Vergiß mein nicht
Bibliothek der besten Romane
Band 408
Roman von
Waltraud Kebla.
Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin 26, Elisabethufer 44
Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin.
1. Kapitel
Das treibende Boot
Auf der kleinen Bühne der ‚Viktoria-Diele‘ sang ein dick aufgemästeter Komiker mit häßlichem Knödeltenor ein ziemlich eindeutiges Lied.
Das Publikum johlte. In dieses teure Seebad und ins ‚Viktoria‘ kamen größtenteils nur Kriegsgewinnler. Denn die wenigen Badegäste, die nicht zu den neuen Reichen gehörten, konnten die Weinpreise der ‚Viktoria-Diele‘ nicht bezahlen. –
An einem kleinen Tische in einer Ecke saßen zwei Herren. Der eine, mit leicht ergrautem Spitzbart, stark gelichtetem Haar und einem um den Mund wie festgefrorenen ironisch überlegenen Lächeln, sagte jetzt zu seinem wohl um fünfzig Jahre jüngeren Freunde:
„Studienobjekte!“
In diesem einen Wort und dem Blick, den er dabei über die Nachbartische hingleiten ließ, lag eine unaussprechliche Verachtung.
Der andere nickte nur. –
Ein Kellner umschwänzelte dauernd den Tisch der beiden Herren, die nun schon eine halbe Stunde bei der billigsten halben Flasche Rotwein saßen.
Der mit dem Spitzbart merkte, weshalb der Kellner so auffällig in der Nähe blieb. Seine grauen Augen bekamen einen Ausdruck, der jeden gewarnt hätte. Nur der Kellner hielt diesem Blick mit herausfordernder Keckheit stand.
Da winkte ihn der Herr heran und sagte so laut, daß alles sich nach ihm umdrehte:
„Wenn Sie noch weiter in dieser Art uns zu neuen Bestellungen zwingen wollen, werde ich den Inhaber des Lokals wegen Wuchers anzeigen. Dieser sogenannte Rotwein, von dem wir vorsichtshalber erst einen Schluck gekostet haben, ist keine fünf Mark wert. Und der Wirt läßt ihn sich mit achtundzwanzig bezahlen. Verschwinden Sie!“
„Aber Hilbert!“ mahnte der Jüngere.
„Ruhe!“ brüllte jemand an einem nahen Tisch.
Der Geschäftsführer schlängelte sich herbei.
Die Umsitzenden hofften auf einen ‚Krach‘ und erhoben sich.
„Die Herren wünschen?“ Das klang sehr von oben herab.
„Nur, daß Sie sofort verschwinden!“ sagte John Hilbert in einem Tone, der den Geschäftsführer tatsächlich in die Flucht schlug. Auch der Kellner verduftete.
Der dicke Jüngling, der soeben ‚Ruhe!‘ gerufen hatte, sagte zu den drei Damen, die mit an seinem Tische saßen, recht laut und höhnisch:
„Ein Gentleman!“
Auf der Stirn John Hilberts erschienen drei dicke Wulste. Seine Augen wurden klein.
„Leute, die ‘s nicht dazu haben, sollen Bier trinken oder zu Hause bleiben!“ fuhr der Jüngling fort, an dessen linker Hand eine kleine Ausstellung von Brillanten blitzte. „Ich finde die Weinpreise sehr mäßig. Und für ein großes Maul ist auch der schlechteste Rotwein gut genug.“
Der Komiker tanzte gerade einen albernen Phantasietanz. Jedes Wort war zu verstehen.
Hilbert hatte sich erhoben und ging auf den dicken Jüngling zu.
Der stand gleichfalls auf und versuchte selbstsicher zu lächeln, schaute den Gegner an und – fühlte sich plötzlich beim Kragen gepackt, wollte sich wehren, kreischte vor Wut, wurde trotzdem vorwärts geschoben und bis zur Bühne gezwungen.
Dann ein Ruck, – und er stand vor dem verdutzten Komiker.
Die Musik schwieg plötzlich.
Und John Hilbert sagte mit einer Verbeugung nach dem Publikum hin:
„Hier – ein zweiter Clown!“
Dann ging er an seinen Tisch zurück.
Erst war es für Sekunden totenstill im Saal.
Nun ein Gelächter, ein Trampeln und Pfeifen, als wären alle Teufel der Hölle losgelassen.
Der dicke Jüngling, der einen auf Taille gearbeiteten hellen Jackenanzug und hellgrün seidene Strümpfe zu den gelben Strandschuhen, auch das unvermeidliche Monokel trug, schoß puterrot hinter Hilbert drein, kreischte wieder mit überschnappender Stimme:
„Sie – Sie werden – ins Loch kommen, Sie unverschämter Flegel! Ich zeige Sie wegen Beleidigung an!“
Im Saale wurde es wieder still.
Hilbert hatte sich umgedreht.
„Jungchen,“ sagte er gemütlich, „hol’ die Polizei, uns ist beiden damit gedient.“
Auf das ‚Jungchen‘ erfolgte ein neuer Heiterkeitsausbruch des sensationslüsternen Schieberpublikums.
Der dicke Jüngling brüllte nach dem Geschäftsführer. Doch der Kellner hatte schon einen Polizeibeamten hereingerufen.
„Ich heiße John Hilbert und bin Mexikaner,“ sagte der Spitzbärtige zu dem Beamten. „Ich wohne hier in der ‚Villa Iduna‘ in der Seestraße.“
„Er soll sich legitimieren!“ rief der dicke Geck dazwischen.
John Hilbert lächelte den Gegner an.
„Jungchen, ich rate, den Mund zu halten!“ meinte er mit unnachahmlicher Geringschätzung, reichte dann dem Beamten einen Reisepaß und fügte hinzu:
„Wer ist denn nun der andere? Ich bin neugierig!“
„Heribert Schnörich, Sohn des Fabrikbesitzers Schnörich, Berlin W., Ansbacherstraße 16, hier Hotel ‚Exzelsior‘,“ diktierte der dicke Fatzke mit bebender Stimme, denn er merkte ja an dem ganzen Verhalten des Publikums, daß dieses auf Hilberts Seite stand.
„Er soll sich legitimieren!“ meinte der Mexikaner gelassen.
Der Jüngling kramte in seiner Brieftasche, brachte aber nur eine Mitgliedskarte des Deutschen Automobilklubs zum Vorschein.
„Genügt mir nicht,“ sagte Hilbert. „Heute laufen so viel Schwindler in den Bädern umher, daß man vorsichtig sein muß, Herr Wachtmeister.“
Der Beamte wußte nicht recht, was er tun sollte.
„Ich verlange, daß Sie diesen Herrn in sein Hotel begleiten,“ sagte Hilbert wieder. „Ich bin hier als Ausländer beleidigt worden. Kann der Herr sich auch im Hotel nicht genügend ausweisen, muß er mit auf die Polizeiwache.“
Heribert Schnörich wandte sich an die drei Damen, mit denen er am Tische gesessen hatte. Aber diese, eine Frau Milutzke nebst Töchtern, erhoben sich plötzlich und glitten schweigend hinaus.
Niemand trat für den armen Heribert ein, und so mußte er denn, jetzt grüngelb vor Wut, mit dem Beamten nach dem ‚Exzelsior‘ wandern.
Das Publikum pfiff auf Schlüsseln, und die Musik spielte einen Tusch. Das war Heribert Schnörichs Abgang. –
Und dann verließen die Freunde die ‚Viktoria-Diele‘ unter dem respektvollen Schweigen des Schieber-Auditoriums.
Draußen faßte Hilbert den Jüngeren unter und drängte ihn nach rechts auf den Plankenweg zu, der zum Strande führte.
Er lachte still in sich hinein, meinte:
„Dja – heutzutage zieht der Ausländer! Hätte ich gesagt, daß ich Deutscher, also Deutschmexikaner bin, würde der Herr Wachtmeister Heribertchen wohl glimpflicher behandelt haben!“
„Wozu das alles?!“ rief Axel Selling etwas gereizt. „Du bist doch sonst nicht so darauf versessen, Aufsehen zu erregen –“
„Ne, das stimmt. Ich tue aber bekanntlich nichts ohne Grund. Schon heute vormittag am Strande liebäugeltest du mit diesem dunkelblonden Fräulein Milutzke, mein Sohn, und abends schleiftest du mich nur deshalb in die ‚Viktoria-Diele‘, weil du dieselbe junge Dame mit den unerhört kurzen Röcken diesen Bums betreten sahst. Mein Sohn, ich habe Augen! Und in dem Nepp-Bums begann das Liebäugeln abermals. Da wollte ich dich eben, weil sich gerade die Gelegenheit dazu bot, gründlich kurieren. Du weißt nun, welcher Art diese Milutzkes sind, neue Reiche vom Schlage Heribertchens! – Laß die Finger davon, Axel! Zum Poussieren sind diese Jungfräulein zu – geistlos, und zum Heiraten zu – anrüchig!“
Axel Selling schwieg.
„Eingeschnappt, Söhnchen?“ meinte John und drückte des Freundes Arm. „Hast du dich wirklich in dieses Mädel vergafft?! Du – gerade du?! Du bist doch ein Künstler, Maler, und hättest bemerken müssen, mit welch perverser Freude diese Jungfrau Milutzke den ganzen Auftritt beobachtete.“
„Perverser Freude?! Übertreibe nicht! – Du mußt doch zugeben, das Mädel sieht pikant aus.“
Hilbert war plötzlich stehen geblieben und blickte angestrengt auf die See hinaus.
„Du – dort ein leeres Boot!“ meinte er lebhaft.
„Laß doch das Boot!“
„Söhnchen, man soll nicht denken wie du,“ sagte Hilbert ernst und spähte weiter auf das Meer, wo das leere Boot träge dem Strande zuschaukelte.
„Man soll jede Gelegenheit ergreifen, etwas zu erleben, und sei es noch so gering. Man soll Phantasie haben und sich ausmalen, daß vielleicht in jenem treibenden Boot ein Toter liegt, daß also die Wellen uns ein Geheimnis bringen. Nur so, Söhnchen, wird der graue Alltag des Lebens durch Romantik rosiger gefärbt.“
„Dummes Zeug!“ knurrte Axel und steckte sich eine Zigarette an.
John Hilbert warf plötzlich Jacke, Weste und Beinkleider ab, stand bald in völliger Nacktheit da. Der Mond versilberte diesen ebenmäßigen, kräftigen Körper, den Axel Selling jetzt beinahe ehrfürchtig anstaunte.
Hilbert patschte lachend ins Wasser.
„Ich hole die Romantik!“ rief er.
Axel Selling schaute ihm nach, wie er mit langen Stößen dem Boot zuschwamm, wie er es erreichte, sich an der Bordwand etwas hochzog und nun das Boot dem Ufer zutrieb.
2. Kapitel
Das Kind
Dann rief John Hilbert, und in seiner Stimme lag ein ganz besonderer Ton:
„Ich habe recht behalten, Axel!“
Er sprang an Land, zog das Boot halb aufs Trockene.
Axel war näher getreten.
Das Mondlicht fiel auf ein leichenblasses Kindergesicht, das von dem dunklen Boden des kleinen Fahrzeugs geisterhaft abhob.
Der junge Maler prallte zurück.
„Ein Kind!“ meinte er verwirrt. „Ein Mädchen! Ist es tot?“
Hilbert bückte sich schon und hob die leichte Last aus dem Boote heraus, bettete sie in den kühlen, trockenen Seesand, kniete nieder und sagte dann:
„Der Puls ist sehr schwach. Aber das Kind lebt.“
Während er in die Kleider schlüpfte, beugte sich Axel über das vielleicht neunjährige Mädchen und schaute es, noch immer ganz benommen von diesem Erlebnis, beinahe ungläubig an, – so, als ob er nicht recht glauben könnte, daß all dies Wirklichkeit sei.
Eine graue Decke hüllte das Mädchen bis zum Halse ein. Nur die Arme, umgeben von den langen Ärmeln eines Nachthemdes, waren außer dem Kopf sichtbar.
Axel richtete sich auf und sagte leise zu John Hilbert, der soeben die Jacke überzog:
„Eine dunkle Erinnerung taucht eben in mir auf – an die Jugenderzählung ‚Der Waldläufer‘, wo zwei Freunde ebenfalls in einem Nachen ein Kind finden. – Ja – deine Ansicht über die Romantik, die man suchen soll, ist doch wohl richtig. – Woher mag das Boot gekommen sein, woher das Kind?“
„Spätere Sorgen, Axel! Vorläufig gehört das Mädel mir, muß ins Bett und in ärztliche Behandlung. Laufe voraus und bringe einen Arzt nach unserem Pensionat. Nimm einen Wagen – eil’ dich!“
Axel verschwand.
John Hilbert ging zum Boot und zog es noch weiter auf den Strand. Dann schaute er es sich innen und außen sehr genau an. In dem Boote lag ein zusammengerolltes Stück Segel, das dem Kinde als Kopfkissen gedient hatte, außerdem eine leere Fleischkonservenbüchse.
Auf dem Sitzbrett des Steuers erkannte Hilbert eingebrannte Buchstaben. Mühsam entzifferte er ‚Agnara 3‘. Sonst fand er nichts, was ihm weiteren Aufschluß über dieses seltsame Erlebnis gegeben hätte.
Hilbert nahm das bewußtlose Mädchen in die Arme und schritt der Strandpromenade zu.
Wie er das schlafende Kind so an seiner Brust ruhen fühlte und das bleiche, feine Gesicht immer wieder betrachtete, quoll in ihm eine weiche Zärtlichkeit auf.
‚Ein Ersatz!‘ dachte er. Und ein Seufzer kam über seine Lippen. ‚Vielleicht habe ich etwas gefunden, das meinem Dasein mehr Inhalt gibt. Der Wunsch ist häßlich, – aber es wäre mir nur lieb, wenn niemand Anspruch auf dieses holde Mädelchen erheben würde –’
Frau Schumann, die Besitzerin der ‚Iduna‘, hatte im Nu ein Bett in Hilberts Wohnzimmer aufstellen lassen. Sie war ganz Teilnahme und Eilfertigkeit, denn John Hilbert bewohnte die beiden teuersten Zimmer.
Dann kam auch schon Axel mit dem Sanitätsrat Schaffler. Der Arzt untersuchte die Kleine.
„Erschöpfung – nichts weiter,“ erklärte er schon bald. „Gefahr besteht nicht.“ –
John Hilbert und der Maler saßen gemeinsam die ganze Nacht am Lager der Kleinen.
Gegen Morgen erwachte sie für kurze Minuten. Hilbert gab ihr Fleischbrühe und etwas Rotwein zu trinken.
Das Mädchen starrte matt den freundlichen Herrn an, der sich um sie bemühte. Dann sah sie auf Axels gebräuntes, frisches Gesicht. Und ihr Blick haftete lange und sinnend auf seinem Antlitz, als ob es ihm besser gefiele als das des anderen.
Hilbert wich auch am Vormittag nicht von ihrem Bett. Er wollte der erste sein, mit dem sie sprach. Sie gehörte ja ihm, und so sollte sie auch ihm zuerst die Schleier des dunklen Geheimnisses lüften, das mit ihrer einsamen Seefahrt verknüpft war.
Gegen Mittag gähnte sie, schlug dann die Augen auf. Und jetzt war Leben und Frische in ihrem Blick.
John Hilbert nahm ihre Hand und streichelte sie.
„Wie geht es dir, Kind?“ fragte er liebevoll.
Sie schaute ihn ohne Verständnis an. Ihre Augen glitten unruhig hin und her.
John wiederholte die Frage auf englisch und französisch.
