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Sumpfpflanzen

 

Vergiß mein nicht

Bibliothek der besten Romane

Band 410

Sumpfpflanzen

Roman von

W. Neuhofer.

 

 

Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin 26, Elisabethufer 44

 

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1922 by Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin.

 

 

1. Kapitel

Irrlichter

Lotte Heinrizi war es gewöhnt, mit den Hühnern schlafen zu gehen und mit dem ersten Hahnenschrei aufzuwachen.

Sie hatte beide Fenster ihres Zimmerchens, das im Dachgeschoß des alten Fachwerkhauses nach der Seite, nach Osten zu, lag, ganz weit geöffnet, obwohl dieser Junimorgen nach der stürmischen Gewitternacht recht kühl war.

Jetzt stand sie rosig und frisch vor dem alten runden Spiegel und steckte die beiden langen, aschblonden Zöpfe zu einer Krone am Hinterkopf auf. Vorn trug sie das Haar gescheitelt. Und das stand ihr gut zu dem runden, regelmäßigen Gesicht, in dem ein paar dunkle, große Augen meist sehr fröhlich blitzten.

Mit dem Aufräumen ihres Stübchens war sie bald fertig, wischte nun auch den kaum vorhandenen Staub von den ehrwürdigen Mahagonimöbeln und machte dabei vor dem rissigen Ölbild eines Offiziers in der Uniform von 1813/14 einen tiefen Knicks, sagte dazu ganz ehrbar:

„Guten Morgen, Herr Hauptmann –“

Der Hauptmann aber blieb stumm wie stets und schaute Lotte Heinrizi nur mit seinem höflichen, gewinnenden Lächeln an.

Das Bild, die Einrichtung des Hauses, das Haus selbst und den große Garten hatte Thomas Heinrizi vor acht Jahren von den Erben des Majors a.D. von Bleckstein gekauft – für wenig Geld. Damals 1913 waren die Grundstücke noch billig, besonders in dem kleinen Städtchen Scharnow, das einen sehr bescheidenen Ruf als Moorbad genoß und dessen Kurverwaltung froh war, wenn alljährlich zweitausend Badegäste sich einfanden und den Stadtsäckel und die diversen Säckel der braven Scharnower in ebenfalls bescheidenem Maße füllten.

Nachdem Lotte das Bild mit besonderer Sorgfalt gesäubert und das Staubtuch aus dem Fenster heraus ausgeschüttelt hatte, eilte sie leise und leichtfüßig die Treppe hinab in die Küche, legte Holz auf die noch im Herd schwelende Preßkohle, setzte den Wasserkessel in die Ringe und verließ das Haus durch den Hintereingang, nahm einen Eimer mit und füllte ihn unter der Pumpe.

Dabei wunderte sie sich, daß Treff nicht in seiner Hundehütte lag. Nun – Treff war ein unsolider Herr, hatte so seine Zeiten, wo er auf Liebesabenteuer ausging, von denen er oft arg zerrissen heimkehrte.

Lotte schaute die Straße hinunter nach der Stadt zu. Das Grundstück lag außerhalb des Städtchens auf einer Anhöhe. Sie wollte schon umkehren, als sie gerade gegenüber der Pforte im anderen Straßengraben nahe einem Chausseestein einen braunen Damenstrohhut mit einem Ferderstutz bemerkte.

„Komisch!“ sagte Lotte laut, „komisch – ein ganz netter Hut! Muß doch mal –“

Und da war sie schon über die noch regenfeuchte Straße gehuscht.

„Herr Gott!“

Sie stand wie angewurzelt.

Dort im Graben lag eine Frau, das Gesicht nach oben, die Augen geschlossen.

Lotte war nicht ängstlich. Wer wie sie seit Jahren dem Vater auf dem großen Grundstück allein die Wirtschaft führte und wer jeden Morgen das kalte Wasser so eifrig gebrauchte, der hatte keine Nerven.

Lotte war im Nu neben der in einen nicht mehr ganz tadellosen Reisemantel gehüllten Frau, bückte sich, faßte nach der Hand.

„Sie lebt. Nur bewußtlos. – Was tue ich?!“

Sie betrachtete die schlanke, zierliche Gestalt.

Dann hob sie sie auf, trug sie, eine leichte Last, in das Haus und legte sie im Wohnzimmer auf das Sofa.

Die Frau war bleich und konnte nicht mehr jung sein. Ihr braunes Haar war zerzaust und feucht. Aber ihre Kleider konnten dem Gewitterregen der letzten Nacht nicht ausgesetzt gewesen sein.

Lotte rieb ihr die Schläfen mit Essig ein.

Die Fremde seufzte plötzlich, schlug die Augen auf und schaute sich verwirrt um. Dann hob sie die rechte Hand und machte Lotte ein paar unverständliche Zeichen.

Lotte war ratlos, fragte dies und jenes und merkte erst nach einer geraumen Weile, daß die Frau taubstumm war.

Ihr Mitleid mit der Unbekannten wuchs.

Sie war so praktisch und so selbstständig, die blonde Lotte. Sie wußte schon, was hier zu tun war. Sie trug die Frau in das andere Giebelstübchen, das ihrem Zimmer, durch den Trockenboden getrennt, gegenüberlag. Dort stand eine Lagerstatt, die nie benutzt wurde.

Bald war die Fremde zu Bett gebracht, hatte auch heißen Kaffee getrunken und ein bißchen kalten Braten gegessen.

Lotte nickte ihr herzlich zu und ging den Vater wecken. Es war inzwischen sechs Uhr geworden.

Aber der alte Heinrizi war schon völlig angekleidet.

Lang, hager, mit grauem Künstlerbart und fast weißer Mähne, die leicht gelockt war, konnte man den Alten mit Recht als Charakterkopf bezeichnen.

„Morgen, Papachen –“

Lotte hatte ihn umschlungen und gab ihm einen Kuß.

Er brummte nur – wie stets.

„Papachen, gut geschlafen?“ fragte sie nun und hängte sich in seinen Arm ein. „Hat dich das Gewitter sehr gestört? Hu – ein paar Donnerschläge waren furchtbar –“

Sie führte ihn an den Kaffeetisch im Wohnzimmer, den sie schon gestern Abend gedeckt hatte.

„Ich bringe sofort den Kaffee,“ begann Lotte jetzt etwas zögernd und stützte sich ihm gegenüber auf einen Stuhl. „Hm – wir haben einen Gast bekommen, Papachen,“ fügte sie hinzu. „Eine taubstumme, recht entkräftete Frau oder Dame –“

„Weiß ich schon,“ knurrte er. „Landstreicherin. Habe Sie gesehen; hörte dich sprechen, Lotte. – Muß schleunigst raus, das Weib. Gefällt mir nicht, son Besuch –“

Lotte richtete sich auf. „Papa, sie ist vor Erschöpfung eingeschlafen. Wir werden Sie doch wohl erst etwas zu Kräften kommen lassen,“ sagte sie sehr bestimmt.

Thomas Heinrizi zuckte die Achseln. Das war seine ganze Antwort.

Lotte ging hinaus. Sie wußte, es war ihm nicht ernst mit dieser Ungastlichkeit und diesem Mangel an Mitgefühl.

Heinrizi blickte ihr nach. Etwas wie ein Lächeln flog um den harten Mund. Aber dieses stolze, frohe Lächeln änderte sich, wurde schmerzlich und qualvoll.

Er seufzte und stierte vor sich hin.

In seinem Gesicht wechselte der Ausdruck ständig.

Was mochte hinter der hohen, klugen Stirn des Einsiedlers sich abspielen? Was mochte seine Seele bewegen, daß sein Antlitz diesen wechselnden Empfindungen wie das Mienenspiel eines guten Schauspielers in jäher Veränderung nachgab? –

Lotte erschien mit dem großen Teebrett.

Als sie dem Vater die Tasse füllte, sagte sie so nebenbei:

„Treff treibt wieder um –“

„Hm – hörte ihn nachts zweimal heulen,“ meinte Heinrizi lebhafter. „Ja – es war ein böses Gewitter. Der Regen wird den Obstbäumen geschadet haben. Es schien auch zu hageln –“

„Nur kurze Zeit, Papa.“ –

Lotte biß herzhaft in die Butterschnitte hinein.

Dann erinnerte sie sich an etwas, das sie in der Nacht nicht weiter beachtet hatte, weil es zu alltäglich war – besser allnächtlich.

„Papa, die Irrlichter zeigten sich so gegen ein Uhr morgens wieder recht deutlich,“ erzählte sie, um die Unterhaltung nicht einschlafen zu lassen. „Ich war aufgestanden und ans Fenster getreten. Ich weiß nicht – so richtig wie Irrlichter –“

Sie schwieg und schaute den Vater erschrocken an.

„Papa – was ist dir?“ rief sie besorgt.

Thomas Heinrizi hatte sich verfärbt, und der Teelöffel, mit dem er das weichgekochte Ei soeben hatte verspeisen wollen, war ihm klirrend auf den Teller gefallen.

Lotte war zu ihm hingeeilt, beugte sich über ihn.

„Was soll das!“ brauste er da auf. „Mach’ dich doch nicht zum Narren. Mir fehlt nichts! – Setz’ dich und iß. In meinem Alter leidet man an Schwindelanfällen –“

„Pfui, du Brummbär,“ lachte Lotte. „Du hast mich wirklich erschreckt –“

Sie war schon wieder ganz beruhigt.

„Gib mir einen Kognak,“ bat er freundlicher. „Ich – ich habe wenig geschlafen –“ –

Als er das Gläschen zum Munde führte, zitterte seine Hand so stark, daß er etwas von dem Inhalt verschüttete.

„Man wird alt,“ murrte er und goß ein zweites Gläschen hinab. Dann erhob er sich.

„Will mal nach Treff mich umsehn, Lotte,“ brummelte er nur. „Kriegt Hiebe fürs Umhertreiben –“

Er nahm eine Zigarre aus der Kiste und verließ das Wohnzimmer.

 

 

2. Kapitel

Pensionat ‚Bergesblick’

Kerzengerade, stramm und mit weiten Schritten ging er, heftig qualmend und zuweilen ein paar Worte grollend ausstoßend, den Hauptweg hinunter, der den sanft ansteigenden Gemüsegarten in der Mitte teilte. Seine Blicke waren auf das winzige Kirchlein gerichtet, das da vor ihm am Ende des Gartens auf einer Bodenwelle sich erhob.

Diese kleine Kirche mit dem dicken, niedrigen Turm, dem Spitzdach mit den verwitterten Ziegeln und den drei hohen Fenstern auf jeder Seite hatte Thomas Heinrizi ebenfalls mit dem Grundstück erworben.

Jetzt diente das kaum fünfzehn Meter lange, uralte Kirchlein sehr weltlichen Zwecken. Es war Heinrizis Atelier!

Thomas Heinrizi umschritt sehr langsam das alte Gemäuer, hatte dabei den Blick fest auf den Boden gerichtet. Es schien, als suche er nach Fußspuren in der sandigen Erde.

Dann schloß er die einzige nur noch vorhandene Tür auf. Die beiden anderen hatte er vermauern lassen.

Die Tür fiel dröhnend ins Schloß.

Gleich darauf trug der Wind von der Stadt die hellen Schläge einer Turmuhr herüber. – –

Auch der Oberkellner vom ‚Bergesblick’ hörte sie und ließ das Fernglas sinken, seufzte enttäuscht und zog sich vom Fenster seines Zimmers zurück.

Das Pensionat ‚Bergesblick’ lag etwa vierhundert Meter nach Westen zu von Heinrizis Einsiedelei entfernt.

Der Herr Oberkellner Otto Löring konnte mit Hilfe des Glases alles genau beobachten, was in der tiefer gelegenen Einsiedelei vorging.

Löring war seit dem ersten Mai Frau Emma Plüschners ‚rechte Hand’. Noch nie war die dicke Besitzerin des ‚Bergesblick’ mit einem ‚Ober’ so zufrieden gewesen wie mit diesem. Und – wenn sie zwanzig Jahre jünger gewesen wäre, hätte sie sich fraglos in ihn verliebt.

Denn dieser Löring war wirklich zum Verlieben! Hübsch –? Nein, das war er nicht. Dazu war sein Gesicht zu mager und die Hakennase, messerscharf und kühn geschnitten, zu groß. Aber – er war das, was man ‚interessant’ nannte. –

Schlank, mittelgroß, ganz ruhige, abgerundete Bewegungen; schmale Hände mit tadellos gepflegten Fingern; ein Benehmen, das höflich, aber keineswegs unterwürfig war; eine Stimme, die etwas hart klang, dabei aber des Einschmeichelnden nicht entbehrte; und Augen von einem unbestimmten Grau, und einen Mund, dessen feine Linien durch den blonden Bürstenschnurrbart noch schärfer hervorgehoben wurden.

Das war Otto Löring. –

Er legte das Fernglas, ein wertvolles Trieder-Binokel, in seinen Koffer, schloß den ab und tauschte die grüne Morgenschnürjacke gegen den Frack um, der seine schlanke Figur noch besser zur Geltung brachte.

Er war unzufrieden, der patente Ober. Das sah man seinem Gesicht an. Er rauchte hastig ein paar Züge aus seiner Zigarette und murmelte:

„Ein verlorener Morgen! – Trösten wir uns; die Nacht war desto einträglicher –“

Dann schritt er die Treppen hinab, begrüßte in der Küche seine Brotherrin, die stets vergnügt lächelnde Frau Emma, und besprach mit ihr, was nötig war.

Sie ging nach vorn in die große Glasveranda, wo die fünf Tische für die Gäste bereits zum Frühstück gedeckt waren.

„Gewitter ist mir schrecklich,“ meinte Frau Plüschner. „Ich habe kein Auge zugetan. Die beiden Berliner kamen außerdem so spät nach Hause, daß sie mich ebenfalls störten. Sie sind ziemlich rücksichtslos. So laut im Flur zu sprechen! Ich glaube, sie waren angeheitert.“

„Möglich –“

Frau Emma blickte ihren Ober blinzelnd an.

„Haben Sie etwas gemerkt, Herr Löring?“

Seine Augen weiteten sich einen Moment.

„Was denn?“ flüsterte er zurück.

„Nun – der eine, der Moschler, scheint sich für die rotblonde Schauspielerin zu interessieren.“

„Ach so –“ – Das klang, als ob Löring erleichtert aufatmete.

„Tatsache!“ nickte Frau Emma. „Gestern abend war er mit ihr im Park.“

„Gott ja – die Bilbra ist ja auch recht fesch,“ meinte der Ober.

Frau Emma kam noch näher und flüsterte noch leiser:

„Und der Herr Syndikus Schlick hat vorgestern unser Lottchen in der Stadt attackiert! Stellen Sie sich vor, unser Lottchen! Angesprochen hat er sie, in der Musikalienhandlung von Weber. Und hat sich mit ihr zehn Minuten über Wagner unterhalten – Richard Wagner – Lohengrin, – den großen Wagner!“

„Nehm’s ihm nicht übel,“ lächelte Löring. „Fräulein Heinrizi wiegt hundert fesche Schauspielerinnen auf.“

Der Pikkolo stürzte herbei. Er stürzte immer. Anders wie im Galopp sah man ihn nie.

„Nr. 4 und 5 kommen,“ rief er leise.

Und wirklich – die beiden Berliner Gäste, Herr Syndikus Dr. Schlick und sein Freund, der Direktor Moschler betraten die Veranda.

Pikkolo Fritz, mit Vatersnamen Lemke, brachte das riesige Frühstückstablett.

Die beiden Herren begannen zu essen. Sie waren jetzt allein in der Veranda.

Dr. Schlick, dem das Monokel wie festgemauert im Auge saß, blickte sich vorsichtig um und meinte dann:

„Du, dieser Ober hat ganz merkwürdige Augen.“

„Stimmt. Der Kerl gefällt mir nicht.“

„Gestern unterhielt er sich mit ‚ihr’ sehr lange in der Küche. Die dicke Plüschner bezieht von Heinrizi das Gemüse.“

Direktor Moschler grinste geringschätzig.

