Stirn zeigte plötzlich einige Falten.
„Meine Kinder sind alle nicht getauft, Herr Doktor,“ sagte er schnell und in leichter Erregung. „Wir sind Proletarier, Herr Doktor. Die Kirche ist für die Reichen.“
Selter schaute ihn prüfend an. Ah – da war ja das verräterische Flimmern in den Augen, dieses Zeichen, daß sich in dem Menschen der Fanatiker regt.
„So, so, – na, mag das Leben es Ihnen ersparen, einmal anders über diese Dinge denken zu lernen,“ meinte er merklich kühler, hängte das Handtuch weg und verabschiedete sich.
„Abends komme ich wieder nach Ihnen sehen, Frau Schmiedecke. Und – vor ‘ner Doktorrechnung brauchen Sie keine Angst zu haben. Wir sind ja Hausgenossen. – So – auf Wiedersehen.“ Er drückte ihr die Hand, nickte dem Monteur zu, nahm seinen Hut und ging.
„Gustav, das hätt’st du dem Doktor doch auch nicht gerade unter die Nase zu reiben brauchen,“ sagte Frau Anna in dem kleinen Schlafzimmer, in dem eigentlich nur Betten standen, große, kleine, dicht an dicht.
Schmiedecke hatte sich auf den Bettrand zu seiner Frau gesetzt.
„Ich red’ nie anders, als ich denke, Anna. Du willst doch auch von den Pfaffen nischt wissen.“ – Er nahm ihre Hand und streichelte sie. „Wir beide, Anna, sind doch auch ohne sie bis heut’ sehr gut ausgekommen. Ich denk’ so ‘ne Ehe wie unsre gibt’s nicht oft –“
„Weil du ‘n ordentlicher Mensch bist, Gustav, und nicht säufst, und weil ich was zuverdiene –“
„Ja, du!“ Und in diesem ‚Du!‘ lag viel versteckte Zärtlichkeit und Anerkennung. „Ich hätt’s nie geglaubt, daß aus der Anna, die alle Kerls mit ihren Augen und dem wippenden Gang verrückt machte, mal so eine – so eine tücht’ge Hausfrau werden würde.“ Er schmunzelte wieder und zwinkerte ihr zu.
Dann kam die dicke Schmucken und schickte den Monteur raus. „Bringen Sie mir aber erst die Wanne mit dem warmen Wasser, Schmiedecke,“ rief sie ihm nach. „Ihnen tut das Tragen nichts, Sie – Sie Athlet.“–
Schmiedecke ging nun ins Nebenzimmer.
Er setzte sich an den kleinen Arbeitstisch, der vor dem linken Fenster stand. Darauf lagen allerlei Werkzeuge. Ein Schraubstock war am Tischrand befestigt, an der Seite stand auch eine kleine Bohrmaschine. Sogar als Drehbank war der Tisch eingerichtet.
Hier verlebte Gustav Schmiedecke seine meisten Feierstunden. Ja – für ihn waren’s wirklich ‚Feier‘stunden. Wenn er an allerlei Sächelchen herumbastelte, dann träumte er vor sich hin, dann war er nicht mehr der arme Monteur, dann sah er sich als Erfinder, als Fabrikbesitzer. Bis ins einzelne spann er diese Träume aus. Und die Wirklichkeit nachher, die doch so ganz anders war, verdarb ihm nie die frohe Laune und die Siegesstimmung. Er fühlte es, eines Tages würde ihm der gute Gedanke, die Erfinderidee kommen, die ihn reich machen mußte. Er sehnte sich nicht nach dem Gelde. Nein, das war’s nicht. Er spürte nur das Zeug in sich, mehr zu leisten, als es ihm jetzt in seinem engen Wirkungskreis möglich war.
2. Kapitel
Geheimrat Brinken und Frau
Das Ehepaar Selter saß sich am Ecktisch in dem bis ins kleinste stilvollen Speisezimmer gegenüber.
Frau Traude Selter, verwitwete Gröning, zog ein allerliebstes Schmollmäulchen.
„Harry, du hast ja recht. Wir müssen mal wieder hin, obwohl es bei Therese immer so entsetzlich langweilig ist,“ sagte sie nun. „Ich hatte mich so auf das Alleinsein mit dir gefreut. Diese Grippeepidemie ist schrecklich. Den ganzen Tag bist du unterwegs, und auch nachts klingelt man dich so und so oft heraus. Es wäre mir wirklich weit lieber, du hättest gar keine Patienten. – Wie geht es übrigens Frau Schmiedecke? Besser?“
„Ja. Aber sie wird sich sehr schonen müssen. Die Lungenentzündung hat die kräftige Frau sehr heruntergebracht.“
„Du, Harry, was ich schon immer mal fragen wollte. Werden denn Schmiedeckes das reizende Mädchen gar nicht taufen lassen? Es ist doch nun schon zehn Wochen alt. Ich glaubte, Schmiedeckes würden mich bitten, Pate zu stehen –“
Doktor Stelter strich etwas nervös seinen blonden Spitzbart.
„Hm – sieh mal, Traude, diese Leute denken in vielem so anders als wir. Der Daseinskampf läßt ihnen nicht viel Zeit übrig für – für kirchliche Dinge.“
„Wie meinst du das, Harry?“ – Frau Traude Stelter beobachtete ihren Gatten scharf. Er war jetzt so merkwürdig verschlossen.
„Nun, vielleicht – vielleicht wollen Schmiedeckes sich die Kosten sparen und lassen die Kleine gar nicht taufen. Uns kann das ja gleichgültig sein –“
Die schlanke, stattliche Frau schob den Stuhl zurück und stand auf, stellte sich hinter ihren Mann, legte die Hände auf die geschnitzten Knäufe der Rückenlehne.
„Harry, das – das ist doch nicht möglich,“ stieß sie hervor. „So ordentliche Leute wie Schmiedeckes sollten – sollten –“ – Sie fand keine Worte, schüttelte nur heftig den Kopf und fügte hinzu: „Ich werde gleich morgen mit Schmiedecke sprechen –“
„Nur das nicht, Traude! Ich bitte dich wirklich, – laß die Finger davon weg. Um ehrlich zu sein, Schmiedecke hat mir offen erklärt, er – er habe noch keins seiner Kinder taufen lassen, und das kleine Traudchen würde da keine Ausnahme bilden –“
Frau Stelter blieb eine Weile regungslos. Dann rief sie empört:
„Hätte ich das gewußt, früher gewußt, dann – dann würde ich doch so – so jedes religiöse Gefühls entbehrende Leute nicht in dieser Weise unterstützt haben! Nein, niemals hätte ich das getan!“
„Aber Schatz – Schatz! Das ist denn doch ein wenig zu –“
„Ach du, – du bist ja auch ein halber Heide!“ unterbrach sie ihn. Und der Ton, in dem sie das sagte, war alles andere als scherzhaft. „Ich begreife nicht, wie Menschen ohne Gottesglauben auskommen können. Mir ist es inneres Bedürfnis, sonntags zur Kirche zu gehen. Ich fühle mich geradezu in gehobener Stimmung, wenn ich eine gute Predigt gehört habe.“
„Traudchen, du stammst ja auch aus einem Pfarrhause!“
„Oh – bitte! Bin ich deswegen etwa nicht lebenslustig, Harry?! – Ja, mit Therese, da ist’s ja was anders. Diese Art Frömmigkeit ist mir zuwider. Das sage ich ganz ehrlich, wenn sie auch meine ältere Schwester ist –“
„Zum Glück nur dem Vaternamen nach,“ lachte Doktor Stelter, um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben. „Im übrigen seid ihr beide wie Tag und Nacht, – wobei du natürlich der sonnendurchleuchtete, heitere Tag bist –“
Frau Traudchen hatte jedoch keine Neigung, dieses Thema schon als erledigt zu betrachten.
„Wirklich Harry,“ sagte sie nach kurzem Schweigen, „Schmiedeckes sind mir jetzt plötzlich ganz fern gerückt. Ich übertreibe nicht, ich könnte nur Leuten Gutes tun, die religiös sind –“
„Aber Kind! Ist das nicht reichlich engherzig?“
„Von deinem Standpunkt! Ich denke darüber anders. – Doch – lassen wir das jetzt. Fahren wir also noch zu Brinkens. Die Stimmung ist mir ohnedies jetzt verdorben –“
Sie verließ das Speisezimmer. Harry Stelter schaute ihr nach, seufzte wieder, klingelte nach dem Stubenmädchen und befahl ihr, dem Chauffeur Bescheid zu geben. Dann schritt er in sein Herrenzimmer hinüber, steckte sich eine Zigarre an und wanderte auf und ab. –
Er war jetzt wütend, wütend auf Schmiedeckes! Zum Donner – noch nie hatte es zwischen Traude und ihm eine Aussprache mit einer solchen Trennung zum Schluß gegeben. Traude war wie eine beleidigte Fürstin hinausgerauscht. Diese Schmiedeckes! – Na – Traude war ja schließlich auch mit daran schuld. Derartige Ansichten. Das war Engherzigkeit! Das war – ja, das war doch so ein Stück von Therese Brinken! Das war eben das Blut!
Das eigene Auto brachte das Ehepaar dann nach der Grunewaldvilla des Geheimen Oberregierungsrats Viktor Wilhelm Theodor Brinken. Traude saß sehr steif und förmlich da. Während des Umkleidens hatte sie alles nochmals überdacht. Und da war ihr eingefallen, daß Harry ihr doch offenbar absichtlich jene Äußerung Schmiedeckes verschwiegen hatte, natürlich nur deshalb, um zu verhüten, was nun doch eingetreten war, daß Schmiedeckes für sie ‚erledigt‘ waren! –
„Harry!“ sagte sie jetzt ganz unvermittelt.
„Du wünschest?“
„Wann hat Schmiedecke dir denn erklärt, daß er das Kind ebenfalls nicht taufen lassen würde?“
„Traude! Nochmals den alten Kohl?!“
„Bitte! Der Studentenjargon paßt nicht ganz in meine Stimmung hinein. – Wann also?“
„Am Mittag nach der Entbindung, wenn du es denn durchaus wissen willst.“
„Wie?! Damals schon?! Und – und – das hast du mir – verheimlicht?!“
„Aber Liebling, um alles in der Welt! Mach’ doch daraus keine Staatsaktion!“
Sie lehnte sich in die Ecke zurück und schwieg. – Er tastete nach ihrer Hand.
„Traude, werden wir beide uns dieser – dieser Lappalie wegen an die Köpfe kriegen! Sei doch verständig!“
Sie überließ ihm ihre Hand zwar, erwiderte aber den zärtlichen Druck in keiner Weise. Nein, sie schwieg weiter hartnäckig, bis er es schließlich aufgab, ihr Vernunft zu predigen. Auch in ihm war jetzt etwas wie Groll gegen sie hochgestiegen. – ‚Wollen sehen‘, dachte er, ‚ob du nicht doch zu Kreuze kriechst! Lange hältst du es ohne deinen Harry ja doch nicht aus.‘ –
„Es ist ja sehr liebenswürdig von euch, daß ihr euch wieder einmal sehen laßt,“ empfing die Geheimrätin den Schwager und die um zwölf Jahre jüngere Schwester.
Harry Stelter küßte ihr die Hand.
„Die Grippeepidemie,“ entschuldigte er sich.
Die Geheimrätin ließ durch den Diener Rotwein und Gebäck bringen. Stelter hatte einen wahren Heißhunger auf die geliebte Zigarre. Aber an ‚Familienabenden‘ durfte hier nicht geraucht werden. Frau Therese ‚liebte‘ es nicht. Ihr Mann war Nichtraucher. –
Die Unterhaltung wurde in der Hauptsache durch die Geheimrätin geführt, die in ihrem dunklen Seidenkleide, dem bereits grauen Scheitel und der kerzengeraden Haltung, dem kühl vornehmen Gesicht und der etwas blechernen Stimme derart erkältend wirkte, daß Stelter sich heute abermals fragte, ob diese ‚Dame‘ überhaupt mal jung und Weib gewesen sei.
Der Geheimrat war ein ganz klein wenig sympathischer als seine Frau, mit der er nun bereits siebzehn Jahre in kinderloser Ehe lebte, die ihn von Jahr zu Jahr seiner Mustergattin ähnlicher gemacht hatte.
Frau Therese sprach jetzt mit der Schwester über ihren seit Monaten erwogenen Plan, ein Kind als eigen anzunehmen.
„Nachdem meine Hoffnung, Theodor einst als Exzellenz an hervorragender Stelle zu sehen, endgültig gescheitert ist,“ sagte sie mit einem verbissenen Gesichtsausdruck, „empfinde ich um mich her eine große Leere. Ich muß mir wieder einen Lebenszweck schaffen. Ich möchte am liebsten ein kleines Mädchen adoptieren, das ich so erziehen möchte, wie ich erzogen bin, in Gottesfurcht und Strenge! Dieses Kind soll unsere Erbin werden, soll meinen Lebensabend durch eine Heirat mit einem Manne, der zum Höchsten berufen ist, Inhalt geben –“
Harry Stelter und der Geheimrat hatten sich bisher über die Grippeepidemie unterhalten, doch hatte der junge Arzt immerhin von dem Gespräch der Damen stets so einiges aufgefangen, wandte sich jetzt seiner Schwägerin zu, für die er nie so ganz ‚für voll‘ galt, und sagte ohne sein Erstaunen irgendwie zu verbergen:
„Therese, habe ich recht gehört? Ihr wollt ein Kind adoptieren? Davon wußte ich bisher ja gar nichts –“
„Es hätte dich wohl auch kaum interessiert,“ meinte die Geheimrätin eisig. „Du tust gerade so, als ob du diese Absicht nicht so recht verstehst. Dein erstaunter Ton läßt wenigstens darauf schließen.“
Stelter hatte schon eine Entgegnung auf der Zunge, die etwa gelautet hätte: ‚Allerdings! Das arme Wurm, das in diesem Hause aufwächst, bedauere ich schon jetzt.‘ – Er war jedoch im Verkehr mit seiner Schwägerin stets Diplomat; er sprach genau das Gegenteil von dem, was er dachte!
„Ich verstehe diese Absicht nur insofern nicht, als ihr euch doch durch die Aufnahme eines Kindes eine Unmenge Unbequemlichkeiten aufladen würdet,“ sagte er mit höflicher Verbeugung. „Im übrigen zeugt dieser Gedanke von so viel warmem Gefühl, das ich ja wider meine eigene Natur handelte, wollte ich euch etwa abraten. Im Gegenteil! Die Idee, ein Kind hier in eurer Häuslichkeit allmählich heranreifen zu lassen, muß von mir als Arzt durchaus gebilligt werden. Nichts verjüngt so sehr, als ein Kind und die Pflichten, die aus dem Besitz eines solchen sich von selbst ergeben.“
Die Geheimrätin war nie so recht im klaren darüber, ob Stelter das, was er sprach, etwa ironisch meinte. Sie schaute ihn daher jetzt auch prüfend an und sagte nach kurzer Pause:
„Wenn du diesen Gedanken als Arzt gutheißt, lieber Schwager, dann wirst du auch umso eher bereit sein, uns bei der Auswahl des Kindes zu unterstützen. Für uns kommt nur ein Mädchen aus einfachen Kreisen in Betracht, das von ganz gesunden Eltern abstammen muß, die außerdem ihrem Äußeren nach eine gewisse Gewähr dafür bieten, daß das Kind später nicht gerade häßlich wird. Dann müßten die Eltern schriftlich auf alle Anrechte auf das Kind sofort verzichten und sich außerdem verpflichten, nie mehr sich um ihre Tochter irgendwie zu kümmern. Daß die Eltern ordentliche, brave Menschen sein müßten, ist selbstverständlich.“
„Hm,“ meinte Stelter. „Verehrteste Schwägerin, ordentliche, brave Eltern werden kaum ein Kind hergeben.“
„Oh bitte, lieber Harry, – wenn man sehr gut bezahlt!“
„Eltern, die gegen ‚sehr gute‘ Bezahlung ihr Kind anderen überlassen, sind nicht ‚brav‘, wenigstens meiner Ansicht nach nicht,“ sagte Stelter hart.