Und jetzt antwortete sie leise und mühsam, ebenfalls in französischer Sprache:
„Ich bin sehr matt, mein Herr.“
„Wie heißt du, liebe Kleine?“ forschte Hilbert weiter und gab sich alle Mühe, dem Kinde durch Wort und Klang Vertrauen einzuflößen.
Die dunklen Augen ruhten jetzt so merkwürdig ängstlich auf Hilberts Gesicht.
Dann flüsterte sie stockend:
„Ich – ich kann mich auf nichts besinnen, mein Herr, – auf nichts –“
Aber Hilbert hatte dabei das Empfinden, daß das Mädchen log.
„Ist der Dampfer ‚Agnara‘ untergegangen?“ fragte er nun. „Liebes Kind, – Ag – na – ra! Fällt dir bei diesem Namen nichts ein?“
„Nichts, mein Herr. Ich – ich möchte schlafen.“
Und wieder fühlte John Hilbert, daß die Kleine ihm nur ausweichen, vielleicht Zeit gewinnen wollte, um sich zurechtzulegen, was sie über sich und ihre Erlebnisse angeben sollte. –
Er richtete sich etwas auf, hielt ihr die Tasse an den Mund. Sie trank in kleinen Schlucken, sagte dann:
„Ich danke Ihnen, mein Herr –“
Es klopfte. Sanitätsrat Schaffler erschien, lächelte vergnügt, nickte der Kleinen zu.
„Na – da sind wir ja schon über den Berg! Wir haben ja wieder Farbe, kleines Fräulein und –“
Er schwieg erstaunt, denn das Kind hatte plötzlich den Kopf nach der Wand gedreht und die Augen geschlossen.
Er schaute Hilbert fragend an. Der winkte ihn in das Schlafzimmer, ließ die Tür halb offen und flüsterte:
„Mit dem Mädelchen hat es irgend eine besondere Bewandtnis, Herr Sanitätsrat. Macht die Kleine auf Sie als Arzt den Eindruck, als könnte sie infolge der überstandenen Aufregungen und Strapazen das Gedächtnis verloren haben?“
„Nein. Die Augen sind so klar und verständig. Und bei Kindern tritt etwas derartiges auch kaum ein. Die Kinderseele ist für Eindrücke jeder Art sehr empfänglich, aber auch elastisch, das heißt widerstandsfähiger als die Erwachsener.“
John erzählte, was er die Kleine gefragt und was sie geantwortet hatte.
Der Sanitätsrat schüttelte den Kopf. „Ich werde daraus auch nicht klug, Herr Hilbert. – Im Grunde genommen geht die Sache Sie ja auch nichts an. Mag die Polizei sehen, wie sie damit fertig wird. Man wird das Kind vorläufig im Waisenhause –“
„Niemals!“ sagte John Hilbert da. „Niemals! Ich habe das Kind gefunden, und ich leite aus dieser Tatsache für mich auch die Pflicht ab, weiter für die Kleine zu sorgen.“
„Sehr edel gedacht. Nur – nur, – wenn Sie sich damit nur keine Rute aufbinden. Es kann der Fall eintreten, daß das Mädchen niemand von Verwandten hat, der –“
John winkte ab. „Ich liebe Kinder, Herr Sanitätsrat, und ich glaube an Schicksalsfügungen. Man rede mir nicht von dem blöden Wort ‚Zufall‘! Ich habe in den Einöden Nordmexikos viele Jahre gehaust. Da strich ich das Wort ‚Zufall‘ aus meinem Sprachschatz. Ich könnte Ihnen so merkwürdige Dinge von – Doch – lassen wir das?! Jedenfalls – das Kind bleibt mein, falls die Eltern oder nahe Angehörige nicht entdeckt werden.“
Schaffler nickte sinnend. „Ein Kind mit so wissenden, altklugen Augen!“ sagte er wie zu sich selbst. „Man kann da böse Erfahrungen machen –“
John ging in das andere Zimmer zurück. Die letzten Sätze des Sanitätsrats hatten ihn unangenehm berührt. – Nein – er wollte sich die Freude an diesem Kinde durch nichts verderben lassen – durch nichts! –
Die Kleine schien zu schlafen. Schaffler verabschiedete sich, nachdem er noch zu Hilbert geäußert hatte, das Mädelchen sei körperlich sehr kräftig und würde in ein paar Tagen völlig wiederhergestellt sein. –
John Hilbert saß dann wieder am offenen Fenster in einem Korbsessel und bewachte Agnaras Schlummer.
Agnara! – Ganz unvermittelt war ihm der Gedanke gekommen, das Kind so nach dem Namen im Holz des Rettungsbootes, in dem er sie gefunden hatte, zu nennen.
Es klang recht hübsch, dieses Agnara. So etwas fremdländisch, romantisch. –
Die Sonne flutete in breiter Bahn ins Zimmer. Lachende Menschen, sorglos durch das Bewußtsein des schnell erworbenen Reichtums, gedankenlos infolge der Umwandlung ihrer Seelen zu schrankenloser Selbstsucht, gingen vorüber. Von der nahen See brauste es unablässig. Sturm war morgens aufgekommen, und der Brandung eintönig Lied lullte den einsamen Mann zu wachen Träumerein ein.
Die Phantasie ging einen bestimmten Weg. Dort in den weißen Kissen ruhte ein Kind, ein Mädchen und führte John Hilberts wehrlose Gedanken fort über das Weltmeer in ein Land, wo die Sonne auf helle Wüstenflächen und nackte Felsen herniederbrannte, wo Kakteen aller Arten auf rätselhafte Weise dem Streusand Nahrung abrangen.
Mexiko – die Palisana-Wüste.
In dem düsteren Felsentale mit den himmelhohen Wänden ein stattliches Steinhaus. Und weiter im Hintergrunde schwitzende, arbeitende Indianer, die die Silbererze für den weißen Sennor Hilbert aus den Tiefen der ausgesprengten Felsengänge hervorholten.
Ein köstlicher Abend. Sennor Hilbert saß vor dem Hause, auf jedem Knie ein Kind – daneben eine Frau. –
John Hilbert seufzte und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. –
Da – das Kind hatte sich aufgerichtet, saß im Bett, drehte den Kopf.
„Agnara!“ sagte er zärtlich, eilte zu ihr hin und setzte sich auf den Bettrand. „Agnara, willst du trinken?“
Er hatte vergessen, daß er französisch sprechen mußte.
Und dachte erst daran, als das Kind nickte.
„Wie – du hast mich verstanden?“ rief er erstaunt.
„Non, Monsieur –“
Das traf ihn wie ein eisiger Hauch.
‚Sie lügt wieder – sie lügt!‘ fuhr es ihm durch den Kopf.
Aber er wollte nicht darüber nachdenken. Wer wußte, weshalb die Kleine die Unwahrheit sagte und heuchelte. Konnte sie nicht Gründe dafür haben, die durchaus nicht gegen ihren Charakter sprachen?!
Und John Hilbert füllte die Tasse aus der Thermosflasche, gab dem Kinde zu trinken, reichte ihm einen Keks, freute sich, wie es ihm schmeckte.
Nachher lag es wieder still da mit geschlossenen Augen und tat, als schliefe es.
‚Wenn ich wüßte, was in deinem kleinen Hirn vor sich geht!‘ dachte John Hilbert und setzte sich wieder ans Fenster.
3. Kapitel
Agna Milutzke
Axel Selling hatte derweil im Familienbade Frau Bertha, die blonde Hilde und die pikante Agna endlich kennen gelernt, – so wie man im Seebade und auf dem etwas formlosen Parkett des Badestrandes sich Damen von der gesellschaftlichen Eigenart der drei Milutzkes vorstellt.
Man lag nun zu vieren im heißen Sande, eingehüllt in die bunten Bademäntel. Frau Bertha rauchte mit Todesverachtung die Zigaretten, die Axel den Damen angeboten hatte. Sie glaubte auch dieses Laster den Millionen ihres Gatten schuldig zu sein – genau wie manches andere, was sie jetzt tat und ließ, wenn es ihr auch noch so schwer wurde.
Die Unterhaltung war lebhaft und zwanglos. Man sprach über Heribert Schnörichs Blamage in der ‚Viktoria-Diele‘ und mochte, nämlich die drei Milutzkes, noch lieber über den interessanten Mexikaner sprechen.
Doch – Axel wich aus, hatte nur erzählt, daß Johannes Hilbert vor einem halben Jahre nach Deutschland gekommen war und in der Kunstausstellung drei Bilder Axel Sellings gekauft hatte, daß sie beide so sich näher traten und bald Freunde wurden.
Frau Bertha witterte in Axel den Bewerber um ihr Kind. Aber – nur ein Maler! Ne – dazu hatte man doch nicht all das Geld ‚schwer und gefahrlos‘ verdient, um nun so ‘nen Pinselmann zum Schwiegersohn zu kriegen. Immerhin – wenn er aus seiner Familie wäre! Wenn der Vater vielleicht ‘n Titel hätte – Exzellenz, Geheimrat – so was ähnliches, ja – dann ließe sich darüber reden!
Da – Frau Bertha war etwas eingefallen! Selling – Selling! In der Zeitung stand doch letztens etwas von einem General von Selling! Was war’s doch nur gewesen? Es handelte sich da sogar um mehrere Artikel!
Und so fragte sie denn Axel, ob er vielleicht mit diesem Selling, General von Selling, verwandt sei.
„Sehr nahe, gnädige Frau. Es ist nämlich mein Vater.“
„Wie – und Sie heißen nur Selling? Nicht von Selling?“
„Mein Vater hat nur den persönlichen Adel.“
Das verstand Frau Bertha nicht, tat aber so, als ob sie’s verstehe und meinte:
„Also darum! – Und – ist Ihr Papa Exzellenz?“
„Ja, gnädige Frau.“
Agna warf der Mutter einen sehr beredten Blick zu, der strahlend sein sollte, aber falsch verstanden wurde.
„Na – Exzellenz, das ist was,“ meinte Frau Milutzke voller Respekt. „Und Ihre Onkels, Herr Selling, – auch Excellenzers?“
Agna und Hilde sprangen auf. Die Mama war heute wieder fürchterlich! Und sie riefen in einem Atem:
„Ins Wasser – ins Wasser!“ Und eilten davon.
Axel lächelte Frau Bertha an. „Nur einer ist Exzellenz, der andere bloß Geheimrat.“
Er erhob sich. – Und dann schwamm er mit Agna ein Stück über die erste Leine hinaus, bis der Bademeister das Horn blies.
Sie kehrten um. – Axels Malerauge war entzückt. Diese Agna war von Mutter Natur geradezu dazu ausersehen, einmal gemalt zu werden! –
Nachher schlenderte Axel mit Agna nach jener Stelle, wo noch jetzt das Boot im Gischt der Brandung lag – das Boot des Dampfers ‚Agnara‘.
Agna – Agnara! – Welch ein Gleichklang, dachte Axel und erzählte der jüngeren Milutzke von dem Abenteuer der verflossenen Nacht.
Absichtlich hatte er sich’s aufgespart, bis er mit Agna allein war. Er kannte die Frauen, wenn er auch erst achtundzwanzig Jahre zählte, besser als ein Fünfziger. Er wußte, daß Agna mit diesem Abenteuer die Ihrigen überraschen und sich darauf freuen würde.
Sie stand auf dem feuchten Uferstreifen, und er schilderte ihr, wie John Hilbert das Boot und das Kind holte.
„Die arme Kleine!“ sagte Agna wieder. „Und Herr Hilbert will sie wirklich als eigen annehmen?“
„Ja. Er hat einmal sehr Schweres in seinem Leben durchgemacht. Er sehnt sich nach Liebe –“
Sie gingen weiter der Mole zu. Der Sturm preßte Agna den weißen Leinenrock an den Leib. Sie kämpften sich nur mühsam vorwärts. Doch Agna lachte fröhlich und rief, indem sie ihre runde, feste Brust den Windstößen entgegenstemmte:
„So liebe ich’s!“
Sie standen dicht nebeneinander. Und als ein Windstoß Agna etwas zurückdrückte, lag sie für einen Moment halb in seinen Armen, lachte dann und rief in den Lärm hinein:
„Oho – ich lasse mich nicht verdrängen! Ich habe Kraft!“
Und wie sie so für Sekunden Axels Körper berührte, wie der Duft ihres eigenartigen Parfüms ihn schärfer umwehte, wie er zum ersten Male ein starkes Begehren nach ihrem Besitze wie Siedeglut in den Adern spürte, da war’s ihm, als erschiene in den Regenbogenfarben der Tropfenberge ein anderes Gesicht.
*
John Hilbert sah nach der Uhr. – Halb eins! – Wo nur Axel blieb?! Sollte er etwa gerade heute, wo er allein zum Baden gegangen, diesen Milutzkes in die Krallen geraten sein?!
Hilbert wurde unruhig.
‚Wenn Axel nur keine Dummheiten macht!‘ dachte er und nahm wieder eine Zigarre. Aber sie schmeckte ihm nicht.
Dann klopfte es zaghaft. Er eilte leise zur Tür und öffnete.
Vor ihm stand die Stütze des Pensionats, das blonde Fräulein Mörner.
„Darf ich Sie nicht für eine Stunde ablösen, Herr Hilbert?“ fragte sie schüchtern. „Ich habe gerade jetzt Zeit – bis zum Essen!“
„Wenn Sie wirklich so lieb sein wollen –“ – Und sie traten an das offene Fenster, nachdem Anni Mörner sich einen Augenblick über das Kind gebeugt hatte, wobei in ihren braunen Augen ein Schimmer mütterlicher Zärtlichkeit erschien.
Und dieser weiche, innige Glanz strahlte nun auch John Hilbert entgegen, als er ahnungslos und halb scherzend sagte:
„Ich möchte nämlich gern mal nach Freund Axel Ausschau halten, Fräulein Annichen!“ Er nickte ihr augenzwinkernd zu. „Axel scheint mir nämlich auf Abwegen zu wandeln. Es angelt da ein Mädel nach ihm, glaube ich. Und der gute Axel, der sich als den Frauenkenner gern aufspielt, ist ja doch in dieser Beziehung – –.“
Er schwieg.
Anni war erst flammend rot und dann ganz blaß geworden, drehte sich nun jäh um und flüsterte hastig:
„Gehen Sie nur, Herr Hilbert –“
Er war taktvoll genug, nichts zu bemerken, – scheinbar. Sagte ihr lebewohl, drückte ihr die schmale, etwas verarbeitete Hand und verließ das Zimmer.
‚Also das – das ist bei diesen Heidespaziergängen im Abendrot herausgekommen!‘ dachte er, als er die Straße entlangschritt. ‚Armes Mädel! Ja, ja, John Hilbert. Du warst eben blind! Du hast die beiden in diesen fünf Wochen immer wie ein Kuppler hinausgeschickt in die weite Einsamkeit der welligen, duftenden Heide! Und hast nicht beachtet, daß das Söhnchen ein Mensch ist, der in Weiberherzen wohl Unheil anrichten kann!‘
Er beschleunigte unwillkürlich seine Schritte. Und er ärgerte sich über sich selbst. –
Als er am Musikpavillon vorüberkam, saßen da auf einer der weißen Bänke Frau Milutzke und der dicke Jüngling Heribert.
Frau Bertha fühlte sich hier so allein. Und da hatte sie denn den blamierten Heribert wieder in Gnaden aufgenommen. Sie langweilte sich nicht gern. Und Heribert wußte so allerhand Skandälchen zu erzählen, aus Berlin W., kannte beinahe jeden zehnten Badegast, der vorüberkam.