„Ich bitte dich, Schlick, – ein Kellner!“

„Na ja. Aber – Weiber sind unberechenbar. Und nach dieser Nacht werde ich wohl noch stärker mich –“

Moschler hatte warnend gehüstelt. Er hob dann den Kopf und rief Löring, der am Fenster geradeüber dem Tisch der beiden stand, ärgerlich zu:

„Es zieht, Ober. Schließen Sie das Fenster –“

„Bitte sehr, Herr Direktor.“ Und der Ober schlug den Fensterflügel zu.

„Der Mensch spioniert,“ flüsterte Moschler und nahm das zweite Ei. „Der Bursche ist mir wahrhaftig unbehaglich. – Ah – da kommt Helene –“

Die Schauspielerin Helene Bilbra schwebte vorbei, neigt wie grüßend den Kopf und sagte sehr melodisch:

„Guten Morgen, meine Herren.“

Nr. 4 und 5 waren aufgestanden und hatten sich verbeugt.

Pikkolo Fritz stürzte schon mit einem zweiten Riesentablett herbei.

Die gepuderte, überschlanke Bilbra mit den Nixenaugen hatte sich an ihren Tisch gesetzt. Sie blieb nicht lange allein.

Nr. 7 erschien! Herr Theodor Meier, in Firma Westermann und Meier, aus Frankfurt a. O.

Er ging am Stock und er grüßte die Berliner und die Bilbra sehr verlegen.

Er war immer verlegen, dieser junge, blonde Mensch mit den treuen, braunen Dackelaugen. Er stotterte etwas und das machte ihn befangen. Außerdem hatte er sich im Kriege Gelenkrheuma geholt, hinkte und kam sich wie ein Krüppel vor. Schließlich war er aber auch nur der Sohn vom ‚alten Meier’ und Prokurist der großen Wäschefirma. Nur Geld hatte er in Hülle und Fülle und dazu ein sehr liebebedürftiges Herz. –

Vergebens schaute er sich jetzt nach dem Tisch um, der für ihn gedeckt war. Da – er hätte diesen Tisch ja sofort an seiner silbernen Serviettenhülle erkannt.

Jetzt rief Helene Bilbra ihm liebenswürdig zu:

„Ach, Herr Meier, der Fritz hat aus Versehen Ihr Gedeck auf meinen Tisch gelegt. – Bitte, kommen Sie nur. Wir werden uns schon vertragen.“

Theodor Meier wurde blutrot. Aber – er mußte zeigen, daß er Weltmann war! Er mußte diese verdammte Schüchternheit niederzwingen.

So setzte er sich denn zu der Schauspielerin und fragte, vor Verlegenheit untern Tisch sich die Finger knetend, wie sie geschlafen hätte. Das Gewitter sei doch sehr störend gewesen. –

Theodor war bisher nur ein einziges Mal das Glück beschert gewesen, mit der Bilbra sprechen zu dürfen. Er war viel zu harmlos, um jetzt zu ahnen, daß die Rotblonde den ‚stürzenden’ Fritz regelrecht bestochen hatte.

Meier aus Frankfurt plätscherte in Wonne. Und wie! Ja – die beiden Berliner würden ihn schön beneiden! Die wollten sich doch auch an die Bilbra heranmachen. Aber sie war ja so ablehnend Herren gegenüber.

Das Frühstück war ihm wie ein Göttergeschenk. Zumal die beiden Berliner, die ihn so etwas herablassend zu behandeln beliebten, offenbar vor Neid platzten. Aller Augenblick schauten sie herüber. –

Und wieder erschienen zwei neue Gäste: Frau Gutsbesitzer Schmierolt und Tochter. – Frau Schmierolt litt an einem Dutzend Krankheiten, von denen die Scharnower Moorbäder sie befreien sollten.

Über diese Frau Schmierolt ist nicht viel zu sagen: groß, dick, scheinbar strotztend vor Gesundheit und reich – enorm reich.

Schmierolts hatten nur eine Tochter. Den Gesetzen der Vererbung nach hätte dieses Töchterlein ein Ausbund von Häßlichkeit sein müssen. Es war nicht der Fall.

Marie war jetzt neunzehn und war, entsprechend dem niedlichen Witz der Mutter Natur, niedlich und lieblich. Sie hatte wundervolles braunes Haar, wundervolle braune, reine Kinderaugen, eine reizende, volle Figur – und vor der Mama ungeheuer viel Respekt.

Marie war als Name jetzt zu plebeisch geworden – nach Frau Schmierolts Ansicht. Marie hieß jetzt Maja. Und als diese Maja nun den Lebemann Meier Frankfurt a. O. mit der gepuderten Rotblonden an einem Tisch sitzen sah, verfärbte sie sich, wurde rot und erwiderte Theodor Meiers tiefe Verbeugung nur mit einem geradezu entsetzten Blick. –

Bisher war nämlich Theodor der treue Begleiter der beiden Schmierolts gewesen. Gestern jedoch hatte Frau Schmierolt ihm durch die Blume zu verstehen gegeben, daß Maja nur einen ‚Juristen’ heiraten würde. Wodurch Theodor allen Mut verloren und gedacht hatte: ‚Du bist nur ‚Wäsche en gros’! Also laß die Finger davon weg und halte dich an weniger anspruchsvolle Damen.’ –

Dieser Entschluß war ihm nicht ganz leicht geworden. Maja war ein so liebes, zutrauliches Mädel. Aber – gegen diese Mama war nicht aufzukommen.

Frau Schmierolt führte jetzt, nachdem sie sich gesetzt hatte, das Lorgnon mit der funkelnden Linken an die Augen, warf einen Blick nach Theodor Meier hin und sagte zu Maja:

„Empörend! Diesen Menschen kennen wir nicht mehr! Mit diesem Weibsbild zusammen zu frühstücken. Da sieht man, was an ihm dran ist –“

Maja schwieg. Sie war traurig. Theodor hatte ihre gefallen. Sie hatten so nett über alles mögliche geplaudert. Er war so anders wie der Dr. Schlick mit dem Monokel und wie der Direktor Moschler.

Jetzt wurde auch der fünfte Tisch besetzt, von Herrn Studienrat Groller mit Gattin, die ebenfalls jeden Vormittag in die Moorwanne krochen wie alle übrigen. –

Das waren die ersten Gäste des ‚Bergesblick’.

Um neun Uhr verließen die Herrschaften das Pensionat – immer zu zweien, und begaben sich nach dem Warmbad in das Städtchen, um den wundertätigen Schlamm auf ihre diversen Leiden wirken zu lassen.

 

 

3. Kapitel

Unklare Gefühle

Zu derselben Zeit stand Thomas Heinrizi in seinem Atelier vor einer Staffelei und betrachtete ein Ölgemälde, das man für sehr alt und für einen holländischen Meister halten konnte. Es stellte eine Dame mit Federhut dar und war ganz in der Manier Rembrandts ausgeführt. Selbst der Rahmen, wurmstichig und brüchig, wirkte durchaus echt – das heißt: antik!

Heinrizi brummte etwas vor sich hin. Dann schob er die Staffelei anders gegen das Licht und murrte:

„Es muß noch mehr nachgedunkelt werden. Dann geht’s –“

Ein höhnisches Lächeln verzog seinen Mund.

Aber – die rechte Freude an diesem so gut wie vollendeten ‚alten Meister’ hatte er doch nicht.

Er zog einen Armsessel herbei und setzte sich.

Sein Blick glitt über das Atelier hin. – Die Wände hatte er selbst mit allegorischen Bildern ausgemalt. An den freien Stellen hingen echte Perserteppiche und kostbare indische Gewebe, Waffen, Bilder und lange Paneele, die mit Krügen und Kristallsachen bestellt waren.

Thomas Heinrizis Augen blieben auf dem einen Fenster haften. Sie waren sämtlich vergittert. Heinrizi hatte diese Gitter anbringen lassen, ebenso wie er auch den Eingang noch mit einer zweiten Stahltür geschützt hatte.

„Ohne Leiter käme niemand an die Fenster heran, murmelte er mit tief gerunzelter Stirn. „Und Spuren einer Leiter fand ich nicht –“

Wieder irrte sein Blick umher. Das beklemmende Gefühl legte sich abermals auf seine Brust.

„Wer weiß, was Lotte gesehen hat,“ suchte er sich diesen Druck auszureden. „Doch – sie ist kein Zierpüppchen. Sie sieht nicht Gespenster –“

Er lachte auf.

„Die Irrlichter! Ja – ja, Thomas Heinrizi. Du steckst im Sumpf – moralisch!“ Seine Lippen kniffen sich fest zusammen.

Eine Weile schwieg er. Dann:

„Sumpf – Sumpfpflanze! Aber – ich wäre sonst verrückt geworden!“

Er sprang auf und reckte die Arme hoch.

Sein höhnisches Lachen hallte in dem gewölbten Raum fast dröhnend wider.

„Eine Rache muß man haben!“ flüsterte er, indem er auf und ab zu gehen begann.

Dann blieb er vor dem Altarblock stehen.

Vier große Steinplatten waren hier in den Fliesenboden eingefügt in Kreuzform. Sie zeigten eingemeißelte lateinische Inschriften.

Er starrte auf die eine Platte, in die ein großer Eisenring eingelassen war. Seine Gedanken waren schon wieder bei der dumpfen Angst, die ihn heute früh infolge Lottes Erwähnung der Irrlichter gepackt hatte.

Mit einem Mal bückte er sich und murmelte:

„Nachsehen kann man immerhin. Die Kellerfenster sind zwar viel zu klein für –“

Da hatte er die Platte schon angehoben. Eine Treppe lief hier in die dämmrige Tiefe hinab.

Thomas Heinrizi stieg die Ziegelstufen bedächtig hinunter. – Der Kellerraum war klein, erstreckte sich nur bis zur Hälfte der Kirche. In der dicken Mauer aus Felssteinen befanden sich auf jeder Seite vier runde Öffnungen vom Durchmesser eines Menschenkopfes. Bleigefaßte Scheiben, aus buntem Glas zusammengesetzt, verschlossen sie.

Das Gewölbe war bis auf einen Haufen morscher Kirchenbänke aus früheren Zeiten leer.

Der weißköpfige Maler stand lange still da – dann war er plötzlich verschwunden. – –

Im Wohnhaus gab Lotte der alten Reinemachfrau, die zweimal in der Woche bei den gröberen Arbeiten half, die nötigen Anweisungen.

„Ich bringe Erdbeeren nach dem ‚Bergesblick’, Frau Sommer,“ sagte sie zum Schluß. „In einer Stunde bin ich zurück –“

Sie nahm das Körbchen mit den Früchten, nachdem sie die große Wirtschaftsschürze abgeworfen hatte, und schritt durch den Gemüsegarten leichtfüßig zu hinteren Zaunpforte.

Lotte trällerte mit den Lerchen um die Wette.

Ihr war so froh und leicht zu Mute. Die Sorge um des Vaters merkwürdige Aufregung war schon wieder vergessen.

Sie sang und dachte dabei so an allerlei.

An der Ostpforte des Parkes war jetzt der Herr Ober aufgetaucht, der vor vier Minuten noch in der Verandatür gestanden hatte.

Lotte erblickte ihn nicht. Aber er sah Lotte.

Und er beobachtete sie still, wie sie so frisch und fröhlich, gesund und kräftig daherkam und trat ihr in den Weg. –

„Ah – Herr Löring!“ stieß sie hervor, als sie ihn nun erspähte.

Sie reichte ihm die Hand.

„Guten Morgen. – Hu – was sehen Sie heute finster aus! Und bei dem Sonnenschein!“ meinte sie in ihrer ganzen berückenden Frische und Natürlichkeit. „Hören Sie nur, wie dort der Kuckuck ruft. Haben Sie auch Geld bei sich? Sie wissen doch, ruft er zwölfmal, dann wird man reich –“

Er blieb ernst.

„Reich werde ich nie werden, Fräulein Heinrizi,“ sagte er mit einem zerstreuten Blick auf das Kirchlein hin. „Ich verstehe das Geld nicht festzuhalten. Es ist mir alles in dem Sumpf gerollt –“

Er hatte sich an den Posten der Pforte gelehnt.

„In den Sumpf?“ fragte Lotte lächelnd. „Das ist mir zu hoch. In welchen Sumpf?“

„Es gibt allerlei Sümpfe, Fräulein Heinrizi.“ Er holte ein silbernes Zigarettenetui hervor und knipste das Feuerzeug an. Nach ein paar Zügen aus der Zigarette fügte er hinzu:

„Haben Sie ein Weilchen Zeit für mich?“

Lotte war im ersten Moment etwas verstimmt.

„Ja,“ nickte sie dann und dachte: ‚Ach was – du bist doch nicht so albern, dich daran zu stoßen, daß er nur Oberkellner ist. Er ist nett und höflich. Und sicherlich will er etwas von dir – aber was?!’

„Dann wollen wir uns dort auf die Bank setzen,“ bat er.

Als sie Platz genommen hatten, hielt Lotte ihm den Korb mit Erdbeeren hin.

„Da – kosten Sie. Es sind die ersten in diesem Jahr –“

Er langte zu, zog die Hand aber wieder zurück, blickte sie ganz eigen an und meinte:

„Nur, wenn Sie sie mir reichen –“

Sie schüttelte den Kopf. „Sind Sie komisch, Herr Löring!“

Dann nahm sie die größte Erdbeeren am Stengel zwischen Daumen und Zeigefinger und ließ ihn so die Frucht naschen – ohne jede Spur von Koketterie.

„Wie entzückend Sie sind,“ sagte Löring weich.

„Die Erdbeeren?“ fragte sie etwas verwirrt. Und fuhr schnell fort: „Und der Sumpf?!“

Er holte tief Atem.

„Ja – dies Sümpfe – oder meinetwegen auch der Sumpf. Es ist ja schließlich immer derselbe Sumpf. Nur daß der eine nur am Rande einsinkt und sich wieder herausarbeitet, der andere aber so tief hineingerät, daß er das Schwimmen im Sumpf lernen muß, wenn er nicht untergehen will. Und diese Sumpfschwimmer –“

„Sumpfblumen,“ lachte Lotte belustigt, denn sie verstand nichts von dem, was Löring andeutete. Sie lachte und ahnte nicht, daß ihr Vater in seinem Atelier soeben etwas Ähnliches gemurmelt hatte.

„Gut – Sumpfpflanzen,“ fuhr der merkwürdige Ober ebenso ernst fort. „Von Sumpfblumen wollen wir lieber nicht sprechen. Blumen sind immer etwas Schönes. Man verbindet mit dem Namen etwas Poetisches. – Also diese Sumpfpflanzen, das sind jene Gestrauchelten, die sich in diesem ‚Milieu’, wie man so schön sagt, sehr wohl fühlen oder aber zu schwach sind, an das feste Land sich wieder hinüberzuranken –“

Jetzt wurde Lotte doch aufmerksam.

Sie blickte ihn von der Seite an. Er fühlte den Blick, schaute aber weiter geradeaus und fügte leiser hinzu:

„Der Kuckuck rief. Mein Geld rollte in den Sumpf. Und ich –“

Er schwieg.

Lotte wurde ganz beklommen zu Mute.

„Und – und sie?“ fragte sie zögernd.

Er wehte mit der Hand den Rauch seiner Zigarette weg.

„Lassen wir das Thema,“ meinte er und richtete sich etwas auf, drehte sich halb um und hatte Lottes Gesicht nun dicht vor sich.

„Etwas anderes, Fräulein Heinrizi. – Ich muß Ihnen leider einen Schmerz zufügen. Sie lieben Ihren Treff, diesen treuen Wächter.“

„Wie – ist er etwa – tot?“ rief sie schmerzlich, und ihre Augen wurden feucht.