„Bitte – es kann Verhältnisse geben, die selbst brave Leute zwingen, eine Bezahlung von einigen tausend Mark als ein Geschenk des Himmels zu betrachten –“
Stelter schwieg. Der Geheimrat beeilte sich zu erklären:
„Du hast ganz recht, liebe Therese, als ein Geschenk des Himmels! – Außerdem, tun die Leute nicht an ihrem Kinde etwas Gutes, etwas sehr Gutes, wenn sie ihm einen Lebensweg ermöglichen, den sie selbst auch nicht im entferntesten diesem Kinde bieten können! Ja – sie tun es! Und das werden sie selbst einsehen!“ –
Nach einer Stunde fuhren Stelters wieder heim. Sie wohnten am Lützowplatz. Als ihr Auto, das sie abgeholt hatte, die Halenseer Brücke passierte und nun den Kurfürstendamm hinabrollte, sagte Stelter zu seiner noch immer unzugänglichen Traude in sehr ernstem Tone:
„Liebes Kind, ich möchte dich herzlichst bitten, die Sache nicht auf die Spitze zu treiben. Ich habe nichts getan, was dir ein Recht gibt, die Verletzte zu spielen. Ich bin nicht aus dem Holze geschnitzt wie etwa Schwager Theodor, den ich nur als – Jammerlappen bezeichnen kann. Ich, Traude, lasse mir mein Leben und meinen Frohsinn nicht vergiften! Das nur so in aller Herzlichkeit –“
Er wartete umsonst auf eine Antwort.
Als das Auto am Cafee des Westens vorüberkam, drückte Stelter auf den Knopf der elektrischen Glocke für den Chauffeur. Der Kraftwagen hielt.
„Ich will noch etwas Musik hören, Traude. Gute Nacht –“
Stelter stieg aus und befahl dem Chauffeur weiterzufahren.
Als er dann kurz vor ein Uhr heimkehrte, war Frau Traude aus dem gemeinsamen Schlafzimmer in den Damensalon umgesiedelt.
Stelter zuckte die Achseln. ‚Kindskopf!‘ dachte er. ‚Abwarten, wie lange es dauern wird, bis du vernünftig wirst! Und – all das Schmiedeckes wegen!‘
Aber – er grollte Schmiedeckes deswegen nicht. Nein, jetzt nicht mehr! Er hatte erkannt, daß für ihn jetzt ein ähnlicher Kampf begann, wie Theodor Birken ihn einst in seiner jungen Ehe ausgefochten hatte und dabei – unterlegen war! – Nun – er, Harry Stelter, würde hier nicht der Besiegte sein! Niemals! Entweder biegen oder brechen! Zum Sklaven seiner Frau ließ er sich nicht erniedrigen, mochte er sie auch noch so sehr lieben.
3. Kapitel
Die Mühlsteine des Lebens
„Anna, tu’s nicht,“ bat er. „Der Doktor hat’s doch verboten –“
Sie spielte die Mutige, ganz Gesunde. Sie merkte auch, diese Bitte, sie solle sich doch schonen und im Bett bleiben, war gar nicht so recht ernst gemeint. Er sah ja selbst, daß es mit ihnen bergab ging, seit sie krank war.
„Nein, Gustav. Es muß sein,“ erwiderte sie und nickte ihm zu. „Brauchst keine Angst um mich zu haben. Ich bin schon wieder die Anna von früher. Das blasse Aussehen – das ist ja nicht anders wenn man zwei und eine halbe Woche im Bett gelegen hat. – Nein, nein, es geht ja nicht anders. Die Kremken muß raus. Das ist so eine hilfreiche Nachbarin, an deren Fingern die Hälfte von dem kleben bleibt, was sie anfaßt. Wir haben schon Schulden, Gustav, – überall. Alles verschmutzt, verkommt. Die Jungens haben kein einziges ganzes Paar Strümpfe mehr anzuziehen. Und ich möchte doch Traudchen so sehr gern ein Jäckchen nähen und anderes!“
Gustav Schmiedeckes Gesicht war schmal geworden; der blonde Schnurrbart war nicht mehr so gepflegt wie einst. Er, der auf seinen äußeren Menschen stets etwas gegeben hatte, vernachlässigte sich. Wenn er jetzt von der Arbeit kam, spielte er Hausfrau. Und nachts lag er da und rechnete die Schulden zusammen und sann und sann, ob ihm nicht der Millionenartikel einfallen würde. –
Er reichte seiner Frau die Hand. „Na, auf Wiedersehen denn, Anna. Aber, höchstens ‘ne Stunde, Anna, höchstens –“
Er schritt die Treppe hinab, ging über den Hof und durch den Nebeneingang und wollte an seine Arbeitsstelle. Er war seit Jahren bei einer Kronleuchterfabrik angestellt, für die er die verkaufen Beleuchtungskörper auch gleich anbringen mußte. Heute nachmittag hatte er ganz in der Nähe zu tun.
Als er die Straße betrat, kam ihm Frau Traude Stelter in einem hellen Frühjahrskostüm entgegen. Er grüßte. Aber die Hand hob sich nur widerwillig bis zur Mütze. Seit Wochen war bei ihm der stille, lang gehegten Haß gegen die Reichen noch lebendiger geworden. Daß Doktor Stelter die Anna wieder umsonst behandelte, daß die Frau Doktor bis gestern regelmäßig Krankenkost geschickt hatte, das hatte er bereits vergessen gegenüber der Tatsache, daß diese täglichen Spenden zu Mittag und Abend plötzlich aufgehört hatten.
„Guten Tag, Herr Schmiedecke –“
Er blieb stehen. „‘n Tag, Frau Doktor –“
„Ich möchte Sie ein Stück begleiten. Ich habe etwas mit Ihnen durchzusprechen –“
Sie gingen weiter. Er ein wenig verlegen. Und darüber ärgerte er sich.
„Herr Schmiedecke, wann werden Sie eigentlich Ihr Traudchen taufen lassen?“ begann sie.
Er zuckte ordentlich zusammen. – Also, das war’s! Taufen lassen! Na – damit kam sie bei ihm an den Rechten! Gerade jetzt!
„Gar nicht!“ erwiderte er schroff. „Wir – wir wollen nichts von den Pfaffen wissen!“ – Halb gegen seinen Willen war ihm der zweite Satz über die Lippen geschlüpft. Jetzt war er wütend, daß er sich nicht mehr beherrscht hatte. So grob hätte er nicht gleich sein sollen.
Frau Traude war das Blut ins Gesicht geschossen. Auch sie wurde erregt.
„Wissen Sie, daß ich die Tochter eines Pfarrers bin?“ fragte sie mit erhobener Stimme.
Er zögerte etwas.
„Ja, Frau Doktor. Aber ich sprach nur so im allgemeinen von den Geistlichen –“
„Oh – das genügt!“
Sie machte kurz kehrt, ging nach der anderen Seite eilig davon. Sie zitterte vor Empörung. Dieser – dieser undankbare, rohe Mensch! –
Gustav Schmiedecke hätte sich prügeln mögen. Er war stehengeblieben und blickte ihr nach. Ob er hinter ihr her eilte und um Entschuldigung bat? Schließlich, der Doktor und sie hatten der Anna doch stets nur Gutes getan.
Da quoll’s aber schon wieder in ihm hoch – der Haß, der Haß! Das lag bei ihm im Blute; das war sein Erbteil vom Vater her.
Nein – er konnte nicht um Entschuldigung bitten. Die – die nicht! Das war wider seine Natur! Und – es war doch schließlich auch eine – eine Frechheit, sich so in seine persönlichen Angelegenheiten einzumischen.
Eine Weile redete er sich ein, daß er ganz im Recht gewesen, sie so abzufertigen. – Aber – Gustav Schmiedecke belog sich selbst stets nur für kurze Zeit. Dazu dachte er zu klar, zu verständig.
Wieder fühlte er etwas wie Wut gegen sich selbst.
‚Das hat sie nicht verdient,‘ dachte er. ‚Schäm’ dich, Gustav. Wie ‘n Besoff’ner hast du dich benommen –‘ –
Und in dieser Stimmung kletterte er dann bei Kommerzienrat Lövy auf die Trittleiter.
Er fluchte leise. Das eine Ende der eingegipsten elektrischen Leitung war abgebrochen. Er bohrte mit dem Zeigefinger in dem Loche.
„So ‘ne Schweinerei!“ brummte er.
Dann mußte er schnell nach dem Lampenhaken fassen. Ihm war plötzlich schwindelig geworden.
„Na nu! Das fehlte gerade noch!“ knurrte er.
Er wartete, richtete sich wieder auf, begann erneut nach dem einen Ende der Leitung zu suchen, brach Stücke Gips mit dem Finger heraus.
Da – er hatte vergessen die Sicherung herauszuschrauben, da erhielt er einen elektrischen Schlag, verlor das Gleichgewicht vor Schreck, fiel hintenüber. –
Frau Anna kniete vor der Kommode und zählte die Bettwäsche durch. Daß der silberne Löffel verschwunden war, den man einst in einer Lotterie gewonnen, hatte sie argwöhnisch gemacht. Der Klemken traute sie nicht über den Weg.
Wirklich – hier fehlten von den noch ungebrauchten Kopfkissenbezügen zwei Stück!
Sie stand wieder auf. Sie fühlte sich so matt, so elend. Ihr zitterten die Beine, und vor den Augen sprühten ihr immer wieder Funkengarben auf.
Sie setzte sich neben den Kinderwagen, in dem ihr Traudchen lag mit roten Bäckchen, den einen Daumen im Mündchen.
Ihr Traudchen! Ihr Mädelchen! – Sie lächelte selig. Auf einmal war die Schwäche wie verflogen.
Die Flurglocke schrillte. Sie ging und öffnete. Es war der Portier Franzke.
„Tag, Frau Schmiedecke –“ Er knüllte seine weiche Mütze vor Verlegenheit. „Nu erschrecken Sie man nich, Frau Schmiedecke. Ihr Oller is son bißken von der Leiter runtergefallen. ‘s is aber gar nicht schlimm. Er liegt auf die Unfallstation in der Lützowstraße. Sie haben eben bei mir angeklingelt –“
Sie lehnte sich an die Wand. Ihr wurde schwarz vor den Augen. – Aber es wurde gleich wieder besser. Die Energie siegte.
„Wollen Sie ‘n nun nach Hause haben, Frau Schmiedecke?“ fragte der Portier und drückte krampfhaft ihre Hand. „Oder soll er ins Krankenhaus?“
„Krankenhaus?!“ Sie fuhr förmlich hoch. Für sie war das Krankenhaus keine wohltätige Einrichtung. Für sie und viele andere lag in dem Worte etwas, was an schlechte Kost, lieblose Behandlung und Vorstation für den Kirchhof erinnerte. Sie war ja nie krank gewesen. Und Gustav ebensowenig. Sie hatte sich nur allerhand erzählen lassen, wie’s in den Krankenhäusern zuging. Daß diese Schilderungen aus irgendwelchen Gründen der Wahrheit nie entsprachen, ahnte sie nicht.
So wurde ihr der bewußtlose Mann denn ins Haus gebracht. –
Stelters saßen beim Mittagessen im stilvollen Speisezimmer. Eine Aussöhnung zwischen ihnen hatte noch nicht stattgefunden. Harry tat, als bemerkte er ihre Übersiedlung in den Damensalon gar nicht. Er war ungezwungen freundlich, – nur nicht herzlich. –
Traude wurde dieser neue Ton zwischen ihnen sehr schwer. Aber – sie wollte nicht nachgeben! Daß er damals vor drei Tagen noch ins Cafee gegangen war – ohne sie! –, konnte sie nicht vergessen.
Heute fühlte sie sich so etwas als Siegerin. Ganz unvermittelt erzählte sie ihm, wie Schmiedecke sie vor einer Stunde auf der Straße abgefertigt hatte.
Stelter schüttelte den Kopf. „Das sieht ihm so gar nicht ähnlich,“ meinte er. „Du mußt auch etwas nachsichtig in diesem Falle sein. Die kranke Frau daheim – die vielen Kinder –“
„Nachsichtig – nachsichtig?! Gegenüber einer solchen – solchen Rohheit. Anders kann ich das nicht bezeichnen. Schmiedecke wußte, daß Papa Pfarrer ist. Da –“
„Aber Traude!“ fiel er ihr ins Wort. „Rohheit – Rohheit?! Der arme Mensch hat den Kopf voller Sorgen. Sie haben jetzt überall Läpperschulden –“
„So – also dadurch geht dir das Feingefühl ab?! Natürlich – bei deinen Ansichten!“
Er legte Messer und Gabel hin. Vor seinem strengen, harten Blick schlug sie nun doch die Augen nieder.
„Liebes Kind,“ sagte er sehr langsam, „wenn du wirklich religiös wärst, würdest du vor allem eins kennen: Nachsicht mit den Schwächen deiner Mitmenschen! Wenn du in einer Umgebung aufgewachsen wärest wie Schmiedecke, würdest du genau so denken wie er – was aber deine gegen mich gerichteten Vorwürfe betrifft, so – warne ich dich nochmals! Ich lasse mich nicht unterkriegen wie Theodor – niemals! Ich – werde noch heute für vierzehn Tage verreisen. Das Ausspannen tut mir not. Und deine Gesellschaft ist jetzt keine Erholung, Traude –“
Sie erbleichte. Daß er so – so hart sein könnte, so fest und bestimmt, hätte sie nie vermutet. – Verreisen – vierzehn Tage! – Ihr stiegen die Tränen hoch.
„Harry!“ Wie ein Schluchzen klang das. Und dann kamen die Tränen mit aller Macht; dann stand sie auf und trat neben ihn, beugte sich zu ihm herab.
„Sei wieder gut.“ Sie umschlang ihn. Und er nahm sie auf den Schoß, küßte sie.
„Ich sehe ja alles ein,“ flüsterte sie. „Ich – ich bin ungerecht, Harry. Schmiedeckes Vater soll ein Trinker gewesen sein. Seine Frau lief ihm davon. Ein Wunder, daß Schmiedecke noch so ein ordentlicher Mensch geworden ist –“
„Na also!“ lächelte er. „Traudchen, Traudchen, man soll wirklich jeden nach seiner Fasson selig werden lassen –“
„Du Harry, – verreisen wollen wir aber doch, nicht wahr? Und gleich heute noch. So – so als ob wir wieder unsere Hochzeitsreise machten –“ Sie küßte ihn lange und heiß. –
Nachher hielt er in seinem Zimmer Mittagschlaf. Frau Traude war gerade im Flur, als es läutete. Sie öffnete daher selbst.
„Mein Gott, – Sie, Frau Schmiedecke. Sie –?“
„Mein Mann – besinnungslos – soeben gebracht – Gehirnerschütterung. Vielleicht kommt der Herr Doktor mal herüber –“
Traude führte die bleiche Schmiedecke über den Hof und in ihre Wohnung zurück. –
„Ich schicke Ihnen den Vertreter meines Mannes, Frau Schmiedecke. Mein Mann ist überarbeitet. Er muß ausspannen.“
Dann ließ sie sich das kleine Traudchen noch zeigen.
„Ach – wie glücklich können Sie sein, – ein so reizendes Mädelchen,“ meinte sie seufzend. Sie hätte ja selbst so gern ein Kind gehabt. Es sollte wohl nicht sein.
Sie eilte wieder über den Hof zurück, läutete den Sanitätsrat Haberland an, der Harry schon einmal vertreten hatte. Er versprach Schmiedeckes Behandlung zu übernehmen und ihn sofort zu besuchen.
Frau Traude packte nun Eßwaren zusammen, einen ganzen Korb voll. Und obenauf legte sie einen Briefumschlag mit fünfhundert Mark darin. Das trug sie hinüber ins Gartenhaus. Frau Anna weinte.
„Was Sie gut sind, Frau Doktor –“
„Nein, nein, – sagen Sie das nicht. Ich bin nicht gut. Ich – ich –“ Sie schluchzte nun selbst an Tränen, wandte sich um und lief davon –
Als Harry Stelter von Schmiedeckes Mißgeschick erfuhr, ging er schnell noch zu ihm. Der Monteur war bei Besinnung. Sanitätsrat Haberland hatte Frau Anna Mut zugesprochen. „In acht Tagen ist er wieder völlig auf dem Damm.“ – Auch Stelter hielt den Fall für unbedenklich.