Weil er vorhin den Freund dieses verdammten Mexikaners, den er mit einem Glase Wasser vergiften mochte, am Strande mit Agna gesehen hatte und weil er einen guten Riecher für drohende Verlobungen hatte, sagte er jetzt zu Frau Bertha, ganz harmlos tuend:
„Da ist ja auch Herr John Hilbert, der Gentleman! Wo nur sein Freund stecken mag?! Vielleicht wandelt der wieder zu zweien durch die Heide, wo ich ihn schon dreimal in zarter Begleitung traf. Schien ‘ne Küchenfee zu sein oder was Ähnliches. Komischer Gentleman! Und der ‚Gentleman‘ wird wohl auch nicht besser sein –“
Frau Milutzke horchte auf.
„Was Sie sagen?!“ meinte sie. „Also so einer ist der Selling.“
Und da hatte sie sich verplappert.
„Selling?“ fragte Heribert. „Woher wissen Sie den Namen, gnädige Frau?“
„Er – er hat sich uns heute im Familienbade vorgestellt –“
Heribert beschloß, über diesen Selling Erkundigungen einzuziehen. Er war ja nicht eifersüchtig auf ihn – bewahre! Wenn er Agna den Hof gemacht hatte, so sprachen da nur Geschäftsinteressen mit. Der alte Milutzke hatte die größte Weberei in Berlin, und Heriberts Vater die nächstgröße. „Es wäre praktisch, die Firmen zu vereinen,“ hatte Papa Schnörich gesagt, bevor sein einziger Filius ins Bad reiste. – Und nun wollte etwa dieser Maler den schönen Plan zerstören?! Nein – das gab’s nicht! Schon deshalb nicht, weil dieser Selling der Freund des Mexikaners war und weil Heribert die Schwester, die blonde Hilde als Ersatz nie geheiratet hätte. Nein – die Hilde kam nicht in Betracht. Die war ihm zu alt. Er zählte ja selbst erst vierundzwanzig. Und dann war sie auch offenbar noch hundeschnäuziger und berechnender als Agna. –
John Hilbert schritt weiter. Dann stand er auf der Düne und ließ sich vom Sturm umbrausen.
Da unten im weißen Gischt lag das Boot, in dem Agnara zu ihm gekommen war – wie ein Kind aus fernem Zauberlande. Und dort – ja das war Axel, wirklich Axel, und neben ihm flatterte der weiße Leinenrock der dunkelhaarigen Maid, die so unverschämt zu kokettieren wußte.
John stieß einen Pfiff aus. Es klang wie ein Zischen. Und dann murmelte er:
„Arme, arme Anni! Und ich – ich war der Kuppler!“
Das Paar näherte sich. Nun hatte Axel den Freund erspäht, schaute aber schnell wieder weg. Etwas wie Schuldbewußtsein empfand er. Und auch Angst vor den Fragen John Hilberts, die ja unausbleiblich waren.
Das Paar verschwand nach dem Kurhaus zu. John Hilbert schaute ihnen lange nach. Dann ging er heim, dankte Anni und setzte sich ans Fenster.
Als Selling dann kurz vor Tisch erschien, war Agnara wach. John saß auf dem Bettrand und fütterte sie.
So kam Axel zunächst noch um eine Aussprache herum. Und auch nach Tisch erwähnte John Hilbert nichts von Agna Milutzke, bis der Jüngere von selbst zu sprechen begann.
Und er redete viel und redete immer eifriger. Denn John sagte und fragte nichts. Und gerade dieses Schweigen reizte Axel.
„Ich liebe sie!“ rief er schließlich. „Wirklich, ich liebe sie, John. Du wirst sie kennen lernen, und dann wirst du anders über sie denken.“
„Ich habe dir keine Vorschriften zu machen,“ meinte John ernst. „Nur warnen kann ich dich. Du hast Gemüt, Söhnchen, – zu viel Gemüt vielleicht. Und –“
Er vollendete den Satz nicht. –
4. Kapitel
Anni
Anni Mörner saß in ihrem Stübchen in der Mansarde und schrieb an ihre Mutter, die verwitwete Frau Kanzleisekretär Gustava Mörner, die in der nahen Kreisstadt Wolgast dem Justizrat Benningson die Wirtschaft führte.
‚– das Leben bringt nichts als Enttäuschungen. – Hoffnungen schwinden, Wünsche werden wieder still. Man beobachtet die Menschen, die hier das Geld mit vollen Händen fortwerfen, und könnte bitter und neidisch werden, wenn man nicht so klug wäre, sich zu sagen, daß man dann alles noch schwerer trägt. –
Ich schrieb Dir vor einer Woche, Mütterchen, von dem kleinen Mädel, das hier an den Strand getrieben wurde. Bisher hat man nichts über ihre Herkunft ermitteln können. So wohnt sie denn noch immer bei uns. Und nach wie vor ist sie still und bedrückt, tut, als verstände sie nur französisch und bleibt ein Rätselwesen, das nur zu einem einzigen Menschen etwas anschmiegend und zärtlich ist – zu mir! Und das ist mir ein Trost für anderes – der eine Trost!
Erst schien es, als ob die kleine Agnara Herrn Axel Selling in ihr Herzchen eingeschlossen hätte. Seitdem er sich aber verlobt hat und die Schwester seiner Braut, die wohl Absichten auf Herrn Sellings Freund, den Mexikaner, hat, allzu stürmisch um die Liebe der Kleinen wirbt – wobei Berechnung die Triebfeder sein dürfte –, ist Agnara auch Selling gegenüber scheu geworden.
Das Verhältnis zu ihrem Pflegevater John Hilbert läßt sich schwer ergründen. Ich gehe jetzt abends stets mit Hilbert und Agnara in die Heide. Es ist dort ja so wunderschön. Der bläuliche Dunst, der über den Hügeln zu schweben scheint, ist Axel Selling auf der Skizze, die er mir geschenkt hat, vortrefflich gelungen. Axel begleitet uns nie mehr. Jene Wochen, wo wir fast Abend für Abend durch die Heide wanderten, liegen bereits wie ein Traum hinter mir.
An Träume soll man nicht denken, nicht darüber nachgrübeln. –
Ja, Mütterchen, so ist mir denn Agnaras verstohlene Zärtlichkeit und John Hilberts Herzlichkeit der Ersatz für Axels Freundschaft geworden.
Ich weiß, Du wirst nun auf Axels Braut etwas neugierig sein. Bräute sind uns Frauen ja immer interessant. Gestern habe ich sie kennen gelernt, diese Agna Milutzke. John Hilbert nahm mich und Agnara mit zum Konzert in das Kurhaus.
Mütterchen – da hatte ich wieder einmal eine bessere Stunde! Wir Mörners waren stets verständig genug, nie aus uns etwas anderes machen zu wollen als das, wozu Bildung und Umgangsformen hinreichten. Diese Milutzkes sind nicht so klug. Es sind Kriegsgewinnler, und die heitere Stunde verschafften sie mir dadurch, daß sie versuchten, mich als Luft zu behandeln.
Und dann John Hilbert! Du weißt ja, wie er ist, eben Mann! Und einer, der noch dazu weltklug, witzig, wenn nötig auch ironisch ist. – Gestern habe ich erst begriffen, weshalb er sich mit diesen Milutzkes überhaupt abgibt. Er will, scheint’s, Axel kurieren. – Du verstehst, er sieht in dieser Verlobung kein Glück für seinen Freund und möchte ihm daher über den wahren Wert dieser Damen die Augen öffnen!
Also John Hilbert, die drei Milutzkes und ich im Kurhause! Beschreiben läßt sich das kaum, man müßte denn gerade ein paar Possenszenen verfassen. – Gerade weil sie mich als Luft behandelten, gerade weil sie dies derart übertrieben, daß ihr Benehmen mit ‚unfein, ungebildet und flegelhaft nur schwach gekennzeichnet ist, war er doppelt liebenswürdig und aufmerksam mir gegenüber. Nur ein Mann wie er, der eben in jedem Sattel fest sitzt, kann durch Kleinigkeiten andeuten, wie er Leute einschätzt. Und diese Kleinigkeiten stimmten mich heiter, obwohl ich ja von Natur eher ernst und schwerfällig bin.
Axel Selling saß wie auf Kohlen dabei. Dann flüsterte er einmal seiner Braut etwas zu. Ich sah, daß seine Lippen vor Erregung zuckten. Seine Hände fuhren so unruhig hin und her. Aber Agna Milutzke änderte ihr Benehmen mir gegenüber nicht. Und das hatte er doch fraglos von ihr verlangt.
In diese Stimmung, Mütterchen, – nein, Du kannst es Dir gar nicht denken! – platzten die Eltern Sellings hinein, die abends überraschend angekommen waren und im Pensionat erfahren hatten, wo ihr Sohn zu finden sei. Sie wollten sich Axels Braut ansehen – natürlich! – Wenn sie das auch nicht sagten.
Das lange Gesicht Frau Milutzkes werde ich mein Lebtag nicht vergessen. Frau von Selling war so altmodisch, fast ärmlich gekleidet, und der General in seinem engen Gehrock schien der ‚Milutzken‘ auch nicht zu gefallen. Es sind beides eben Menschen, die es nicht für nötig halten, sich aufzudonnern. Ihre Exzellenz, die Generalin, erzählte ganz ruhig, daß sie nur eine Dreizimmerwohnung im Gartenhause hätten und daß nur Sonnabends eine Aufwärterin käme.
Kurz: die Milutzke war so enttäuscht, daß es ihr nicht mal Freude machte, Axels Eltern recht laut mit Exzellenz anzureden. Und Agna wurde unter den prüfenden Blicken ihrer kleinen, mageren Schwiegermutter so verlegen, daß sie sich unglaublich töricht benahm.
John gab mir dann einen Wink, und wir verabschiedeten uns. Wir wollten diese traute Familienzusammenkunft nicht stören. – ‚Annichen,‘ sagte John Hilbert dann, als wir die leere Strandpromenade hinabschritten, ‚diese Verlobung wird nun wohl aus sein. Axels Eltern sind für Frau Berthas Geschmack nicht genügend Prunkstücke.‘ Und er lachte leise vor sich hin. – Agnara ging an meiner Hand. Ich mußte unwillkürlich denken: ‚Jeder wird uns für Vater, Mutter und Kind halten.‘ Und dann lachte ich auch ein wenig.
Sieh, Mütterlein, so geht es hier zu. Ich habe aber durch diese Zeilen doch die wehleidige Stimmung überwunden, die mich bei Beginn dieses Briefes beherrschte. Meine Wünsche bleiben still und stumm. Aber etwas wie Hoffnung ist wieder in meiner Seele aufgekeimt. –
Nachschrift: – Mütterchen, ich bin schnell einmal unten bei Agnara gewesen. Sie ist nämlich allein, sitzt auf dem Balkon und blättert in einem Band einer illustrierten Zeitschrift. John, mein Freund ist für einen Tag verreist. Wohin, weiß ich nicht. – Ich bin ganz leise eingetreten und durch das Zimmer gehuscht. Ich wollte Agnara überraschen. Aber – sie überraschte mich! Sie trällerte ein Lied vor sich hin, halblaut, selbstvergessen, und starrte in den blauen Himmeln hinauf, – ein Lied, Mütterlein, – rate mal, welches? Oh – Du rätst es nie! Und kennst es doch so genau.
Guter Mond, du gehst so stille
Durch die Abendwolken hin...
Und – sie sang es deutsch, Mütterchen, – deutsch! Und sie sprach die Worte so aus, wie es nie eine kleine Französin tun würde, die etwa nur zufällig dieses deutsche Kinderlied auswendig gelernt hat.
Begreifst Du das, Mütterchen?! – Agnara, behaupte ich, beherrscht das Deutsche genau so gut wie ich.
Ich habe mich ebenso leise wieder davongeschlichen. Was wird Freund John dazu sagen?!
Jetzt muß ich aber schließen. Ich habe noch genug in der Wirtschaft zu tun. Und um halb neun will ich mit Agnara wieder in die Heide wandern. Wir haben vorgestern dort etwas entdeckt, das sehr merkwürdig ist. Ich kann Dir hierrüber aber erst im nächsten Briefe schreiben. – Leb’ wohl, Mütterlein! Ich küsse Dich innig –
Deine Anni.‘
Als Frau Mörner diesen Brief gelesen hatte, nickte sie ernst vor sich hin und holte aus einer Schublade Annis vorletzten Brief, suchte nach einer bestimmten Stelle und murmelte dann: „Armes Kind! Deine Hoffnung war Axel Selling. Du liebst ihn. Hier steht ja so selig, so überschwenglich, wie du sonst nie bist:
‚Mütterlein, wie ist das Leben doch schön und wie flink geht mir die Arbeit von der Hand! Ach – und die Abende, wenn wir durch die Heide streifen! Ich habe ja nie geglaubt, daß Heidekraut und Einsamkeit so stimmungsvoll sein können. Ich bin jetzt so froh, so lustig wie noch nie. Manchmal begreife ich mich selbst nicht. Sollte all das nur davon herrühren, daß die beiden Herren so lieb und nett zu mir sind?! – Wenn Du nur Axel Selling einmal sehen könntest. Er hat so heitere, gute Augen. Und wenn er von seiner Kunst spricht, dann lausche ich ganz andächtig –‘ –
Die alte Frau Mörner schloß die Briefe wieder weg, faltete die Hände und betete still, daß ihr einziges Kind – vielleicht, vielleicht doch noch glücklich werden möge.
*
Axels Eltern waren am nächsten Tage wieder abgereist. Ihre Exzellenz, die Generalin, wollte die Wohnung nicht so lange ohne Aufsicht lassen, sagte sie. –
Über Agna Milutzke sagte sie gar nichts. Und das war schlimm. Auch der General schwieg sich aus. Und Axel wagte nicht zu fragen, wie die Braut gefallen habe. Er war froh, als der Zug mit den Eltern davondampfte. Aber er fühlte sich sehr unbehaglich. Er hatte Agnara heute noch nicht gesehen. Die Familienzusammenkunft im Kurhaus war, nachdem John und Anni Mörner gegangen, so steif und ungemütlich geworden, daß Axel, nur um das Gespräch zu beleben, Sekt bestellt hatte. Aber auch das hatte nur den einen Erfolg: er trank sich einen Schwips an. – Und schließlich ging man auseinander, als hätte man sich nur zufällig an diesem Tisch getroffen.
Kurz – es war einfach scheußlich gewesen! Und zu allem Unheil war nun auch noch John verreist. Axel kam sich vor wie ein Mensch, unter dessen Füßen der Boden schwankt. Seine Stimmung war so unausgeglichen, daß er erst Milutzkes in ihrem Strandkorb aufsuchen wollte, dann aber doch nach links abbog und der ‚Villa Iduna‘ zuschritt.
Es war jetzt dreiviertel sechs Uhr. – Anni Mörner hatte soeben den Brief an ihre Mutter beendet und wollte nun nochmals nachschauen, was Agnara trieb.
Als sie das Zimmer betrat, fuhr sie jäh zurück.
Von John Hilberts Schreibtisch war Agnara mit einem Aufschrei hochgefahren. Die Schublade war halb herausgezogen, und vor dem Kinde auf dem Teppich lagen jetzt ein paar Briefe, eine alte braune Ledertasche und eine Photographie.
Anni war stehen geblieben.
„Agnara!“ rief sie vorwurfsvoll. – Sie sah, daß die Kleine in der Schublade gekramt, Johnson Papiere durchwühlt hatte.
Das Mädchen stürzte plötzlich auf Anni zu, umschlang sie und schluchzte bitterlich.
Anni streichelte ihr das dunkle Haar. Diese Tränen rührten sie.
„Agnara, wo hast du den Schlüssel zu der Schublade her?“ fragte sie dann auf deutsch, aber ohne jede Schärfe.