„Ja – leider –“

Sie schluchzte auf.

„Ich fand ihn heute – heute früh. Er liegt dort drüben in einer Kiesgrube verschüttet. Das Erdreich hat wohl nachgegeben und ihn erstickt –“

Lotte blickte ihn forschend an.

„Das – das kann nicht sein,“ meinte sie und trocknete die Augen. „Ein Hund arbeitet sich leicht hervor, wenn –“

Er hatte ihr plötzlich die Hand auf den Arm gelegt.

„Fräulein Heinrizi, wir kennen uns jetzt beinahe vier Wochen. Wenn Sie mir zu schweigen versprechen, möchte ich mich Ihnen in einer Sache, die mir noch reichlich unklar ist, anvertrauen.“

Sie zog ihren Arm zurück. Sie fand diese Berührung doch sehr unangebracht.

„Entschuldigen Sie,“ meinte er gelassen. „Ich bin nur Oberkellner –“

Sie starrte vor sich hin. „Was wünschen Sie eigentlich?“ fragte sie kurz. „Ich habe nicht lange Zeit –“

„Nichts!“ –

Er stand auf, warf die Zigarette in den Sand und trat die Glut mit der Fußspitze aus.

Lotte war rot geworden. Ganz scheu sah sie zu ihm auf.

„Habe ich Sie verletzt?“ fragte sie hilflos. „Oh – das wollte ich nicht –“

Sein Mund verzog sich blitzschnell. Dieser Anflug eines besonderen Lächelns verschwand wieder.

„Nein. – Gehen wir, Fräulein Heinrizi.“

Sie erhob sich gleichfalls. „Bitte sagen Sie mir doch, was Sie mir anvertrauen wollten.“

Sein Gesicht war auf die Einsiedelei gerichtet.

„Ich habe mir’s anders überlegt,“ erwiderte er seltsam hart. „Gehen wir –“

Stumm schritten sie den Waldpfad entlang.

Lotte war plötzlich so schwer ums Herz.

„Ein häßlicher Tag!“ stieß sie ärgerlich hervor. „Und dabei scheint die Sonne so wundervoll –“

„Häßlich? Inwiefern?“

Sie wollte ihn versöhnen. Sie merkte, daß sie ihn ein wenig beleidigt hatte.

Und daher erzählte sie, was dieser Tag ihr bisher gebracht hatte.

„Der fremden Frau wegen werde ich mit Papa vielleicht noch Auseinandersetzungen haben,“ erklärte sie unter anderem. „Ich kann sie doch nicht sofort wegschicken. Und Papa duldet keine Leute im Hause, wer es auch sei. Wenigstens nicht für längere Zeit. – Nun noch Treffs Tod. Ach – ich bin ganz unglücklich! So ein häßlicher, trauriger Tag –“

Otto Löring war stehen geblieben. Das große, dreistöckige Pensionat schimmerte schon durch die Bäume hindurch.

„Sie erwähnten da soeben Irrlichter, Fräulein Heinrizi,“ sagte er und beobachtete unauffällig ihr Gesicht. „Sie sahen in dieser Nacht Irrlichter?“

„Ja. Aber – aber ich soll darüber nicht sprechen, Herr Löring. Papa will es nicht. Die Scharnower sind so abergläubische –“

„Irrlichter? – Also jedenfalls eine Lichterscheinung?“ suchte er sie auszuholen.

„Ja – wenn Sie nicht darüber reden würden –“

„Gewiß nicht –“

„Die Irrlichter sah ich zum ersten Mal kurz nach unserem Einzug hier. Ich kann von den Fenstern meines Zimmers den Hügel bequem überblicken, auf dem das Kirchlein steht. Und die Irrlichter tanzen immer unten an der Mauer der Kirche hin und her –“

„Immer?“

„Nun – ich meine, wenn ich sie bemerke. Ich passe ja nicht gerade darauf auf. – Nein – ich habe so viel Arbeit, daß ich zumeist sehr fest schlafe –“

Sie lächelte Löring an. „Jetzt wissen Sie das große Geheimnis, Herr Ober.“ Sie machte ihm einen lustigen Knicks. „Und jetzt sind Sie auch nicht mehr böse, gelt?“

Löring verbeugte sich. „Noch eine Frage, Fräulein Heinrizi. – Das Atelier Ihres Vaters soll sehr kostbar eingerichtet sein. Stimmt das?“

„Nun ja – für heutige Verhältnisse, wo ein Seidenperser fünfzigtausend Mark kostet. Und der Papa hat sechs Stück davon –“

Löring ging weiter.

„Wenn man das Atelier doch mal sehen könnte, Fräulein Heinrizi!“

„Oh – das läßt sich machen. Sie sind ja nicht Künstler.“

Vom Hause her eine Stimme, die des ‚stürzenden’ Fritz:

„Herr Oberkellner – neue Gäste!“

 

 

4. Kapitel

Die Verführer

Lotte hatte noch eine Viertelstunde bei Frau Emma Plüschner in der Küche gesessen. Frau Emma war da auch auf Dr. Schlick beim Plaudern gekommen, hatte Lotte die Wangen gestreichelt und gemeint:

„Kindchen, das wäre was für Sie! Son nobler Mann! Mit Monokel! Und alles seidene Wäsche!“

Worüber Lotte sehr rot geworden war, denn Dr. Schlick war ja wirklich wie ein Romanheld. –

Nun ging sie heim und suchte in den früheren Kiesgruben nach Treff, fand ihn auch.

Nur der Kopf ragte aus der Erde heraus.

Lotte weinte bitterlich. Sie dachte auch an den Papa. Der hing genau so wie sie an dem ‚Umhertreiber’. –

Traurig setzte Lotte ihren Weg fort. Als sie um ein paar Büsche bog, lag da lang ausgestreckt im Gras eines Feldrains – Herr Syndikus Schlick und las Zeitung.

Lotte begann das Herz zu klopfen.

Sie blieb stehen. Er hatte sie noch nicht bemerkt. Sollte sie umkehren?

Da – Dr. Schlick hatte in der Zeitung wohl ein Gedicht gefunden und las es sich halblaut vor:

Die Liebe ist wie Geigenklingen

Und wie der Engelein holdes Singen.

Mein Mädel, öffne nur das Ohr,

Dann hörst du auch den Liebeschor.

 

Die Liebe ist wie Blüten bunt,

Ist wohl der allerbeste Fund.

Mein Mädel, such’ dir diese Blüten,

Die nur für dich in immer erglühten.

„Ach – das muß ich dieser süßen Lotte vordeklamieren!“ sagte Dr. Schlick jetzt begeistert, sprang auf, drehte sich um und – riß den Hut vom Kopf.

„Oh weh, mein gnädiges Fräulein, da haben Sie mich ja gerade bei Gedanken erwischt, die Sie mir nicht verargen dürfen,“ meinte er mit gewinnendem Lächeln und streckte Lotte die Hand hin. „Wie ich mich freue, Sie hier zu treffen! Ich hatte heute keine Lust, in den Schlamm zu steigen. Sie verstehen; Moorbad! Scheußlich!“

Er küßte ihr die Hand.

Lotte war so verwirrt, daß sie kein Wort herausbekam.

Er half ihr schnell über diese Verlegenheit hinweg. – Und auch Lotte war ein viel zu natürlich denkender Mensch, um nicht ebenfalls sehr bald sich in seinen leichten Plauderton hineinzufinden.

Sie kamen so an die Hinterpforte des Obstgartens.

Dr. Schlick seufzte. „Wie gern würde ich mir mal das Atelier ansehen. Aber Ihr Herr Vater soll ja –“

„Nein, nein, – treten Sie ein, Herr Doktor,“ fiel ihm Lotte übermütig ins Wort. „Sie sind ja Jurist. Und gegen diese Herren hat Papa keine Abneigung –“

„Famos!“ lachte Schlick. „Famos! Also überfallen wir den alten Herrn.“ –

Thomas Heinrizi hatte inzwischen das Kirchlein wieder verlassen und war hinauf in das Giebelstübchen gegangen, um nach der taubstummen Fremden zu sehen.

Sie schlief nicht mehr, saß fertig angezogen am Fenster.

Als Heinrizi eintrat, blieb sie sitzen, ohne sich zu regen.

‚Sie hört ja nicht,’ dachte Heinrizi.

Er näherte sich ihr. Da fuhr sie erschrocken hoch. Er machte eine beruhigende Handbewegung, suchte sie durch Zeichen zu fragen, ob sie etwas genießen wolle. – Sie verstand und nickte.

Sie war offenbar noch sehr schwach. Er stützte die schmächtige Gestalt, führte sie hinab in das Wohnzimmer, rückte ihr einen Korbsessel an den Tisch und schrieb auf ein Stück Papier mit Bleistifte:

‚Wer sind Sie?’

Sie las und schrieb darunter:

‚Eine Unglückliche, die keine Heimat hat, – eine, die sterben möchte –’

Er prüfte ihre Handschrift. Es war ein charakterloses Gekritzel wie das eines Kindes. –

Heinrizi schaute in den Garten hinaus. – ‚Eine Gestrauchelte!’ dachte er. ‚Vielleicht wirklich eine Unglückliche. Gerade du darfst nicht hart sein ihr gegenüber –’

Und er schrieb als seinen Entschluß auf dasselbe Blatt: ‚Sie können vorläufig hier bleiben. Helfen Sie meiner Tochter in der Wirtschaft. Ihr Name ist mir gleichgültig. Wir heißen Heinrizi.’

Sie überflog die Zeilen, haschte dann nach seiner Hand und wollte einen Kuß darauf drücken.

Unwillig stampfte er mit dem Fuß auf, ging hinaus und holte ihr allerlei gute Dinge zum Frühstück.

Als er noch in der Küche war, betraten Lotte und Dr. Schlick das Zimmer.

Lotte wies auf die Fremde. „Das ist die Frau, Herr Doktor. – Warten Sie bitte, ich hole Papa. Nehmen Sie doch dort am Fenster Platz.“

Kaum hatte sich die Tür hinter ihr geschlossen, als Schlick auch schon neben die Fremde trat, sich über sie beugte und ihr etwas zuraunte, worauf sie durch ein Kopfnicken antwortete.

Dann setzte er sich wieder an das Fenster. –

Heinrizi war nachher zu ihm leidlich höflich, taute sogar in gewissem Grade auf und erklärte Dr. Schlick bei der anschließenden Besichtigung des Ateliers einzelne exotische Gegenstände.

Lotte war recht froh, daß der Papa zu Schlick höflicher als zu anderen Besuchern war.

Sie hatte sich sogar heute zu einer kleinen Diplomatin ausgebildet, hatte den Papa noch nichts von dem Tod Treffs erzählte, um ihm die gute Laune nicht zu verderben.

Sie war mit in das Atelier gegangen, und hier richtete Schlick das Wort mindestens ebenso oft an sie wie an den Maler. –

Merkwürdig, auf der Staffelei, wo vorhin der ‚Rembrandt’ gestanden hatte, war jetzt eine moderne, halb fertige Herbstlandschaft zu sehen. –

Das alte Bild war nirgends zu bemerken. –

Schlick blieb etwa eine Stunde. Dann verabschiedete er sich und bat, ob er nicht gelegentlich wieder vorsprechen dürfe. Dabei hing sein Blick mit schlecht verhehlter Bewunderung an Lottes frischer Erscheinung.

„Hm – leben ganz einsam,“ knurrte Thomas Heinrizi und blickte Schlick jetzt ganz grimmig an. „Liebe die Menschen nicht. wohne hier nicht, um schöngeistigen Salon zu eröffnen –“

„Papa!“ mahnte Lotte.

„Na ja – wenn Sie mich ungeschoren lassen, Herr Doktor, – so hin und wieder – Morgen, – auf Wiedersehen –“

Er schritt schnell den Hügel hinab und ließ Lotte und den Syndikus stehen.

Lotte lächelte verlegen.

„Sie dürfen ihm das nicht so –“

„Aber ich bitte Sie,“ sagte er rasch, nahm ihre Hand und küßte sie. „Ihretwegen stecke ich noch mehr ein, Fräulein Lotte –“

Sie riß ihre Hand aus der seinen.

„Nicht – nicht dies!“ stammelte sie. „Ich bin nur ein schlichtes Mädchen –“ –

Sie begleitete ihn dann bis zur Hinterpforte.

Und als sie ins Haus zurückeilte, noch ganz erfüllt von diesem ersten Erlebnis, das an ihr keusches Herz gerührt hatte, traf sie im Flur mit dem Vater zusammen.

Seine Augen suchten die ihren. Sie wurde rot, zitterte. Sie wußte selbst nicht, weshalb.

„Aha – so steht’s!“ knurrte Heinrizi. „So steht’s! Da bin ich allerdings machtlos! Dann werde ich wohl sehr bald allein sein –“

„Papa!“ – aufschluchzend warf sie sich an seine Brust. „Papa – oh – dieser häßliche Tag! Treff ist tot, und nun –“

„Wie – Treff tot?!“ – Er schob sie von sich, hielt sie an den Handgelenken fest.

Der Gedanke an den Hund drängte jetzt auch bei ihr alles andere zurück.

„Der Oberkellner hat ihn gefunden, Papa.“ –

Sie erzählte.

Und Heinrizi fragte so allmählich alles aus ihr heraus, was sie mit Löring gesprochen hatte, – alles; auch die Perserteppiche wurden erwähnt.

Der Maler pfiff durch die Zähne.

„Muß mir Treff ansehen,“ sagte er dann.

Und er stürmte davon. Noch nie hatte Lotte den Vater in dieser Weise laufen sehen. –

Heinrizi kniete neben dem Tier, dessen Körper er mit den Händen freigelegt hatte.

Nach fünf Minuten erhob er sich. Seine Stirnadern waren geschwollen.

„Deshalb die Irrlichter! Deshalb!“ murmelte er. „Es war also doch jemand dort. Der Hund ist erwürgt worden, der Schädel halb zertrümmert. – Na, warte, Bursche! Oberkellner! Spitzbube –!“

Er schwieg. – Um seinen Mund prägten sich die Falten bitterer Seelenpein schärfer aus.

Und dann lachte er lautlos, verächtlich:

„Auch einer aus dem Sumpf. – Auch einer! Trotzdem – ich werde mein Eigentum schützen!“

Langsam ging er der Einsiedelei wieder zu.

Am Fenster droben im Zimmer Lörings stand ein Mann, mit dem Fernglas an den Augen.

Er hatte beobachtet, wie Heinrizi den Hund untersuchte.

‚Nun weiß er es,’ dachte Otto Löring.

Und sein Glas nahm eine andere Richtung.

Dort steckten hinter den Büschen zwei der Gäste des Pensionats: Schlick und Moschler.

Löring lächelte überlegen.

„Ich werde euch beweisen, wer schlauer ist,“ flüsterte er vor sich hin. „Bin hier ja sehr am Platze! Spieler und Gegenspieler! Nur los – die Partie hat begonnen! Bald sage ich: Nichts – geht – mehr! Ab dafür!“ – Und das Lächeln verstärkte sich noch. –

Auch Herr Direktor Moschler hatte heute auf das Bad verzichtet. Und Schlick und er schauten jetzt Heinrizi nach, der gerade die Gartenpforte hinter sich zuschlug.

Sie warteten noch eine Weile in ihrem Versteck und schlenderten dann dem Park des Pensionats zu.

„Die Geschichte macht sich,“ meinte der Syndikus. „Das Mädel ist ja ein solches komplettes Schäfchen, das man manchmal losbrüllen möchte. Noch drei Tage, und sie ist reif.“

„Na na!“ warnte der Direktor Moschler. „Nur nicht zu siegesgewiß, Freundchen!“

„Na wenn schon! Es ist ja doch nur das zweite Eisen, das wir im Feuer haben. Margot hat die Sache so geschickt angefangen, daß der Alte sie behält – vorläufig wenigstens. Ihr genügen ein paar Tage. Und diesen Meier können wir ebenfalls gut brauchen. Helene versteht’s! Dem Ober aber wird nachher eine sehr heiße Suppe serviert – so heiß, daß er sich gehörig den Mund verbrennt.“ –

Als sie den Park betraten, kam ihnen Helene Bilbra entgegen.

