Sie sind hier

Dämon Eifersucht

 

Vergiß mein nicht

Bibliothek der besten Romane

Band 401

Dämon Eifersucht

Roman von

Swea v. Münde.

 

 

Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin 26, Elisabethufer 44

 

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1921 by Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin.

 

 

1. Kapitel

Vater und Tochter

Der Winkelkonsulent Gabriel Balke saß in seinem armseligen Sprechzimmer am Schreibtisch und verschlang mit geradezu gierigen Blicken einen Brief, den der Postbote ihm soeben ausgehändigt hatte.

Der Briefumschlag lag auf der Schreibtischplatte. Es war ein sehr großer Umschlag aus festem, grauem Leinenpapier. Die Siegel und die Aufschrift ‚Einschreiben’ verrieten, daß der Inhalt wichtig sein mußte. Adresse, Namen und Wohnort des Absenders, ebenso der Vermerk ‚Einschreiben’ waren in lateinischen Buchstaben und in englischer Sprache geschrieben.

Gabriel Balke lehnte sich in den Sessel zurück und überflog nochmals den ebenfalls in englischer Sprache abgefaßten Text.

Der Winkelkonsulent und ehemalige Rechtsanwalt, der mit seiner Tochter erst vor einem halben Jahr nach Seeburg von Berlin aus verzogen war, lächelte jetzt zufrieden vor sich hin.

„Es muß glücken,“ murmelte Balke, der, wenn ihn etwas im Geiste besonders lebhaft beschäftigte, stets mit sich selbst zu reden pflegte. „Helma wird ganz einverstanden sein. Ich habe die beiden ja schon genügend – präpariert. Und der Zufall könnte es immerhin fügen, daß Herbert von etwas dem Geheimnis erfährt. Da ist es sicherer, ihn recht bald so fest an uns zu schmieden, daß unter allen Umständen ein Teil der Millionen mein wird. Ich will nicht, daß der täppische Zufall vielleicht verdirbt, was ich schlau vorbereitet habe. Ich muß alle Trümpfe in die Hand bekommen.“

Er lächelte stärker, jetzt aber nur noch triumphierend. Seine Augen öffneten sich. Ein Strahlen brach daraus hervor gleich dem Widerschein eines Feuers, das in diesem von der menschlichen Gesellschaft ausgestoßenen Manne verzehrend lohte.

„Man hat mich acht endlose Jahre hinter grauen Mauern begraben gehabt,“ murmelte er weiter, und die Worte zischten förmlich zwischen den Lippen hervor. „Man – man, – und das ist – die Welt da draußen, das sind die Spießer, die die Gesetze erfunden haben und die mit ihren Spatzenhirnen einen Menschen wie mich nie begreifen werden! Hütet euch! Hütet euch! Ich lebe noch! Und –“

Er lachte kurz auf. Die geballte Faust öffnete sich. Die Hand machte eine wegwerfende Bewegung.

„Was rege ich mich auf?! Unsinn! Sie sind’s ja gar nicht wert!“

Er erhob sich, schloß den Brief in die Schublade eines wurmstichigen, uralten Zylinderbureaus ein und rief dann laut:

„Helma, Kind, – einen Augenblick –“

In dem nach dem Hof hinaus gelegenen, ebenso ärmlich ausgestatteten einfenstrigen Zimmerchen hatte Helena Balke an dem mit schadhaftem Glanzleder überzogenen Tisch gesessen und Kartoffeln geschält.

Jetzt hob sie den Kopf. Ihre Miene drückte leisen Ärger aus.

‚Was will er denn?!’ dachte sie. ‚Habe ich nicht einmal jetzt Ruhe?!’

Dann rief sie zurück:

„Sofort, Papa, – sofort –“

Sie rieb sich die Hände an der blauen Wirtschaftsschürze trocken. Dann ging sie in die Vorderstube hinüber, wo der Winkelkonsulent jetzt kerzengerade, die Hände auf dem Rücken, auf und ab schritt.

Bei Helmas Eintritt blieb er stehen und überflog ihre Gestalt mit wohlgefälligem Blick. Die Sonne fiel durch die Fenster in breiter Bahn auf den Fußboden und spendete genügend Licht, des jungen Mädchens schmales, zartes Antlitz in allen Einzelheiten prüfen zu können. –

Ja – er konnte zufrieden sein! Das war Rasse, seine Helma! Das war kein Durchschnitt! Das war etwas für Feinschmecker, das war ein – Lockvogel besonderer Art!

Er deutete auf das verschossene Plüschsofa links an der Wand.