Keine Antwort. – Anni setzte sich auf den nächsten Stuhl, nahm das schluchzende Kind auf ihren Schoß.
„Agnara, du mußt Vertrauen zu mir haben,“ sagte sie zart und mild. „Ich weiß, daß du ebenso gut wie ich die deutsche Sprache beherrscht. Weshalb verheimlichst du, wer du bist, und tust, als könntest du dich auf nichts mehr besinnen?“
Das Kind weinte nur noch heftiger.
„Du sangst vorhin ein deutsches Lied, Agnara,“ fuhr Anni etwas eindringlicher fort. „Ich habe es mit angehört.“
„Oh mein Gott!“ entfuhr es der Kleinen da.
„Siehst du – wieder ein deutscher Ausdruck! Agnara, wenn ich dir nun verspreche, niemandem etwas zu erzählen, – willst du mir dann die Wahrheit sagen?“
„Ich – ich darf nicht,“ wimmerte das Mädchen. „Ich darf nicht, Tante Anni –“
Zum ersten Male hörte Anni diese Anrede von ihr.
Tante Anni! – Wie hübsch das klang!
Und Anni küßte die Kleine zärtlich auf die Stirn.
Aber Agnaras Tränen flossen weiter.
„Tante Anni – nur nichts davon sagen, daß ich – daß ich –“ und ihre Blicke flogen angstvoll nach dem Schreibtisch hin.
„Sei unbesorgt,“ beruhigte Anni sie. „Nun höre aber auch auf zu weinen. Wir werden alles wieder einpacken.“
Agnara glitt von ihrem Schoße herab.
Dann hielt Anni die Photographie in der Hand. Es zeigte eine Dame, die den Hals eines Pferdes umschlungen hatte, – ein junges Weib von einer beinahe dämonischen Schönheit.
Agnara wußte genau, in welchem Fach der Ledertasche das Bild gesteckt hatte, wo die Briefe untergebracht gewesen waren, auch wo der Schlüssel in John Hilberts Nachttischschublade verborgen werden mußte. –
Anni nahm das Kind dann mit in die Küche. Während sie die Teller mit kaltem Aufschnitt belegte und den Fleischsalat garnierte, dachte sie immer wieder an das Bild des schönen Weibes und an Agnaras Neugier. – Weshalb hatte die Kleine die Schublade durchwühlt?! Weshalb?! Wer war dieses Kind?! Und – sollte Sanitätsrat Schaffler wirklich recht damit haben, daß John Hilbert wenig Dank von der Kleinen ernten würde, die doch offenbar mit berechnender Klugheit allerlei verschwieg?!
5. Kapitel
Die Heide
Die drei Damen Milutzke waren jetzt in zwei feindliche Heerlager gespalten. Frau Bertha und Hilde bildeten die eine Partie. Agna die andere.
„Nich mal das ‚Du‘ haben se dir angeboten!“ sagte Frau Bertha nun schon zum dritten Male. „Und diese Generalin hat Finger vons Kartoffelschälen wie unsere Auguste. Und er, der Exzellenz, sah aus wie ‘n verhungerter Schulmeister in dem speckchen Rock. ‘Ne feine Verwandtschaft! Aber – natürlich! Du mußt ja deinen Kopf für dich haben! Agna, natürlich! Obwohl ich dir doch den Brief vorjelesen habe, den der Schnörichs per Eilboten vons Auskunfteibüro aus Berlin über die Sellings bekommen hat, wo doch drin stand, daß der General noch zwei Töchter hat, die mit in die drei Zimmer wohnen und sich mit Nähen was verdienen. Nischt haben sie, nischt, nur seine Pangsjohn. Und er war man nur bloß Generalmajor und ist als Exzellenz verabschiedet worden. Mit dir war ja aber nich zu reden! Na – morgen abend kommt Vater. Der muß ein Machtwort sprechen, wie man zu sagen pflegt. Diese Verlobung wird aufjelöst – auf jeden Fall! Du nimmst den Schnörich, wenn’s auch ‘n Äppelfatzke is. Das macht nischt. Da weiß man doch, wie’s im Portmanöh aussieht!“
Worauf Agna sehr ruhig erklärt hatte: „Und Hilde und der Silberkönig, der Mexikaner?! Willst du auf den verzichten, Mama?!“
„Der nimmt mich nie!“ sagte die blonde Hilde gähnend. „Nie! Der – der ist viel zu klug für uns. Der veralbert uns nur!“
„So??! Veralbern?!“ meinte Frau Bertha zweifelnd.
„Na – hast du das wirklich nicht bemerkt, Mama?!“ lachte Agna spöttisch. „Das fühlt doch ein Blinder mit ‘nm Stock. Aber, was Axel betrifft, da kann mir auch Papa keine Vorschriften machen. Ich liebe ihn. Nie wieder würde ich einen so gut aussehenden Bräutigam bekommen.“
Hilde lächelte. „Lieben?!“ Sie schnitt ein Gesicht. „Du und lieben, Agna!“
Agna schnellte förmlich hoch. „Ich – ich verbitte mir diesen Ton! Du denkst wohl, ich bin so oberflächlich wie du! Ich werde Axel Selling heiraten, verlaßt euch darauf – auch gegen euren Willen! Jetzt erst recht!“
Und jetzt saßen Frau Bertha und Hilde im Strandkorb und vor ihnen im Sande lag Herr Heribert Schnörich, der heute ganz in weiß Flanell prangte.
„Dja,“ sagte der dicke Heribert soeben, „dja, wenn man Geld hat, kann man alles –“
„Wie meinen Sie das?“ wollte Frau Bertha wissen.
„So, wie ich’s sage: man kann dann alles! – Glauben Sie, Gnädigste,“ näselte er weiter und putzte sein Monokel, „daß ich diesem John Hilbert die Unverschämtheiten vergessen habe?! Ach nee! Im Gegenteil, Gnädigste!“
Hilde beugte sich neugierig vor.
„Sie wollen – sich rächen?“
Er grinste etwas. „Rächen?! Hm – der Ausdruck ist zu kräftig. Aber – man kann Leuten, die einem nicht gefallen, leicht Knüppel zwischen die Beine schmeißen. Irgend einen dunklen Punkt hat jeder in seiner Vergangenheit. Entdeckt man diesen Punkt, dann – dann schneidet man eben den Knüppel zurecht und läßt ihn schmeißen – von einem andern, der dafür bezahlt wird. Und John Hilberts Knüppel wird vielleicht schon geschnitzt –“ –
Axel war von hinten an die Sandburg und den Strandkorb der Milutzkes herangekommen, hatte noch gerade Heribert Schnörichs letzten Satz gehört, stutzte, ging zurück und spähte dann von fern zu den Damen hinüber.
Agna war nicht da. Also hatte es keinen Zweck, die Damen zu begrüßen, zumal dieser Schnörich sich dort wieder eingenistet hatte.
Axel schlenderte weiter. –
Was hieß das: ‚John Hilberts Knüppel wird vielleicht schon geschnitzt‘? – Was sollte das? Der Satz hatte wie eine Drohung geklungen.
Axel grübelte und grübelte.
‚Wo ist John heute hingefahren?‘ schoß es ihm plötzlich durch den Kopf. Der hatte ihm nur gesagt: ‚Ich kehre erst nachts zurück‘. – Wohin er reisen wollte – kein Wort davon!
Planlos wanderte er weiter durch die Dünen, durchquerte den Waldstreifen, kam in die Heide, die sich meilenweit hinzog.
Und da dachte er mit einem Male an Anni Mörner.
Wie oft war er hier mit Anni und John auf den schmalen Pfaden dahingeschritten, die die Heide kreuz und quer, scheinbar planlos, wie dunkle Striche durchzogen. Wie oft! Und wie schön waren diese Abende gewesen, wenn Anni am Stamm der Kiefer gelehnt und ihm zugeschaut hatte, wie er die Abendstimmung auf der Leinwand festzuhalten suchte. Und – wie flott hatte er damals gearbeitet! Wie schnell hatte er Skizze auf Skizze beendet. Er wußte, gerade diese flüchtigen Arbeiten fanden stets Abnehmer, denn sie waren das, was auf den Durchschnittskäufer wirkte: stimmungsvoll! –
Dann – von einem nahen Hügel ein Ruf:
„Axel – Axel!“
Er fuhr ordentlich zusammen.
Dort stand Agna, streckte ihm sehnsüchtig die Arme entgegen.
Anni Mörner war vergessen. – Die dort, die ihm winkte, war ja seine Braut. Und die andere – was galt die ihm?
„Axel – komm!“
Der neue Ruf schreckte ihn auf.
Dann hielt er Agna umschlungen, küßte sie.
„Ich freue mich so, daß ich dich gefunden habe,“ sagte er zärtlich. – Und es war doch keine echte Zärtlichkeit, es war nur die Angst vor sich selbst, vor den Unklarheiten in seinem Herzen, vor – der Wahrheit. –
Arm in Arm gingen sie tiefer in die Heide hinein.
„Meine Eltern lassen dich herzlich grüßen,“ sagte er nach einer Weile.
Agna schwieg.
Es war, als ob plötzlich ein Eiseshauch die beiden einhüllte.
Axel musterte scheu von der Seite Agnas Gesicht.
Sie hatte die Lippen fest zusammengepreßt. Etwas Feindseliges lag in ihren Zügen.
Axel wurde verlegen, drückte Agnas Arm und meinte leise:
„Sie werden dich lieb gewinnen. Laß ihnen Zeit –“
„Ich heirate dich, nicht sie,“ stieß Agna hervor. „Sie sind – hochmütig. Du bist so anders.“
Der Eiseshauch wurde noch stärker.
„Hochmütig? Nein, Agna. Sie sind – nur –“ Er suchte umsonst nach einem recht milden Ausdruck für ‚im Umgang verwöhnt‘.
Agna ersparte ihm die weitere Mühe.
„Ich weiß schon, was du sagen willst: Sie passen für die Sorte Milutzke nicht. – Nun, wir brauchen sie ja nicht. Heute abend um zehn trifft Papa hier ein. Mama hat ihm telegraphiert. Sie will uns auseinander bringen. Aber ich bin Vaters Liebling. Ich verstehe ihn zu nehmen. Wir werden in aller Stille heiraten, nur standesamtliche Trauung. Nachher teilst du deinen Eltern unsere Vermählung mit. Ich möchte aus Berlin fort. Wir werden in München wohnen. Papa gibt uns ganz sicher jährlich vierzigtausend Mark Zuschuß. Vielleicht auch mehr.“ So plapperte sie weiter. Ihr Ärger war verflogen.
Axel fühlte, daß er in dieser Ehe nichts – gar nichts zu sagen haben würde.
Er blieb plötzlich stehen, gab ihren Arm frei, schaute sie ernst an und erklärte sehr bestimmt:
„Agna, diese Pläne sind unmöglich! Ich hänge an meinen Eltern. Wenn ich Hochzeit feiere, müssen sie dabei sein. Und – Berlin verlasse ich auf keinen Fall. Ich liebe Berlin, habe dort meinen Freundeskreis, die Käufer meiner Bilder. Du weißt auch, daß John mich eingeladen hat, ein paar Monate sein Gast in Almavilla auf seiner Hazienda zu sein. Ich habe zugesagt. John ist mein Freund.“
Sein Ton war immer kälter, fremder geworden.
„Außerdem, Agna, – Alexander Selling drängt sich nicht in eine Familie ein!“ fügte er hinzu. „So – kehren wir um. Es ist Zeit –“
Agna regte sich nicht. Ihre Augen hingen an seinem gebräunten, schmalen Gesicht, dessen energische Linien kaum den Künstler verrieten.
Ihr Blick war erst hart und fast herausfordernd gewesen. Aber sie fühlte, daß sie Axel unterschätzt hatte.
Und der Blick wurde weich und zärtlich. Und diese Zärtlichkeit jetzt war echt. Sie galt dem Manne, der wirklich Mann war, der so hart und rücksichtslos soeben gesprochen hatte; sie galt dem, der ihr jetzt zum ersten Male imponierte.
„Gehen wir!“ sagte er nochmals fast befehlend. „Du mußt zum Abendessen im Hotel sein –“
Mit einem Male lächelte sie – ein hingebungsvolles, sehnsüchtiges Lächeln. Und ihre Augen waren plötzlich wie von leichten Schleiern verhüllt.
„Axel!“ flüsterte sie. „Axel – sei lieb zu mir!“
Und wie sie so vor ihm stand – jung, frisch, begehrenswert –, wie sie ihm nun die Arme um den Hals legte und sich dicht an ihn schmiegte, da wurden auch die Linien seines Gesichts durch das jäh aufwallende Blut wieder weich, da verlor sich der Ausdruck von Härte und Unbeugsamkeit.
Sie küßte ihn – küßte ihn immer wieder. Tränen traten ihr in die Augen.
„Axel, ich liebe dich –“
Und das war keine Lüge, das war keine Selbsttäuschung –
„Axel, mögen sie doch auf mich warten,“ flüsterte sie. „Diese Stunden sollen uns gehören, uns ganz allein. Komm, zeige mir das einsame Grab, das John Hilbert und Anni Mörner letztens hier entdeckten. John erzählte davon. Es soll dort so – so stimmungsvoll sein –“
„Ich kenne es nicht, Agna. John hat mir nur mitgeteilt, wo es ungefähr zu suchen ist.“
„Suchen wir es also!“ rief sie munter. „Axel – sei lieb, – wir suchen es!“
Und er gab nach, obwohl ein unklares Gefühl ihm sagte, daß er jene Stätte meiden müsse. Sie war jetzt Annis Lieblingsplatz, und gerade mit Agna dort zu weilen, erschien ihm wie ein Verrat, den er an Anni beging.
6. Kapitel
Das Grab der Namenlosen
Ein flacher Hügel, von Heidekraut überwuchert. Darauf die kleine Marmorstatue eines knienden Engels. Zwei Birken, alt und rissig, standen zu Häupten dieses Grabes, das hier in einem kleinen Tale mitten in der Heide lag. –
Agna und Axel wars ganz feierlich zu Mute, als sie den Hügel und den grünbemoosten Engel jetzt betrachteten.
„Ob es wirklich ein Grab ist?“ fragte Agna leise.
Und Axel trat heran, bückte sich, suchte nach einer Inschrift auf dem Sockel der Marmorfigur, drückte das Heidekraut beiseite, fand nichts. Auch Agna wagte sich näher.
„Ach – hier liegt eine Tafel,“ rief Axel. „Ein flacher Stein. Sieh, ganz bemoost ist er.“
Er kniete nieder, reinigte den Stein von welkem Laub und Moos.
„Es sind Buchstaben, Worte eingemeißelt,“ sagte er eifrig. „Nein – so lassen sie sich nicht entziffern. Vielleicht kann man die Tafel herausheben. Das Grab muß alt sein, sehr alt.“
Der Stein lag am Fußende des Hügels. Axel wühlte die Hände in die Erde. Dann hatte er die schwere Tafel angehoben, legte sie neben sich. Und mühsam buchstabierte er nun:
Drum prüfe, wer sich ewig bindet!
Der Wahn ist kurz, die Reu ist lang!
Hier wurde auf eignen Wunsch
eine unbekannte Selbstmörderin
begraben, die den Armen
des Dorfes viel Geld
vermachte.
15. 8. 1881
So war auf der Tafel zu lesen. –
Axel kniete noch immer.
Seine Augen kamen nicht los von den warnenden Worten aus Schillers Glocke.
„Axel!“ mahnte Agna scheu.
Auch in ihre Seele waren die Warnungen des Gedenksteines wie glühende Pfeile eingedrungen.