Die beiden Herren grüßten höflich.

Dann aber sagte Schlick, nachdem er sich vorsichtig umgeschaut hatte:

„Na, Schatz, was macht dein Frankfurter?“

Sie lachte. „Ein Idiot, ein Gefühlsmensch –“

„Desto besser!“ grinste Moschler, der Direktor der Auskunftei Helios in Berlin war. „Ich werde mich jetzt an die Landpomeranze, die dicke Schmierolt, heranschlängeln und der durch Theodorchen enttäuschten Maja den Hof machen. Die Olle is jenau so lohnend wie der Meier.“ –

Dieser arme Theodor Meier lag jetzt in seinem Zimmer auf dem Diwan und erholte sich von dem Bad, las einen Roman und dachte doch nur an dieses blendende Weib, die Bilbra.

Dann klopfte es. – Löring trat ein.

„Verzeihen Sie die Störung, Herr Meier,“ begann er leise, nachdem er sich vor den Diwan gestellt hatte. „Dürfte ich ein paar Worte im Vertrauen mit Ihnen reden –“

Meier setzte sich aufrecht.

„Das klingt ja ganz geheimnisvoll –“

„Ist es auch in gewisser Beziehung, Herr Meier. Sie müßten mir aber vorher Ihr Wort geben, gegenüber jedem zu schweigen –“

„Donner noch eins – das wird interessant.“

Meier war, wenn er mit dem Ober sprach, durchaus nicht verlegen. Das war ja nur ein Kellner.

„Habe ich Ihr Wort, Herr Meier?“ fragte Löring flüsternd.

„Mann – was soll das?! Eine Weibergeschichte?“

Löring nickte.

„Gut – also mein Wort –“

„Ich möchte Sie warnen – vor Fräulein Bilbra,“ sagte der Ober sehr ernst. Sie ist nicht das, was sie scheint.“

„Oho!“ Theodor Meier erhob sich. „Oho, mein Lieber! Was ist sie denn?“

„Das weiß ich noch nicht –“

„Mann – Sie sind übergeschnappt!“ rief Meier empört. „Sie verdächtigen hier eine Dame, die –“

Lörings Lächeln machte ihn noch wütender.

„Scheren Sie sich zum Teufel,“ sagte er drohend. „Und wenn Sie mir nochmals –“

Löring verbeugte sich.

„Ich gehe schon –“

Als er hinaus war, lachte Theodor ironisch auf.

‚Der Kerl scheint es selbst auf die Bilbra abgesehen zu haben!’ dachte er. ‚Forsch ist er ja. Aber – die rotblonde Helene und ein Kellner – einfach albern.’

Er legte sich wieder auf den Diwan.

Doch – damit war die Sache nicht abgetan.

‚Hm – er muß doch Grund zum Argwohn haben,’ überlegte er. ‚Ich hätte ihn nicht so grob anfahren sollen –’

Und wie das so kommt – jedes Sandkörnchen des Mißtrauens bringen wir stets durch unsere eigenen Gedanken zum Keimen. – So erging es auch Theodor Meier. Und weil seine Begeisterung für die ‚mondäne’ Bilbra dadurch abgekühlt wurde, tauchte aus einer Versenkung seines Herzens die Andere wieder auf: Maja!

Und – da seufzte er! –

‚Himmel – wenn ich doch nur Jurist wäre!’, schoß es ihm durch den Kopf. ‚Dann – dann würde diese ekelhafte Frau Gutsbesitzer mich nicht so von oben herab behandeln wie einen Schuhwisch. – Natürlich – Maja ist ja ganz was anderes als Helene. Helene ist Großstadt, ist ein Stück Berlin, kommt aus dem Sumpf! Und Maja – das ist die schöne, schlichte Kornblume vom Felde –’

Er fand diesen Vergleich sehr schön und schlief schließlich ein. –

Im Park dicht vor dem Pensionat saßen Frau Schmierolt und ihre Tochter.

Maja beobachtete zwei Grasmücken, die in einer nahen Tanne ihr Nest hatten. Frau Schmierolt tat gar nichts. Sie hatte nur Hunger – wie immer.

Direktor Moschler schlängelte sich heran, begrüßte die Damen, durfte platznehmen und erzählte von Berlin.

Frau Schmierolt erfuhr dann auch, daß er früher Assessor gewesen sei und nun seine Auskunftei verkaufen und ebenfalls wie sein Freund Schlick Syndikus werden wolle.

Oh – das freute Frau Schmierolt. Und sie meinte, Maja und Moschler sollten doch eine Weile im Park spazieren gehen. Sie müsse jetzt nach dem Bad etwas ruhen.

Auf dem Zimmer schrieb sie ihrem Gatten einen Brief, in dem auch der Satz vorkam:

‚Moschler ist ein wahrer Gentleman, vermögend und frißt Maja rein mit den Blicken auf –’

Und während sie dies dem treuen Gatten daheim schriftlich auseinandersetzte und ihm vorschlug, sich doch mal nach Herrn Direktor Moschler bei einer anderen Auskunftei zu erkundigen, schwärmte der Assessor a.D. im Park der seiner Ansicht nach sehr minderbegabten Maja von seiner großartigen Wohnung im Berliner Tiergartenviertel vor, von Fünfuhrtanztees, von Bällen, Premieren und dergleichen.

Oh – Maja Schmierolt merkte bald, wohin diese lockenden Bilder weltstädtischer Geselligkeit abzielten.

Sie war durchaus nicht so ‚landpomeranzenmäßig’, wie Egon Moschler dachte. – Ach nein – da irrte er sich. Gewiß – sie fand diesen eleganten Weltmann genau so interessant, wie die frische Lotte den Herrn Justus Schlick. Aber – sie fühlte sich ihm gegenüber beklommen und unfrei. Gerade seine überlegene Art war es, die ihr die Unterhaltung mit ihm zur Qual machte.

Ihre Gedanken waren jetzt meist anderswo.

Vorhin hatte sie Theodor Meier mit der schicken Rotblonden zusammengesehen. Darüber kam sie nicht hinweg. Der Wäsche-Meier wäre ihr als Gesellschafter tausendmal lieber gewesen als dieser noblen Egon Moschler. –

Moschler wiederum hatte einen ganz bestimmten Plan im Auge. Und danach handelte er. Es galt, dieses harmlose Dummchen langsam zu umstricken – ganz langsam. Sie durfte nicht scheue werden. Allzu stürmisch vorgehen ist ja stets ein Fehler. –

Die beiden standen nun an der Ostpforte des Parkes. Dort drunten lag die Einsiedelei.

„Sie kennen doch Fräulein Heinrizi,“ meinte Moschler jetzt. „Ein hübsches Mädchen. Ganz im Vertrauen, mein Freund Schlick hat sich in sie derart verliebt, daß ich eine Katastrophe befürchte. – Sie verstehen mich –“ Er lachte harmlos. „Eine Verlobung ist ja stets eine Katastrophe. Kann man wissen, wie die spätere Ehe wird?! Gewiß, Schlick ist ein Ehrenmann. Aber ob Fräulein Lotte sich an die Berliner Verhältnisse gewöhnen wird?! Ich hätte eine Bitte, gnädiges Fräulein! Schlagen Sie doch mal bei Lottchen so etwas auf den Strauch Schlicks wegen –“

Maja hätte kein Weib sein müssen, wenn sie nicht durch dieses ‚Vertrauen’ sich sehr geehrt gefühlt hätte und dadurch Moschler ebenfalls weit näher getreten wäre.

Sie wurde lebhafter. – Welches junge Mädchen ist nicht entzückt, wenn sie in Liebesangelegenheiten eingeweiht wird?! – Sie taute auf, war ganz Feuer und Flamme für ihre Rolle als kleine Ehestifterin.

Moschler lächelte – innerlich! Ja – er verstand die Weiber zu nehmen! Tadellos verstand er es.

Und so kam es, daß auch Maja bereits so etwas in den Netzen derart zappelte, die hier nach Scharnow mit so großzügigen Plänen gekommen waren.

 

 

5. Kapitel

Der Wechselfälscher

Es wurde Abend. – Hinter den Scharnower Bergen verglühte der letzte rote Schein der Sonne. Die Schatten der Dunkelheit senkten sich über das Städtchen.

In der Veranda des Pensionats ‚Bergesblick’ flammten die elektrischen Lampen auf.

Fünf neue Gäste waren eingetroffen. Zwei ältere Ehepaare und ein einzelner, graubärtiger Herr, der sehr gerade ging, aber stark hinkte. –

Das Abendessen war vorüber. Ein Teil der Gäste ging ins Musikzimmer, wo Helene Bilbra, sich selbst begleitend, Operettenlieder sang.

Schlick und Moschler waren in die Stadt geschlendert, wo sie Anschluß an den Honoratiorenstammtisch im ‚Goldenen Löwen’ gefunden hatten. – Der Amtsgerichtsrat Schmidt war es gewesen, der die beiden schon vorgestern gebeten hatte, den unwissenden Scharnowern die Geheimnisse des Baccarat zu enthüllen. Schlick und Moschler hatten nämlich erwähnt, daß sie Mitglieder eines Berliner Klubs seien, in dem ‚wüst’ gespielt würde.

So wurde denn auch heute abend der Unterricht hinter verschlossenen Türen fortgesetzt – rein zum Zeitvertreib, aus Ulk.

In der Veranda war nur der ältere, hinkende Herr zurückgeblieben. Im Fremdenbuch war er als Oberst a.D. Mühlmann verzeichnet. –

Er bestellte jetzt bei dem Ober eine halbe Flasche Rotwein. Als Löring sie vor ihn hinsetzte und dazu ein ‚Bitte sehr’ murmelte, schaute Mühlmann ihn abermals prüfend an.

„Einen Augenblick, Herr Ober,“ sagte er nun. „Kommen Sie mal näher. – Wir sollten uns kennen, denke ich?“

Löring war auf diese Frage schon vorbereitet. Er hatte sie erwartet.

„Es ist lange her, Herr Oberst,“ meinte er leise. „Und das, was war, ist eben gewesen.“

„Also sind Sie der frühere Leutnant Löring, der 1914 kurz vor dem Kriege – hm ja –“

„– geschwenkt wurde wegen Wechselfälschung,“ ergänzte Löring, „der nach Amerika floh, September 1914 verkleidet zurückkehrte, als Freiwilliger eintrat und – sich doch nicht rehabilitieren konnte, weil er in Gefangenschaft geriet, – jetzt Kellner, schon zwei Jahre lang –“

Der Oberst blickte Löring wieder so scharf an.

„Also – ehrlich geworden,“ sagte er dann hart.

„Das nützt nicht viel, Herr Oberst. Vor sich selbst bleibt man – Fälscher. Wer einmal im Sumpf versunken war, wird den Schlamm nicht mehr los.“

„Hm – diese Ansicht würde für Ihren Charakter sprechen.“

Er schaute vor sich hin. Dann fügte er hinzu:

„Ich bin ja erst heute hier eingetroffen, habe aber doch schon eine etwas eigenartige Beobachtung gemacht. Ich habe Zimmer Nr. 10. Rechts von mir wohnt die Rotblonde, die jetzt gerade einen Walzer singt. – Hm – weshalb schlichen Sie so gegen halb acht in deren Zimmer, Löring? Weshalb –“ – er beugte sich vor – „weshalb in drei Teufels Namen öffneten Sie den Koffer der Dame und wühlten darin herum?! – Mann – in der Verbindungstür ist eine Ritze, und so schmal der Sehschlitz auch war, ich habe – alles beobachtet! – Mann, Löring, – weshalb das – weshalb?! Wandeln Sie hier auf faulen Pfaden?“

„Wenn Herr Oberst mir nach einer halben Stunde eine Unterredung gewähren wollten – im Park vielleicht,“ erwiderte der Oberkellner mit einer Verbeugung.

„Gut – an der Bank dort nach Osten zu, wo man die Einsiedelei vor sich hat!“ – –

Mühlmann und Löring saßen im bläulichen Lichtschein des soeben erscheinenden Mondes auf derselben Bank, auf der Lotte heute früh dem Herrn Ober die große Erdbeere zu naschen gegeben hatte.

Der Oberst hielt Löring die Zigarettentasche hin.

„Bitte. – So, und nun schießen Sie los. Ich bin gespannt. Ihre Andeutungen haben mich neugierig gemacht.“

Löring drehte sich um, stand auf und schritt hinter der Bank im Bogen herum. Dann setzte er sich wieder.

„Ich muß vorsichtig sein, Herr Oberst, sehr vorsichtig,“ sagte er mit gedämpfter Stimme. „Es gibt hier Leute, die etwas im Schilde führen. Und diese Leute sind sehr schlau und fraglos sehr gefährlich –“

„Ah – Hochstapler, Verbrecher, Gauner!“

„Allerdings, Herr Oberst. – Ich habe weiß Gott keine Fähigkeit zum Detektiv und bin ganz zufällig auf die Bande aufmerksam geworden. Dort in der Einsiedelei wohnt ein Herr –“

„Kenne ich, – Heinrizi nebst Tochter. Ich war schon voriges Jahr hier –“

„Für die Tochter interessiere ich mich, Herr Oberst. Es ist ein so liebes Mädel. Und deshalb habe ich sehr oft von meinem Fenster aus mit einem Fernglas die Einsiedelei beobachtet. Dabei fiel mir auf, daß zwei unserer Gäste dasselbe taten, bald morgens, bald abends –“

„Aha! Weiter. – Wer sind die beiden denn?“

„Syndikus Dr. Schlick und Direktor Moschler.“

„Was Teufel?! Die?! Ich habe ja abends mit ihnen an einem Tisch gesessen. – Hören Sie, Löring, das kann nicht stimmen. Das sind keine –“

„– es sind fragwürdige Leute, Herr Oberst! Ohne Zweifel. Ich habe die Beweise. – Ich hatte die beiden also so etwas aufs Korn genommen. Und da merkte ich, daß sie mit der rotblonden Bilbra nur scheinbar erst hier bekannt geworden waren. Die drei sind Verbündete. Zweimal habe ich sie hier auf diesem Platz belauscht, konnte aber nur das eine verstehen, daß sie sich untereinander duzten und über Heinrizis sprachen.“

„Donnerwetter!“

„Es kommt noch besser. – Ich vermutete, sie hätten es auf Heinrizis Atelier abgesehen, der dort viele wertvolle Kunstgegenstände und Teppiche aufbewahrt.“

„In dem Kirchlein –“

„Ja, in dem Kirchlein, das er wie eine Schatzkammer geschützt hat. – Gestern Nacht regnete es. Nachher kam ein Gewitter. Ich sagte mir nun, diese Nacht sei vielleicht für einen Einbruch besonders günstig und lag in der Nähe der Kirche von halb zwölf Uhr an auf der Lauer. Der Hund der Heinrizis kennt mich. Er stellte sich oft bei uns in der Küche ein, und ich fütterte ihn. Er ließ mich daher in Ruhe. –

Gegen ein Uhr tauchten zwei Männer auf. Treff, der große, arme Köter, wurde von ihnen im Handumdrehen stumm gemacht –“

„Deubel noch mal! Das ist ja der reine Kriminalroman!“

„Ich wünschte, es würde ein Liebesroman!“ meinte Löring bitter. „Man wird immer älter, und man ist so einsam. Die Meinen kennen mich nicht mehr. Aber – man ist eben nur Oberkellner! –

Die beiden Männer versuchten dann in das Atelier einzudringen. Aber das Kunstschloß widerstand ihnen. Sie hatten elektrische Taschenlampen mit, die sie aber sehr vorsichtig gebrauchten. Und den Schein dieser Lampen hat Lotte – Fräulein Lotte Heinrizi für Irrlichter gehalten.“

„Merkwürdige Idee!“

„Doch nicht so ganz, Herr Oberst. Fräulein Lotte erzählte mir heute, daß ähnliche Lichterscheinungen schon jahrelang von ihr beobachtet worden sind. Wenn etwas dabei merkwürdig ist, dann ist es etwas ganz anderes, nämlich die Tatsache, daß der Maler die Lichterscheinungen seinem Kinde als Irrlichter, also leuchtende Sumpfgase oder dergleichen, erklärt hat, obwohl doch das Kirchlein auf einem sandigen Hügel liegt.“

„Allerdings seltsam,“ murmelte der Oberst.