Um fünf Uhr nachmittags fuhren Stelters zu Brinkens nach der Grunewaldvilla, um sich von den Verwandten zu verabschieden. Traude erwähnte so nebenbei die kinderreiche Familie des Monteurs, der nun auch selbst noch krank danieder lag und dessen Frau kaum erst genesen war. Auch von dem süßen, kleinen Mädelchen sprach sie; von den Eltern, die so fleißig und brav seien. – Sie tat es ohne jede Absicht. Eigentlich nur, um einen Gesprächsstoff zu haben. –
Abends um sieben reisten Stelters nach München. Traude war selig. Eine zweite Hochzeitsreise! Wie würde das schön werden. –
Als Sanitätsrat Haberland abends um acht Uhr nochmals zu Schmiedeckes kam, lag Frau Agna besinnungslos mit hohem Fieber in der Küche. Und auch bei dem Monteur hatte sich Fieber eingestellt. Er ließ beide sofort ins Krankenhaus überführen. Für die Kinder wollte die Witwe Kremke, die Flurnachbarin sorgen.
Zehn Tage drauf war Frau Anna so weit hergestellt, daß sie aus dem Krankenhaus wieder entlassen werden konnte. Sie hielt es dort nicht länger aus. Die Sorge um ihre Kinder, besonders um Traudchen, trieb sie heim. Dann hatte man ihr auch vorsichtig mitgeteilt, daß ihr Mann außer jeder Gefahr sei, vorläufig aber noch einige Zeit linksseitig gelähmt bleiben würde. Sie wollte ihn nun ebenfalls bald nach Hause nehmen. Sie glaubte, ihn dort schneller gesundpflegen zu können.
Ganz erfüllt von der Hoffnung, daß das Schwerste nun überstanden sei, setzte sie sich in die Straßenbahn. Als sie am Lützowplatz ausstieg und durch die frischgrünenden Anlagen dem Hause zuschritt, als die weiche Maienluft ihre bleichen Wangen umschmeichelte, wuchsen Zuversicht und freudige Erwartung in ihr. –
Ihr Püppchen, ihr Traudchen! Wie sehr sie sich nach der Kleinen doch all die Tage gesehnt hatte! – Voll Dankbarkeit dachte sie auch an Frau Doktor Stelter. Die fünfhundert Mark hatte sie damals sogleich gut versteckt – in einem Muschelkästchen unter dem grünen Stoff des Futters. Das Geld würde die Sorgen schon fernhalten, bis Gustav wieder arbeitsfähig war. –
Nun war sie daheim; nun öffnete der älteste Junge ihr die Tür.
Und – das fand sie? – Traudchen war zum Skelett abgemagert, hustete, lag in schmutzigen Windeln. Die ganze Wohnung war erfüllt von den übelsten Düften. Die Jungen waren kaum gewaschen, verwahrlost und verwildert. Dann kam noch die heuchlerische Kremke hinzu, sang ihr eigenes Loblied in den höchsten Tönen, – wie sie sich aufgeopfert habe, wie viel Geld sie ausgelegt habe.
Frau Anna saß ganz stumpfsinnig auf dem Stuhl neben dem Kinderwagen. Die Kremke holte einen Zettel vor. Sie hatte ‚ein bißchen aufgeschrieben‘, was sie für die Kinder eingekauft hätte.
Frau Anna verstand, die Nachbarn wollte bezahlt sein! – Sie ging in die Wohnstube, nahm das Muschelkästchen.
Sie wühlte darin. Sie stierte ganz entsetzt in das Kästchen hinein. – Leer, leer! –
Natürlich die Kremke – natürlich! Aber – durfte sie das Weib anschuldigen? Hatte sie Beweise?
In ihrer Verzweiflung lief sie nach vorn zu Doktors. Die Köchin öffnete ihr. „Die Herrschaften haben gestern geschrieben. Sie bleiben noch drei Wochen in der Schweiz –“
Die Köchin borgte ihr hundert Mark. – Als sie dann die Kremke bezahlt hatte, blieben ihr noch acht Mark.
*
Drei Tage drauf brachte man den Gelähmten nach Hause. Der mußte wie ein kleines Kind gewartet werden, lag ganz fest zu Bett, konnte nur unverständliche Worte lallen. Sanitätsrat Haberland untersuchte ihn – „Man hat Sie belogen, Frau Schmiedecke,“ sagte er. „Man hat Ihren Mann nur los sein wollen. Ob die Lähmung je schwindet, ist sehr fraglich. Beantragen Sie, daß er wieder im Krankenhause aufgenommen wird –“
„Niemals!“ Das war aber auch das einzige, was sie über die Lippen bekam.
Dann untersuchte der Arzt auch Traudchen. –
„Unterernährt, – beide Lungen angegriffen.“ – Er zuckte die Achseln.
Und als er gegangen war, saß Frau Anna noch lange wie versteinert da. Sie war unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.
Es läutete. Schwerfällig erhob sie sich, öffnete. Draußen stand eine grauhaarige, vornehme Dame. –
„Ich habe mich nach Ihren Verhältnissen erkundigt,“ sagte sie dann in der Wohnstube, wohin Frau Anna sie genötigt hatte. Sie sprach sehr lange, sehr eindringlich.
„Niemals!“ rief Frau Anna wieder. „Niemals! Mein Traudchen weggeben – nein – nein – niemals!“
„Ich begegnete vorhin dem Sanitätsrat,“ erklärte die Dame, stets in demselben ruhigen Tone. „Wenn Ihr Mädelchen nicht die allerbeste Pflege erhält und sofort auch in ein ganz mildes Klima kommt, ist es nicht mehr zu retten. Wollen Sie es sterben lassen? Wollen Sie in Not und Elend geraten, Ihren Mann hinsiechen sehen, nur weil Sie in falscher Mutterliebe sich nicht von der Kleinen trennen wollen? Ich biete Ihnen nochmals fünfundzwanzigtausend Mark als Abstandssumme für das Kind. Überlegen Sie es sich. Ich werde nach drei Tagen wiederkommen.“
– und nach drei Tagen war Frau Anna selbst kaum mehr fähig, sich weiterzuschleppen. Traudchen hatte Brechdurchfall. Der Sanitätsrat, der Frau Brinken nur ganz oberflächlich kannte, redete ihr gut zu, das Kind hinzugeben. Er tat es in bester Überzeugung. Den Namen der Dame nannte er nicht, behauptete, ihn selbst nicht zu kennen.
Frau Anna kämpfte eine endlos lange Nacht mit sich. Immer wieder klangen ihr des Sanitätsrats Worte im Ohr: ‚Sie retten Ihren Mann, Ihre Jungen, sich selbst!‘
Und die Dame kam. Frau Anna unterschrieb die Urkunde, daß sie das Kind der Frau Therese Müller mit allen Rechten als eigen überlasse. –
Nur eins verlangte sie, daß sie Traudchen, bis ‚Müllers‘, die anders wohin versetzt waren, abreisten, jeden Tag noch sehen dürfe. Frau Müller nannte als Wohnung ein Haus in der Augsburger Straße, Berlin W.
Der Abschied von Traudchen war nicht so schwer, wie Anna gedacht hatte. Frau ‚Müller‘ bat sie, gleich nachmittags die Kleine zu besuchen. Und das linderte den Schmerz.
Die Dame zog den dichten Schleier über das schmale, strenge Gesicht, nahm Traudchen sofort mit.
Und – nun war’s geschehen! Nun lagen da die fünfundzwanzig braunen Scheine auf dem Tisch. Da kam der ganze Jammer der Trennung über das arme Weib. Aufschluchzend warf es sich vor dem Bette ihres Mannes in die Knie und wühlte den Kopf in die Kissen ein.
Gustav Schmiedecke wußte von dem Handel. Er hatte durch Kopfnicken sein Einverständnis gegeben. Er mußte es, er sah ja, was aus seiner Anna geworden – eine alte Frau beinahe. Er hing nicht an Traudchen so wie sie; ihm waren die Buben genau so lieb. Und – man hatte ja noch sechs Kinder. –
Frau Anna beruhigte sich. Sie ging einkaufen, wechselte einen Tausendmarkschein, bezahlte die Schulden beim Kaufmann, löste die bereits verpfändeten Sachen aus, gab der Köchin von Doktors die geliehenen hundert Mark zurück.
Sie fühlte sich freier. Die Sorgenlast war von ihr abgefallen. Sie konnte den sechs kleinen, ewig hungrigen Mäulern ihrer Jungen einmal wieder so viel anbieten, bis sie satt waren.
Um fünf Uhr nachmittags fuhr sie nach der Augsburger Straße. Nr. 82 wohnte kein Ingenieur Müller. –
Sie suchte die Nebenhäuser ab, sah in einem Zigarrengeschäft das Adreßbuch ein. – Sie fand diese Müllers nicht. Da ging ihr eine Ahnung der Wahrheit auf. Die Dame hatte sie belogen; die hieß gar nicht Müller, die hatte ihr nur den Trennungsschmerz erleichtern wollen.
Sie weinte nicht; nur ihr Herz war wie erstorben. Sie dachte an den kranken, gelähmten Mann, die sechs Kinder. Sie hatte ein Opfer gebracht – mit für Traudchen, die nun gesund werden und es gut haben würde. –
Sie erzählte daheim ihrem Gustav von den vergeblichen Bemühungen, jene Müllers aufzufinden. Nun kamen ihr doch die Tränen. Und auch ihm rollten ein paar Tropfen über die Wangen. –
Dann erschien der ‚Gasmann‘, der das Geld für das verbrauchte Gas abholen wollte. Zweiunddreißig Mark waren zu zahlen – zweiunddreißig Mark! Wenn nun nicht Geld im Hause gewesen wäre!
Tag um Tag verging. Das tote Herz Frau Annas regte sich wieder. ‚Traudchen hat es gut!‘ Damit tröstete Sie sich. Und als der Sanitätsrat wieder einmal vorsprach, als sie ihn tat, ihr doch den wahren Namen der Dame zu nennen, da sagte der alte Herr gütig: „Liebe Frau Schmiedecke, das Ehepaar wohnt nicht mehr in Berlin. Das ist die Wahrheit. Es ist weit weg gezogen. Weshalb wollen Sie also den Namen wissen?! Ich dürfte ihn Ihnen auch gar nicht nennen. Ich habe Schweigen gelobt. Ihr Kinde konnten Sie keinen besseren Dienst erweisen, wirklich nicht! Nun rate ich Ihnen folgendes, kaufen Sie sich auf dem Lande ein kleines Anwesen. Dort wird Ihr Mann am schnellsten gesund werden. Ich will Ihnen gern bei allem behilflich sein.“ –
Vierzehn Tage darauf verließen Schmiedeckes Berlin. Sanitätsrat Haberland hatte Frau Anna nicht belogen, der Geheimrat Brinken war als Regierungspräsident nach Königsberg, nach Ostpreußen, versetzt worden und bereits mit den Seinen – denn jetzt waren es ja zwei, Frau und Kind – dorthin gereist.
II. Teil
Nach Jahren
1. Kapitel
Die kleine Selbstmörderin
„Mutter, schön haben wir’s, so wunderschön, daß man drüber zum Dichter werden könnte,“ sagte Gustav Schmiedecke versonnen zu seiner Frau, die neben ihm auf der Bank des Aussichtsplatzes am äußersten Ende des großen Gartens saß.
Schmiedeckes waren Frühaufsteher. Auf dem Lande beginnt man das Tagewerk, sobald die Sonne erschienen ist. Und sie war erst vor einer halben Stunde aufgestiegen über den bewaldeten Höhen im Osten, hatte über das weite Meer ihren Silberglanz ausgestreut und funkelte in den Tautropfen der Gräser und Blätter wie unzählige Diamanten.
Die Bank, auf der das Ehepaar Schmiedecke Platz genommen hatte, stand dicht am Steilufer der Küste. Ein fester Holzzaun begrenzte den Abhang. Unten am weißen Strande brandeten verträumt die bescheidenen Wogen der Ostsee. –
„Ja – wunderschön,“ wiederholte Frau Anna leise. „So, wie wir’s uns niemals gedacht hatten.“
Gustav Schmiedecke rauchte ein paar Züge aus seiner Zigarre. Er paffte hastig, denn etwas wie Rührung war ihm in der Kehle hochgestiegen. Und über diese Rührung wollte er schnell hinwegkommen. –
Sein Gesicht war tief gebräunt. In der grünen Joppe und dem Filzhut mit dem Häherstutz sah er ganz wie ein Landwirt aus. Und – er war es ja auch; war nun Besitzer eines Bauerngutes von fast dreihundert Morgen.
„Ja, ja, das Schicksal!“ meinte er in frischem Tone. „Es spielt mit uns Menschenkindern ganz eigen. Wer weiß, was aus uns geworden wäre, wenn wir damals nein gesagt hätten –“
Frau Anna, der niemand die fünfundvierzig Jahre ansah, die sie nun bereits zählte, seufzte und blickte sinnend über das glänzende Meer.
„Unser Traudchen.“ – Es kam ihr ungewollt über die Lippen.
Schmiedecke griff nach ihrer Hand, rückte näher an sie heran.
„Nicht doch, Mutter! Weshalb die Seufzer! Das Kind hat’s doch sicher gut –“
Sie schwieg eine Weile. Dann –
„Weißt du das so genau, Gustav? – Nein, du weißt es ebensowenig wie ich. Was wissen wir überhaupt von Traudchen?! Vor acht Jahren schrieb der Sanitätsrat uns, er habe sie gesehen; sie sei ein reizendes Kind geworden. Seitdem – nichts, nichts! Sie kann – längst tot sein –“
„Aber Mutter! So ein Mädel wie sie, von unserem Schlag! Die sechs Jungen haben doch auch alle sogar Diphtheritis durchgemacht! Wär’ der Sanitätsrat nicht seit Jahren unter der Erde, hätt’ ich mal geschrieben und angefragt. Vielleicht hätte er uns den Namen der Adoptiveltern genannt.“
Er wandte plötzlich mit einem Ruck den Kopf nach rechts. Frau Anna weinte.
„Aber – aber –! Anna – noch immer nicht überwunden? Tränen?! Weshalb?!“ Er wußte nicht recht, wie er trösten sollte.
„Gustav, wenn ich sie nur ein einziges Mal von weitem sehen könnte – ganz von weitem. Dann – dann würd’ ich ja ruhiger sein. Dann würd’ ich’s gleich merken, ob sie glücklich ist.“ –
Den Gartenweg kam ein junger Mensch entlang, – schlank, gesund, – ganz der Vater. Er war für diese ländliche Umgebung fast zu städtisch gekleidet. In seinem Auftreten war etwas Selbstbewußtes; jede seiner Bewegungen verriet Kraft, Gewandtheit und doch das Abgerundete einer guten Erziehung, die Körper und Geist in Harmonie bringt. – Es war der älteste Schmiedecke, der Jurisprudenz studierte.
Er begrüßte die Eltern, wünschte ihnen guten Morgen, küßte Frau Anna, schüttelte dem Vater die Hand.
„Der alte Mielke war eben da,“ sagte er nun. „Hier ist auch ein Brief für dich, Vater –“
„Hat Mielke auch seinen Schnaps bekommen, Heinz?“
„Und ob, Mutter. Sogar zwei. – Bernhold hat geschrieben. Schade, er will für das Sommersemester nach Königsberg. Ich werde ihn in Greifswald doch sehr vermissen –“
Frau Anna schaute stolz zu ihrem großen Jungen auf, der sich an den Zaun gelehnt hatte.