Sie fröstelte. Sie liebte das Leben. Sie war ja reich. Sie scheute jeden Gedanken an Sterben und Vergehen.
Da stand er wortlos auf, brachte den Stein sorgfältig in die alte Lage zurück, streute dieselben Blätter darüber, bog die Stauden des Heidekrautes so, daß die Tafel wieder jedem flüchtigen Blick entzogen war.
Und Agna schaute ihm zu, regte sich nicht.
Die Pfeile in ihrer Seele brannten noch; aber nicht mehr so stark. Agna liebte das Leben, und Agna war keine schwerblütige Natur.
Axel hatte sich aufgerichtet, blickte an Agna vorbei.
„Gehen wir!“
Sie forschte in seinen Zügen. Sie merkte, daß die Warnung bei ihm ganz anders nachwirkte als bei ihr.
Hätte sie doch nie darauf gedrungen, das einsame Grab zu suchen!
Sie fühlte geradezu Axels Gedanken. Und diese Gedanken galten ihnen beiden – ihrer Liebe!
Ein ängstlicher Zug trat in ihr Gesicht. Die Pfeile brannten nicht mehr. Etwas anderes flackerte auf: Angst, ihn zu verlieren.
Und – das durfte nicht sein! Jetzt nicht mehr! Gestern, nein, sogar noch vor einer Stunde, – da hätte Axel ihr verloren gehen können, und sie hätte gelächelt und gedacht: ‚Nun gut – dann ein Anderer!‘
Jetzt dachte sie: ‚Du mußt ihn halten, mußt ihn an dich ketten – für immer! Du liebst ihn!‘
Und schüchtern bat sie:
„Es ist so schön hier, Axel. Wollen uns dort neben die Erlenbüsche setzen – nur ein paar Minuten. Ich bin müde.“
Sie setzten sich. Und Agna stützte sich an Axels Schulter.
Sie nahm seine Hand. Und auf diese Hand fielen warme Tropfen.
Weibestränen, – die aus dem Rätselbrunnen kamen.
Axel schaute auf. Und ihre Augen, tränenverschleiert, baten und flehten. –
Er ahnte, was in ihr vorging, was sie fürchtete. Und er bedauerte sie.
„Agna, du –“
Da hatte sie ihn schon umschlungen. Ihre Lippen brannten auf den seinen. Ihr Körper schmiegte sich in das Heidekraut.
„Axel, liebst du mich?“
Töne, die dem Rätselbrunnen entsprangen.
Sie gab ihn nicht frei. Er sollte ihr gehören – für immer! Sie wußte, daß es ein gefährliches Spiel war, zumal ihre Sinne daran nicht beteiligt. Jetzt heuchelte sie nur Leidenschaft und Hingabe. –
Axel fühlte nur, wie das Blut ihm durch die Adern raste, dachte nur an jenen vollendeten Körper, den er so und so oft schon im Bade trunkenen Blicks bewundert hatte. –
Über das Grab und das kleine Tal strichen mit faulen Flügelschlägen ein paar Krähen.
Dann eine Kinderstimme, hell, fröhlich:
Guter Mond, du gehst so stille
durch die Abendwolken hin...
Axel fuhr hoch.
„Agna – fort, es kommt jemand –“
Und im Schutze der Büsche eilten sie hinweg, verbargen sich in den Sträuchern. –
Der Rätselbrunnen war versiegt durch das Kinderlied, das Agnaras Lippen über die Heide schickten.
Anni und Agnara erschienen, Hand in Hand, stiegen zu dem einsamen Hügel hinab.
Anni trug einen Strauß Feldblumen, den sie jetzt auf den Hügel legte. Und die Kleine hatte ein Kränzchen geflochten; das wurde dem bemoosten Engel auf das Haupt gedrückt.
„Tante Anni,“ jubelte Agnara, „nun ist es erst ein richtiges Grab. Und jeden Abend bringen wir jetzt Blumen her –“
Anni hatte sich gebückt, hob aus dem Heidekraut ein goldenes Kettchen und einen Anhänger mit Brillanten auf.
Ihr Gesicht war ernst und nachdenklich geworden.
Agnara besah den Schmuck, rief sofort:
„Tante Anni, ich weiß, wem er gehört, ganz genau weiß ich’s –“
Anni dachte: ‚Wie kommt Agna Milutzkes Anhänger hierher?!“
Ihre Blicke schweiften in die Runde. Aber sie bemerkte niemand.
Und die Kleine sagte triumphierend:
„Ja – er gehört der Braut Onkel Axels, – – die ich gar nicht leiden mag –“ –
Drüben in den Büschen war jedes Wort zu verstehen. –
„Und du magst sie auch nicht, Tante Anni, und Onkel John erst recht nicht,“ rief Agnara noch eifriger. „Oh, sieh mich nicht so an, Tante Anni, so – so ängstlich. Ich verrate nichts. Aber ich weiß doch, was Onkel John zu Onkel Axel letztens gesagt hat, als sie glaubten, ich schliefe. Da hat Onkel John geseufzt und gesagt: ‚Söhnchen, du hast eine Riesendummheit gemacht. Agna paßt niemals zu dir!‘
Und da ist Onkel Axel schnell hinausgegangen, und Onkel John hat so zu sich selbst gesprochen: ‚Söhnchen, hättest du die Anni gewählt, du wärest besser dabei gefahren!‘ – Ja – so hat –“
„Schweig, schweig!“ rief Anni, deren Gesicht ganz blaß geworden war. „Du hast das geträumt, Agnara, nichts weiter –“
„Liebe, liebe Tante, – nicht traurig sein! Onkel John hat –“
Aber Anni machte sich los und lief wie gehetzt davon.
Agnara klatschte in die Hände. „Oh – ich greife dich!“
Und ihre flatternden Röckchen verschwanden über dem Rande des kleinen Tales.
7. Kapitel
Die Frau in Brixhöft
Agna verließ das Versteck. Hinter ihr drein schlich Axel Selling.
Sie waren sich mit einem Male so fremd geworden, als hätte es nie zwischen ihnen auch nur die geringste Zärtlichkeit gegeben.
Axel fühlte dunkel, daß er irgend etwas Liebes, Zartes ihr sagen müsse. Es erschien ihm brutal, jetzt zu schweigen. – Er hatte sie halb eingeholt, haschte nach ihrer Hand.
„Agna, wir –“
Sie riß sich los. Das Blut schoß ihr ins Gesicht. Sie empfand nichts als eine brennende Scham, nichts als eine unendliche Demütigung.
Sie hatte ein gefährliches Spiel gewagt, und sie hatte es verloren – durch ein albernes Kind.
Seine entflammten Sinne wären ihr unterlegen, wenn nicht dieses Lied erklungen wäre, wenn nicht – die Andere der Zufall noch zur rechten Zeit hierhergeführt hätte. –
Sie eilte schneller dahin. Er konnte kaum mit ihr Schritt halten. Ihre Seele befand sich in einem Aufruhr, daß sich ihr fast die Gedanken verwirrten.
Und aus dem Gefühl der Scham, der Demütigung und Enttäuschung quoll bald das andere hervor: der Haß – Ein zügelloser, ohnmächtiger Haß gegen Axel und Anni Mörner.
Sie wußte nur zu gut, daß er jetzt endgültig für sie verloren war. Sie war Weib genug, um sich zu sagen, daß, wenn er sie mit ganzer Seele lieben würde, er den Eindruck dieser letzten Geschehnisse hätte durch Zärtlichkeit und weiche Worte verwischen können.
Aber – er benahm sich wie ein Schuldiger, wie einer, dem plötzlich die Augen aufgegangen waren und der nun vergeblich wenigstens die gesellschaftlichen Formen zu wahren sucht.
Und – sie hatte recht mit alledem. Axel Selling war blind gewesen und war sehend geworden. Das harmlose Geplapper eines Kindermundes hatte ihm die große Offenbarung gebracht.
Er durchschaute jetzt auch Agna. Er ahnte, daß ihre leidenschaftlichen Küsse die Folge stiller Angst gewesen waren, ihn zu verlieren. Sie hatte ihn an sich ketten wollen, – aus Berechnung hatte sie sich in das Heidekraut geschmiegt und ihn mit geschlossenen Augen umklammert gehalten.
Und doch – sie tat ihm leid, wenn er sich auch nicht zurechtfand in den Irrgängen ihrer Seele. Er hatte sie geküßt, sie war seine Braut, – noch war sie es, und schon der Anstand verlangte, daß er ihr half, über diese Gefühlswirren hinwegzukommen.
Wieder haschte er nach ihrer Hand, hielt sie ganz fest, sagte schnell:
„Agna, wir wollen uns aussprechen, wir wollen nicht –“
Sie blieb plötzlich stehen. Ihr schmaler Mund war hohnvoll verzogen. Ihre Augen flackerten, auf den Wangen brannten scharf abgegrenzte rote Flecke.
„Aussprechen – aussprechen?!“ lachte sie schneidend auf. „Was willst du mir denn sagen?! Vielleicht, daß du dich in deinen Gefühlen getäuscht hast, daß die, mit der du wochenlang jeden Abend hier umherwandertest, daß die – diese Anni dir näher steht als ich?! – Du brauchst nichts – nichts zu sagen! Schon als du dort an dem einsamen Grabe knietest und die Augen nicht fortwenden konntest von der Inschrift des Steines, schon da merkte ich, was in dir vorging. Ich – ich fühle für dich nur noch Verachtung! Ein Mann, der über seine Empfindungen so im unklaren ist wie du, der sich mit der Einen verlobt und doch der Anderen in Wahrheit gehört, ein solcher Mann ist unreif, ist ein… – Narr!“
Sie schritt davon.
Und Axel Selling setzte sich wie betäubt in das Heidekraut, starrte vor sich hin.
Er dachte an John Hilbert, an dessen warnende Worte, an seine ganze, kraftvolle Persönlichkeit. Und er besann sich auf Worte, die John einst zu Anfang ihrer Freundschaft gesprochen:
‚Söhnchen, Söhnchen, in dir ist noch etwas Unfertiges! Du glaubst das Leben zu kennen und alles, was dazu gehört. Du irrst dich! Du wirst noch böses Lehrgeld zahlen müssen, denn die, die sich Meister dünken, müssen erst erkennen, daß sie’s nicht sind bevor sie es wirklich werden!‘
Wie recht hatte John gehabt, wie recht!
Nicht einmal so reif war dieser superkluge Axel Selling gewesen, um zu erkennen, wo für ihn das Glück zu suchen war! –
Immer feuriger wurde das Abendrot. Die Heide flammte.
Axel starrte hinweg über die flachen Hügel, und allmählich glitten seine Gedanken auf ruhigere Pfade hinüber.
Dann stand er auf. Und unwillkürlich formten seine Lippen einen Namen – ganz scheu und zaghaft.
„Anni!“
Dann ging er die schmalen Wege entlang, umflossen von dieser Farbenorgie des Abendhimmels. Und sah nicht, daß dort hinten am Stamm einer einzelnen Kiefer sich zwei Gestalten scheu zusammenduckten. Ganz dicht kam er vorüber.
Und Agnara flüsterte:
„Tante Anni, Onkel Axel hat sich mit ihr gezankt. Oh – ich habe seine Braut nie leiden mögen, nie! Und deshalb war ich so – so unfreundlich zu ihm, Tante Anni. Hör nur, was er pfeift. Er pfeift mein Lied – mein Lied: Guter Mond, du gehst so stille –“
Da hatte Anni ihr schon die Hand auf den Mund gepreßt.
„Still – still! Du sollst nicht von ihm sprechen.“
*
Axel saß in seines Freundes Wohnzimmer und wartete auf Agnara.
Wenn die Kleine käme, würde er sie zu Anni schicken, falls diese eben nicht selbst hier eintreten sollte. –
Gegen halb zehn erschien Agnara. Sie war verlegen. Axel nahm sie auf den Schoß, sagte zärtlich:
„Du bist ja ein ganz schlimmes kleines Mädel, du! Tust so, als könntest du kein Wort deutsch und –“
Agnara schluchzte auf. „Nichts Onkel John erzählen,“ flehte sie. „Lieber Onkel Axel, nichts Onkel John erzählen –“
Er streichelte ihr die Wangen.
„Nicht weinen, Agnara. Onkel John ist doch so gut zu dir. – Wo ist denn Tante Anni geblieben?“
Agnara war schon beruhigt, meinte nun wichtig:
„Ich habe Tante Anni packen helfen. Sie ist vorhin zum Bahnhof gefahren. Sie will zu ihrem Mütterchen –“ – Und dieses ‚Mütterchen‘ klang aus dem Kindermund wie ein weher Schrei eigener Sehnsucht.
Axel blieb eine ganze Weile stumm.
„Also entflohen!“ dachte er.
Er begann Agnara auszuforschen. So erfuhr er denn, daß Anni von weitem beobachtet hatte, wie er und Agna sich trennten.
Da wußte er Bescheid. Es war so, – sie war vor ihm geflohen!
Er brachte Agnara zu Bett, setzte sich dann auf den Balkon und erwartete John Hilbert, der nach seinen Worten gegen elf Uhr zurückkehren würde.
Dann nahm er die kleine Lokalzeitung, das Wurstblättchen, zur Hand. Und fand unter ‚Aus Stadt und Land‘ folgende Notiz:
‚Wie wir schon gestern kurz berichteten, dürfte das Boot, das den Namen ‚Agnara‘ auf dem Rudersitz trug, einem russischen Dampfer namens ‚Agnara‘ gehören. Ob die von Fischern aus Brixhöft auf See geborgene, mit einer Schwimmweste versehene Frau, die jetzt doch wider Erwarten das Bewußtsein zurückerlangt hat, ebenfalls auf diesem Dampfer sich befunden hat, konnte noch nicht festgestellt werden, da die Frau offenbar jede Erinnerung an die Vergangenheit verloren hat und nicht einmal ihren Namen mehr kennt, worauf wir gestern schon hinwiesen. In ihrer Kleidertasche hat man lediglich einen völlig durchweichten Brief entdeckt, der nicht mehr entziffert werden konnte. Nur die Adresse des Umschlags ließ noch erkennen, daß der Brief nach Mexiko bestimmt gewesen war.‘
Axel wurde nachdenklich. – Auch die hier erwähnte Frau wollte genau wie die kleine Agnara das Gedächtnis verloren haben – merkwürdig! Und der Brief nach Mexiko – noch merkwürdiger!
Wenn Axel nicht gewußt haben würde, daß Johns Weib und Kinder tot waren, dann hätte er jetzt des Freundes derzeitigen Rat befolgt und sich etwas sehr Romantisches zusammengereimt, – etwas von einem Weibe, das mit ihren Kindern dem Gatten entflohen war – und so weiter.
Aber Axel war ein moderner Mensch und hatte zu wenig Phantasie, sich eine lange Geschichte auszudenken.
8. Kapitel
Heribert Schnörichs Genie
Agna sah nichts von all den Schönheiten des Sonnenuntergangs ringsum. Sie schritt dahin, getrieben von ihren unklaren Gedanken und häßlichen Wünschen, die in ihrem Hirn sich förmlich hetzten.
Und selbst als ihre Erregung mit der Länge des einsamen Weges sich legte, wurden diese Wünsche nicht harmloser und ihr Denken nicht ungefährlicher.
Nein – die Agna Milutzke, die jetzt die Strandpromenade erreicht hatte und dem Hotel ‚Exzelsior‘ zuging, war eine ganz andere als die lediglich kokotte, genußhungrige, oberflächliche und dabei doch so temperamentlose Agna von einst.