„Über die Absicht dieser Täuschung bin ich mir noch ganz im Unklaren,“ fuhr Löring fort. „Einen Zweck hat sie ohne Frage. Aber welchen Zweck verfolgt der alte Heinrizi damit? Warum hat er auch Lotte verboten, über die ‚Irrlichter’ zu sprechen? –

Nun, diese Dinge gehen mich ja nichts an. –

Die beiden Männer, es waren Schlick und Moschler, trugen den toten Hund in eine Kiesgrube und bedeckten ihn mit Erde. – Nun werden Sie auch begreifen, Herr Oberst, weshalb ich heute den Koffer der Bilbra revidierte. Ich hoffte dort etwas zu finden, das mir über ihre Person Aufschluß geben könnte. Und ich fand auch etwas. Der Koffer hat einen doppelten Boden. Und die Papiere, die dort lagen, bewiesen, daß das Weib die Gattinnen dieses Dr. Schlick ist, der tatsächlich Doktor sein muß.“

„Unglaublich! – Weiter!“

„Ja – es gibt leider nicht mehr viel zu sagen. Ich weiß nur noch, daß dieser Schlick sich an Lotte heran gemacht hat, daß ferner die Bilbra den jungen Meier in ihre Netze zu locken sucht und daß Moschler sich mit der Tochter der Frau Gutsbesitzer Schmierolt angefreundet hat. Außerdem haben Schlick und Moschler im ‚Goldenen Löwen’ sehr schlau eine Spielhalle eingerichtet und werden die Scharnower Honoratioren wohl bald tüchtig rupfen.“

„Teufel – die Kerle sind vielseitig!“

„Fraglos! – Ich selbst habe nun die Absicht, jede Nacht das Atelier zu bewachen. Vielleicht – kann ich den alten Maler mir so etwas verpflichten. Er ahnt noch nichts. Und – ich liebe Lotte, Herr Oberst –“

Sein Gegenüber schwieg eine Weile.

„Wissen Sie, Löring,“ sagte er dann, „ich möchte Ihnen so etwas helfen. Meine verdammte Gicht erlaubt mir zwar nicht, nachts im Freien Posten zu stehen. Aber ich werde im ‚Goldenen Löwen’ die Kerle beobachten. Der Steuerrat Leineweber ist ein alter Bekannter von mir. Ich werde schon Zutritt zu der Jeuhöhle finden.“

„Das wäre sehr liebenswürdig, Herr Oberst.“

„Na – liebenswürdig?! Interessant ist es!“

„Übrigens noch etwas. – Bei Heinrizis hat heute früh eine etwas rätselhafte Person Aufnahme gefunden –“

Er erzählte das Nähere, soweit Lotte es ihm mitgeteilt hatte.

Da wurde Mühlmann lebendig.

„Verflixt noch mal Löring – diese Frau ist auch nicht ganz koscher!“ meinte er. „Ich werde dieses Weib mal besichtigen. Heinrizi kennt mich. Er ist ein Knurrhahn – ich kann ebenso grob sein. Deshalb verstehen wir uns.“

„Damit wäre mir sehr gedient. Ich selbst kann nicht gut zu Heinrizis gehen – ein Oberkellner! – Hm – mir fällt noch etwas ein, Herr Oberst, – etwas, das Heinrizi betrifft. Ich sagte ja schon, daß ich mit meinem Fernglas –“

„– nach der Liebsten Ausschau halte –“

„Ja, und deshalb bemerkte ich vor vierzehn Tagen in einer Vollmondnacht den Maler, wie er mit seinem Rad, eine große, flache Kiste auf dem Rücken, den Feldweg entlangfuhr, der nach Süden zu verläuft. Er kehrte erst kurz vor Tagesanbruch zurück –“

„So – und was fiel Ihnen dabei auf?“

„Ja – daß er aus dem Fenster kletterte und nachher auch wieder durch das Fenster einstieg. Ich denke, er wird eben jedes Geräusch haben vermeiden wollen, um seine Tochter nicht aufmerksam zu machen –“

„Himmel – wirklich die reine Detektivgeschichte! – Ach so – es soll ja eine Liebesgeschichte werden. Na, Löring, was ich dazu tun kann, soll geschehen! Mann, Sie sind Oberkellner! Das ist ein ehrenwerter Beruf. Und der Deubel hole den alten Heinrizi, wenn er etwa –“

„– wenn er erfährt, daß ich Wechsel gefälscht habe – und das würde ich weder Lotte noch ihm verschweigen –, wenn er also weiß, daß ich – Sumpfpflanze bin, wird er mir nicht sein einziges Kind geben, falls – falls es mir eben nicht gelingt, ihm zu beweisen, daß –“

„Schon gut, lieber Löring! – Hand her! Wir sind nun Verbündete!“

 

 

6. Kapitel

Die Nacht und der Morgen

Im ‚Goldenen Löwen’ spielte man Baccarat – nicht mehr mit zehn Mark Höchstsatz – oh nein! – In zwei Stunden war man schon bei Hunderten angelangt, trotz des Protestes des eleganten Moschler.

Oberst Mühlmann war kein Neuling im Jeu. Ach nein! Er hatte genau so seine Schwächen wie andere. Heute aber, wo er zum ersten Male hier mitspielte und auch erst nach zehn Uhr, eben nach der Unterredung mit Löring, erschienen war, blieb er der Dame Hazard gegenüber sehr hundeschnäuzig.

Er stand dem Bankhalter gegenüber hinter dem Stuhl des Croupiers und rauchte, warf hin und wieder einen schmierigen Zehnmarkschein auf eins der Kreidefelder und – gewann. –

Die Turmuhr schlug zwölf. Der Amtsgerichtsrat, der bereits scheußliche Gewißensbisse hatte, weil er als Vertreter der Justiz hier dem Spielteufel huldigte, raffte seinen Gewinn zusammen und drückte sich.

Er hatte einen heißen Kopf. Er wollte sich erst etwas abkühlen, ehe er nach Hause ging. So wanderte er denn die Chaussee entlang bis zur Einsiedelei und schwor sich hoch und heilig zu, nie mehr am Baccarat sich zu beteiligen. –

Zu derselben Zeit, als der Rat Schmidt den ‚Goldenen Löwen’ verließ, stieg Thomas Heinrizi aus seinem Schlafstubenfenster und schlich nach dem Kirchlein hin. Er tat dies sehr geschickt, und als er dann in den Fliedersträuchern links vom Eingang lag, brummte er so allerlei in den Bart, was auf eine recht gereizte Stimmung schließen ließ.

Der Mond verschwand hinter einer Wolke.

Es wurde dunkel.

Da hörte Heinrizi ein Geräusch.

Es näherte sich jemand den Büschen – kein Zweifel. – Heinrizi faßte den Gummiknüttel fester, den er als Waffe mitgenommen hatte.

Die Wolke gab den Mond wieder frei.

Heinrizi war leise aufgestanden.

Ah – also wirklich! – Durch eine Lücke in den Zweigen erkannte er den Oberkellner vom ‚Bergesblick’.

‚Warte, Bursche! Warte!’ dachte er ingrimmig. ‚Dir will ich das Spionieren versalzen!’ –

Löring wollte sich in demselben Gebüsch verbergen.

Mit einem Satz sprang Heinrizi ihn an, packte ihn bei der Brust.

„Kerl – was suchen Sie hier?!“ fauchte er ihn an. „Raus mit der Sprache! Gestern nacht drückten Sie sich ebenfalls hier herum, und meinen Hund haben Sie auch getötet! Reden Sie – oder –!“

Löring hatte den ersten Schreck schon überwunden.

Sein Hirn arbeitete fieberhaft.

Sollte er den grimmigen Alten in alles einweihen? Gab er damit nicht das ganze Spiel aus der Hand? Würde sich ihm dann noch Gelegenheit bieten, Heinrizi einen Dienst zu erweisen?

„Los, Sie Schuft!“ grollte der Maler. „Was drücken Sie sich hier herum, he!“

Er hielt Löring noch immer fest. Und – er war ihm an Kräften weit überlegen.

„Herr Heinrizi,“ stammelte Löring hastig, da ihm nichts Besseres einfiel, „ich sah da vor einiger Zeit einen Dieb nachts aus einem Fenster Ihres Hauses klettern und davonradeln. Und da –“

Heinrizi war’s, als ob er einen Hieb gegen die Stirn erhalten hätte! – Ah – dieser Lump hatte also auch das ausspioniert!

Vor seinen Augen sprühten Funken auf.

Und wieder verschwand der Mond hinter einer Wolke. – –

Lotte hatte noch wachgelegen und sich manches überlegt. Und was ihr sonst nie begegnete, sie hatte heute so aufregend geträumt.

Erst von Dr. Schlick. Und dann von Otto Löring.

Und Löring hatte vor ihr auf den Knien gelegen und sie angefleht, die Seine zu werden.

Darüber war sie erwacht.

Und die fröhliche Lotte weinte jetzt.

Ihr war so schwer ums Herz. Sie mußte immer an Löring denken. Und der war doch nur Oberkellner.

Sie begriff ihre trübe Stimmung nicht. Sie weinte, und wußte nicht recht, weshalb.

Plötzlich fuhr sie im Bett hoch.

Was war das eben gewesen?

Ein Hilferuf – ein Schrei –?! –

Sie lauschte, aber alles blieb still. – –

Im Pensionat ‚Bergesblick’ war man heute bis gegen halb zwölf munter geblieben. Helene Bilbra war daran schuld.

Freilich, Schmierolts waren längst verschwunden, hatten nur im Lesezimmer gesessen. Mit der Bilbra wollten sie nichts zu tun haben. –

Die letzten im Musikzimmer waren die Rotblonde und Theodor Meier aus Frankfurt a. O.

Pikkolo Fritz saß in einer Ecke und döste vor sich hin, schlief schon halb.

Da hatte er den beiden noch zwei Pfefferminzliköre bringen müssen.

Und als er das Tablett auf den Tisch gestellt hatte, schickte ihn die Bilbra noch nach einer Zigarette ins Buffetzimmer.

Helene lächelte Theodorchen an.

„Machen Sie mal die Augen zu. Ich werde Ihnen den Likör an die Lippen führen –“

Theodor war selig. Und er gehorchte.

So sah er nicht, daß die Bilbra in das Likörglas blitzschnell aus einem kleinen Gummiball etwas hineinspritzte.

Er trank.

Dann haschte er nach ihrer Hand.

„Nicht doch. – Nun kränken Sie mich!“ lachte sie verführerisch. –

Und sie sagten sich gute Nacht und verschwanden in ihren Zimmern. –

Gegen ein Uhr aber erschien im Flur ein dunkler Schatten.

Der Schatten machte vor der Tür von Nr. 12 halt. Dort schlief Frau Schmierolt.

Und – wie schlief sie! Ihr Schnarchen wäre durch drei Türen zu hören gewesen.

Der Schatten hatte ein zangenähnliches Instrument mit, das jeden im Schloß steckenden Schlüssel von außen umdrehte.

Und – die Türen hatten keine besonderen Riegel, nur sehr solide Schlösser. –

Als Theodor Meier auf sein Zimmer gelangt war, hatte er noch den Pfefferminzgeschmack im Munde und außerdem ein wildes Sehnen nach Helene Bilbra im Herzen.

Das Sehnen erlosch sehr bald, denn der Wäsche-Meier wurde plötzlich so müde, daß er sich kaum noch entkleiden konnte. –

Um zwei Uhr morgens kehrten die ‚Berliner’ aus dem ‚Goldenen Löwen’ zurück – ziemlich geräuschvoll wieder.

Frau Emma Plüschner hörte es und war wütend. – Diese Bummler! Na – das würde sie ihnen schon abgewöhnen! Das gab’s nicht! In einem Pensionat, wo nur Kranke wohnten – einfach rücksichtslos!

Bald dämmerte der junge Tag herauf.

Pikkolo Fritzens Wecker schnurrte in der Bodenkammer.

Und Fritz, der Stürzende, gähnte furchtbar, verfluchte alle Wecker der Welt und kleidete sich schimpfend an. Dann ging er und klopfte an die Tür des Herrn Ober.

„Heute meldet sich ja keen Aas!“ brummte Fritz und faßte auf die Türklinke.

Verschlossen!

‚Komisch!’ dachte Fritz und ballerte mit der Faust gegen die Tür.

Auch das blieb erfolglos.

Da schob er ab.

Doch – unten war der Ober nicht! Und wenn ein Ober nicht unten ist, – wo ist er dann?

Es wurde sieben, und die ersten Gäste kamen zum Frühstück in die Veranda.

Wer nicht kam, war Löring. –

Und nun kriegte Frau Emma es mit der Angst. Sie hatte noch einen zweiten Schlüssel zu Lörings Stube. – Sie, der Hausdiener und Fritz der Stürzende begaben sich hinauf.

Das Bett war unberührt. –

Da schickte Frau Emma zur Polizei. Löring müsse ein Unglück zugestoßen sein.

Wachtmeister Bittekorn, Feldwebelleutnant a.D., kam und fragte und besichtigte das Zimmer.

Und nun kam der große Krach, Frau Schmierolts Wehgeschrei erfüllte das ganze Haus. Ihr waren sämtliche Juwelen über Nacht gestohlen worden, auch das Geld, das im Brustbeutel an ihrem Busen geruht hatte, samt dem Beutel – zweitausend Mark.

Bitterkorn pfiff durch die Zähne. Es fiel ihm leicht, denn er hatte vorn keine mehr.

„Aha – kiekst de aus die Versenkung!“ sagte er und suchte in Lörings Zimmer noch schärfer, bis er im Ofen unter verbrannten Papieren Reste des Brustbeutels fand, die Frau Schmierolt als zu ihrem Beutel gehörig sofort wiedererkannte.

Inzwischen hatte Fritz den ebenfalls noch nicht aufgetauchten Theodor Meier geweckt. Und der Wäsche-Meier hatte erst nach dem Waschen die Bescherung gemerkt. Auch ihm waren sämtliche Schmucksachen und die Brieftasche gestohlen worden.

Frau Emma fiel beinahe in Ohnmacht.

Und Bitterkorn pfiff wieder durch die Zahnlücke und sagte:

„Aha – ausgekniffen!“

 

 

7. Kapitel

Arme Lotte!

An diesem Morgen gingen nur ein paar Gäste des Pensionats ‚Bergesblick’ baden. Die meisten waren zu erregt, um ihre Leiber in den braunschwarzen Schlamm einzutauchen.

Man stand im Garten umher und sprach die Ereignisse nach allen Richtungen hin durch.

Gemeinsames Leid bringt die Menschen einander näher. Frau Schmierolt hatte sich mit Theodor Meier ausgesöhnt, worüber Maja sehr froh war, zumal sie Meier viel netter fand als den geschniegelten, geistig so überlegenen Moschler.

Dr. Schlick, Moschler und der Oberst Mühlmann trösteten die Beraubten nach Kräften.

„Man wird den Kerl schon kriegen,“ meinte der Oberst und schlug mit seinem Stock Lufthiebe.

Schlick zuckte die Achseln.