„Möchtest wohl auch gern nach Königsberg, Heinz? Wie?! Der Bernhold und du – ihr scheint ja unzertrennlich zu sein –“
Schmiedecke hatte den Brief inzwischen überflogen. Er lachte jetzt leise auf, schlug auf das große Blatt mit dem protzigen Firmenstempel und meinte:
„Die Bande! Nun hab’ ich sie doch klein gekriegt! Nun zahlen sie die verlangten zehntausend Mark. Ja, ja, mein Junge,“ wandte er sich an seinen Ältesten, „nicht immer gleicht das Erfinderspielen dem Dreschen leeren Strohs! Das ist nun das dritte Patent, das ich verkauft habe. Na – wir brauchen das Geld ja auch! Bei sechs Jungen!“
Er stand auf. „So, Kinder, nun an die Arbeit. – Heinz, schmeiß mal die andere Bande aus den Betten. Die Bengels verschlafen ja die halben Osterferien. Dazu kommen sie doch nicht nach Hause! – Du willst wohl in die Stadt, Heinz? Hast dich ja mächtig herausgeputzt.“
„Ja, Vater. Ich fahre mit dem Achtuhrzuge. Dann bin ich mittags wieder zurück. Schneideranprobe, Vater!“
*
Viktor Bernhold betrat seines Freundes Heinz Studentenbude.
„Wie?! Bei dem prachtvollen Wetter hockst du über den Büchern!“ rief er. „Wirf die Schmöker in den Winkel und komm’ mit ins Freie. Wir gehen um den Oberteich herum und trinken im Restaurant einen Schoppen. Wirklich, Heinz, dieser Juniabend ist zu schade, um sich über den Unterschied zwischen ‚Eigentum‘ und ‚Besitz‘ im BGB den Kopf zu zerbrechen. Also – allons! Erhebe dich!“ –
Sie wanderten dann zum Roßgärter Tor der alten Festungs- und Universitätsstadt Königsberg hinaus, bogen hinter dem Glacis links ab, kamen durch ein kleines Laubengelände und nun an das teilweise schilfumrandete Ufer des großen Sees, der den Namen ‚Oberteich‘ führt.
Die Sonne war gerade untergegangen. Alles ringsum erstrahlte in rosigem Licht.
„Wundervoll!“ schwärmte Viktor Bernhold, der ein wenig kleiner als sein Freund Heinz war, auch schmäler und weniger kräftig. Dafür hatte aber sein etwas blasses Gesicht einen mehr durchgeistigten Ausdruck, und in seinen dunklen Augen lag es wie ein Schimmer von schwermütigem Ernst.
Sie blieben stehen und schauten über den See hinweg. Dort drüben zog sich der breite Fahrweg, die Promenade und das Gleis der elektrischen Straßenbahn hin, die nach Maraunenhof führten; dort gingen geputzte Menschen entlang, schimmerten helle Kleider. Boote belebten den See. Dicht am Schilfrande saßen in verankerten Kähnen ein paar Angler.
Heinz Schmiedecke steckte sich eine Zigarre an und warf das Streichholz in das Wasser.
„So komm’ doch. Ich habe Durst,“ drängte er.
Sie schritten weiter, bogen um eine Landzunge herum, die mit wilden Himbeeren dicht bestanden war.
Da – ein lauter Platsch im Wasser.
„Ob hier jemand ein Freibad nimmt?“ meinte Heinz. – Sie konnten noch nicht sehen, was dort vor sich ging. Ein paar Erlenbüsche reckten ihre Zweige bis zum Seespiegel hinab. Und diese Büsche versperrten die Sicht.
Der schmale, ausgetreten Pfad führte im Halbkreis an den Sträuchern vorbei. – Nun hatten die Freunde den See wieder in unmittelbarer Nähe.
„Du – ein Kind – dort – im Wasser!“ rief Viktor entsetzt und verharrte wie gelähmt an derselben Stelle.
Heinz stürmte schon an ihm vorüber, sprang in das flache Wasser, watete weiter und weiter. In dem Schilfgürtel gab es hier eine Lücke, und gerade in dieser Lücke schimmerte auf der Wasseroberfläche ein helles Etwas – ein Stück eines Kleides; daneben ragte ein dünner Kinderarm hervor, und unweit davon schwamm ein Strohhut, mit Spitzen garniert.
Heinz brauchte nicht einmal zu schwimmen, um das kleine, vielleicht zehnjährige Mädelchen zu retten, das nun kaum geborgen, auch schon die Besinnung wiedererlangte.
Das Kind saß zwischen seinen Rettern am Ufer und schluchzte herzzerbrechend. Heinz hatte die Kleine an sich gedrückt; ihr Kopf ruhte an seiner Brust.
Alles Fragen war umsonst. Sie nannte nicht einmal ihren Namen. Nur als Heinz nun nochmals ins Wasser steigen und den Spitzenhut herausholen wollte, rief sie angstvoll:
„Nein, nein – nicht den Hut holen! Er war mir ins Wasser gefallen. Ich wollte ihn greifen und – da verlor ich das Gleichgewicht. Nicht den Hut, – nein, lassen Sie den dummen Hut doch, wo er ist –“
Heinz holte ihn trotzdem. Ein Verdacht war in ihm aufgestiegen. Das Mädelchen log fraglos. Sie wollte aus Unachtsamkeit ins Wasser gefallen sein! Das konnte nicht stimmen! – Das Wasser war hier so flach, wurde so allmählich tiefer, daß das Kind niemals des Hutes wegen sich so weit vorgewagt hätte, daß es keinen Grund mehr mit den Füßen fand.
Die Kleine war jetzt aufgesprungen, wollte Heinz den Hut aus der Hand reißen. Er wehrte sie ab, schaute in den Hut hinein, sah sofort den in Gold eingepreßten Namen: Traude Brinken.
„Ah – du heißt Traude – Traude Brinken, Kind,“ sagte er jetzt. „Weshalb verschweigst du uns das?“
„Nein – nein,“ rief sie sofort. „Ich heiße nicht so. Wirklich nicht! Der Hut gehört einer Schulfreundin. Wir haben ihn vertauscht heute –“ Sie sprach immer heftiger. „Wir hatten nachmittags mit der Klasse einen Ausfluge nach Maraunenhof gemacht. Ich bin dann dort hinten auf der Wiese eingeschlafen. Ich wachte erst jetzt auf, und – und da hatte ich Durst und – bin hierher gelaufen – und da fiel mir Traude Brinkens Hut ins Wasser. Ich – ich heiße – Else Krämer, und – und – wohne gleich am Roßgärter Tor – auf dem Roßgarten, Nummer 15. Jetzt – jetzt will ich schnell nach Hause, – und Ihnen danke ich sehr, daß Sie mich gerettet haben. Nicht wahr, Sie – Sie werden doch meinen Eltern nichts erzählen. Ich laufe auch ganz schnell und – und werde daheim sagen, es – es sei gar nicht so schlimm gewesen –“
Heinz beobachtete das Mädelchen unausgesetzt.
Ja – sie log! All das war Lüge – alles! Sie konnte ihm dabei nicht recht in die Augen sehen.
„Wir bringen dich bis an euer Haus, Elschen,“ sagte er nun recht freundlich. „Los – wir wollen traben, damit wir zwei Pudelnassen uns nicht erkälten.“
„Nein – nein, – das will ich nicht!“ stotterte sie. „Nein – ich laufe schon allein. Es ist ja noch so hell. Ich finde mich gut zurecht –“
Da nahm Heinz sie fest bei der Hand.
„Komm!“ sagte er ernst. –
Und so gelangten die drei dann ans Roßgärter Tor, durchschritten es. Und hier bat die Kleine halb weinend:
„Oh – jetzt will ich allein weiter. Dort ist ja schon unser Haus. Nochmals danke ich Ihnen –“
Dann rannte sie davon.
„Hinter ihr her!“ sagte Heinz zu dem Freunde. „Sie lügt. Sie wohnt dort nicht –“
Sie stellten sich in die Haustür des Nebengebäudes, brauchten kaum fünf Minuten zu warten.
Da erschien das Mädelchen wieder, blickte sich scheu um und – ging dem Roßgärter Tor wieder zu.
Heinz hatte sie sofort eingeholt, nahm sie wieder bei der Hand. Sie fuhr zurück, wurde blutrot, stampfte dann mit dem Fuße auf.
„Was wollen Sie?! – Ich habe dort am Ufer meine Haarschleife verloren. Mama ist sehr streng. Ich will die Schleife holen –“
Heinz blickte sie scharf an. „Du lügst!“ – Und er zog sie mit sich fort. Viktor Bernhold ging an des Mädelchens anderer Seite. Er begriff das alles nicht.
Sie betraten das Haus Nr. 15. Im ersten Stock des alten, muffigen Gebäudes ein Porzellanschild:
W. Krämer
Gerichtssekretär
Heinz läutete. Eine blasse Frau öffnete.
„Verzeihung – kennen Sie vielleicht dieses Mädchen?“ fragte er.
„Ja, ja – gewiß. Das ist ja Traude Brinken, die in derselben Klasse wie meine Else sitzt –“
Das Kind zitterte jetzt am ganzen Leibe und hielt den Kopf tief gesenkt.
„Es ist die einzige Tochter des Regierungspräsidenten Brinken, der auf dem Mitteltragheim wohnt, Nummer 32 glaube ich,“ fügte die Frau hinzu. Dann rief sie die Kleine an:
„Traude, sage, was ist denn geschehen?“
Das Kind antwortete nicht.
„Haben die Kinder heute einen Ausflug nach Maraunenhof gemacht?“ fragte Heinz weiter.
„Nein. Davon weiß ich nichts –“
„So. – Nun, verbindlichsten Dank. Guten Abend.“ –
Frau Krämer kehrte zu ihrem Manne ins Wohnzimmer zurück.
„Du – denk’ dir, die Brinken, diese Göre, hat schon wieder was berissen,“ sagte sie kopfschüttelnd. „Die armen Eltern! Da waren eben zwei junge Leute, die –“
Heinz hielt das Kind wieder fest bei der Hand. Sie gingen schnell innerhalb der Festungsmauer entlang dem Tragheim, der vornehmsten Straße Königsbergs zu.
„Weshalb hast du uns belogen?“ fragte Heinz jetzt in recht gütigem, herzlichen Tones. „Hast du Angst, so nach Hause zu kommen?“
„Ja.“
„Mein Freund wird dich bei deinen Eltern abgeben, Traudchen. Er wird sagen, es handele sich um einen Unfall –“
Schweigen.
„Obwohl es kein Unfall war, Kind,“ fügte Heinz eindringlich hinzu. „Nicht wahr, du – du bist absichtlich so weit ins Wasser gesprungen – mit Anlauf von der Uferböschung herab, daß du keinen Grund mehr fandest?“
Schweigen. Nur die Kinderhand in der seinen flatterte wie im Fieber.
Jetzt verstand auch Viktor diese Tragödie.
„Mein Gott!“ stieß er leise hervor.
Dann flüsterte Heinz ihm zu: „Verschweige meinen Namen. Stelle die Sache ganz harmlos dar, aber beobachte genau, was diese Brinkens für Gesichter machen. Du verstehst.“
„Hm – weshalb willst du nicht –“
„Ich muß mich schleunigst umziehen!“
2. Kapitel
Der Ritter und das Edelfräulein
Frau Regierungspräsident Brinken lief aufgeregt im Arbeitszimmer ihres Mannes hin und her.
„Wo sie nur sein mag, Theodor?! Um sechs hätte sie aus der Klavierstunde zurück sein müssen.“
Der Präsident saß in seinem Schreibsessel und spielte mit der Papierschere. Er sagte nichts; dachte umso mehr.
„Dieses Kind – dieses undankbare Kind!“ führte Frau Therese das halbe Selbstgespräch fort. „Gerade heute! Gerade heute, wo wir Stelters mit dem Achtuhrzuge erwarten. Wenn – wenn Traude nun womöglich wie letztens –“ – Sie suchte nach einem passenden Ausdruck.
„– davongelaufen ist,“ ergänzte der Präsident und warf die Papierschere auf die Schreibtischplatte.
Frau Therese zuckte zusammen, blieb stehen und rief: „Theodor, etwas mehr Rücksicht auf meine Nerven könntest du wohl nehmen!“
Er trommelte mit den Fingerspitzen einen Marsch auf der Sessellehne, sagte dann: „Es ist zwanzig Minuten bis acht. Ich muß nach der Bahn.“ –
Dann fuhr er in seinem Auto nach dem Bahnhof.
Doktor Stelter mit Frau Traude kamen zum ersten Male zu Brinkens nach Königsberg. Sie wollten noch einige Wochen im nahen Seebade Kranz bleiben.
Präsident Brinken führte seine Gäste zum Auto.
„Na – wie geht’s euch denn?“ fragte Doktor Stelter, der sich in diesen elf Jahren kaum verändert hatte. „Und – was macht Traudchen?“ fügte er hinzu. Denn auf Traudchen war er sehr gespannt.
Brinken hüstelte. „Nachher im Auto, lieber Harry.“
Der Kraftwagen ruckte an.
„Hm – ist bei euch was passiert, Theodor,“ meinte Stelter.
„Passiert?! Bei uns – passiert immer was!“ machte der Präsident hier einmal seinem Herzen Luft. „Ausgerückt ist die Traude wieder. Übrigens kein Wunder! Ich täte es am liebsten auch –“
Frau Traude Stelter rief völlig entsetzt: „Theodor, Schwager, – ausgerückt?! Was heißt das?! Behandelt etwa Therese das Kind schlecht?“
„Schlecht?!“ Er lachte bitter auf. „Na – das sollte ihr mal einer vorzuwerfen wagen! Aber – das wird auch niemand tun! – Nein – zu gut behandelt sie das Mädel, zu gut, – denn es gibt bekanntlich eine Art Erziehung, die das Beste will, aber das Schlechteste erzielt! –
Traudchen hat alles, was sie sich nur wünscht; Traudchen ist längst eine kleine Dame, lügt wie gedruckt, schauspielert wie eine Berufskomödiantin, und dies, weil – sie es muß! Denn bei einer so hirnverbrannten Dressur – Erziehung kann man das kaum nennen – werden notwendig alle schlechten Instinkte geweckt; da wird, wenn man den ganzen Tag nur immer hört: ‚Dies darfst du nicht, das darfst du nicht, dies ist unfein, das ist wahrhaft vornehm –‘ der Widerspruchgeist geweckt, da regt sich der Freiheitsdrang, da möchte so‘n armes Wurm auch mal mit seinesgleichen umhertollen, und – dann kommt das Lügen und Schwindel, um mal eine halbe Stunde nicht – Traude Brinken, sondern Kind zu sein, nur Kind!“
Er machte eine schnelle Handbewegung. „Was rege ich mich darüber auf?! Ich bin machtlos! Ich habe ja in meinem Hause seit Jahren nichts zu sagen! Denkt euch, Therese erlaubt nicht mal, daß ich mit Traudchen allein spazieren gehe, weil – weil ich – ihren Hang nach unfeinen Spielen nicht genügend unterdrücke. Und das Tollste dabei ist, Therese liebt das Kind, wenn auch auf ihre Weise! Sie glaubt, in allem völlig richtig zu handeln! Sie will, wie sie stets sagt, die – die ‚schlummernden Proletarierneigungen‘ nie zum Erwachen kommen lassen! –
Armes Traudchen! Kein Mensch wird aus ihr klug. Nur ich, nur ich! Ihre Lehrerinnen stehen vor einem Rätsel. Bald ist sie frech, anmaßend, lügt, daß man Romane daraus machen könnte, dann wieder ist sie bedrückt, traurig, anschmiegend. –
Ja – ausgerückt ist sie wieder. Das erste Mal war’s im vergangenen Herbst. Da fand ein Förster sie im Walde in Metgethen, ein Meile von Königsberg ab –“
Stelters saßen wie versteinert da. Frau Traude flüsterte jetzt:
„Mein Gott, wie – wie kann Therese nur!“
„Tu’ mir einen Gefallen, Schwägerin,“ sagte der Präsident hastig. „Suche Therese in dieser Beziehung nicht etwa ins Gewissen zu reden! Ich warne dich. Du kennst die Geschichte von dem Stier und dem roten Tuch –“
„Zum Dreideibel, Theodor!“ fuhr Doktor Stelter da los. „Das – das kann doch aber nicht so weiter gehen! Soll denn das arme Kind seelisch vollends verkümmern?!“
Der Präsident seufzte. „Ich bin machtlos, Harry. Und jeder andere ebenso. Wir haben Traudchen adoptiert. Sie ist unser Kind. Und – Therese ist ihr eine – liebevolle Mutter, wie alle Welt und sie selbst glaubt.“
Stelter schlug sich mit der Faust auf den Schenkel.