Das geringe Maß von Berechnung und Schlauheit, das bis heute ihr Tun und Lassen zum Teil beeinflußt hatte, war unter dem Pesthauch kleinlicher Rachegedanken überraschend schnell zu jener Stärke angewachsen, über die gerade kleinliche Naturen bei verletzter Eigenliebe und dem Bewußtsein, in ihrer Niedrigkeit durchschaut zu sein, weit eher verfügen als ein einsichtsvoller, wenn auch im übrigen fehlerhafter Charakter. –
Nachdem Agna sich in ihrem Zimmer umgekleidet und etwas Puder aufgelegt hatte, begab sie sich in den Speisesaal hinab.
Schon von weitem sah sie neben Mutter und Schwester Heribert Schnörichs Vollmondgesicht nebst Monokel und frühzeitiger Glatze.
Oh – das war ihr nur recht. Sie brauchte Schnörich. In ihren Plänen spielte er eine ganz bestimmte Rolle.
Sie nickte den dreien flüchtig zu und setzte sich.
„Wo warst du denn?“ examinierte Frau Hertha streng. „Und wo hast du deinen Anhänger, Agna?“
„Verloren –“
„So. Und – und das sagst du so – so hundeschnäuzig,“ japste die Mama, dunkelrot werdend. „Der Anhänger hat zwölftausend Mark gekostet,“ wandte sie sich an Heribertchen. „Stellen Sie sich vor – und so was verliert sie.“
Agna lächelte. Und mit halb erhobenen Händen, so, daß alle drei es gut sehen konnten, zog sie nun ihren Verlobungsring vom Finger und warf ihn unter Heriberts sechzehn Zigarettenstummel in die Ascheschale.
„Erledigt!“ sagte sie dazu.
Frau Bertha riß den Mund vor Staunen am weitesten auf.
Und Hilde klappte ihn am ersten wieder zu und rief leise:
„Alle?“ – Und das sollte heißen, ob es mit der Verlobung alle, also aus sei.
„Total!“ nickte Agna und lächelte wieder. „Axel und ich haben uns ausgesprochen und eingesehen, daß wir nicht recht für einander passen.“
„Na Jott sei Dank,“ seufzte Frau Milutzke erleichtert auf. „Man hätt’ sich ja auch mit die Schwiegereltern schämen müssen. Denen glaubt nich mal einer aus Dalldorf, daß ‘s Exzellenzers sind.“
Worüber Heribertchen diskret lächelte, denn er hatte seiner Zeit auf der ‚Presse‘1 die Reife für Obersekunda erlangt.
„Dann hätte der Papa gar nicht zu kommen brauchen,“ fügte Frau Bertha hinzu. Sie hatte mit ihrem Herrn Gemahl nämlich nicht viel im Sinn, da er auf alle Vornehmheit wenig gab und sich stets in der Rolle des Naturburschen gefiel.
Im Hotel wurde hinterlassen, daß man auf der Kurpromenade sei, damit Vater Milutzke die Seinen auch fände, und langsam schlenderten sie dem Konzertplatz vor dem Kurhause zu.
Agna und der dicke Jüngling gingen ein Stück hinterdrein. Schnörich merkte, daß seine Aktien gewaltig gestiegen waren. Er kannte die Weiber. Man gewann sie am schnellsten, wenn man ihnen Geheimnisse anvertraute.
Frau Bertha und Hilde fanden noch zwei Plätze auf einer Bank.
„Wir gehen auf und ab,“ erklärte Agna kurz. Und dann verschwand sie mit Heribert nach der Ostmole zu.
„So sprechen Sie doch!“ mahnte Agna nach einer Weile ungeduldig.
Schnörich putzte sein Monokel und lächelte.
„Ihre Andeutungen verstehe ich nicht,“ fügte Agna hinzu. „Was ist’s also mit John Hilbert?“
„Dja – ich habe auch Ihre Frau Mama und Fräulein Hilde heute schon recht neugierig gemacht, sprach was von einem Knüppel –“ Er klemmte das Monokel ein. „Sie, Fräulein Agna, haben jedoch ein stärkeres Interesse für diesen Silberkönig und für – na, für Ihren Exverlobten. Freundschaftlicher Art dürfte dieses Interesse nicht sein –“
Agna lachte auf.
„Hm – das klang ziemlich rachsüchtig,“ näselte der aufgemästete Jüngling. „Und – das genügt mir. Also Ihnen will ich mehr von diesem Knüppel erzählen. – Ich lasse John Hilbert heimlich beobachten?!“
Agna blieb stehen. „Wie – beobachten?!“
„Dja – da sind wir sprachlos! – Es gibt bekanntlich in Berlin ‘ne ganze Masse Leute, die für Geld sich anderen wie Leim an die Fersen heften, sogenannte Privatdetektive. Und einen solchen genialen Mann hatte ich gleich nach dem Krach in der ‚Viktoria-Diele‘ brieflich beauftragt, in Berlin sich zunächst nach meinem Freunde John zu erkundigen. Hilbert hat dort vier Monate im ‚Esplanade-Hotel‘ gewohnt. Und – er hat da ebenfalls son Genie von Detektiv in Nahrung gesetzt, wie mein Beauftragter bald herauskriegte.“
Agna schritt auf ein Boot zu, das halb in die Dünen aufs Trockene gezogen war. –
„Setzen wir uns auf den Bootsrand,“ meinte sie. „Ihre Geschichte scheint sehr spannend zu werden –“
„Stimmt!“ Er nahm neben ihr Platz. „Rauchen Sie eine Zigarette, Agnachen?“
„Ja. – Danke. – Aber das ‚Agnachen‘ lassen Sie gefälligst bleiben, Sie – Sie –“
„– Frechling!“ half er ihr aus. „Gut, Ihr Wunsch ist mir Befehl, Agna. – Die Sache ist die, um es kurz zu sagen: John Hilbert ist nach Europa gekommen, um seine Frau zu suchen!“
„Er war verheiratet?!“ rief Agna. „Davon hat mir selbst Axel nichts mitgeteilt – ich meine der – der Ma – ler Herr Sel – ling –“ –Sie zog die letzten Worte höhnisch auseinander.
„Weil er vielleicht selbst nichts davon weiß, der schöne Herr A – xel Sel – ling.“
„Weiter – weiter! Ich brenne vor Neugier –“
Heribert beugte sich tiefer und schaute ihr von unten herauf in das Gesicht.
„Was soll der Unsinn!“ meinte sie barsch.
„Sie brennen nicht, Agna, – Sie sind nur versilbert – vom Mondlicht, und so sehen Sie verteufelt hübsch aus, Agnachen, – auf Ehre! Nur – nur – etwas vollere Lippen könnten Sie haben. Aber man sagt, vom vielen Küssen – in der Ehe natürlich! – runden sich die Lippen – sagt man!“
„Und ich sage, Sie sind übergeschnappt!“ erklärte Agna kühl und feindselig, denn die ‚schmalen Lippen‘ ärgerten sie. „Wollen Sie jetzt fortfahren? So sehr bequem sitzt es sich auf diesem Bootsrand nicht –“
„Das fühle ich auch. Trotzdem – gerade dieses Boot ist sehr wichtig, denn in diesem Boote trieb die kleine schwarzlockige Krabbe an Land, die der liebe John so poetisch Agnara getauft hat –“ Heribert Schnörich lachte meckernd.
Agna wurde aufmerksam. „Was hat Agnara mit Hilberts Ehegeschichte zu tun?“ fragte sie rasch.
Der dicke Schnörich nahm plötzlich ihre Hand. „Bevor ich weiterspreche – etwas anderes –“ Er stand mit einem Male auf und zog mit der Linken den Strohhut von dem stark gelichteten Schädel. „Gestatten Sie, gnädiges Fräulein, daß ich Ihnen als Ersatz für die Axel-Selling-Enttäuschung eine sogenannte Vernunftehe mit mir vorschlage. Sie wissen, daß unsere Eltern mit dieser Partie sehr einverstanden wären und daß Sie an meiner Seite sich jeden Wunsch erfüllen könnten – jeden, auch den, sich so ein wenig an dem edlen Freundespaar zu rächen! Hier zwischen uns beiden von Liebe und dergleichen zu faseln, wäre abgeschmackt. Wir sind moderne Menschen, ganz moderne Menschen sogar, die modernsten: Kriegsgewinnler! Und mit Sentimentalitäten gibt ein neuer Reicher sich nicht ab!“
Agna war weder durch diesen Antrag noch durch die Art des Antrags irgendwie überrascht. Sie hatte Axel verloren. Und – sie hatte ihn wirklich geliebt, so weit sie überhaupt eines tieferen Gefühls fähig war. Nun lebte in ihr nur ein anderes Gefühl: Haß – dumpfer Haß, der nach Betätigung schrie – War es da schließlich nicht ganz gleichgültig, wen sie heiratete? War Heribert Schnörich nicht eine glänzende Partie und fraglos ein sehr bequemer Ehemann? Und die Hauptsache: Wollte er ihr nicht helfen, John Hilbert und Axel zu beweisen, daß eine Agna Milutzke sich nicht ungestraft verdrängen ließ.
Sie machte jetzt mit einem Ruck ihre Hand frei, erwiderte kühl und gleichgültig:
„Vielleicht haben Sie recht. Vielleicht passen wir ganz gut zusammen. Aber – vorläufig halten wir’s geheim. Und – Zärtlichkeiten, Heribert Schnörich, – Zärtlichkeiten streichen wir ebenfalls vorläufig aus unserem Programm –“
Er schaute sie lüstern an. Sie war wirklich verteufelt hübsch.
„Agna – den Verlobungskuß –“, bat er plötzlich ganz heiser. Denn – er wollte doch einmal sehen, ob diese dünnen Lippen nicht in leidenschaftlicher Glut aufflammen würden, wenn er, der gewiegte Lebemann, seine Künste versuchte.
Er hatte ihr den Arm um die Schultern gelegt, wollte sie an sich ziehen.
Einen Moment nur stieg da in ihr der Widerwille – mehr noch – der Ekel vor diesem fetten, geschniegelten Laffen auf. Aber ebenso rasch arbeiteten auch ihre Gedanken, und mit der seltsamen Logik des verschmähten Weibes dachte sie: ‚Axel ist schuld daran, daß du jetzt dieses faden Burschen widerliche Annäherung dulden mußt! Axel verdient es daher doppelt, irgendwie bestraft zu werden. Und – ihn zu bestrafen, dazu kann dir nur Schnörich verhelfen.‘
So duldete sie seine gierigen Küsse. Und als er sie so an sich gepreßt hielt, da überkam sie zum ersten Male ganz schwach und undeutlich jenes Gefühl der Selbstverachtung, das später immer drückender werden sollte wie eine jede Lebensfreude erstickende schwere – schwere Bürde.
Heribert Schnörich gab sie schließlich von selbst frei. Er war enttäuscht. Das war kein Weib. Das war ein Eisblock. Aber er tröstete sich: In der Ehe würde das anders werden! –
Nun saßen sie wieder auf dem Bootsrande und Heribert erzählte. Seine Stimme durchlief alle Tonarten der Gemeinheit, triefte von Hohn, Selbstgefühl, Schadenfreude und Gehässigkeit.
9. Kapitel
Mamuschka
„Also der John Hilbert, Silberminenbesitzer aus Mexiko, schätzungsweise achtzigfacher Millionär, heiratete vor elf Jahren, als er geschäftlich in Petersburg war, die Russin Anastasia Dimidoff, Tochter des Redakteurs irgend eines literarischen Blattes, nahm sie mit sich in die Einöden Mexikos, liebte sie offenbar wahnsinnig, wie eben nur Phantasten lieben können, war eifersüchtig wie ein türkischer Pascha und soll die schöne Anastasia mit diesen Albernheiten selbst dann noch weidlich gequält haben, als sie ihm zwei Kinder geschenkt hatte.
Dann erschien auf Hilberts Hazienda eines Tages ein Russe, so ein Kerl mit Schwärmeraugen und verrückten Ideen von Weltbeglückung. Und – da kam der Krach. –
Der Krach, Agnachen. – Eifersucht – selbstredend. John Hilbert kommt eines Abends spät aus den Bergen zurück, findet Anastasia nicht, hat schon vorher so etwas Lunte gerochen, sucht im dunklen Garten, bemerkt die beiden.
‚Wie‘ er sie fand, weiß ich nicht. Jedenfalls – er schießt auf den Anderen. Aber der Kerl entwischt, wenn auch blutend. Und Anastasia wird wahrscheinlich Bekanntschaft mit John Hilberts Reitpeitsche gemacht haben.
Morgens ist sie mit den Kindern, einem Jungen und einem Mädel, verschwunden – zu Pferde. Der Junge war anderthalb, das Mädchen zweieinhalb Jahre alt. – Die Hazienda liegt in einer Einöde. Ringsum Sand, Kakteen, kein Fluß, keine Quelle, nur Sonne, Hitze, fürchterliche Hitze.
Freund John verfolgt die drei. Wo der angeknallte Russe geblieben ist, weiß niemand. Aber John und seine Viehhüter finden nach fünf Tagen in einem Sandhügel neben der Spur des Pferdes der schönen Anastasia eine Kinderleiche – den verschmachteten Jungen. – Gleich darauf erhebt sich ein Sandsturm, löscht jede Fährte aus. Der edle John, von Gewissensbissen gepeinigt, sucht noch ein ganzes Jahr nach Weib und Kind, nach den beiden Überlebenden, wie er hofft. Das Mädel hieß übrigens Xenia.“
„Und diese Xenia ist Agnara?“ fragte Agna gespannt.
„So warten Sie doch, Agnachen. Oder – darf ich jetzt nicht ‚Du‘ sagen?“
„Meinetwegen. – Also weiter. – Und dann kommt John Hilbert jetzt nach Deutschland –“
„Ja – weil er in einer Zeitung eine Notiz fand, daß in der russischen Sowjetrepublik eine Volkskommissarin Anastasia Dimidoff eine große Rolle spielt. – Er liebte seine schöne Anastasia eben noch immer. Es soll so was manchmal geben –“
„Pfui, laß doch diese gräßlichen Bemerkungen! Das klingt so herzlos!“
„Oho – das klingt modern, mein Liebling, nichts weiter! – Also – nach Rußland, in den Hexenkessel hinein, wagt der tapfere John sich nicht. Aber er engagiert ein Genie von Detektiv wie das meine, Agnachen, nur mit dem Unterschied, daß Johns Genie ehrlicher und dümmer ist, wie du gleich sehen wirst. Dieser Herr Lenz – schöner Name! – soll für John die Kastanien aus dem Sowjetfeuer holen, und die Kastanie heißt Anastasia. Da die Geschichte lange dauern kann, ehe Herr Lenz festgestellt hat, ob diese Volkskommissarin auch wirklich die Verschwundene ist, amüsiert John sich mit Freund Axel derweil hier im Seebad.
Ja – und dann findet John das Boot und dain das Kind. Er depeschiert seinem Genie, das gerade in Berlin weilt, und das Genie kommt her und soll nun mal erst in aller Stille auskundschaften, wer die Kleine ist und woher sie kommt. Aber, mein Liebling, –“
„Laß doch diese –“
„Schon gut. – Aber – John ahnt in keiner Weise, daß sein Schützling Agnara seine – Tochter ist. Ne – auch Lenz, der Idiot, ahnt das nicht, obwohl es doch merkwürdig genug war, daß John für die Kleine sofort so viel Liebe und Vatergefühle hegte. – Auch mein Genie – der Kerl heißt übrigens Willibald Ramm – ist hier zur Stelle, merkt, daß John seinen Lenz auf die Fährte Agnaras gehetzt hat, beweist, daß er dem holden Lenz überlegen ist, erfährt rechtzeitig, daß Fischer aus Brixhöft auf See eine bewußtlose Frau geborgen haben, gondelt mit meinem Auto dorthin und – ist heute mittag hierher zurückgekehrt, während der holde Lenz und Freund John in Brixhöft die Frau sich ansehen wollen, die ja doch immerhin zu demselben Dampfer ‚Agnara‘ gehört haben kann, der nach Willibald Ramms Ansicht in der Ostsee irgendwie verunglückt ist und zwar so plötzlich, daß nur ganz wenige Fahrgäste sich retten konnten, – meint Ramm. Und Ramm ist ein Gauner, aber verflucht schlau.