„Wer weiß?! Dieser Löring muß doch ein ganz gerissener Lump gewesen sein.“

Theodor Meier, der den Verlust von insgesamt etwa zwanzigtausend Mark beklagte, sprach im allgemeinen wenig. Auch Helene Bilbra hielt sich zurück und meinte nur:

„Ich stelle jede Nacht meinen Koffer an die Tür. Dann fällt er um, wenn jemand eindringen will.“ –

Bald erschien auch der Amtsrichter Kröcher, der die Strafsachen unter sich hatte.

Er nahm ein langes Protokoll auf und sagte zum Schluß, er würde sofort einen Steckbrief erlassen; weiter könne nichts getan werden.

Allmählich wurde es im ‚Bergesblick’ wieder ruhiger.

Oberst Mühlmann wollte nun dem Maler Heinrizi einen Besuch abstatten und hinkte durch den Park der Ostpforte zu.

Mit einem Mal kam Theodor Meier sehr eilig hinter ihm drein.

„Einen Augenblick, Herr Oberst,“ meinte er leise und sah sich vorsichtig um. „Ich bemerkte gestern abend, daß Sie mit Löring in der Veranda vertraulicher sich unterhielten. Ich habe hier nun niemand, mit dem ich ganz offen über diese Diebstähle reden könnte. Löring hat mich nämlich gestern vor der Bilbra gewarnt, und der Pfefferminzlikor war nicht harmlos.“ – Er berichtete die Szene im Musikzimmer, wie die Bilbra ihm den Likör gereicht hatte, nachdem er die Augen hatte schließen müssen.

„Diese Müdigkeit, Herr Oberst, die ich nachts plötzlich spürte, schreibe ich dem Likör zu. Ich möchte aber erst Ihre Meinung darüber hören.“

„Oh – ich will ganz offen sein, Herr Meier, Löring ist niemals der Dieb. Ich behaupte, Schlick und Moschler haben ihn beseitigt.“ –

Er weihte Meier in alles ein.

Theodor Meier nickte nur immer. Er war beschämt, daß er sich von dieser Hochstaplerin derart hatte umgarnen lassen. Dann erklärte er plötzlich sehr bestimmt:

„So dumm, wie die Bande mich einschätzt, bin ich doch nicht. Herr Oberes, wir beide werden jetzt gemeinsam weiter arbeiten und in aller Stille diese Schurken entlarven. Solange sie nicht abreisen, brauchen wir niemand ins Vertrauen zu ziehen. Wir haben den großen Vorteil für uns, daß sie uns beide als harmlos erachten. Wahrscheinlich haben doch Schlick und Moschler den armen Löring in der Nähe des Kirchleins umgebracht. Gehen Sie zu Heinrizi und forschen Sie ihn und seine Tochter vorsichtig aus, ob sie in der Nacht nichts Verdächtiges wahrgenommen haben. Ich werde derweilen die drei hier im Auge behalten.“ –

Schlick, Moschler und die Bilbra waren auf den Tennisplatz des Pensionats gegangen.

Sie spielten eine Weile, standen dann am Netz und unterhielten sich.

Schlick sagte lächelnd zu Helene Bilbra: „Du, das hast du fein gemacht –“

Moschler zog ein sehr langes Gesicht.

„Kinder, die Sache gefällt mir nicht. Wo ist Löring geblieben – wo?! – Mich beunruhigt das –“

„Quatsch,“ meinte Schlick. „Ich glaube, er wird aus irgend einem Grunde wirklich verduftet sein.“

Die Rotblonde machte ein vielsagendes Gesicht.

„Ich habe seinen Koffer durchschnüffelt. Und fand die Beweise, daß er ein geschwenkter Leutnant ist. Der Oberst Mühlmann schien ihn von früher zu kennen. Er beobachtete ihn heimlich, aber andauernd. Und der blonde Theodor erwähnte gestern nacht, es sei doch merkwürdig, daß der Oberst mit Löring in der Veranda so lange sich unterhielt. Löring mag böse Geschichten auf dem Kerbholz haben und ist vor Mühlmann ausgerissen. Eine andere und bessere Erklärung für sein Verschwinden gibt es nicht.“

Auch Moschler war nun beruhigt. „Na – dann haben wir eben einen Mordsdusel gehabt, daß der Mensch das Weite gesucht hat. Ich dachte tatsächlich, er sei womöglich ein verkappter Kriminalbeamter.“

*

Lotte hatte die ganze Nacht über kein Auge zugetan. Sie war froh, als der Morgen sich mit Zwielicht und Spatzengeschrei meldete.

Als sie an den Spiegel trat, prallte sie vor dem eigenen Bild zurück.

Es war, als hätten diese wenigen Stunden, seit sie den Schrei gehört und dann ans Fenster getreten war, alle Jugend von ihrem Antlitz weggewischt.

Hohläugig, fahl und seltsam starr war ihr Gesicht. Trotzdem blickte sie noch immer in den Spiegel, und sie hielt leise Zwiesprache mit diesem Wesen, das ihr da in dem Glas gegenüberstand.

‚Soll ich den Vater fragen, wer der Mann war, den er in den Armen trug und den er vielleicht getötet hat?’ dachte sie.

Und antwortete sich selbst: ‚Wenn er nicht darüber spricht, mußt du schweigen. Er würde dir die Wahrheit ja doch verheimlichen –’

Und weiter überlegte sie: ‚Wer kann dieser Mann nur gewesen sein? Und weshalb sollte Papa ihn getötet haben?!’

Das Spiegelbild schüttelte den Kopf. – ‚Ich mache mir vielleicht ganz unnötig all die Gedanken. Papa kann den Mann bewußtlos aufgefunden haben und wird ihn hier ins Haus gebracht haben –’

Die leise Hoffnung schwand ebenso schnell.

‚Der Schrei – der Schrei! Es war wie ein Hilferuf! Und – ich hätte den Vater doch hören müssen, wenn er das Haus betreten hätte –’

Hilflos, verzweifelt und völlig verstört schaute sie um sich.

War denn niemand, der ihr raten konnte, der ihr einen Weg aus diesem Labyrinth von Tatsachen und Widersprüchen zeigte?!

Löring – Otto Löring! – Andere Gedanken jagten plötzlich durch Lottes müdes, und doch so überreiztes Hirn.

Hatte Löring nicht so seltsam über – über Sumpfpflanzen gesprochen, über gescheiterte Existenzen, – hatte er nicht gefragt, ob die Einrichtung des Ateliers wirklich so wertvoll sei?

Mein Gott – mein Gott, – war Löring vielleicht dem Vater begegnet, hatte er vielleicht das Atelier berauben wollen?! –

Sie dachte an die Tränen der verflossenen Nacht, dachte an ihre Träume.

Heiße Glut stieg ihr in die Wangen. Ihr Herz jagte. – Und so fühlte sie zum ersten Mal all das Beseligende des großen Geheimnisses der Liebe. –

Doch – nur zu schnell stürzten auch wieder Angst, Verzweiflung und bange Fragen wie finstere Dämonen über sie her.

Lotte trocknete die Tränen. – Sie war Weib geworden. Die Sorge um ihre Liebe, um dieses jäh erkannte Herzensglück, machte sie stark und zielbewußt.

Wie immer ging sie nun an ihre Arbeit. In der Küche traf sie bereits die Taubstumme, bot ihr freundlich guten Morgen und weckte nachher den Vater.

Zu dreien saßen sie am Kaffeetisch. – Thomas Heinrizi zeigte kaum eine Veränderung in seinem Wesen. Nur etwas bleich war er. Lottes übliche Frage, wie er denn geschlafen habe, beantwortete er mit einem unwirschen: „Wie man in meinem Alter schläft!“

Aber Lotte gewahrte doch an ihm allerlei Zeichen geheimer Unrast. Er aß wenig, und was er aß, schlang er nervös hinunter. – Die fremde Frau blickte kaum auf. Sie hatte einen seltsamen Zug von Lebensmüdigkeit und bitterem Weh um den Mund. –

Lotte war mit ihrem Plan bereits fertig. Sie wollte später zu Frau Emma Plüschner gehen, und dann würde sie dort ja erfahren, ob Otto Löring etwas zugestoßen sei. Ihr ganzes Inneres war jetzt nur erfüllt von den Gedanken an den einen Mann. Sie war sich klar darüber geworden, daß er sie längst geliebt hatte und daß die Szene gestern auf der Bank, als er nach ihrer Hand gehascht, nur der Ausdruck eines starken, ehrlichen Empfindens gewesen war. –

Gegen elf Uhr hatte sie ihre häuslichen Pflichten soweit erledigt, daß sie für eine halbe Stunde zum ‚Bergesblick’ hinüberschlüpfen konnte.

Sie kam nicht weit. Gerade in einer der früheren Kiesgruben, die der Pfad durchschnitt, begegnete sie dem Oberst Mühlmann. – Sie erkannte ihn vom vorigen Jahr her sofort wieder.

„Ah – das trifft sich gut, Fräulein Heinrizi,“ begrüßte er sie herzlich. „Leider bin ich gerade kein froher Bote. Ich weiß ja nicht, wie Sie über Otto Löring denken. Jedenfalls; er ist verschwunden, und im Pensionat sind in dieser Nacht Geld und Juwelen für viele Tausende geraubt worden.“

Lotte erblaßte. Es war das erste Mal in ihrem Leben, das ein furchtbarer Schreck ihr jeden Tropfen Blut aus den Wangen trieb. Selbst in der verflossenen Nacht war dies nicht geschehen. Nun aber, wo sie die eine Gewißheit erhalten hatte, daß es doch Löring gewesen, den ihr Vater in seinen Armen irgendwohin getragen hatte, daß also Löring den Schrei ausgestoßen und ihr Vater sich an ihm vergriffen hatte, da fielen alle Selbstbeherrschung und Hoffnungen wie ein schützender Mantel von ihr ab, den eine rücksichtslose Hand ihr weggerissen hatte.

Sie sank langsam zu Boden in die hohen Gräser, die hier den Pfad einsäumten, schlug die Hände vor das Gesicht und schluchzte so jämmerlich, daß Mühlmann vor Verlegenheit nur immer dasselbe stammelte:

„Aber Fräulein Lotte – aber Fräulein Lotte –“

Er war Junggeselle, und er hatte sein Lebtag sich nicht um die Weiber gekümmert. – Schließlich setzte er sich aber doch neben sie, nahm ihre Hände in die seinen und sagte tröstend:

„Er ist ja gar nicht der Dieb. So lassen Sie mich doch erstmal erzählen –“

Lottes seelischer Zusammenbruch war schon vorüber. Ein gesundes Naturkind wie sie brachte leichter die Kraft auf, das eigene Weh im Interesse eines anderen, und hier noch des Geliebten, zurückzudrängen.

Hand in Hand saßen Mühlmann und das junge Mädchen da, und er verschwieg ihr nichts – selbst das nicht, daß Löring einst wegen Wechselfälschung geflohen war und daß er gehofft hatte, Lottes Vater sich zu Dank zu verpflichten.

 

 

8. Kapitel

Auf dem Aussichtsturm

Der wundervolle, warme Sommertag paßte so gar nicht in die Stimmung dieser beiden Menschen hinein, die hier in der Kiesgrube, abgeschlossen von aller Welt, nur über Löring sprachen.

Lottes Herz war wie versteinert. – Was sollte sie tun – was nur?! Sollte sie Mühlmann anvertrauen, was sie in der Nacht zum Teil beobachtet hatte? – Sie wußte ja nur zu genau, daß Mühlmanns Verdacht, Schlick und Moschler hätten Löring beseitigt, nicht zutraf. Sie kannte den, der es getan. Es war ihr eigener Vater!

Durfte sie ihn verraten? – Nein – nein, sie durfte es nicht! Aber eins konnte sie, nach Löring suchen! – Sie hielt es für unmöglich, daß er tot sei. Sie sagte sich, daß hier Geheimnisse mitsprachen, die ihr noch verborgen waren. –

Mühlmann merkte nichts von dem seelischen Zwiespalt, der des Mädchens Herz in einen Zustand unnatürlicher Ruhe versetzt hatte.

Sie gab Antwort, wenn er fragte. Sie war plötzlich nicht nur Weib, sondern auch beinahe raffiniert geworden. Sie sorgte dafür, daß keinerlei Verdacht gegen den Vater entstehen könnte. – Auf des Oberst letzte Frage erwiderte sie nun:

„Wir verließen München, weil Papa dort zu viel Schweres durchgemacht hatte. Meine Mutter starb vor zehn Jahren. Damals ging es uns noch nicht so gut wie heute. Papa konnte das Geld nicht aufbringen, um meine Mutter in die Schweiz in eine Lungenheilstätte zu schicken. Sie wäre wohl zu retten gewesen, aber es fehlten die Mittel. Der Vater hatte kein Glück mit seinen Bildern. Es gelang ihm nie, eines seiner Werke in die Kunstausstellung zu bringen. Die Jury lehnte sie ab. Wir lebten recht kümmerlich. So zogen wir dann hier in die Einsamkeit. Und hier hat der Vater Erfolge gehabt. Seine Gemälde verkauft er meist an Ausländer.“

„Dann wird er wohl auch damals nachts ein Gemälde mit dem Rad weggebracht haben,“ meinte der Oberst, der auch dies Lotte mitgeteilt hatte.

Lotte antwortete nicht gleich und sann nach. – Diese Frage schien ihr gefährlich. Weshalb war der Vater nachts davongeradelt?! – Sie wußte nichts davon. Er hatte es also heimlich getan. Und die Bilder hatte er doch stets ganz offen, ohne jede Geheimniskrämerei versandt.

„Wahrscheinlich,“ erwiderte sie leichthin. „Es war vielleicht sehr eilig damit, und er ist nach Adorf geradelt, wo die Hauptstrecke der Eisenbahn vorüberführt.“

Mühlmann war mit dieser Antwort zufrieden. Er war kein Detektiv und fand daher nicht das heraus, was diese nächtliche Radtour zu einer recht fragwürdigen Unternehmung stempelte.

Nur eins wunderte ihn jetzt. Lotte hatte doch vorhin zugegeben, daß sie Löring liebe, und nun war sie beinahe gleichgültig gegenüber der traurigen Möglichkeit, daß Löring ermordet und irgendwo verscharrt worden sei.

Vorsichtig suchte er diesen Widerspruch zu ergründen und erhielt dann zu seiner Überraschung die Erklärung, daß Lotte an dieses Ende Lörings nie und nimmer glauben könne.

„Eine innere Stimme sagt mir, daß er lebt,“ fügte Lotte fast feierlich hinzu. „Ich werde ihn finden, Herr Oberst. Sorgen Sie nur dafür, daß diese drei Verbrecher nicht entfliehen.“

Sie erhob sich. „Ich werde nun diese Taubstumme ebenfalls scharf beobachten,“ meinte sie mit ruhiger Bestimmtheit. „Leben Sie wohl, Herr Oberst. Sollte etwas Neues sich ereignen, geben wir uns gegenseitig Nachricht.“

Sie trennten sich. Lotte kehrte nach der Einsiedelei zurück, und Mühlmann wandte sich der Chaussee zu. Er wollte vermeiden, daß jemand ihn aus der Richtung der Einsiedelei kommen sah. –

Lotte war noch keine zehn Minuten daheim, als Dr. Schlick erschien. Er hatte vorn im Haus niemanden angetroffen und war bis in die Küche vorgedrungen. Hier fand er Lotte und die Taubstumme beim Gemüseputzen. Er entschuldigte sich, daß er so ohne weiteres bis hierher sich gewagt hätte; er bringe aber so viel Neuigkeiten, daß Lotte ihm diese Keckheit schon nachsehen würde.

Lotte gab sich ganz unverändert. Schlick erzählte von den Diebstählen und von Lörings Flucht.

„Das hätte ich Löring nicht zugetraut,“ meinte Lotte gleichgültig. „Ich besitze allerdings wenig Menschenkenntnis.“

Schlick hatte sich auf einen Holzstuhl gesetzt.