„Ich – ich werde Therese mal den Standpunkt klar machen, und –“
„Und dann wird sie dich ohne weiteres zum Tempel hinauswerfen,“ ergänzte Brinken. „Ich warne euch! Wenn ihr –“
Da hielt das Auto schon. –
Frau Therese hatte die Polizei inzwischen verständigt und eine hohe Belohnung dem Beamten zugesagt, der Traudchen ohne Aufsehen zu erregen wieder nach Hause brächte. –
Es war halb zehn Uhr, als Viktor Bernhold an der Flurtür bei Brinkens läutete. – Man saß dort gerade bei Tisch; in sehr gedrückter Stimmung. Frau Therese weinte zuweilen.
Und nun – nun war Traudchen da, durchnäßt bis auf die Haut. – Frau Therese brachte sie sofort zu Bett, legte Wärmflaschen um die Kleine, machte eigenhändig Milch heiß.
Stelters standen vor dem eleganten, mit Seide ausgeschlagenen Bett. Der Doktor hatte versucht, auch nur ein einziges Wort aus dem Kinde herauszuholen. Alles umsonst. Traudchen lag da, starrte zur Zimmerdecke empor und hatte die Lippen ganz fest zusammengekniffen. –
Am folgenden Tage erhielt der Präsident einen Brief mit einer unleserlichen Unterschrift, in dem ihm der Briefschreiber die Wahrheit über den ‚Unfall‘ seines Töchterchens mitteilte und ihm zum Schluß drohte, die Sache an die Öffentlichkeit zu bringen, sofern – ‚die doch offenbar völlig verkehrte Erziehungsmethode, die ich durch Nachfragen bis zur vollen Gewißheit festgestellt habe –‘ so hieß es wörtlich, nicht geändert würde. ‚Ich werde jedenfalls nach diesem etwas merkwürdigen Fall von Kinderselbstmordversuch in den sogenannten ‚besten Kreisen‘ die kleine Traude im Auge behalten. Ich werde Sie und Ihre Frau rücksichtslos bloßstellen, wenn sich noch etwas Ähnliches ereignet –‘ –
Präsident Brinken entsann sich nicht mehr auf den Namen des jungen Menschen, der Traudchen heimgebracht hatte. Auch Frau Therese hatte ihn vergessen. Als sie den Brief las, wurde sie aschfahl. Bisher hatte sie wirklich an einen Unfall geglaubt. Und von diesem Tage an änderte sie ihre Erziehungsmethode dann tatsächlich, freilich nur um eben so viel, daß Traudchen nie wieder aus Verzweiflung über das Kerkerdasein, das sie bis dahin geführt hatte, auf ähnliche ‚unmoralische‘ Gedanke käme. –
*
Heinz Schmiedecke und Viktor Bernhold blieben auch noch weitere Semester in Königsberg. Im Frühjahr 1914 bestand Heinz sein Referendarexamen und promovierte kurz darauf zum Doktor Juris.
Am Tage nach seiner Promotion ging er nochmals, bevor er heimkehrte, nach jener Uferstelle des Oberteichs, an der er Traudchen Brinken aus dem Wasser gezogen hatte.
Er hatte sie wirklich stets im Auge behalten. Er war dem Kinde so und so oft auf der Straße begegnet. Aus dem Kinde aber hatte sich in dem letzten Jahre überraschen schnell ein schlanker, auffallend hübscher Backfisch mit zwei langen, dunkelblonden Hängezöpfen entwickelt. Und dabei war Traude eben erst vierzehn Jahre geworden.
Traude hatte ihren Retter nicht wiedererkannt, wenn sie auf dem Bürgersteig an ihm vorüberging. Sie wußte, die wahre Vornehmheit bestand darin, niemand anzusehen, so zu tun, als existierten die anderen Menschen gar nicht.
Heute nun – wieder an einem Junitage, war auch sie nachmittags durch das Roßgärter Tor ins Freie gewandert. Sie wollte am Oberteich entlang nach Maraunenhof gehen, um dort ihre Intimste, die Tochter des Eisenbahnpräsidenten v. Gering, zu besuchen.
Sie erinnerte sich noch sehr gut der Stelle, wo sie vor drei Jahren sich hatte das Leben nehmen wollen. Heute hätte sie den Mut dazu nicht mehr aufgebracht; heute hatte sie sich mit vielem abgefunden, was sie nicht ändern konnte, so auch damit, daß sie für ihre Mutter auch nicht ein Fünkchen Liebe verspürte. Sie wußte nicht, daß Brinkens nicht ihre leiblichen Eltern waren. Wie sollte sie auch?!
Sie dachte jetzt gerade wieder an jenen Abend, als sie, um ihrer Peinigerin zu entrinnen, hier ins Wasser gesprungen war. Sie bog nun um die Erlenbüsche herum. Da – dicht am Ufer saß ein Herr mit kleinem kurzgestutztem Schnurrbart. Er hatte sie wohl kommen gehört, drehte den Kopf, stand nun auf, zog den Hut.
So verharrten sie beide ein Weilchen regungslos und schauten sich an.
„Kennen sie mich?!“ fragte der Herr nun mit einer leichten Verbeugung.
Traude schoß das Blut ins Gesicht. Die Stimme – das Gesicht!
„Sie – Sie – sind der –“
Er half der verlegen Stammelnden weiter. „Ja, ich durfte Sie damals hier aus dem Wasser holen. Ich freue mich, Sie einmal wiederzusehen. Sind Sie jetzt – glücklicher als damals?“
Sie nickte nur. – ‚Glücklicher?!‘ dachte sie. Glücklicher?! – Über den Begriff ‚glücklich sein‘ hatte sie, seit sie reifer geworden, noch nie nachgegrübelt.
„Darf ich Sie ein Stück begleiten?“ bat der Herr. „Sie gestatten – Doktor Juris Schmiedecke –“
„Ja. Ich – ich habe nichts dagegen, Herr Doktor. Nur Mama darf davon nichts erfahren,“ erklärte sie und wurde wieder sehr rot. –
Sie wurden schnell vertrauter, ja – überraschend schnell! Traude, sonst so sehr zurückhaltend und Herren gegenüber schon ganz ‚Dame von Welt‘, wurde in Hans Schmiedeckes Gesellschaft zum harmlos fröhlichen Kinde.
„Ach was!“ sagte sie jetzt. „Ob ich eine Stunde später zu Hilde komme, ist gleichgültig. Setzen wir uns hier, Herr Doktor. Wenn Sie abends schon nach Hause fahren, dann werden wir uns ja sehr wahrscheinlich nie mehr begegnen. Und ich möchte mit meinem Retter doch so gern noch ein Weilchen plaudern –“
So saßen sie dann im Schutze einiger Sträucher dicht am Seeufer. Die Zeit verstrich. Ganz entsetzt sprang Traude nun auf.
„So spät schon. Ich muß fort, Herr Doktor –“
Er hielt ihre Hand. Etwas Seltsames, mit Worten gar nicht Wiederzugebendes zog ihn zu diesem reizenden, halb erblühten Mädel hin.
„Leben Sie wohl, Herr Doktor. Ich wünsche Ihnen von Herzen alles Gute,“ sagte sie und schaute an ihm vorbei.
„Gleichfalls – alles Gute, Fräulein Traudchen.“
Und doch behielt er ihre Hand noch immer in der seinen.
„Traude, kleines Edelfräulein, wie wär’s, wenn Sie Ihren Retter zum Abschied noch mit einem Kuß belohnten?“ flüsterte er.
Er nahm auch ihre andere Hand.
Sie blickte sich ängstlich um. Aber in ihren großen, dunklen Augen schimmerte es doch wie versteckte Zärtlichkeit, wie halbes Gewähren.
Da beugte er sich vor. Er wollte sie erst auf die Lippen küssen. Was war’s, was ihm plötzlich eingab, nur ihre Stirn mit seinem Munde zu berühren?!
Sie riß sich los, lief davon.
„Auf Wiedersehen, Traudchen!“
Sie blieb stehen, winkte mit dem Batisttüchlein, ließ es zu Boden flattern, eilte weiter.
3. Kapitel
Der letzte von sechs
Der Weltkrieg war vorüber. – Die Staatsumwälzung hatte dem Regierungspräsidenten das Amt gekostet. Ein halbes Jahr drauf starb er. Frau Therese weinte bei der Beerdigung, wie sie noch nie geweint hatte. Sie wußte, warum. Auf dem Sterbelager hatte ihr Brinken mitgeteilt, daß sein ganzes Vermögen, das in russischen Werten angelegt gewesen, endgültig verloren sei.
Traude vergoß keine Träne. Der Ekel über die Komödie, die ihre Mutter am Sarge des Mannes aufführte, dem sie das Dasein vergiftet hatte, war größer als der aufrichtige Schmerz um den Verlust des Vaters, der ihr stets mit wahrhaft väterlicher Güte begegnet war. –
Therese Brinken war arm. So arm, daß sie nur noch drei Monate die teure Wohnung und die Dienstboten behalten konnte. In diesen drei Monaten mußte Traude verheiratet werden. Mit wem, darüber war Frau Therese sich längst schlüssig.
Therese ahnte, was ihr bevorstand. – Acht Tage nach der Beerdigung des Präsidenten führte Frau Therese die große Aussprache herbei.
Der Kern ihrer langen Rede war: ‚Wir müssen darben, wenn du nicht den Kaufmann Michelsen heiratest, der im Kriege ungezählte Millionen verdient hat und jetzt Landrat seines Heimatkreises Pigallen geworden ist!‘
„Niemals, Mama!“ hatte Traude sehr ruhig erwidert.
Frau Therese versuchte es nochmals im guten:
„Kind, meine Witwenpension reicht kaum für mich hin. Wir sind ein luxuriöses Leben gewöhnt –“
„Dann werde ich eben arbeiten, mir mein Brot verdienen –“
Zum letzten Male versuchte Frau Therese ihre Künste – jetzt mit Tränen, Schluchzen, Bitten.
Traude blieb fest. –
Und in ihrem Zimmer schrieb sie dann einen Brief – den ersten – an Heinz Schmiedecke, der hin und wieder aus dem Felde eine Karte gesandt hatte, stets nur unterzeichnet: ‚Ritter‘. Und vor einem halben Jahre war wieder so eine Karte eingetroffen – aus Pommern, mit ‚Ritters‘ jetziger Adresse.
*
Der Weltkrieg war vorüber. –
Frau Anna Schmiedecke hatte von ihren sechs Jungen fünf hingeben müssen – fünf! Nur Heinz war ihr erhalten geblieben. – Sie war schneeweiß geworden; nur das Gesicht war noch frisch. Und genau so war’s mit ihrem Manne. –
Nun war der Sommer 1919 da. Und wieder war’s ein sonniger Morgen, als das Ehepaar Schmiedecke auf der Bank dicht am Abhang saß; wieder rauchte Gustav Schmiedecke seine Zigarre. Und sie sprachen darüber, daß der Heinz sich doch nun allgemach nach einer Braut umsehen könnte.
„Alterchen,“ sagte Frau Anna. „Ihr Männer seid doch in Liebessachen sehr blind.“
Er schaute sie von der Seite an. „Was heißt das, Mutter?“
„Nun, daß unser Junge eine heimliche Liebe hat, – das heißt’s. Ich hab’s längst gemerkt, längst, schon als er damals als Doktor aus Königsberg zurückkam. Da – da fand ich mal zufällig ein ganz feines Damentaschentuch aus Batist mit Spitzenrand in seinem Schreibtisch, als ich mir eine Briefmarke suchen wollte. –
Ja, und im Kriege, als er hier auf Urlaub war, bekam er dreimal eine Ansichtskarte vom Lazarett und vom Ersatzbataillon nachgeschickt. Da stand nur immer: ‚Herzliche Grüße. Ich bete für Sie. – Edelfräulein.‘ – Ja, ja – das Beten hat bei Heinz genutzt. Bei den anderen Jungen –“ – Sie verstummte. Ein paar Tränen fielen auf ihre im Schoß ruhenden Hände.
„Und vor vier Wochen erhielt der Heinz einen Brief aus Königsberg,“ fuhr sie nach einer Weile fort. „Wieder so ganz feines Papier. An dem Tage fuhr er zu Nachbar Flemming hinüber, der doch seine Buchhalterin damals gerade entlassen hatte –“
„Aha – nun verstehe ich, Mutter!“ nickte Schmiedecke. „Ja, nun verstehe ich. Seit – hm – seit zehn Tagen reitet er jeden Abend noch spazieren. Und Karl Flemming hat ‘ne neue Buchhalterin. So was ganz Rares, – ‘ne Präsidententochter. Der Pastor hat’s mir erzählt. Aber sie soll sehr tüchtig sein, auch in der Wirtschaft ordentlich zugreifen. Nur, meinte der Pastor, nur zu hübsch wär sie für Flemming, den alten Schürzenjäger, viel zu hübsch! Frau Flemming soll denn auch schon wie ‘ne Gewitterwolke herumlaufen. – Hm, du meinst also, die ist’s, Anna?“
„Ja, das meine ich, Alterchen –“ Sie zögerte ein wenig. „Ich will dir nur die Wahrheit sagen, Gustav. Vorgestern nachmittag, als ich aus dem Dorfe zurückkam, habe ich einen Umweg gemacht durch das Flemmingsche Waldstück drüben. Du weißt, das so dicht an der See liegt –“
„Mutter, Mutter – spionieren?!“ Er drohte ihr mit der Hand.
„Nein, nein, Gustav. Nur – nur als Mutter wollt’ ich mir das Mädelchen doch mal ansehen –“
„Und du hast die beiden wirklich gefunden?“
„Ja. Sie saßen unten am Strande auf der Düne. Heinz hatte den Fuchs im Walde festgebunden.“
„Na – und?“
„Sie ist wirklich sehr hübsch, Gustav. Und gesund und kräftig sieht sie auch aus.“
„Wie mögen sie denn miteinander stehen, Anna? Ist’s schon so weit?“
„Das glaub’ ich nicht. Jedenfalls so von Vertraulichkeiten – keine Spur davon –“
Sie schwiegen eine Weile und hingen ihren Gedanken nach. Dann murmelte Schmiedecke:
„Eine Präsidententochter – hm, hm! Na, man wird sie bei Flemming ja kennen lernen –“
Frau Anna sagte dazu nichts. Das wunderte ihn. Er blickte sie wieder prüfend von der Seite an. –
„Hast du noch was auf dem Herzen, Mutter?“ fragte er tastend.
„Ja, Alterchen, – da spielt noch was anderes mit –“ – Sie seufzte. „Es war so merkwürdig, Gustav. Der Viktor hat die beiden ebenfalls beobachtet. Mich sah er zum Glück nicht. – Man kennt sich doch auf Gesichter aus. Das Mädchen ist wirklich zu hübsch.“
„Anna, du glaubst, daß – daß der Viktor Bernhold auch in sie verliebt ist?“
„Ganz sicher, Gustav. Du hättest sein Gesicht –“
„Pst – Heinz kommt! Ob wir nicht gleich mal mit ihm sprechen? – Ich bin für offene Karten.“ –
Heinz Schmiedecke war jetzt Landwirt und wollte es auch bleiben. Er war noch stattlicher geworden. Dabei verleugnete er in Kleidung und Benehmen niemals den studierten Mann. Trotzdem verstand er mit dem einfachsten Tagelöhner besser umzugehen als der Vater, der von den Leuten oft zu viel Arbeit verlangte. Gustav Schmiedecke war noch aus der alten Schule. Er hatte nie gefaulenzt. In der neuen Zeit fand er sich nicht so ganz zurecht. Er sagte stets: ‚Wer reichlich bezahlt wird, muß auch reichlich arbeiten!‘ – Das aber galt jetzt nur noch mit Einschränkungen. Und daran konnte er sich nicht gewöhnen. –
„Na, Junge, alles im Gang?“ fragte er. „Hier, setz’ dich zu uns und sage mal, hast du der neuen Buchhalterin bei Flemming die Stelle besorgt?“
Heinz wurde nur ganz wenig verlegen. – „Ja, Vater. Ich habe Fräulein Brinken mal in Königsberg kennen gelernt. Da war sie noch ein halbes Kind.“
„So, so. – Hm, – ob das Fräulein sich zur Herrin eines Bauerngutes eignen würde?“
Heinz’ Kopf flog herum. Der Vater schmunzelte. Nur Frau Anna blickte ernst vor sich hin; sie dachte an Viktor Bernhold, der jetzt bei seinem Onkel Pastor als Gast weilte und an einem großen Roman schrieb.