Dja Agnachen, – und nun kommt die Hauptsache! Du wirst staunen – genau so wie John und Lenz staunen werden, wenn sie die Frau in Brixhöft nicht mehr vorfinden –“
„Du – du hast sie entführen lassen?“ rief Agna ganz atemlos.
„Ne, Kind, – das nicht! Entführen war gar nicht nötig. Ramm, dieser geriebene Halunke, reimte sich schnell zusammen, weshalb die Frau in Brixhöft angeblich das Gedächtnis verloren hatte und nur – französisch sprach. Außerdem hatte man ja auch bei ihr einen Brief gefunden, wie das hiesige Käseblatt ebenfalls berichtete, auf dessen Umschlag gerade noch zur Not ‚Mexiko‘ lesbar war.“
„Also John Hilberts Frau –?!“
„Stimmt – die schöne Anastasia war’s! Und der schlaue Schuft von Ramm war darüber bald im klaren, sagte es ihr auf den Kopf zu, als er mit ihr allein war, sagte weiter, daß ihr Gatte John hier in der Nähe weile und die Absicht habe, sie verhaften zu lassen, weil sie seinen Sohn umgebracht hätte –“
„Unmöglich! Das – das –“
„Oh – du kennst Willibald Ramm nicht! Die Tatsachen sprechen für seine Intelligenz: Anastasia Hilbert ist jetzt hier – als mein Schützling, und wurde von Ramm dort hinten in der sogenannten Heide-Kolonie untergebracht.“
„Und nun?!“
„Hm!“ Heribert lachte kurz auf. „Nun wird auch Xenia verschwinden, und dann werde ich beide nach Rußland abschieben.“ Er lachte wieder. „Denn das schönste bei der Geschichte ist, daß diese Anastasia, die nach Ramms Bericht noch immer reizvoll genug ist, ihren John ebenso liebt wie ehedem, – wenigstens hat sie ihn geliebt. Jetzt fürchtet sie ihn, und dies nicht nur ihres toten Sohnes wegen, sondern auch aus anderen Gründen, meinte Ramm. Diese Gründe sind ihm noch nicht ganz klar. Er vermutet, mit dem Dampfer ‚Agnara‘ müsse es eine besondere Bewandtnis gehabt haben.“
Hierfür interessierte Agna sich weniger.
„Wie willst du denn die Kleine entführen lassen?“ fragte sie.
„Das ist meine Sache, Agnachen. Du mußt zugeben: Besser kann ich mich für den Auftritt in der ‚Viktoria-Diele‘ kaum rächen.“
„Das wohl. Aber – Axel Selling?!“
„Dja – Axel Selling! Schwierige Geschichte. – Weshalb habt ihr beide euch denn entzweit? Ich muß klar sehen – in allem, wenn ich dir helfen soll.“
Vor Agnas Augen tauchte da wieder jene demütigende Szene auf, als sie und Axel vor dem Kinde und Anni flüchten mußten und dann in den Büschen verborgen waren.
Das Intrigenspiel Schnörichs gegen John Hilbert hatte sie zum Teil empört. Sie war Weib genug, um diesen Mann und diese Frau sogar zu bemitleiden, die der Zufall hier fast vereinigt und die jetzt die Niedertracht eines Rachsüchtigen wieder getrennt hatte. Diese Aufwallung edlerer Regungen war jedoch bei ihr nicht von Bestand. Die Erinnerung an ihre Demütigung heute auf der von der Sonne in Feuergluten getauchten Heide machte ihr Herz wieder hart und brachte alle häßlichen Wünsche erneut an die Oberfläche. Als sie soeben Sellings Namen im halb fragenden, halb mahnenden Tone erwähnt hatte, da war es nicht aus dem Grunde geschehen, um Heribert Schnörich auch auf ihn zu hetzen. Nein – sie hatte dadurch nur andeuten wollen, daß Agnara jetzt während Johns Abwesenheit durch Axel betreut würde und daß eine Entführung durch ihn vereitelt werden könnte. Schnörich hatte sie also falsch verstanden, hatte dann aber unbewußt ihren Haß gegen Axel aufs neue zum Aufflammen gebracht.
Axel und Anni! Und – Agnara war ja ebenfalls schuld daran, daß Axel ihr nicht für alle Zeit jetzt gehörte! Agnaras Lied war das erste gewesen, daß den Taumel der Leidenschaft jäh abgekühlt hatte.
Agna schoß das Blut ins Gesicht, wie sie jetzt an das Heidegrab und ihre vergeblichen Verführungskünste zurückdachte. Alle Weichheit schwand. – Rache – Rache, – nur den Wunsch hegte sie! –
Schnörich harrte geduldig auf ihre Antwort. Seine Gedanken spannen bereits wieder neue Intrigen. Und als Agna jetzt erwiderte:
„Die Art, wie Axel und ich uns trennten, bietet wohl kaum eine Handhabe, auch ihm einen Streich zu spielen.“
Da grinste er Agna nur an und sagte: „Willibald Ramm wird schon etwas aushecken, mein Kind. Er ist ein Schuft, wie es keinen zweiten gibt, ein raffinierter Schuft, der aus Weiß Schwarz macht und dabei noch eine Visage zur Verfügung hat, die so vertrauenerweckend ist, daß jeder sich täuschen läßt. – Gehen wir, Agna. Ramm steht vor der ‚Villa Iduna‘ Posten. Ich will ihn sprechen – sofort.“
Dann riß er Agna wieder an sich, küßte sie.
Willenlos, angewidert, und doch innerlich frohlockend über die Aussicht, daß Axel Selling nun mit in dieses Intrigenspiel hineingezogen werden würde, duldete sie seine Küsse.
*
Willibald Ramm wohnte als würdiger, älterer Rentier der ‚Villa Iduna‘ gegenüber im Pensionat ‚Waldblick‘. Er saß auf dem Vorbau des Hauses in der Dunkelheit und hatte ein Opernglas vor sich auf dem Tische liegen, schaute zuweilen nach Axel Selling aus, der noch immer drüben auf dem Balkon seine Zigarre rauchte. –
Es war jetzt halb elf geworden. Axel hatte soeben nach der Uhr gesehen. – Ob er nicht zum Bahnhof ging und John abholte?!
Er erhob sich leise, schlich ins Zimmer und lauschte Agnaras tiefen Atemzügen. – Ja, sie schlief ganz fest. – Als er die Villa verließ, deren Haustür unverschlossen blieb, weil die Gäste so unregelmäßig zurückkehrten, stand Willibald Ramm an der Balkonbrüstung und blickte ihm nach. In Nu war er dann ebenfalls auf der Straße. Drei Minuten später wußte er: Selling geht zum Bahnhof!
Günstiger konnte die Gelegenheit kaum sein. Man mußte handeln. Und als er nun gerade in der ‚Villa Iduna‘ verschwinden wollte, tauchte Schnörich auf. Sie verständigten sich durch wenige Sätze.
„Die Mörner ist nach Hause gereist. Sie wohnt in Wolgast,“ flüsterte Ramm. „Die Kleine ist also fraglos jetzt allein. Einen Nachschlüssel zu dem Zimmer habe ich.“
Schnörich packte den Arm Ramms. „Mensch – wir bringen die beiden zu der Mörner nach Wolgast. Ich hole das Auto, steuere selbst –“
Sie trennten sich. Ramm begriff nicht ganz, weshalb die Frau und das Kind gerade dorthin geschafft werden sollten. –
Agnara wurde munter. Auf ihrem Bettrand saß ein älterer Herr, der ihr mit einer Taschenlampe ins Gesicht leuchtete und jetzt flüsterte:
„Xenia, ich komme im Auftrage deiner Mutter. Sie ist ebenfalls gerettet worden. Sie erwartet dich. – Du siehst – ich weiß, wer du bist: Xenia Hilbert, und deine Mutter heißt Anastasia Dimidoff. Schnell, zieh’ dich an, Kind. Euch droht Gefahr. Ihr werdet im Auto fliehen –“
Das schlaftrunkene Kind begann zu schluchzen – vor Freude.
„Oh – ich ahnte, daß Mamuschka jetzt – ich ahnte es,“ steiß sie zitternd vor Jubel und Seligkeit hervor. –
Und dann schlüpfte sie in die Kleider. –
Ramm horchte, ob niemand im Flur sei. Er eilte voran. Xenia folgte. Unbemerkt kamen sie auf die Straße, gingen im Schatten der Bäume bis zur nächsten Straßenkreuzung.
Das Auto ratterte heran. Schnörich mit der Fahrbrille, ganz unkenntlich, saß am Steuer.
Die beiden stiegen ein, und der Kraftwagen sauste weiter.
10. Kapitel
Die ich nie vergessen werde
„Gehen wir noch ein Stück spazieren,“ sagte John Hilbert zu Axel, als sie aus dem Bahnhofsgebäude hinaustraten. „Du weißt nun, weshalb ich nach Deutschland gekommen bin; du kennst jetzt die Geschichte einer leidenschaftlichen Liebe, eines großen Leids.“
Er hatte Axel soeben das erzählt, was Willibald Ramm durch kostspielige Nachfragen in Mexiko festgestellt hatte.
Sie bogen Arm in Arm in eine Straße ein, die zum Teil unbebaut, in die Heide mündete.
„Du weißt nun auch, daß der Detektiv Lenz schon monatelang Anastasia sucht,“ fuhr John fort. „In Rußland fand er sie nicht. Sie war ins Ausland gereist. Wohin aber, erfuhr er nicht. – Und dann bestellte ich ihn hierher, dann wollten wir heute, um Agnaras Herkunft aufzuklären, jene Frau besuchen, die von Brixhöfter Fischern mehr tot als lebendig auf hoher See gefunden worden war. Doch gestern abend hat ein Herr sie im Automobil mit sich genommen – angeblich nach Berlin.“
Er schwieg, preßte Sellings Arm fester an sich und atmete schwer und keuchend.
Sie hatten die Heide erreicht. Axel blieb stehen.
„John – was hast du?“ fragte er ganz bestürzt.
Das weiche Mondlicht lag über der weiten Landschaft wie ein heller Nebel. Still und so wunderbar schön war’s hier in der Einsamkeit.
„Axel,“ sagte Hilbert gepreßt, „Axel – die Frau war – meine Anastasia! – Oh – ich habe es dumpf empfunden, daß sie es sein mußte, die da den durchweichten Brief, der nach Mexiko adressiert war, in der Tasche trug. Und – einer der Brixhöfter Badegäste hatte sie photographiert, Axel! Ich sah das Bild! Das war die Gewißheit –“
Stumm gingen sie weiter – immer weiter. Links von ihnen leuchteten ein paar helle Fenster der Heidekolonie. Ein Hund kläffte dort. –
John Hilbert hatte sich wieder gefaßt.
„So nah war sie mir,“ sagte er wehmütig. „So nah! Und jetzt muß sie mir wieder genommen werden! Lenz sucht nach ihr. Das beruhigt mich. Er ist so zuverlässig.“
„Und Agnara?“ fragte Axel leise.
„Söhnchen!“ rief Hilbert da und nahm des Freundes Hände in die seinen, „Söhnchen – das Gute zuletzt: Agnara ist mein Kind – meine Xenia!“
„Ich freue mich mit dir,“ sagte Axel schlicht.
„Das weiß ich, Söhnchen! Du bist ein guter Kerl, ein lieber Kerl! Denk mal, Axel, wenn wir jetzt heimkommen, wenn ich die Tür aufschließe, wenn ich Xenia wecke und –“
Er konnte nicht weitersprechen.
Und wieder schritten sie stumm durch das feierliche Schweigen der Nacht.
Dann begann John abermals: „Lenz hat jetzt auch die Depeschen aus Kopenhagen wegen des Dampfers ‚Agnara‘ bekommen. Ein dortiger Detektiv hat festgestellt, daß das Schiff heimlich in Kopenhagen für Rußland Waffen und Munition geladen hat. Der Dampfer muß dann wohl infolge einer Explosion der Granaten, durch Selbstentzündung vielleicht, während der Reise gesunken sein. Anastasia wird den Transport begleitet haben. Und nur sie und Xenia scheinen der Katastrophe entronnen zu sein. Ich denke, Anastasia wird den Brief, der mit Tintenstift geschrieben war, in letzter Minute noch für mich gekritzelt haben. Es muß so sein. Und sie wird mir darin das mitgeteilt haben, was ich bereits weiß, auch durch Lenz Nachforschungen in Petersburg: der Russe, der damals auf unsere Hazienda kam, war Anastasias Bruder, den ich ja nie vorher gesehen hatte, den ich nicht kannte. Er wollte Geld von seiner Schwester erbitten für die Revolutionäre. Ich war ja reich, sehr reich. Aber dieser Dimitrie Dimidoff wagte nicht, mir zu sagen, wer er war, was er wollte. Er kannte meine Anschauungen. Mexiko, mein zweites Vaterland, ist durch Revolutionen arm geworden, hat sich jetzt erst wieder emporgearbeitet. –
Daß es dieser Bruder Anastasias war, nach dem ich damals schoß, geht schon daraus hervor, daß er hinkt. Ich habe ihm das linke Knie zerschmettert. Und damals – damals habe ich mein Weib beschimpft, habe sie fast geschlagen. Aber – ich drohte nur mit der Reitpeitsche. Sie kam mir zu erbärmlich vor für eine Züchtigung.“
Da – beide blieben gleichzeitig stehen. Und von der Spitze der flachen Kuppe sahen sie unten im kleinen Tale die Birken leuchten und den knienden Engel auf dem Grabe der fremden Selbstmörderin. – Sie sahen noch mehr: an dem einen Stamm lehnte ein Weib in einem hellen Kleide. –
„Kehren wir um,“ flüsterte John. „Man soll Menschen, die hier ihre Andacht halten, nicht stören.“
Die Frau hatte sie nicht bemerkt. – Sie gingen den Weg zurück. Und mit jedem Schritt entfernte John Hilbert sich weiter von seinem Weibe, und ahnte es nicht. –
Die ganze ‚Villa Iduna‘ befand sich in wildester Aufregung. – Agnara verschwunden –! Und niemand wußte, wohin sie geraten sein könnte, niemand.
Nach Mitternacht saßen John und Axel im Wohnzimmer. Dort an der Wand stand das leere Bett. Die Kissen waren zerwühlt. Agnaras Kleid lag noch auf dem Stuhle. Aber ihre Unterwäsche, ihr Mäntelchen und der Hut fehlten.
Die Besitzerin der ‚Iduna‘, Frau Schumann, hatte John vorhin einen Brief übergeben – von Anni Mörner.
Diesen Brief öffnete Hilbert jetzt. Vielleicht gab dessen Inhalt Aufschluß über Agnaras Verschwinden.
Nichts davon – nichts. – Anni hatte nur geschrieben:
‚Lieber Freund! Ich soll Sie ja so nennen. Und ich tue es gern. – Ich verlasse dieses Haus. Ich will Herrn Selling ausweichen. Das Bewußtsein, daran schuld zu sein, daß seine Verlobung auseinander gegangen ist, drückt mich schwer. Ich liebe Redensarten nicht. Ich will ganz offen sein: Herr Selling mag sich über seine Gefühle Fräulein Milutzke gegenüber getäuscht haben! Doch diese Tatsache zeigt, daß er nicht – Nein, ich will den Satz lieber nicht beenden. – Jedenfalls: ich gehe, und ich erwarte von Ihnen, daß Sie Ihren Einfluß geltend machen, daß Herr Selling mir nicht etwa folgt. Ich suche bei meiner Mutter Frieden und Vergessen.