„Warten Sie, ich bringe Ihnen wenigstens eine Zigarre, Herr Doktor, wenn Sie schon durchaus hier in der Küche bleiben wollen,“ sagte Lotte liebenswürdig.

Sie eilte hinaus und warf die Tür nach dem Flur ins Schloß, öffnete eine andere Tür, schloß sie geräuschvoll, kehrte aber auf Fußspitzen zur Küchentür zurück.

Sie hatte bisher noch nie durch ein Schlüsselloch geschaut. Und diese Schlüssellöcher hier waren nicht gerade klein. So sah sie denn gerade noch, wie Schlick mit der Taubstummen flüsterte und wie diese ihm schnell etwas in die Jackentasche schob.

‚Also doch!’ dachte Lotte. – Als sie nun mit Zigarre, Aschbecher und Streichhölzern zurückkehrte, war ihr nicht das Geringste anzumerken.

Schlick fragte nach Heinrizi, während er die Zigarre anzündete.

„Er arbeitet im Atelier,“ erklärte Lotte.

Schlick verabschiedete sich bald. Als er an dem Kirchlein vorüber kam, sah er, daß aus dem Schornstein in der Mitte des Spitzdaches dicker Qualm aufstieg.

Schlick wunderte sich. Das machte ja ganz den Eindruck, als ob Heinrizi etwas verbrannte.

Mit einem Mal schrak er zusammen. – Wie, wenn der Maler gerade das vernichtete, was wertvoller war als alle Teppiche der Welt?! Wie, wenn Heinrizi Argwohn geschöpft und doch etwas gemerkt hätte?!

Schlick beschleunigte seine Schritte.

Auf der Bank an der Ostpforte saß Moschler.

Schlick teilte ihm seine Befürchtungen mit. Aber Moschler lachte ihn aus. – Keine Rede könne davon sein, daß Heinrizi auch nur im entferntesten ahne, weshalb ‚man’ hier nach Scharnow gekommen sei; da dürfe Schlick ganz ruhig sein. – –

Inzwischen hatte Theodor Meier Frau Schmierolt geraten, ihren Gatten telegraphisch herzurufen. Und diese war denn höchstselbst zum Postamt ins Städtchen gewandert und hatte Maja und Theodor allein gelassen.

Die beiden waren darüber wahrlich nicht böse. Sie durchstreifen den Park und kletterten dann auf den hölzernen Aussichtsturm.

Als sie nun oben auf der Plattform nebeneinander an dem festen Geländer lehnten, floß dem guten Theodor der Mund über. Sein Herz war eben zu voll.

„Fräulein Maja,“ sagte er weich und faßte nach ihrer Hand. „Oh – liebes Fräulein Maja, was für ein Esel war ich nur! Diese geschminkte Bilbra hat uns auseinandergebracht – mit voller Absicht, damit sie mir ohne Zeugen den Pfefferminzlikor, einflößen könnte!“

Maja starrte ihn verdutzt an. Ihre braunen Augen drückten deutlich das aus, was sie dachte, und der Wäsche-Meier rief denn auch:

„Ich bin wirklich nicht verrückt. – Fräulein Maja, wenn Sie schweigen können, dann will ich Ihnen –“

Sie hatte ihm ihre Hand überlassen, und als er jetzt gerade spürte, daß sie den Druck seiner Finger sanft erwiderte, brach er mitten im Satz ab, nahm auch ihre andere Hand, schaute ihr in die braunen Rehäuglein und flüsterte:

„Maja – darf ich’s denn wagen?! Maja – ich bin nur Kaufmann, aber – ich werde Ihrer Mutter das ihr Geraubte wiederbeschaffen und – und –“

Und dann lag sie schon an seiner Brust; dann küßte er sie.

Ach – und wie gut verstand Maja diese ersten Zärtlichkeiten zu erwidern – wie gut! –

Ganz zerzaust war sie nachher. Und sagte nun lachend:

„Du – du lieber, süßer Esel, du! Jetzt wollen wir aber hübsch verständig sein. Was ist’s mit dem Pfefferminzlikör?“

Er hatte sie umschlungen und erzählte.

Maja war sprachlos. Nein – das hätte sie nie geglaubt – nie! Diese schicken Berliner waren Gauner, – Diebe – noch schlimmeres vielleicht! –

Aber ihren Theodor hielt sie nun für ein Genie! Und daß ihr Theodor mit Oberst Mühlmann die Bande entlarven wollte, erschien ihr wie eine Heldentat, obwohl es doch erst eine werden sollte.

Nachher verabredeten sie noch, ihr süßes Geheimnis erst dann der Mutter und dem vielleicht inzwischen eingetroffenen Vater Schmierolt zu beichten, wenn die Bande dingfest gemacht war. –

Als sie die Plattform verlassen wollten, sagte Maja plötzlich und deutete dabei mit der Hand nach unten auf eine Lücke in dem grünen Blätterdach der Parkbäume:

„Du sieh nur, sitzt dort nicht Moschler? Was tut er nur? – Er bewegt dauernd die rechte Hand, und in der Linken hält er irgend etwas.“ –

Doch Theodor konnte nicht herausfinden, was Moschler dort trieb.

Freilich, daß der elegante Herr Direktor einen Schlüssel zurechtfeilte, – darauf konnte das Brautpaar wirklich nicht kommen. –

Polizeiwachtmeister Bitterkorn saß gerade mit Frau und Kindern beim Mittagessen, als Oberst Mühlmann erschien.

Bitterkorn erhob sich sehr pomadig von seinem Stuhl und führte den alten Herrn in die gute Stube.

Mühlmann nahm Platz. „Bitte – essen Sie erst zu Ende, Herr Wachtmeister. Unsere Unterredung wird längere Zeit dauern.“

Bitterkorn erklärte, er sei satt. Dann setzte er sich in den anderen Plüschsessel.

„Ich habe heute festgestellt, daß Sie von Ihrem Beruf etwas verstehen,“ begann Mühlmann, und es war ihm ernst damit, völlig ernst. „Ich brauche nun Ihre Hilfe gegen ein paar Leute, die Betrüger sein dürften. Wollen Sie mir versprechen, vorläufig über alles reinen Mund zu halten?“

Bitterkorn sagte nur: „Selbstverständlich!“

„Ich wollte zuerst nur mit einem anderen Herrn zusammen diese Bande entlarven,“ fuhr Mühlmann fort. „Es ist aber besser, wenn eine Amtsperson dabei ist. Einzelheiten möchte ich Ihnen verschweigen – vorläufig. Jedenfalls nehme ich an, daß diese Bande den Maler Heinrizi bestehlen will. Der eine hat sich an dessen Tochter so etwas herangemacht, und ein zweites Mitglied dieses Gaunerquartetts weilt sogar seit gestern im Hause des Malers als Gast –“

„Ah – die Taubstumme! Weiß schon!“ nickte Bitterkorn. „Sie können voll und ganz auf mich rechnen, Herr Mühlmann.“

„Das freut mich, Herr Bitterkorn. Sie müssen also von heute nacht an in Zivil das Atelier Heinrizis beobachten. Die Kerle haben den Hund schon beseitigt –“

„Weiß ich, Herr Mühlmann.“

„Gut – seien sie aber vorsichtig. Also von Mitternacht an, Herr Wachtmeister. Mein Verbündeter und ich finden uns auch ein. Zu früh dürfte die Bande kaum ans Werk gehen. Und ob sie schon diese Nacht –“

„Dann wachen wir eben mehrere – was tut’s, Herr Oberst?!“

 

 

9. Kapitel

Heinrizis Geheimnis

Auch dieser Tag verging. –

Thomas Heinrizi war zu seinem Kind beim Mittag- und Abendessen merkwürdig zart und lieb gewesen.

In seinem Gesicht lag jetzt etwas wie stille Wehmut. –

Um halb zehn war im ‚Goldenen Löwen’ ein großer Kreis in dem Honoratiorenzimmer versammelt. Gestern hatten nur zehn Herren gespielt; heute waren es achtzehn geworden.

Auch in anderer Beziehung wich der Verlauf des Abends von gestern ab. Gestern hatte der Bankhalter Moschler gehörig verloren.

Heute verlor er nur zu Anfang. Dann gewann die Bank unheimlich. Mühlmann stand wieder hinter dem Tisch des Croupiers Dr. Schlick. Er hatte sehr bald heraus, daß Moschler mogelte. Und zwar ziemlich plump.

Es wurde zwölf. – Da erklärte Moschler, für heute sei es genug. Er würde den Herren selbstverständlich Revanche geben.; er könne es nicht dulden, daß solche Summen umgesetzt würden.

Und dabei blieb dieser Ehrenmann.

Schlick und Moschler brachen auf. Mühlmann sagte zu ihnen, er wolle noch eine Tasse Kaffee trinken. – Dann aber lieh er sich von dem Wirt ein Rad und fuhr davon, um vor den beiden an Ort und Stelle zu sein. –

Lotte Heinrizi war nicht schlafen gegangen. Nur scheinbar quasi in ihr Giebelstübchen hinaufgestiegen. Die ‚Taubstumme’ hatte sich schon gegen halb zehn zurückgezogen.

Jetzt stand Lotte, in einen dunkelgrauen Mantel gehüllt, hinter der Fliederlaube und beobachtete des Vaters Schlafstubenfenster.

Im Schlafzimmer war Licht. Das erkannte sie, obwohl die Vorhänge geschlossen waren. Lotte sah des öfteren den langen Schatten des Vaters über die Vorhänge hingleiten.

Dann wurde die Lampe ausgelöscht. Der eine Fensterflügel knarrte, und Heinrizi stieg heraus. Er trug einen kleinen Korb, lehnte das Fenster an und tauchte im Schatten der Bäume unter.

Lotte blieb hinter ihm.

‚In dem Korb sind Eßwaren,’ dachte sie. ‚Löring lebt! Ich habe es ja gewußt!’

Ihr war so froh und leicht ums Herz – ganz plötzlich. Sie freute sich auf das Gesicht des Vaters, wenn sie ihn an der Ateliertür stellen und sagen würde:

‚Papa – nimm mich mit!’ – Denn sie glaubte bestimmt, Löring sei im Keller des Kirchleins verborgen.

Gewiß – der Vater würde sie wohl zuerst grimmig anschauen. Aber – sie wußte schon, wie sie ihn besänftigen könnte. –

Heinrizi stellte jetzt den Korb hin und begann die Umgebung der Kirche abzusuchen. Erst als er sich genau überzeugt hatte, daß nirgends ein Mensch verborgen war, holte er den Korb und schritt der Kirchentür zu.

Da – er hatte gerade die äußerste Tür geöffnet, – als Lotte neben ihm auftauchte.

Er starrte sie so seltsam an, sein Gesicht war so furchtbar verstört, daß Lotte ganz vergaß, was sie hatte sagen wollen. Und so schmiegte sie sich an ihn und flüsterte:

„Ich möchte Löring sprechen. Ich bin doch dein Kind. Vor mir sollst du keine Geheimnisse haben, Papachen –“

Ein wehes Lächeln zuckte um seinen Mund.

„Komm’, Lotte,“ sagte er nur.

Er verschloß das Atelier von innen. Der Schlüssel paßte zu beiden Türen. – Eine Laterne leuchtete Vater und Tochter. Lotte trug jetzt den Korb.

Heinrizi öffnete die Steinplatte. Sie stiegen in das Gewölbe hinab. Hier blieb Heinrizi stehen und deutete auf die kleinen Fenster, die nach Süden gingen.

„Wenn ich nachts hier mit der Laterne war, Lotte, glaubtest du Irrlichter zu sehen. Es waren nur die Fenster mit den bunten Strahlenscheiben.“

Dann schritt er auf die eine Mauer zu. Hier war eine große Steinplatte mit Klammern an der Wand befestigt. Sie hatte eine lateinische Inschrift, die auf deutsch lautete:

Der Dumme öffnet die Türen nicht.

Wer weise ist, öffnet sie!

Heinrizi drehte an der einen Eisenklammer, zog dann den Stein wie eine Pforte auf.

Lotte schaute staunend in ein hell erleuchtetes Gewölbe hinein, das gleichfalls als Atelier eingerichtet war.

An einem Tisch in der Mitte saß in einem Korbsessel ein Mann mit verbundenem Kopf: Otto Löring! –

Löring war aufgesprungen, kam den beiden entgegen.

„Sie – Fräulein Lotte!“ rief er leise.

Sie streckte ihm die Hand hin.

„Ich habe Ihretwegen viel Angst ausgestanden,“ sagte sie schlicht. –

Heinrizi hatte die Geheimtür geschlossen.

„Setzt euch, meine Kinder,“ meinte er weich. „Setzt euch nebeneinander. – Löring, nimm ihre Hand. Ihr liebt euch. Es ist gut so –“

Lotte war wie betäubt.

Löring rückte einen zweiten Korbsessel neben den seinen. Sie saßen dann wirklich Hand in Hand. Ihnen gegenüber hatte Thomas Heinrizi sich an eine große Kiste gelehnt.

Lotte hatte in ihrem Leben wenig Romane gelesen, immerhin aber doch genug, um sich zu sagen, daß es noch nie eine so seltsame Verlobung gegeben haben könnte wie die ihre.

Sie war noch immer wie im Traum. Was hier geschehen, kam ihr ganz unwirklich vor. Erst klangen sogar auch die Worte ihres Vaters wie aus einer anderen Welt herüberwehend an ihr Ohr. Dann wurde sie sich bewußt, daß er ja über seine nächtliche Begegnung mit Löring sprach, und sie wurde aufmerksamer.

„Löring war bewußtlos. Ich schaffte ihn hier in dieses Gewölbe, das sich unter der vorderen Hälfte der Kirche hinzieht. Er kam bald wieder zu sich. Der Hieb mit dem Gummiknüttel war zum Glück nicht zu scharf gewesen. Löring erzählte mir dann, weshalb er das Atelier beobachtet hatte.“

Thomas Heinrizi machte eine kurze Pause. Er preßte einen Moment die Lippen schmerzlich zusammen, und aus seiner Brust kam’s wie ein unterdrücktes Stöhnen hervor.

Lottes Herz zog sich plötzlich angstvoll zusammen. Sie ahnte irgend etwas Furchtbares, etwas, das nun wie ein undeutliches Gespenst drohend vor ihr stand. Es mußte ja in ihres Vaters Leben dunkle Geheimnisse geben. Davon war sie seit heute überzeugt.

Heinrizi sprach weiter.

„Jedenfalls – Löring und ich verständigten uns schnell. Er berichtete mir seine Lebensgeschichte, und ich – ich öffnete ihm die Augen über den wahren Thomas Heinrizi, über den – Bilderdieb und Bilderfälscher –“

Lotte hatte leise aufgeschrien.

„Das – das ist unmöglich!“ stieß sie dann hervor. „Du – du sollst ein –“

„Ich bin es, Kind,“ nickte der Maler schwermütig. „Laß mich aber erst zu Ende erzählen –“

Dann meldete sich Löring:

„Ich werde es tun, ich, der selbst einst in den Sumpf geraten war – aus Leichtsinn und Genußsucht! Ich werde es tun, weil ich deine Sache hier vor deiner Tochter, die nun meine Braut geworden, besser vertreten kann. Du würdest vielleicht gerade das weglassen, was dich entschuldigt. Denn – was du tatest, geschah aus Motiven, die weit leichter verständlich sind, als meine damaligen Fehltritte!“

Er wandte sich Lotte zu. Eine Welt von Liebe strahlte ihr aus seinen Augen entgegen.