Heinz wandte den Kopf wieder geradeaus.
„Junge, so was muß man doch besprechen,“ meinte Schmiedecke wie entschuldigend. „Du weißt, auf dem Lande muß ‘ne Frau von anderem Schlage sein als in der Stadt. Und eine – Präsidententochter?!“
Heinz’ Gesicht wurde plötzlich düster und grüblerisch.
„Vorläufig braucht ihr euch darüber keine Gedanken zu machen,“ sagte er widerwillig. „Fräulein Brinken und ich sind mehr gute Freunde. Wie ich mit ihr daran bin und wie es, was sie betrifft, in mir selbst aussieht, weiß ich nicht recht. Ich bin sehr gern mit ihr zusammen. Wir hatten uns ja über fünf Jahre nicht gesehen. Aber, obwohl auch unsere Königsberger Bekanntschaft höchst oberflächlich war, traten wir uns hier wie langjährige Freunde gegenüber. –
Ja – es ist wirklich etwas Seltsames mit dem Verhältnis zwischen uns. Wir verstehen uns wie selten zwei Menschen, obwohl unsere Anschauungen über vieles völlig auseinandergehen.“
„So, so,“ sagte Schmiedecke wieder. – Frau Anna wartete etwas. Dann meinte sie zaghaft:
„Kennt Viktor sie auch?“
„Ja, Mutter, – ebenfalls von Königsberg her und eigentlich besser als ich. Er lag doch 1917 dort im Lazarett. Und sie war Pflegerin. Aber – die beiden zanken sich nur. Zanken ist nun wohl nicht der richtige Ausdruck bei einer Dame wie Gertrud Brinken.“
„Gertrud?!“ rief Frau Anna leise.
„Ja, Mutter, – Gertrud Brinken –“
Schmiedecke hüstelte. Frau Anna verstand. Das hieß: ‚Vorsicht!‘ – Der Heinz ahnte ja nicht, daß sein Schwesterchen an fremde Leute abgegeben war. Sie galt als tot.
„Sie läßt sich aber stets Traude nennen,“ fügte Heinz hinzu.
Frau Annas Augen schimmerten feucht. – Traude – Traude! – Wo mochte wohl ihr Traudchen sein?!
„Viktor und Fräulein Brinken wissen nie recht, was sie miteinander reden sollen,“ sagte Heinz mit einem halben Lächeln. „Jeder Kleinigkeit wegen gibt’s zwischen ihnen gleich erregte Worte, so auch vor einer Woche, als ich Viktor wieder mit an den Strand genommen hatte, wo Fräulein Brinken und ich uns meist treffen. –
Ja, wenn ich um sie anhielte, – nein würde sie nicht sagen. Doch – es ist da etwas in mir, das mich stets zurückhält, das entscheidende Wort zu sprechen. Ihr wißt nun alles. Vorläufig ist die Sache also nicht reif – noch nicht reif. Ihr sollt die junge Dame auch erst kennen lernen. Ich hätte mich nie verlobt, ohne euch vorher das Mädchen zu zeigen. Dazu stehen wir drei doch zu gut miteinander. Nicht wahr, Mutter?“
„Das ist schon richtig, mein Junge. Aber – es handelt sich um dein Lebensglück, nicht das unsrige. Wir haben unser Leben hinter uns.“
„Na, na!“ protestierte Schmiedecke. „Mutter, die weißen Haare machen doch nichts aus. Ich fühle mich noch sehr jung, wenn auch –“ – Er führte den Satz nicht zu Ende. Er dachte an seine fünf Jungen, die in fremder Erde ruhten.
4. Kapitel
Die Buchhalterin
Der Pastor des Kirchdorfes Dargeln, Galling, saß mit seiner Frau und seinem Neffen, dem Schriftsteller Bernhold, am Morgenkaffeetisch in der Weinlaube hinter dem Pfarrhause.
„Das Mädel ist viel zu hübsch,“ meinte er. „Bei Flemmings sind nur Angestellte weiblichen Geschlechts am Platze, die über fünfzig zählen und so häßlich sind, daß sich einem der Magen umdreht. Die Brinken bleibt keine acht Tage mehr dort. Entweder wird Flemming zu liebenswürdig zu ihr, oder Frau Flemming zu unliebenswürdig. Vielleicht ereignet sich beides auch gleichzeitig. – Es wäre schade, wenn das nette Mädel die Stellung verlöre. Aber – es geschieht sicher! – Nicht wahr, Viktor, es wär’ doch schade?“ Der Pastor kniff ein Auge zu und lächelte den Neffen an.
Viktor zuckte die Achseln. „Weshalb die Frage, Onkel? Glaubst du etwa, daß ich für Fräulein Brinken irgend ein tieferes Interesse habe?“
„Wer kann wissen, Viktor. Zwei Menschen, die dauernd so auf Kriegsfuß miteinander stehen wie dieses Traudchen und du, die – die kennen sich manchmal selbst nicht in ihren wahren Gefühlen aus. – Ah, da kommt ja der alte Mielke. – Morgen, Mielke,“ begrüßte er den Briefträger, der stets eine feine Duftwolke von allerlei Schnapssorten um sich verbreitete. „Was – sogar eine Depesche? – Da, für dich, Viktor. Hoffentlich nichts Schlimmes –“
Viktor riß das Telegramm auf.
„Mama ist gestorben,“ sagte er leise. –
Seine Mutter, seit drei Jahren Witwe, war eine geborene Haberland und eine Schwester jenes Sanitätsrats Haberland, der einst Gustav Schmiedecke und Frau Anna behandelt und letzterer wohlmeinend geraten hatte, Traudchen an Frau ‚Müller‘ abzugeben. Die Frau Pastor Galling wieder war eine Schwester der jetzt Verstorbenen, die seit dem Tode ihres Mannes in Stettin wohnte. –
Mittags bereits fuhren Frau Pastor Galling und Viktor über Dreimünden nach Stettin. Galling wollte erst am Beerdigungstage nachkommen. –
*
Fritz Flemming, groß, hager und mit scharfgeschnittenem Gesicht, schritt unruhig im Gutsbureau auf und ab. Er diktierte Traude Brinken einen Brief. Aber er war zerstreut – verdammt zerstreut! Da sollte der Deibel seine Gedanken zusammenhalten, wenn vor einem so ein Prachtweib am Tische saß, – so schlank und rank, so vornehm ruhig in allem! Aber gerade dieses Ruhige, diese scheinbare Unnahbarkeit reizten ihn –
Er trat jetzt hinter ihren Stuhl, beugte sich über sie, las halblaut das Geschriebene.
Die Buchstaben tanzten ihm durcheinander. Er krampfte die Hände zu Fäusten.
‚Vernunft, Fritz, – Vernunft!‘ warnte er sich selbst.
Traude wandte den Kopf und schaute zu ihm auf.
„Sie können meine Schrift schlecht entziffern, Herr Flemming,“ meinte sie, und um ihren frischen Mund zuckte es schalkhaft.
Diese Augen! Himmel – diese Augen! – Flemming stöhnte wie ein Gefolterter.
Dann – dann griff er zu, nahm ihren Kopf in die Hände, wollte Traude auf den Mund küssen.
Sie stieß ihn zurück, sprang auf. Sie war ganz blaß geworden.
Im selben Moment öffnete sich auch die Tapetentür, die in das Schlafzimmer führte. Frau Rosa Flemming füllte diese Türöffnung völlig aus. Sie war blaurot vor Wut, schnappte nach Luft, fuchtelte mit dem rechten Arm umher und kreischte nun:
„Die – die Person muß raus! So – sofort raus! Das – das will ‘ne Präsidententochter sein und – und kokettiert mit verheirateten Männern. Ich habe alles durch Schlüsselloch beobachtet. Raus, Sie, – raus! Mir – mir gehört das Gut! Hier hab’ ich –“
Traude hatte erst wie gelähmt dagestanden. Nun war sie wieder sie selbst. Mit eiserner Kälte und absichtlich stark betontem Hochmut sagte sie, Frau Flemming ins Wort fallend:
„Sie scheinen mit Damen nicht viel Umgang gehabt zu haben. Diesen Ton verbitte ich mir. Ich werde allerdings Ihr Haus fernerhin meiden, aber nicht als Hinausgewiesene, sondern – freiwillig.“ –
Sie drehte sich um und verließ das Bureau durch die zweite Tür, ging in ihr Zimmer nach oben und setzte sich den einfachen Strohhut auf. Sie war bereits mit sich einig, was sie tun sollte. Nicht eine Minute länger als nötig, wollte sie hier in diesem Hause bleiben, wo ihr die Hausfrau und deren Tochter vom ersten Tage an mit geheimer Feindseligkeit gegenübergetreten waren. –
Traude schritt dem Dorfe zu. Sie hatte noch schnell ihren Koffer gepackt, der nun bloß abgeholt zu werden brauchte.
Pastor Galling wollte gerade auf dem Diwan in seiner Studierstube sein Mittagsnickerchen beginnen, als das Hausmädchen ihm Traude Brinken meldete.
„Herr Pastor, die Buchhalterin aus Grieneichen is do,“ sagte das Mädchen.
‚Aha!‘ dachte Galling. ‚Der Krach! Hm – das ist schnell gegangen.‘
Er holte Traude in seine Studierstube. Sie schilderte ihm ohne Erregung den peinlichen Vorfall. Nur sehr bleich sah sie noch aus. – Die Starrheit ihres Gesichts und ein gewisser müder, verzweifelter Unterton in ihrer Stimme gaben dem Pastor heute von ihr ein neues Bild.
„Ich hatte gehofft, in Grüneichen in ernster Arbeit Ruhe und Frieden zu finden,“ sagte sie nun zum Schluß mit stärker hervortretender Bitterkeit. „Aber selbst das wenige, das ich noch vom Dasein beanspruche, wird mir nicht gegönnt. Ich wünschte, ich wäre – häßlich, grundhäßlich, Herr Pastor. Was andere als Glück preisen, hat mir von Kindheit an nur das Leben verbittert.“
Sie starrte zum Fenster hinaus.
„Verbittert?“ meinte der alte Herr gütig. „Liebes Kind, das verstehe ich nicht recht. Sprechen Sie sich mir gegenüber einmal ruhig aus. Ich betrachte es als meine Hauptaufgabe als Seelsorger, mir das Vertrauen der Menschen zu erringen. Ob die Leute Sonntags zur Kirche kommen, – das ist mir ziemlich gleichgültig. Mehr freut es mich, wenn sie mit ihren kleinen und großen Sorgen den Weg zu mir finden. Und – so ist es zum Glück hier bei uns in Dargeln. Sehen Sie, Fräulein Brinken, da will ich Ihnen nur den Vater Ihres Bekannten, des Doktors Schmiedecke, nennen. Der Mann ist ein Heide – ich nenn’ ihn stets nur den ‚Oberheiden‘. Doch – als er damals vor drei Jahren die Nachricht bekam, daß wieder zwei von seinen Söhnen gefallen waren – fünf hat er im ganzen hergeben müssen, – als seine brave Frau vor Verzweiflung Speise und Trank verweigerte, da bat er mich, ihm zu helfen, daß wir Frau Anna wieder dem Leben zurückgewännen. Ja – und als ich Frau Anna wirklich durch liebevollen Zuspruch, wobei ich den lieben Gott ganz aus dem Spiele ließ, wieder ein wenig aufgerichtet hatte, – damals hat Schmiedecke gesagt: ‚Herr Pastor, wenn all Ihre Kollegen das Herz so auf dem rechten Fleck hätten wie Sie, dann – dann hätt’ ich meine Jungen auch taufen lassen.‘ – Also, Fräulein Brinken, nun mal herunter vom Herzen mit allem, was Sie drückt. Und – es ist viel, glaube ich, sehr viel. Ich kenne die Menschen, kenne mich aus in Gesichtern, höre den feinen Klang, der in der Stimme von den Saiten der wunden Seele mitzittert. Und doch, daß ein hübsches Gesicht schon dem Kinde das Leben verbittert haben soll, – das begreife ich nicht ganz. Es sei denn, daß Sie auf kindliche Eitelkeit hinweisen wollen –“
„Nein, Herr Pastor. Das ist es nicht. Ich bin das einzige Kind gewesen und geblieben. Meine Mutter ließ mir eine Erzielung zuteil werden, die nichts als eine Dressur für die spätere Gattin irgend eines ganz hohen Würdenträgers sein sollte. Ich war eben als Kind auffallend hübsch. Da sah meine Mutter, die mich auf ihre Art wohl geliebt haben mag, in mir nur die zukünftige, blendend schöne, vielgefeierte ‚Dame von Welt‘, die eine glänzende Partie machen würde. Für diese Ehe, für diese Stellung als Gattin eines Ministers oder dergleichen wurde ich gedrillt. Ich durfte nie Kind sein. Ich war immer nur Traude Brinken, die Tochter des Präsidenten, die zukünftige ‚große Dame‘ –“
„Ich verstehe – Prinzenerziehung!“ nickte der alte Herr.
„Ja – genau so, Herr Pastor. Nur daß ich noch der stete Zankapfel zwischen meinen Eltern war, und daß meine Mutter – sie ist die Tochter eines Pfarrers – mir nicht Moral, sondern Gesellschaftsmoral predigte –“
„Ich weiß genug,“ meinte Galling seufzend. „Gesellschaftsmoral! Also mit Anstandsregeln verhüllte Verlogenheit! Armes Kind.“ Er stand auf und nahm ihre Hände in die seinen. „Zunächst bleiben Sie nun bei uns, Fräulein Brinken. Oben das zweite Giebelstübchen ist noch frei. Dort sollen Sie ausruhen. Hier bei uns wohnt der Frieden!“
Anderthalb Stunden später saßen der Pastor und Traude in der Laube beim Nachmittagskaffee.
Traude strich ihm soeben die zweite Schnitte Brot mit Honig.
„Dicker, dicker!“ meinte er. „Sie wissen, Traudchen, – man soll sich das Leben versüßen –“
Ein Schatten vom Laubeneingang her verdunkelte etwas den Tisch. Frau Anna Schmiedecke stand da, hatte die Augen wie gebannt auf Traude gerichtet und rührte kein Glied.
Jetzt sah sie Gertrud Brinken zum ersten Mal aus nächster Nähe. Sie wußte selbst nicht, was in ihr vorging. – Was – was nur ließ ihr Herz so schnell jagen?! Was trieb ihr die Tränen in die Augen? Weshalb empfand sie beim Anblick dieses schönen Mädchens eine so unaussprechliche Freude? – Nur deshalb etwa, weil – und das schoß ihr nun durch den Kopf – weil es die war, die Heinz liebte und die vielleicht ihres Einzigen Lebensgefährtin werden würde? Nur deshalb?!
Da war der alte Herr schon aufgestanden. „Ah – meine liebe Frau Schmiedecke, seien Sie herzlich willkommen. – Darf ich vorstellen –“
So – lernten Mutter und Kind sich kennen und ahnten nicht, wie eng die Bande waren, die sie beide verknüpften.
Frau Anna hatte sich bereits gefaßt, setzte sich, ließ sich von Traude, die schnell noch eine Tasse geholt hatte, Kaffee einschenken, hörte zerstreut zu, als der Pastor von dem Tode seiner Schwägerin Bernhold erzählte, horchte erst auf, als er – heute ihr gegenüber zum ersten Male – erwähnte, daß auch sein Schwager, der Sanitätsrat Haberland, an Magenkrebs gestorben sei wie jetzt auch Viktors Mutter.
Haberland! – Der Name wirkte auf Frau Anna wie – wie ein Vorwurf, wie eine Mahnung an jenen Tag, an dem sie ihr Kind für Geld hingegeben hatte. – Aber auch diese trübe Erinnerung überwand sie.
Der Pastor deutete jetzt an, daß Fräulein Brinken ihre Stellung bei Flemmings habe aufgeben müssen.