Ich weiß – Sie werden Herrn Selling diesen Brief nicht zeigen. – Von dem aber, was ich nun noch Ihnen kurz mitteilen muß, dürfen Sie auch mit ihm getrost sprechen, denn Freudiges teilt man gern mit anderen. – Ich glaube, Agnara ist Ihr Kind, John Hilbert! Einmal traf ich sie, wie sie das Bild Ihrer Gattin heimlich hervorgesucht hatte – auch mehrere Briefe! Aber Agnara fürchtet Sie aus unbekannten Gründen. Von Ihrer Vergangenheit weiß ich ja nur, daß Sie einst eine große Enttäuschung erlebt haben. – Sollten Sie mich sprechen wollen, – ich wohne in Wolgast bei Justizrat Benningson. Sorgen Sie bitte auch dafür, daß der Brillantanhänger, den ich Frau Schumann gab, Fräulein Milutzke zugestellt wird. – Ich bleibe stets Ihre dankbare Anni Mörner, – dankbar für die schönen Abendstunden in meiner Heide –‘
John steckte den Brief zu sich.
„Was – was schreibt sie?“ fragte Axel beklommen.
„Manches über Agnara, nein, über Xenia; manches über jemand, der ein blinder Tor war und der nicht nach Wolgast kommen soll – falls das ernst gemeint ist, was ich jedoch nicht recht glaube.“ Er lächelte trübe. „Ja, ja, Söhnchen, wir beide haben heute viel verloren, viel gewonnen. – Ich wünschte, Lenz wäre hier –“
Er stand auf und ging langsam hin und her.
Da auf der Straße ein gellender Pfiff.
John stutzte.
Als er sich über das Balkongeländer beugte, kam aus dem Baumschatten eine Stimme wie ein Hauch hervor:
„Alfred Lenz!“
John eilte hinaus auf die Straße. Lenz stand neben einem Motorrad. Und er sagte hastig:
„Herr Hilbert, ich habe die Spur des Autos bis hierher verfolgen können. Es hatte die Nummer D191918, und es gehört einem Herrn Schnörich, demselben, mit dem –“
Hilbert hatte einen Fluch ausgestoßen.
„– Sie das Renkontre hatten. Der Chauffeur dieses Schnörich sitzt in einer Kneipe und spielt Skat. Aber – das Auto ist wieder weg.“
„Ah – Xenia!“ zischte John Hilbert. „Mir kommt die Erleuchtung. – Folgen Sie uns nach oben, Lenz –“
Dann saßen die drei und berieten.
„Ob nicht Ihre verflossene Braut da die Hand mit im Spiele hat,“ meinte Lenz zu Axel. „Weiberrache – man kennt das!“
Und die drei beschlossen, morgen in aller Frühe Agna Milutzke ins Gebet zu nehmen. –
Neun Uhr. Agna erschien als erste am Frühstückstisch auf der Hotelterrasse. Der Kellner reichte ihr einen versiegelten Brief. Die Adresse war mit Bleistift gekritzelt.
Von Schnörich. – Sie riß den Umschlag auf, zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier heraus.
In demselben Augenblick sagte jemand zu ihr:
„Sie gestatten!“ Und nahm ihr den Zettel weg, überflog die Zeilen.
‚Agnachen – Entführung geglückt! Morgen geht’s mit den beiden nach Wolgast zu der Küchenmamsell! Willibald wird die Sache dort schon so befingern, daß es nachher aussieht, als hätte die blonde Anni-Maus gegen John agiert. Und dann ist Axel die Holde los, das heißt, – er wird sie für eine Intrigantin halten und – ist kuriert! Fein – was?! –
Dein Heribertchen –‘
Agna war hochgeschnellt.
„Herr Hilbert, – diese Frechheit –“
Da sah sie Axel und einen fremden, kleinen Herrn, der Schauspieler zu sein schien.
„Mein Fräulein,“ sagte John eisig, „schämen Sie sich!“ Weiter nichts. Drehte sich um und ging.
Agna hatte einen Blick Axels aufgefangen, der sie blaß werden ließ.
Die Kellner standen und feixten.
Agna sah die drei Herren verschwinden. Es war ihr, als drehte sich alles um sie her. Sie dachte an die verflossene Nacht – an die Seelenkämpfe, an die Scham, die sie vor sich selbst empfand.
Und halb taumelnd schritt sie davon, auf ihr Zimmer, warf sich auf das Bett, wühlte den Kopf in die Kissen. –
*
Frau Anastasia hielt ihr Kind umschlungen. Das Auto raste die Chaussee entlang. Wälder, Äcker, Dörfer flogen vorbei.
Die dunklen Augen Anastasias sahen von alledem nichts – nichts. Hafteten starr auf dem gekrümmten Rücken Willibald Ramms, der das Auto sicher dem Ziele zulenkte.
Schnörich machte die Fahrt nicht mit. Ramm hatte ihn Anastasia unter anderem Namen vorgestellt. Und Anastasia glaubte noch immer daran, daß Willibald Ramm einer der deutschen Freunde Sowjetrußlands wäre. –
Die Wolgaster Fähre war erreicht. Doch man mußte warten, da sie gerade drüben am anderen Ufer war.
Von dem Kirchturme des alten Städtchens klangen Glockenschläge. Zehn Uhr – vormittags.
Ramm drehte sich um und zeigte sein Biedermannsgesicht.
„Eine schöne Fahrt, nicht wahr?“ meinte er.
Die Frau nickte nur. In ihrem Herzen war alles das wieder wach geworden, was sie einst an Glück dort im fernen Mexiko erlebt hatte.
Alles – alles! – Und nun floh sie vor dem, der sie für eine Mörderin hielt, der ihre Freiheit bedrohte.
Verletzter Stolz trieb sie einst aus seinem Hause fort. Und in ihren Armen starb ihr Kind, starb durch die Sonne, die unbarmherzige Sonne. –
Die Fähre legte an. Das Auto glitt vorsichtig hinauf.
Xenia schmiegte sich enger an die Mutter.
„Mamuschka,“ flüsterte sie, „ich habe den Vater damals gleich erkannt – von den Bildern her, die du von ihm noch hast. Oh – der Schreck, Mamuschka, – der Schreck! Niemand durfte doch wissen, daß wir auf der ‚Agnara‘ all die vielen Kisten mitgenommen hatten. Mir war ja von dir so streng eingeschärft worden, das Geheimnis zu hüten. Mamuschka, es war so schwer! Er war so lieb zu mir. Ach – und ich fürchtete immer, er würde mich erkennen. Und einmal, Mamuschka – das habe ich dir noch gar nicht erzählt, da habe ich die Schreibtischschublade geöffnet. Ja – – und da lag dein Bild, Mamuschka, und hinten stand geschrieben:
Die, die ich nie vergessen werde!
Ja – das stand da. Und es war das Bild mit deinem schönen Fuchshengst. Du weißt, Mamuschka, du hast mir von dem Fuchs so –“
Die Fähre glitt über den Fluß.
Frau Anastasia hatte die Hände ihres Kindes umklammert, beugte sich herab, flüsterte heiser:
„Was – was stand da geschrieben, Xenia? – So sag’s doch. Früher stand nichts auf der Rückseite – das weiß ich –“
Und Xenia wiederholte:
„Die, die ich nie vergessen werde!“
Frau Anastasia lehnte sich wieder zurück.
Wie war das möglich – wie?! John sollte sie jetzt verfolgen?! Und John hatte nachträglich diese – diese Worte auf das Bild gesetzt?! –
Die Fähre landete. – Und gleich darauf hielt das Auto vor dem Hause des Justizrats.
Ramm ging allein durch den Vorgarten. Vor der Haustür stand Anni und putzte das Türschild blank.
„Fräulein Mörner?“ meinte Ramm. „Ja, ja, Sie sind’s. Liebes Fräulein, ich bringe Ihnen zwei arme Verfolgte –“
Und er begann zu lügen. Anni stand ganz regungslos.
„Ja, Hilbert und Selling sind schon lange hinter dem bemitleidenswerten Weibe her. – Sie kennen die beiden nicht. Oder besser, den Selling kennen Sie ja! Ihnen machte er schöne Augen, und mit der Anderen verlobte er sich. Nun suchen die beiden Frau Anastasias Fährte. Nun wird dieser Selling hier vielleicht mit zuckersüßen Worten spionieren kommen. Nur für zwei Tage nehmen Sie bitte Frau Anastasia und Xenia auf. Für den Justizrat sind’s alte Bekannte von Ihnen –“
Anni war viel zu harmlos, um aus diesem Gespinst von Lug und Trug sich herauszufinden.
„Agnara – Agnara –!“ rief sie freudig und eilte dem Auto zu. –
Frau Mörner wußte nicht recht, wie sie sich diesem Besuch gegenüber verhalten sollte. Was würde der Justizrat denken?! Gewiß – er war ein herzensguter Mann. Aber sie selbst war doch schließlich nur Haushälterin bei ihm. –
Anastasia und Xenia saßen in Annis Zimmer. Frau Mörner hatte schnell ein Frühstück hergerichtet. – Das Auto war bereits wieder umgekehrt, wartete unten am Fluß auf die Fähre. Willibald Ramm war viel zu schlau, um sich nicht zu sagen, daß der Kollege Lenz die Spur Anastasias von Brixhöft bis hier schließlich doch finden und daß dann auch der ganze Schwindel der angeblichen Nachstellungen durch John Hilbert schnell aufgedeckt werden würde. Er wollte jetzt Schnörich seine Schlußrechnung bringen und dann unter einem Vorwand verschwinden. Die Geschichte behagte ihm nicht mehr. Ihm erging es wie Agna: er war entsetzt über seine eigene Gemeinheit!
Die Fähre legte an. Menschen, dicht gedrängt versperrten die Aussicht auf einen Kraftwagen, der auf der Fähre stand.
Dann erkannte Ramm die drei Herren in dem Mietwagen. Er erbleichte unter der Fahrbrille. – ‚Geklappt2!‘ dachte er. ‚Nun denn – ich schlage mich auf die Gegenseite –‘ –
Und stieg langsam aus, trat dem anderen Auto in den Weg.
Rasche Sätze flogen hin und her. Ramm zuckte die Achseln. „Herr Hilbert, strafrechtlich liegt hier kaum etwas vor. Doch mir ist die ganze Sache leid. Ich begleite Sie und widerrufe alles.“ –
Anastasia, Xenia und Anni erörterten gerade die Widersprüche, die in John Hilberts Verhalten so deutlich hervortraten. – „Das Bild – das Bild!“ sagte Anastasia. „Diese Aufschrift! Fräulein Anni – man treibt hier ein falsches Spiel –“
Da kam auch schon Frau Mörner und brachte Willibald Ramm mit, der mit wenigen Worten die Sachlage klärte.
Frau Mörner und Anni verließen mit Ramm das Zimmer. Im Flur standen John und Axel. John stürmte hinein, drückte hinter sich die Tür zu, breitete die Arme aus.
Er zitterte. Die Stimme versagte ihm.
Sein Weib sah, welch unendliche Liebe ihr aus seinen Augen entgegenstrahlte.
Taumelnd nahte sie ihm, sank ihm an die Brust.
„John – John, endlich –!“
Sie hielten sich umschlungen.
„Verzeih mir –“, flüsterte er nur. „Verzeih mir –“
Sie lächelte ganz wenig.
„Das Bild, John, – das Bild und die Aufschrift! Da war alles – alles verziehen –“
Die kleine Xenia wollte nicht abseits stehen, drängte sich an die beiden heran, rief fröhlich:
„Mamuschka, ich fand das Bild. Und ich suchte es, weil der Papuschka es jeden Abend betrachtete und weil ich doch sehen wollte, wen es darstellte.“ –
Axel hatte im Flur Annis Hand ergriffen, öffnete irgend eine Tür, zog das Mädchen in des Justizrats Bibliothek. Und Anni sträubte sich nicht.
„Anni, muß ich noch lange bitten?“ sagte er zärtlich und nahm auch ihre andere Hand.
Sie schüttelte den Kopf. Über ihr zartes Gesicht breitete sich’s aus wie Sonnenschein.
Dann schluchzte sie plötzlich auf, barg den Kopf an seiner Brust.
„Mein Liebling, mein Liebling!“ stammelte er immer wieder.
Und ihre Lippen fanden sich zum ersten scheuen Kuß reiner Seligkeit. –
*
Zwei Tage später.
Milutzkes und Schnörich hatten das Seebad in Richtung Berlin verlassen.
Es war Abend geworden; der Abend nach einem köstlichen Sommertage. –
Durch die Heide wanderten die beiden glücklichen Paare. Xenia trug einen Kranz – für das Grab der Namenlosen.
Aber das Kind war voller Übermut und spielte mit Onkel Axel Haschen, lockte ihn von den anderen fort.
Ganz atemlos gelangten sie als erste zu dem einsamen Hügel und dem bemoosten Engel.
Axel lehnte sich an die eine Birke. Und Xenia schmiegte sich an ihn.
Seine Gedanken eilten zurück – wenige Tage nur.
Was – was wäre wohl jetzt, wenn damals nicht Xenias Lied die kühle Berechnung Agnas durchkreuzt hätte!
Er drückte die Kleine fester an sich, schaute herab auf das Grab, wo unter dem Heidekraut die Steinplatte ruhte:
Drum prüfe, wer sich ewig bindet –
Abendrot überflutete die Heide.
Dann nahten die anderen, blieben stehen. Und John sagte ganz andächtig:
„Unsere Heide – unser Heidegrab –“
Xenia legte den Kranz auf die Ruhestätte der Namenlosen.
Die Heide flammte in Rot. Und Rot ist die Farbe der Liebe. –
Sechs Wochen drauf waren Anni und Axel für immer vereint, begleiteten Hilberts über das Meer in Johns zweites Vaterland für viele Monate. –
*
Still und verlassen liegt das Heidegrab. Bis im nächsten Sommer eine blasse, sieche Frau mit müden Schritten im Abendrot die schmalen Wege entlangwandert.
Agna Schnörich. – Nicht mehr die Agna von einst. Nein – ein körperlich und seelisch gebrochenes Weib, vergiftet durch des Gatten unreine Vergangenheit.
An dem Grabe der Namenlosen sinkt sie zusammen. Und sie neidet der fremden Schläferin dort die Ruhe; ein trockenes Schluchzen rüttelt ihren Körper; ihre Lippen formen wehe Worte. Nur der bemooste Engel hört dieses jammervolle: „Axel – Axel!“
Krähen streichen krächzend über die Birken hin. Das Abendrot verblaßt. Frau Agna erhebt sich, geht zurück zu dem prunkvollen Hotel. Leichtfertige Musik, lachende Menschen ringsum.
Agna schüttelt sich förmlich vor Ekel. –
Am nächsten Vormittag schwimmt sie, die Entkräftete, weit in die See hinaus. Und drei Stunden später wird ihre Leiche geborgen.
Man findet einen Brief, ihren letzten Willen:
‚Man gönne mir die Ruhe neben der Namenlosen –‘
– Das Heidegrab wölbt sich über zwei Frauen, die hier den Frieden gefunden haben; über zwei durch sich selbst Betrogene. –
Es kann viel erzählen, das einsame Grab.
Fußnoten:
1 Schule
2 Redensart für ‚erwischt, überführt‘