„Mein Liebling,“ sagte er innig, „du weißt, daß dein Vater in München umsonst um Anerkennung gerungen hat. Er hatte unter den dortigen Künstlern von Ruf viele Feinde. Sie witterten in ihm das Genie, das seine eigenen Wege in der Malerei gehen wollte. Und deshalb – beließen sie ihn mit schnöder Selbstsucht in den Tiefen eines sorgenreichen Daseins, beschnitten dem Genius die Flügel. Es war ein ganzes Komplott, das da gegen deinen Vater angezettelt wurde. Er merkte es sehr wohl. Aber er war machtlos dagegen. Die Kritik riß seine Bilder herunter, verspottete ihn. –

Eine ungeheure Bitterkeit bemächtigte sich seiner. Er mußte sein Weib dahinsiechen lassen, weil ihm das Geld fehlte. Zu der Bitterkeit gesellte sich da, wie dies bei ihrer starken Natur geschehen wäre, ein unbezähmbares Verlangen, diese elende Clique von Neidern bloßzustellen – sich zu rächen! –

Während eines Umbaus in der Münchener Schloßgalerien wurden auf bisher nie aufgeklärte Weise drei Gemälde von Rembrandt samt der Rahmen gestohlen. Diese Bilder hatten damals schon einen Wert von Millionen. Die Gemälde blieben verschwunden. Der Dieb – war dein Vater gewesen, mein Liebling! Aber – er stahl sie nicht, um sich zu bereichern. Nein, er wollte nur die Rembrandtsche Malmanier in aller Ruhe so genau studieren, daß er –“

„Die drei Gemälde sind doch aber 1915 wieder aufgetaucht, wurden der Galerie von Berlin aus zugeschickt,“ warf Lotte verwirrt ein.

Thomas Heinrizi lachte ironisch auf.

„Nein, Kind, – es waren nur die echten Rahmen. Die Bilder selbst waren Fälschungen – von mir! Und jene weisen Professoren in München, die mich stets einen kläglichen Stümper genannt hatten, haben diese drei Bilder dann als die – echten, gestohlenen Rembrandts anerkannt –“

Lotte starrte den Vater ungläubig an.

„Ja, Kind,“ meinte er, und der Anflug eines stolzen Lächelns erschien auf seinem Gesicht, „es ist so! Die drei Rembrandts schuf der, den die Clique der Neider verhöhnt hatte! –

Sieh, mein Kind,“ fügte er wehmütig hinzu, „als mir erst diese Fälschungen so trefflich gelungen waren, da packte mich der Satan, da – hatte ich Geschmack gefunden an dieser Art Malerei. Es bereitete mir eine fast krankhafte Freude, noch mehr ‚alte Meister’ zu schaffen. Ich gewann einen Kunsthändler in Berlin für meine Absichten. Und – ich rächte mich an der ganzen Menschheit, die mich hier in die Einsamkeit vertrieben hatte, dadurch, daß sich nun – Fälscher im großen wurde. Freilich – ich habe dem Kunsthändler gegenüber die Bilder stets als Kopien bezeichnet. Ich weiß jedoch, daß er damit fremde Sammler kaltblütig angeschmiert hat. Meine nächtlichen Radfahrten galten der Versendung dieser Gemälde. Selbst die ‚alten’ Rahmen stellte ich hier her. Du siehst dort in der Ecke eine kleine Tischlerwerkstatt, siehst dort den gemauerten Kasten, in dem ich die Bilder durch Rauch ‚alt’ machte.“

„Gestatte, daß ich jetzt weiter spreche,“ sagte Löring schnell. „Dich erregt all das zu sehr. –

Du hattest bei dieser Art künstlerischer Tätigkeit noch etwas anderes im Auge. Du dachtest an Lottes Zukunft. Du wolltest sie in gesicherten Verhältnissen zurücklassen. Du bekamst die Kopien alter Meister gut bezahlt, wenn auch deine Einnahmen im Vergleich zu denen des Kunsthändlers, deines Abnehmers, gering waren –“

Heinrizi hatte eine kurze Handbewegung gemacht.

„All das ändert nichts an der Tatsache, daß ich, wie du von dir selbst behauptest, lieber Löring, in – den Sumpf geraten war. Du selbst nanntest dich eine Sumpfpflanze. Besinne dich! Ich bin nichts anderes. Wer vom Wege der Moral abirrt, sei es aus diesem oder jenem Motiv, ist und bleibt ein Gefallener, weil er nicht – wie du! – die Kraft findet, wieder aufs Trockene, auf dem schmalen Pfad der Ehrlichkeit, sich zurückzuarbeiten. Ich fand diese Kraft nicht. Und – das ist meine Schuld! Ich hätte längst die drei echten Rembrandts zurücksenden und mit der Anfertigung der Kopien aufhören müssen. Ja – ich wollte es jetzt, – aber erst durch deine Einmischungen, mein Sohn! Wir hatten gestern nacht beschlossen, daß die drei Gemälde, die wir in die Kiste gepackt hatten, mit deiner Hilfe ohne Aufsehen versandt werden sollten, und ich hatte dir versprochen, in Lottes Interesse mit der Vergangenheit zu brechen, das heißt, – auf dem schmalen Pfad der Ehrlichkeit fortan zu wandern. Lotte sollte nichts von alledem erfahren. –

Es ist alles – alles anders gekommen. Mein Kind weiß nun, was ich bin – was –!“

Seine Stimme gehorchte ihm nicht mehr. Bis jetzt hatte er sich beherrscht. Nun brach er innerlich zusammen, bedeckte das Gesicht mit den Händen, stöhnte auf:

„Ein – ein verfehltes Leben! Auch eine Sumpfpflanze. Ein Dieb – ein Fälscher!“

Lotte war schon zu ihm hingeeilt, umschlang ihn.

„Vater – nicht so! Vater – vor mir stehst du rein da,“ rief sie unter Tränen. „Nein du bist nicht schlecht. Alles wird wieder –“

Löring war neben ihnen erschienen.

„Still!“ warnte er, „still. Ich hörte im vorderen Gewölbe ein Geräusch –“

Im Nu hatte er die beiden Lampen ausgedreht.

 

 

10. Kapitel

Aus dem Sumpf heraus

Schlick und Moschler wanderten auf Umwegen der Einsiedelei zu.

Schlick lachte lautlos vor sich hin.

„Die Narren haben wir fein gerupft,“ meinte er.

Moschler schwieg.

„Vierundzwanzigtausend Mark sind’s etwa. Ich bin zufrieden,“ fügte Dr. Schlick daher hinzu. „Du nicht, Moschler?“

„Mir ist bei der ganzen Geschichte nicht recht behaglich,“ meinte Moschler widerwillig. „Gar nicht behaglich. Mühlmann schaute mir immer auf die Finger. Ich traue auch ihm nicht.“

„Du siehst Gespenster, mein Lieber. Morgen früh bauen wir hier ab. Den Krach mit der Plüschner müssen wir recht geschickt anfangen, damit die Sache nicht auffällt. Ich werde mich über das Essen beschweren. Und du auch. Das wirkt am unverfänglichsten.“

Sie näherten sich von Norden her dem Kirchlein.

Der Mond stand schon tief. Leichtes Gewölk zog über den Himmel hin.

Als die beiden über den Zaun gestiegen waren, richtete sich vor ihnen eine Gestalt aus den Büschen auf.

„Wie – du bist’s, Helene?“ flüsterte Schlick etwas ungehalten.

„Du gestattest doch, daß ich auch bis zum Schluß die Ausführung meines Planes überwache,“ meinte die angebliche Schauspielerin sehr energischen Tones.

„Sie hat recht,“ erklärte Moschler leise. „Sie steckt uns beide in die Tasche. Wir sind harmlose Knäblein im Vergleich zu ihr.“

„Danke, Moschler! Deine Ironie kannst du dir für gelegenere Zeit aufsparen. – Vorwärts! Es ist alles sicher. Ich bin kurz vor zwölf hier gewesen. Wir können getrost hinein.“

Sie huschte voran dem Kirchlein zu. Moschler probierte dann den Schlüssel. Er paßte. – Lautlos betraten sie das Atelier. Moschler schloß wieder beide Türen ab und schob den Schlüssel in die Tasche.

Der weiße Lichtfinger einer Taschenlampe griff in die Dunkelheit hinein. – Die drei bewegten sich nach dem Altar hin. Der Lichtkegel senkte sich auf die Steinplatte hinab.

Schlick lüftete sie und stellte sie aufrecht.

Bevor sie die Treppe hinabstiegen, wollte Schlick die Platte wieder in die Fugen legen. Dabei glitt sie ihm aus der Hand, und es entstand ein dumpfer Knall, der in dem Gewölbe ein starkes Echo fand.

Moschler fluchte. „Verdammt – sei vorsichtig!“

„Unsinn – Heinrizi schläft! Und – wenn er plötzlich hier erscheinen sollte, wär’s auch kein Unglück. Er muß schweigen. Er hat die Bilder gestohlen, und wir stehlen sie ihm. Sehr einfache Sache.“

Helene Schlick leuchtete die Wände ab. „Es muß bestimmt hier eine Geheimtür geben,“ meinte sie. „Der Major von Bleckstein ließ sich leider nicht das ganze Geheimnis entlocken. Er war schon zu alt für meine Künste.“ –

Sie lachte spöttisch.

„Immerhin – wir werden die Tür und das zweite Gewölbe finden. Daß Heinrizi dort die drei Rembrandts versteckt hat, ist wohl sicher.“ –

„Ah – da ist ja eine Steinplatte mit einer Inschrift, wie gut, daß man Latein kann,“ meldete sich Moschler.

„Natürlich ist diese Platte der geheime Eingang. – Kinder, bis jetzt hatte ich wenig Vertrauen zu der ganzen Geschichte. Nun denke ich anders.“

Er befühlte die Klammern.

„Da haben wir den Trick!“ rief er erregt. „Die Platte dreht sich –“

Helene Schlick leuchtete in das zweite Gewölbe hinein. Dann schritt sie vorwärts. Die beiden Männer folgten. Moschler hatte die Steintür offen gelassen.

Als die drei die Mitte des Raumes erreicht hatten und nun auf dem Tisch den Korb mit den Eßwaren bemerkten, sagte Dr. Schlick übermütig:

„Sogar ein Souper wartet unserer! – Moschler, zünde die Petroleumlampe an –“

Helene leuchtete. Moschler nahm die Glocke ab. Dabei faßte er den Zylinder an.

„Verdammt!“ Seine Hand fuhr zurück. „Das Ding ist noch heiß –“

In demselben Moment schlug die Steintür dröhnend zu, und Lörings Stimme brüllte die drei drohend an:

„Keine verdächtige Bewegung! Ich schieße sofort.“

Er hatte von einer großen, brennenden Acetylenlaterne das sie verhüllende Tuch fortgezogen, so daß die drei strahlend beschienen waren.

„Löring – der Ober!“ rief Moschler. „Also doch ein Kriminalbeamter!“

Löring trat näher. Sein Revolver hielt die Überraschten in Schach. Er überlegte blitzschnell. Und er fand auch sofort den richtigen Weg, die Situation im Interesse Heinrizis auszunutzen. Er war überzeugt, die Bande hatte es gar nicht auf die Teppiche und Kunstgegenstände des Ateliers abgesehen gehabt, sondern auf die drei echten Rembrandts.

„Was wollen Sie hier?“ fragte er forsch. „Bilder – nicht wahr?! Sie brauchen gar nicht zu leugnen.“

„Ne – tun wir auch nicht,“ erklärte Schlick zynisch. „Haben wir gar nicht nötig! Sie können nachher auch gleich Heinrizi verhaften –“

Löring unterbrach ihn. „Ich bin nicht Beamter. Ich bin der Verlobte Fräulein Heinrizis. – Woher haben Sie die Kenntnis erlangt, daß sich hier wertvolle Gemälde befinden?!“

Schlick wurde jetzt durch Moschler einfach bei Seite geschoben.

„Ich möchte mit Ihnen verhandeln, Herr Löring,“ sagte er höflich. „Die Partien steht für uns schlecht. Das gebe ich zu. Sie können uns drei hier umbringen, und –“

„– und die Taubstumme auch,“ warf Löring kalt ein.

„Na ja, auch die! Aber – anderseits können wir auch den Bilderdiebstahl an die Öffentlichkeit bringen, Herr Löring.“

„So?! Wenn sie tot sind?!“ lachte Löring. Er fühlte sich bereits als Sieger.

In diesem Moment tauchte Heinrizi hinter einem Vorhang auf. Er hatte eine alte Hellebarde in der Hand. Bei seinem Anblick wichen Schlick und Helene entsetzt zurück.

„Laß mich die Sache beenden,“ rief Löring dem Maler zu. „Also – woher wußten Sie von den Bildern?“ fragte er Moschler.

„Helene Schlick war bis vor zwei Jahren in der Kunsthandlung Mertin in Berlin angestellt,“ erklärte dieser bereitwilligst. „Sie versteht etwas von alten Gemälden. Und als sie dann mit Schlick auf der Hochzeitsreise in der Schloßgalerie die drei Rembrandts sich ansah, erkannte sie an winzigen Kleinigkeiten die Fälschung heraus. Da sie ferner wußte, daß Mertin von Herrn Heinrizi tadellose Kopien alter Meister geliefert erhielt, reimte sie sich das weitere zusammen, zumal sie Heinrizis Lebensgeschichte durch Mertin erfahren hatte. Im Frühjahr dieses Jahres ging es uns beiden Ehepaaren – denn die Taubstumme ist meine Frau, sehr schlecht. Wir waren praktisch ohne Verdienst, hatten nur noch geringe Ersparnisse, und – da trat Helene Schlick, geborene Bilbra, mit dem Plan hervor, hier die drei echten Rembrandts zu stehlen –“

„Gut – genügt!“ sagte Löring. „Weil sie nun auch Gelegenheit hatten, Brillanten und Geld zu mausen und sich als Falschspieler zu betätigen, erweiterten Sie Ihr ursprüngliches Programm. – Sie sehen – ich weiß alles! – Ich schlage Ihnen nun folgendes vor: Sie geben die Brillanten und das Geld heraus und verduften von hier! Dann soll Ihnen nichts geschehen. Die drei Rembrandts sind nämlich dort in jener Kiste schon verpackt und gehen später nach München ab. Sie können Heinrizi also nicht mal den Streich spielen, ihn zu denunzieren. Was er einst aus besonderen Gründen stahl, gibt er freiwillig zurück. Ihn erwartet keine Gefängniszelle. Aber sie vier dürften auf Jahre ins Loch wandern.“ –

Die drei berieten leise. Dann erklärte Moschler, daß sie einverstanden seien, gab sofort auch den Spielgewinn heraus.

Löring wollte sie nun nach dem Pensionat begleiten.

Aber – er hatte mit den Aufpassern nicht gerechnet, die draußen wachten. – Kaum war die Ateliertür geöffnet worden, als Wachtmeister Bitterkorn auch schon zusprang.

„Im Namen des Gesetzes – Sie sind verhaftet!“ rief er triumphierend. –

Neben ihm erschienen nun auch Theodor Meier und Mühlmann.

„Schade!“ sagte Löring. „Nun – mein Schwiegervater wird ohne härtere Strafe wegkommen.“

Während die drei nach dem Polizeigefängnis gebracht wurden, kehrte Löring in das Gewölbe zu Vater und Tochter zurück. –

Heinrizi nahm die Nachricht von der Einmischung der Polizei ruhig auf. „Ich werde mich jetzt selbst den Behörden stellen,“ meinte er. „Und ich werde tragen, was das Schicksal mir noch bestimmt hat. Dann aber – dann werde ich mich frei fühlen, ganz frei, – dann – liegt der Sumpf hinter mir!“

Er stieg in sein Atelier nach oben.

Lotte und Löring waren allein.

„Liebling,“ flüsterte Löring, „mein Liebling! Es wird hell um uns werden, ganz hell! Das Glück wird uns trösten für alles – unser Glück!“

Und er zog sie an sich und küßte sie. – – –

Thomas Heinrizi wurde zu drei Monaten Gefängnis verurteilt, aber begnadigt. Er brauchte die Strafe nicht anzutreten.