„Sie kennen Flemming ja,“ sagte er plötzlich ziemlich heftigen Tones. „Er soll mir nicht mehr ins Haus kommen! Nein – jetzt ist auch meine Langmut zu Ende! Ich werde ihm das auch schreiben. Und den Brief wird er sich nicht hinter den Spiegel stecken, der – der –“
Frau Anna, die neben Traude auf der Gartenbank saß, reichte dem jungen Mädchen jetzt in aufrichtigem Mitgefühl die Hand, nickte ihr zu und streichelte diese Hand, die ihr willig überlassen wurde.
Und während Frau Anna in ihrem Herzen ein heißes, inniges Mitleid empfand, während sie das klassisch schöne, ein wenig ernste Gesicht dieser Traude, die vielleicht einst ihres Sohnes Traude wurde, so dicht vor sich hatte, ertappte sie sich bei einen ganz seltsamen Gedanken – daß sie jetzt schon wünschte, aus den beiden möchte ein Paar werden, – jetzt schon, wo sie das Mädchen doch kaum erst kennen gelernt hatte!
Man wanderte dann zu dreien nach dem Dargelhof. Frau Anna hatte Traude herzlichst eingeladen, doch mitzukommen.
5. Kapitel
Das Brautpaar
Gustav Schmiedecke stand vor der Wagenremise und lackierte den zweirädrigen „Sandschneider1“, als die drei anlangten. Er legte schnell den Pinsel weg, wischte sich die Finger an der Schürze ab, warf diese beiseite und ging ihnen entgegen. Er ahnte schon, wer die schlanke junge Dame war: das ‚Edelfräulein‘, die Präsidententochter!
Er sah dann seiner Anna strahlendes Gesicht, dachte: ‚Aha – der Anna gefällt sie!‘ – Und nur aus diesem Grunde fand er für sein Kind, das ihm nun gegenüberstand, freundliche, schlichte Worte zur ersten Begrüßung.
Heinz war im Stall bei der kranken Kuh gewesen. Auch er kam nun herbei, ein ganz klein wenig verlegen. –
Bald darauf, als man das Haus besichtigte, fand er Gelegenheit, der Mutter zuzuflüstern: „Wie gefällt sie dir?“
„Junge, mein Junge, – sie hat mich schneller erobert, als ich’s je für möglich hielt.“ Ihre Augen glänzten. „Sie ist so gar nicht stolz und so – so ernst, so voll inneren Gehalts. Das ist keine Großstadtpuppe, Heinz, nein, – die würd’ schon zu uns passen –“
„Wirklich, Mutter?! Dann – dann –“
„Ja – von Flemmings mußte sie fort. Denk’ dir, er – er wurde zudringlich –“
„Der – Lump ist für mich erledigt – –“
Nachher führte Heinz den Gast auch durch den Gemüsearten.
„Sie kennen nun einen Teil meines Wirkungskreises, Fräulein Traude,“ meinte er und deutete nach rückwärts über die Stallungen und Scheunen hin. „Rechtsanwalt wollte ich einmal werden. Und bin nun – Bauer, aber – Herr auf der eigenen Scholle!“
„Und das ist wohl die Hauptsache –“
„Ja – das ist’s.“ – Sie waren an den Abhang gelangt, wo die Bank vor der Tannenkulisse stand.
„Wie schön,“ rief Traude. „Dies ist also der Lieblingsplatz Ihrer Eltern, von dem Sie mir schon erzählten –“
„Auch mein Lieblingsplatz.“ Er war mit einem Male etwas zerstreut. Der Gedanke an das, was die Mutter vorhin über Traude geäußert hatte, verließ ihn nicht. Ob es nicht am besten war, heute schon das entscheidende Wort zu sprechen? Traude war ja jetzt wieder so gut wie heimatlos.
„Woran denken Sie?“ hörte er nun ihre Frage zum zweiten Male.
„Entschuldigen Sie –“ Er wich ihrem Blick aus.
‚Ja – es war wohl am richtigsten, wenn er jetzt sofort Traude um ihr Jawort bat,‘ – schoß es ihm wieder durch den Sinn. Und sofort folgte als Nachgedanke wie eine scheue Frage: ‚Ob wohl so – so wenig stürmisch jedem das Herz schlägt, der Aussicht auf den ersten Kuß von den Lippen der Erwählten hat?‘
Traude fragte abermals, denn er hatte es wieder überhört:
„Werden Sie mir wohl bald eine andere Stellung besorgen können?“
Er schaute sie jetzt an. Die Frage gab eine gute Einleitung ab.
Er griff nach ihren Händen.
„Ja – das kann ich,“ sagte er hastig. „Das kann ich. Traude, wollen Sie – wollen Sie mein Weib werden? Sie sollen hier eine neue Heimat finden. Und Liebe und Zärtlichkeit, an denen Ihnen bisher nicht viel beschieden war –“
Sie wurde etwas rot, senkte den Kopf.
Vom Strande her kam das eintönige Rauschen der See bis zu ihnen empor. Und in den Tannen hinter ihnen gurrte eine Wildtaube.
‚Hier ist der Frieden,‘ dachte Traude und dachte weiter ‚Heinz war schon einmal dein Retter. Greife zu, – dann bis du geborgen, wenn auch das, was du für ihn empfindest, erst zur bräutlichen Liebe werden muß –‘
Und sie hörte, wie er nun hinzufügte:
„Meine Mutter hat Sie bereits so lieb gewonnen, Traude. Sie hat’s mir vorhin gesagt –“
Das gab den Ausschlag.
Sie schaute ihn wieder an. Und als sie nun sein Gesicht sah, in dem kaum etwas von der Erregung des das geliebte Weib begehrenden Mannes zu lesen war, da war’s ihr, als ob an Stelle dieses braungebrannten, frischen, energischen Antlitzes ein anderes erschien: ein blasses, sehr schmales, bartloses, durchgeistigtes – das Viktor Bernholds. –
Zu spät. Über ihre Lippen war schon ein zaghaftes ‚Ich will –‘ gekommen. –
Heinz fühlte jetzt lediglich etwas wie die Pflicht, Traude an sich zu ziehen. – Es gehörte das mit zur Verlobung, sagte er sich. Traude könnte an deiner Liebe zweifeln, wenn du es nicht tätest.
Er zog sie an sich, nur einen Moment; er fühlte, wie kalt ihn diese körperliche, enge Berührung ließ; er küßte auch nur ganz flüchtig ihre Lippen.
Und dann standen sie Hand in Hand wieder nebeneinander in befangenem Schweigen und blickten über das Meer hinweg auf die Wolkenberge, die dort wie Schneegipfel ferner Hochgebirge aufgetürmt waren; in ihren Herzen gab es kein seliges Singen und Klingen, kein Ahnen und Wünschen heißerer Zärtlichkeiten. Nur eine laue, friedvolle Wärme war darin. –
Und leise sagte er nun:
„Gehen wir zu den Eltern, Traude.“ –
Abends feierte man Verlobung. Schmiedecke hatte schnell ein paar Nachbarn telephonisch eingeladen. Auch Pastor Galling blieb zum Essen da. –
Frau Anna war selig. Sie hatte eine Tochter, eine Traude, ein Traudchen! – Ihr schien’s, als hätte man ihr eigenes Püppchen ihr zurückgegeben.
Nur – nur das Brautpaar gefiel ihr nicht so ganz. Hm – wenn das so üblich war in den Kreisen, aus denen Traude Brinken stammte – bei den hohen Beamten, diese Zurückhaltung, diese abgeklärte Ruhe, dieses Vermeiden jeder Zärtlichkeit, dann – dann hätte Frau Anna sich doch fast für ihren Jungen eine andere gewünscht. Aber – der Heinz, um ehrlich und gerecht zu sein – der benahm sich ja nicht anders. – Nun, vielleicht änderte sich das mit der Zeit.
Traudes Koffer und Reisetasche waren nun gleich nach dem Dargelhof gebracht worden. Neben dem gemeinsamen Schlafzimmer der Schmiedeckes wurde für Traude ein bisher leeres Zimmer hergerichtet.
Erst gegen zwei Uhr morgens fuhren die letzten Gäste davon. Traude bereits so müde und abgespannt, daß sie sich kaum mehr auf den Füßen halten konnte.
Wieder trennte das Brautpaar sich nur mit flüchtigem Kuß. –
Dann war Traude allein. Langsam entkleidete sie sich; und belauschte dabei sich selbst, horchte hinein in ihr Herz, was dieses ihr mit matten, freudlosen Schlägen zuraunte. Nachher weinte sie sich in den Schlaf. –
*
Pastor Galling stand mit seiner Frau und Viktor Bernhold auf dem Bahnhof in Stettin. Gestern war Viktors Mutter beerdigt worden. Er wollte noch einige Zeit hier bleiben, um den Haushalt der Verstorbenen aufzulösen.
Der alte Herr hatte bisher nichts von der Verlobung Viktor gegenüber erwähnt. Nun war es höchste Zeit damit. Der Zug ging in zehn Minuten ab.
„Hm – ich habe da noch eine Neuigkeit aus Dargeln mitgebracht, Viktor,“ begann er nun. „Sie wird dich nicht gerade erfreuen, diese Nachricht, fürchte ich. Heinz Schmiedecke hat sich verlobt –“
Viktor zuckte etwas zusammen.
„Mit Traude Brinken?“ fragte er schnell.
„Ja, Viktor –“
Viktor hatte sich mit einem Ruck umgewandt und ging ein paar Schritte davon, blieb stehen, – mit dem Rücken nach Onkel und Tante Galling hin.
„Siehst du, Frau, – ich habe recht gehabt,“ sagte der Pastor mit einem Seufzer.
Da kehrte Viktor schon zu ihnen zurück.
„Geht’s dir sehr nahe?“ fragte die Tante Pastor mitleidig.
„Lassen wir das Thema, Tantchen. Ich habe vielleicht selbst bisher nicht gewußt, was ich für Fräulein Brinken empfand. Ich war allezeit einer, der abseits der großen Menge stand und niemandem einen Blick in sein Inneres gönnte. Nur einen einzigen Freund habe ich gehabt: Heinz! Und – der hat mir nun das genommen, was mich vielleicht erst in Wahrheit zum Dichter gemacht hätte – das Weib! – die eine, die es nur für mich geben wird. Das fühle ich. So schwerblütige Naturen wie ich lieben nur einmal. –
Ich werde unter diesen Umständen ganz in Stettin bleiben, werde Mutters kleine Wohnung behalten. Es war so schön bei euch in Dargeln, Tantchen. Was habe ich dort geschafft trotz – trotz der beginnenden Eifersucht der letzten Tage. Ja, ja – es war schon Eifersucht. Das alles merkt man erst, wenn’s – zu spät ist.“ –
Der Zug hatte den Bahnhof verlassen. Viktor ging heim. Sehr langsam, wie einer, der das Interesse am Leben verloren hat. Das Gefühl der Einsamkeit lastete auf ihm wie eine schwere, schwere Bürde. Durch diese Verlobung hatte er nun auch den Freund verloren. Nicht etwa, daß er es Heinz nachtrug, weil der nun Traude Brinken für sich erobert hatte. Nein – das war es nicht. Aber – wie sollte er jetzt mit Heinz noch so weiter verkehren wie bisher?! Das konnte er nicht; das ging über seine Kraft! Traude war zwischen sie beide getreten als Scheidewand.
Daheim fand er dann bereits im Briefkasten die Verlobungsanzeige vor. Heinz hatte ein paar Zeilen hinzugefügt. Viktor prüfte sie sehr genau auf ihren Inhalt. Kein Wort von Beglücktsein stand darin. So z.B. der Satz: ‚Ich freue mich, Traude eine neue Heimat bieten zu können.‘ –Und weiter: ‚Flemming hat an Traude einen sehr langen Entschuldigungsbrief gerichtet, ebenso seine Frau. Dann ist er vorgestern nachmittag noch selbst bei uns gewesen. Traude war großmütig, hat ihm verziehen. Du kennst Flemming ja. Man kann ihm schwer etwas nachtragen. – Wir wollen recht bald heiraten. Du mußt natürlich Trauzeuge sein, mein alter Viktor. Auch dir ist Traude ja keine Fremde, wenn ihr euch auch nicht so recht versteht. Vater hat gestern an Traudes Mutter geschrieben. Traude ist ja noch nicht volljährig. Vielleicht gibt es noch einen bösen Kampf mit dieser – ‚Dame‘, die ihr Kind verschachern wollte. Traude lehnte es ab, dieserhalb mit ihrer Mutter in Verbindung zu treten. Die Präsidentin war ja so ‚geschmackvoll‘, Traude jeden Brief zu verbieten, als diese damals die Stellung bei Flemmings annahm.‘ –
Viktor sandte einen Glückwunschbrief; darin teilte er Heinz auch mit, daß er zunächst in Stettin bleiben und dann in ein Nordseebad gehen würde. ‚So leid es mir tut, ich werde an deinem Hochzeitstage also in der Ferne weilen –‘
6. Kapitel
Der ‚Mägdesprung‘
Frau Therese Brinken hatte vor acht Tagen einen schweren Schlaganfall auf der Straße erlitten, war in ein Krankenhaus gebracht worden und lag noch mit vollständiger rechtsseitiger Lähmung fest zu Bett, als Schmiedeckes Brief eintraf, den er nur mit ‚Schmiedecke, Gutsbesitzer auf Dargelhof, Post Dargeln, Pommern‘ unterzeichnet hatte und dessen Inhalt bei aller Höflichkeit recht knapp war. Schmiedecke hatte lediglich betont, daß er ein sehr wohlhabender Mann und Heinz, Traudes Verlobter, sein einziger Erbe sei.
Die Pflegeschwester hatte der Präsidentin den Brief vorgelesen. Bei dem Namen Schmiedecke kam Frau Brinken die Erinnerung an längst Vergangenes.
Einen Augenblick krampfte sich ihr Herz in jähem Schreck zusammen. – Schmiedecke – Schmiedecke! Wenn’s Traudes leiblicher Bruder wäre –!
Doch nein, das war ja nicht möglich. Sie wußte genau, daß Schmiedeckes mehrere Jahre in der Mark ein ganz bescheidenes Anwesen besessen hatten. Dann hatte sie nichts mehr von ihnen gehört! Nein – dieser Doktor Juris Schmiedecke – wie sollte das der Sohn des Monteurs sein, und wie sollte der Vater es bis zum reichen Gutsbesitzer gebracht haben! Der Name Schmiedecke war ja auch so oft vertreten. –
Sie diktierte der Schwester dann einen Brief, der an Traude gerichtet war. Das Krankenlager, insbesondere die Lähmung hatten den Sinn dieser in Vorurteilen befangenen und ebenso herrschsüchtigen wie hochmütigen Frau gewandelt. Was sie Traude mit herzlichen Worten antwortete, war nicht erheuchelt. In ihre Seele war plötzlich der Wunsch eingezogen, wieder gutzumachen, was sie an diesem Kinde bis zuletzt gefehlt hatte. Nun sehnte sie sich nach Liebe, nach etwas Wärme, – nach Traude. – Von ihrer Krankheit erwähnte sie nur flüchtig etwas. Die Wahrheit wollte sie Traude erst später mitteilen, wollte des Kindes junges Glück nicht stören. Sie, die nie Rücksichten gekannt hatte, dachte jetzt sogar hieran. –
Und an demselben Tage räumte Viktor Bernhold den Schreibtisch seiner Mutter aus, verbrannte alte Briefe, legte dies und jenes noch bei Seite. Dabei stieß er auch auf einen Brief seines Onkels Ernst, des Sanitätsrats Haberland. Er erkannte die Handschrift sofort. Onkel Haberland war stets als schreibfaul bekannt gewesen. – Was konnte er wohl der Mutter so Wichtiges mitzuteilen gehabt haben? –
Viktor las den Brief. Plötzlich sank ihm die Hand mit dem Briefe matt herab. Ganz fahl wurde sein Gesicht. –
Er sprang auf, ging hastig im Zimmer hin und her, überlegte.
Wie – wie nur sollte er den beiden dieses mitteilen – wie nur?! – Nochmals nahm er den Brief, las – las Wort für Wort wie einer, der gern einen anderen Sinn in den Sätzen finden möchte. Doch dieser blieb derselbe. Und – jeder Zweifel war hier ausgeschlossen. Es handelte sich um dieselben Schmiedeckes.
Er fuhr sich über die schweißfeuchte Stirn hin. – Was nur tun – was?! – Es litt ihn nicht länger in den engen Räumen. Vielleicht kam ihm draußen im Freien die Erleuchtung. Etwas mußte ja geschehen! Unter diesen Umständen konnte er nicht länger schweigen. –
Zwei Tage drauf langte er spät abends im Pfarrhause in Dargeln an. Onkel und Tante Pastor wollten gerade zu Bett gehen. Sie trauten ihren Augen nicht.
„Viktor. Du?! – Aber – dieses Gesicht?!“
Und dann saßen sie in des Pastors Studierstube. Viktor erzählte, wie ihm der Brief des Sanitätsrats in die Hände geraten war.
„Lieber Gott!“ stöhnte die Tante und schüttelte immer wieder den Kopf. „Geschwister! Wie seltsam doch das Schicksal die Menschen wieder zusammenführt!“
„Onkel,“ sagte Viktor. „Du mußt gleich morgen zu Schmiedeckes gehen. Du bist einzig und allein imstande, diese ahnungslosen Menschen aufzuklären. –
Wie wird Heinz das hinnehmen, der arme Heinz! Wie soll er darüber hinwegkommen?!“
„Hm,“ meinte der alte Herr, „hm – ob’s ihm wirklich so schwer werden wird?! Mutter, was sagst du dazu? Du hast die beiden doch auch erst gestern noch wieder beobachtet. Ist das ein richtiges Brautpaar? Frau, waren wir beide so – so kühl zueinander?!“ Er nickte ihr lächelnd zu. „Nein – das waren wir nicht.“
Die Tante Pastor wurde etwas verlegen. „Rede nicht solchen Unsinn, Alter. – Im übrigen hast du ganz recht. Ein komisches Brautpaar sind die beiden. Heute sah ich sie wieder im Walde. Sie gingen wie Fremde nebeneinander, – nein, nicht wie Fremde, – so – so wie eben Geschwister zueinander sind. – Trotzdem, wie die beiden diese Kunde hinnehmen werden, das – das ist schwer zu sagen –“ –
Auf diesen Abend folgte eine gewitterdurchtobte Nacht. Es regnete in Strömen. –
In dieser Nacht tat Traude Brinken kein Auge zu. Neun Tage war sie nun Heinz Schmiedeckes Braut. Und jeden Abend hatte sie noch stundenlang wach in den Kissen gelegen und mit sich selbst gerungen. Wenn sie daran dachte, vielleicht schon in vier, fünf Wochen diesem Manne für immer verbunden zu sein, wenn sie sich ihre Hochzeit vorstellte und sich ausmalte, wie es sein würde, sobald sie zum ersten Male mit ihm ganz allein sein müßte – allein im gemeinsamen Schlafgemach, dann – dann packte sie ein namenlose Angst, ein Widerwille, ein Ekel vor der Liebe letzter Erfüllung, daß sie am liebsten laut herausgeschrien hätte: ‚Ich kann nicht – ich kann nicht!‘ –
So war’s auch in dieser Gewitternacht; nur noch schlimmer war’s als sonst. Traude klammerte sich jetzt an eine – eine einzige Hoffnung, daß die Mutter ihre Einwilligung zu dieser Ehe nicht geben würde! Dann – dann würde sie unter dem Vorwand, die Mutter umstimmen zu wollen, den Dargelhof verlassen, zum Schein nach Königsberg reisen und nie wiederkehren. –
Auf die Nacht folgte ein wunderbarer Sommermorgen. Um sieben Uhr kam der Landbriefträger, der alte Mielke, und brachte den Brief der Präsidentin. Man saß gerade in der Veranda am Kaffeetisch.
Traude las. – Tränen verdunkelten ihre Blicke. Auch diese letzte Hoffnung war dahin! Die Mutter hatte so lieb und herzlich geschrieben.
„Nun, Traudchen,“ meinte Schmiedecke, „deine Mutter hat wohl in alter Weise so recht herzlos –“
Traude schluchzte auf, schlug die Hände vor das Gesicht:
„Ich – ich kann nicht. Nein – ich kann es nicht. Oh mein Gott, – ich – ich –“
Frau Anna war aufgestanden, drückte den Kopf der Weinenden an sich.
„Traudchen, – was kannst du nicht?“
„Heinz – Heinz soll hinausgehen,“ wimmerte sie.
Heinz erhob sich. Er wollte etwas sagen. Dann eilte er in den Garten. –
Schmiedecke schaute mit gerunzelter Stirn auf die beiden Frauen. Diese Verlobung war eine – eine Verrücktheit! Das wußte er längst! Der Heinz wagte diese Prinzessin ja kaum anzurühren! Wie sollte das wohl in der Ehe werden?!
„Was kannst du nicht?“ fragte er hart.
„Heinz – Heinz heiraten!“ – Das war wie ein jammernder Schrei.
„Nein – ich, ich – liebe ihn nicht so, wie –“
Schmiedecke war aufgesprungen. Polternd fiel der Stuhl hinter ihm zu Boden.
„Was – du liebst ihn nicht?!“ rief er, sich nur mühsam beherrschend. „Und das – das wird dir jetzt erst klar? Jetzt – nachdem du seinen Ring am Finger trägst, nachdem die Verlobung veröffentlicht ist?“
„Vater!“ mahnte Frau Anna.
„Ach was, – ich hab’s all die Tage in mich hineingefressen! Der Junge hat mir leid getan! Nicht anzufassen wagte er das – das Edelfräulein! Das sollte ein Brautpaar sein?! – Aber natürlich, – was nicht zueinander paßt, das soll sich fern bleiben! Mein Junge und die Tochter einer Regierungspräsidentin – das war kein Gespann! Nur hättest du – du, Traude, dir das rechtzeitig überlegen sollen, daß – daß wir dir nicht fein genug sind, daß der Heinz dir nicht genügen würde! Nun haben wir die Blamage, wir die Schmiedeckes! Nun wird’s heißen: ‚Ah – das gnädige Fräulein kommt mit den Schmiedeckes doch nicht aus!‘“
Er hatte sich immer mehr in Wut geredet.
„Aber – meinethalben mag die Verlobung gelöst werden – sofort – sofort!“ wetterte er weiter. „Damit die Komödie schnell ein Ende hat – recht schnell. Der Heinz sieht ja schon aus wie ‘n Jammerlappen.“
Traude weinte nicht mehr. Sie hielt nur Frau Annas Hände umklammert, wimmerte wieder:
„Mutter, Mutter – ich kann doch nicht. Ich – ich habe es jetzt erst eingesehen –“
Frau Anna streichelte ihr die Wangen. „Laß nur, Traudchen, laß nur. Reg’ dich nicht auf. Der Vater meint es ja nicht so. Es wird noch alles gut werden. Glaub’ nur, Kind. Es ist nur so das Neue, das Ungewohnte, weil ein Mann nun mit einem Male mit dir so vertraut ist. Das ändert sich, Traudchen. Wirklich, das ändert sich –“ Sie sprach weiter, immer hastiger, und wußte kaum mehr, was sie sprach. Die Angst, Traude wieder zu verlieren, schnürte ihr das Herz zusammen.
Und Schmiedecke stand am Fenster und starrte in den sonnendurchleuchteten Garten hinaus. Er merkte ja, weshalb seine brave, liebe Anna jetzt so allerlei Zeugs redete, woran sie selbst nicht glaubte. Sie fürchtete, Traudchen wieder hingeben zu müssen, das – das Edelfräulein, das doch auch zu ihm so lieb und so zwanglos herzlich gewesen.
Sein Ärger war verraucht. Er drehte sich um.
„Kind so etwas bricht man nicht übers Knie. Das – das will überlegt sein,“ sagte er gütig.
Traude machte sich von Frau Anna los. „Ich – ich werde Heinz suchen. Ich werde mich mit ihm aussprechen –“
Und sie eilte davon; suchte nur zum Schein ihren Verlobten, verschwand in den Büschen der Steilküste, stieg auf der schmalen Holztreppe zum Strande hinab, watete über die niedrige Düne und kletterte auf die mächtigen Steine, die hier wie ein natürlicher Steg ein weites Stück in die See hinaus zu überschreiten waren. Im Volksmunde hieß der letzte Stein dieses Walles ‚Der Mägdesprung‘. Eine uralte Sage knüpfte sich daran von einer Braut, die ihrem Verlobten die Treue gebrochen haben sollte und die der Zornentflammte dann von dem letzten und größten Stein in die See gestoßen hatte – dreimal –, und jedes Mal sei eine Woge gekommen und habe das Mädchen wieder auf den Stein zurückgetragen. Da hätte der Bräutigam sein Unrecht eingesehen, und sie wären ein glückliches Paar geworden. –
Auf demselben Steine saß Traude nun.
Sie hatte den Kopf in die Hände gestützt. –
Was sollte nun werden? Würde Frau Schmiedecke es nicht doch erreichen, daß sie die furchtbare Last weitertrug? Sie konnte Mutter Anna ja so schwer etwas abschlagen, so sehr schwer; sie hatte sie lieb gewonnen. Und sie spürte, daß sie wiedergeliebt wurde. Jeden Wunsch las Mutter Anna ihr ja von den Augen ab – jeden. Und konnte ihr gar nicht genug mit Streicheln und lieben Worten zeigen, daß ihr des Sohnes Wahl so recht nach dem eigenen Wunsch war.
Traude starrte vor sich hin in das klare, grüne Wasser. Wie tief es dort vorn gleich vor dem Stein hinabging! Letztens war hier noch ganz gleichmäßiger Seeboden gewesen. Jetzt mußten die Stürme wohl eine neue Strömung geschaffen haben, die dort einen sogenannten Kolk ausgewaschen hatte, – eine tiefe Rinne mit steilen Rändern.
Traude war’s plötzlich, als ginge durch den Stein eine leise Erschütterung.
Da – wirklich – da bröckelte unter Wasser von der Sandwand des Kolks ein Stück nach dem andern ab. Die Last des riesigen Steines war ins Rutschen gekommen, strebte der Rinne zu. Traude fühlte, daß der Stein sich hinten immer mehr hob. Kaum daß sie sich noch im Sitzen an den Riffen und Vorsprüngen festhalten konnte.
Weshalb hielt sie sich überhaupt noch fest? Weshalb sprang sie nicht auf und flüchtete auf den nächsten Stein? Weshalb bohrte sie jetzt die Absätze ihrer Schuhe mit aller Gewalt in zwei Spalten so fest hinein, daß sie so leicht nicht mehr freikam?
Weshalb?! – Wozu lebte sie noch?! Um wieder Abend für Abend das Grauen vor der Ehe mit Heinz zu empfinden, – um mit jedem Tage klarer zu erkennen, daß sie in Wahrheit den Anderen liebte und schon im Lazarett in Königsberg geliebt hatte?! –
Viktor Bernhold hatte sich hier nicht mehr sehen lassen, hatte an Heinz einen so merkwürdigen Glückwunsch geschickt.
Er liebte sie! Deshalb mied er Dargeln und den Dargelhof! Nur deshalb –
Und mit dieser Liebe im Herzen sollte sie sich Heinz hingeben, der ihr gegenüber stets so seltsam scheu war und weder Zärtlichkeiten spendete noch verlangte?! War nicht ihr ganzes Leben nichts als ein Leidensweg? Lohnte es, diesen Weg noch fortzusetzen? War’s nicht besser, sie fand endlich die Ruhe, die sie schon als Kind gesucht hatte – damals im Oberteich –
Der Steinkoloß rutschte schneller; kippte jetzt nach vorn über; ganz langsam; und nahm Traude, die gleichsam an ihn angeschmiedet war, mit hinab in den tiefen Kolk.
Die Wasser schlossen sich über dem Granitstück. Der ‚Mägdesprung‘ war verschwunden. –
*
In der Veranda stand Pastor Galling vor den drei Schmiedeckes.
„Machen Sie sich auf eine Nachricht gefaßt,“ sagte er mit leicht zitternder Stimme, „die – die hier bei Ihnen vieles ändern wird. Mein Schwager, der Sanitätsrat Haberland, hat einmal seiner Schwester, der Mutter Viktor Bernholds, in einem Briefe mitgeteilt, daß ihm sein Gewissen keine Ruhe lasse, weil er einer Frau, die aus Not ihr Töchterchen hergab, den wahren Namen der Leute verschwiegen hat, die dieses Kind später adoptierten. Er bat meine Schwägerin, über all das zu schweigen. Er müsse aber einmal irgend einem Menschen beichten. Dann würde er sich vielleicht weniger bedrückt fühlen. Wenn er seiner Zeit nicht sein Ehrenwort gegeben hätte, dann –“
Frau Annas Augen waren immer größer geworden. Sie zitterte am ganzen Leibe, streckte nun die Arme flehend nach dem alten Herrn aus, rief:
„Der Name, Herr Pastor, – der Name?“
„Sie kennen ihn, liebe Frau Schmiedecke. Ihr Kind weilt wieder im Hause der wahren Eltern. Traude – Traude Brinken ist’s!“
Frau Anna taumelte. Ihr Mann fing sie auf. Aber die Schwäche ging schnell vorüber.
„Mein Püppchen – mein Traudchen,“ flüsterte Frau Anna. „Ich – ich hab’s gefühlt. Ich habe sie ja gleich geliebt.“ – Und selig lächelnd schaute sie ihren Gustav an, dem selbst die Tränen in den Bart liefen.
Und Heinz? – Pastor Galling beobachtete ihn. Der stand wie versteinert da, stierte zu Boden.
Nun hob er den Kopf, blickte den Pastor an.
„Ich – ich hab’s auch gefühlt. Ich auch! – Meine Schwester! Oh – wie – wie lieb will ich sie haben. Nun – nun fühle ich mich wieder frei!“ Er lachte glücklich. „Meine Schwester! Ich werde sie sofort holen. Oh, wie freue ich mich, wie freue ich mich!“ –
*
Viktor war in aller Frühe an die See gegangen, um ein Bad zu nehmen. Gerade als er sich wieder angekleidet hatte, bemerkte er Traude, die im leichten Morgenkleid ohne Hut die Treppe des Abhangs hinabkam. Er verbarg sich hinter einer Dünenkuppe. –
Kaum fünfzig Meter vor ihm sprang Traude dann von Stein zu Stein, setzte sich nun.
Traude – seine Traude! In Gedanken nur seine Traude! – Nun sah er sie wieder; nun war sie nicht mehr die Braut eines Anderen, war nur mehr des Freundes Schwester. Nun durfte er wieder hoffen! Das hatte ihm ja auch die Tante Pastor gesagt.
Da – er schnellte empor. Bewegte sich nicht der Stein? Verschwand er nicht tiefer im Wasser, – und – Traude blieb trotzdem sitzen?! –
Er dachte an Königsberg, an das kleine Mädel, das den Tod hatte suchen wollen.
Er begann zu laufen; wollte rufen, warmen; die Stimme versagte ihm.
Jetzt – war der Stein versunken, – Traude mit ihm. –
Viktor warf die Jacke ab. In langen Sätzen jagte er über den Steinwall.
Nun ließ er sich hinabgleiten, tauchte, tastete mit den Händen um sich, bekam einen Arm zu packen, zog, zerrte.
Ein Ruck. Der Stein gab sein Opfer frei.
Viktor trug die halb Ohnmächtige an Land; sie ruhte an seiner Brust; und sie schaute ihn an, als sehe sie nur eine Erscheinung.
„Bist du’s wirklich – du – du?! Bist du’s wirklich?“
„Traude!“ jubelte er. „Traude – ich bin’s, ich, der ich dich liebe, und Heinz – Heinz ist nur dein leiblicher Bruder! Du warst von Brinkens nur adoptiert. Schmiedeckes sind deine wahren Eltern –“
„Ist das – wahr?“ stammelte sie.
„Ja – so wahr, wie ich dich jetzt küsse.“
„Endlich – endlich – das Glück,“ flüsterte sie noch. Dann fanden sich ihre Lippen in einem langen, heißen Kuß.
Fußnote:
1 ein leichtes Wägelchen zum Befahren der Felder