„Setz’ dich, Kind. Ich habe mit dir zu reden.“

Helma blieb stehen.

„Ich schäle gerade –“

Er unterbrach sie schon. „Das hat Zeit, Helma. Heute mehr denn je. Nimm also Platz –“

Zögernd tat sie es.

Er ging erst einige Male mit seinen kraftvoll kurzen Schritten hin und her, hielt den Kopf gesenkt und dachte nach, wie er ihr die Sache am besten beibringen könnte.

Hm – sie ganz einweihen?! – Nein – das ging gegen seinen Grundsatz, sich in nicht in die Karten sehen zu lassen. – Also hieß es vorsichtig zu sein. Helma mußte durch Andeutungen geködert werden.

Er machte vor ihr halt, lehnte sich gegen den Sofatisch, auf dem allerlei Zeitschriften, Papiere und Bücher lagen.

Helmas Gleichgültigkeit war plötzlich infolge eines besonderen, jäh in ihr aufgestiegenen Gedankens völlig geschwunden. Ihr Vater hatte ja bereits des öfteren durch so merkwürdige Andeutungen ihrer Neugier gereizt. Sollte sie vielleicht heute endlich erfahren, weshalb sie Berlin im vorigen Oktober verlassen hatten, und weshalb der Vater durch allerlei kleine Intrigen gerade Herbert Palmers Bekanntschaft gesucht und ein häufigeres Beisammensein zwischen ihr und dem jungen Bankbeamten begünstigt hatte?

Gabriel Balke las die stumme Frage aus seines einzigen Kindes Augen deutlich heraus. Er war ein Menschenkenner, wie es selten einen gab. Er besaß die Fähigkeit, mit oft verblüffender Genauigkeit die Gedanken anderer vom Gesicht sozusagen zu stehlen.

Er lächelte etwas. Wieder so selbstbewußt-triumphierend. – Selbstbewußt! Und hatte doch acht Jahre im Gefängnis gesessen, war erst vor neun Monaten nach Verbüßung seiner Strafe entlassen worden. Und das war im Juli 1919 gewesen. Draußen außerhalb der grauen Mauern hatte er eine neue Welt, eine neue Menschheit fast, vorgefunden. Aber er, der auf seine Geistesgaben pochend Gesetz und Recht selbstherrlich mißachtet hatte, er brauchte kaum vierzehn Tage dazu, sich an diese neuen Verhältnisse zu gewöhnen.

Was er da aus den grauen Mauern als wichtiges Geheimnis mit in die Freiheit hinausgetragen hatte, suchte er sofort in seiner Weise zu verwenden. Nur deshalb hatte er sich sehr bald zu der Schwester seiner verstorbenen Gattin begeben, hatte sich dort, wo man ihn nicht mehr kannte und nicht mehr kennen wollte, nicht abweisen lassen, hatte eine Unterredung mit Helma erzwungen und es schlau verstanden, sein Kind völlig für sich zu gewinnen.

Helma, die sich bei dem altjungfräulichen Fräulein von Bebra nicht recht behaglich gefühlt hatte, da in ihren Adern das unruhige Blut des Vaters nur zu stark pulste, – Helma war ihm dann gern gefolgt, hatte zunächst mit Freuden Ärmlichkeit und Entbehrungen auf sich genommen, da der Vater ihr immer wieder versprochen hatte: ‚Sei tapfer, Kind! Dir wird in kurzem ein Reichtum zuteil werden, wie ihn nur wenige auf dieser Erde besitzen!’

Aber – mit diesen Reichtümern dauerte es Helma allmählich doch zu lange. Dienstmagd spielen – das hatte sie bei der Tante Bebra doch nicht nötig gehabt. Und immer häufiger kamen daher für sie Stunden, wo sie sich zurücksehnte nach dem Frieden jenes Häuschens dort in der kleinen märkischen Stadt, bis – bis sie dann hier Herbert Palmer kennen gelernt hatte.

„Woran denkst du, Kind?“ fragte Balke jetzt.

Helma errötete leicht.

„Wenn ich ehrlich sein soll, an deine Versprechungen, Papa.“

„Hm – also an die Reichtümer –“

Sie nickte. –

Er kreuzte die Arme über der Brust, schaute geradeaus auf das Pastellgemälde seiner verstorbenen Frau, der schönen Edith, geborenen von Bebra.

Eine Weile Schweigen.

„Wie stets du mit Palmer, Kind?“ fragte er dann.

Helma zuckte die Achseln.

„Wir sind sehr gute Freunde, Papa.“

„Das ist – zu wenig,“ meinte er leise und blickte Helma fest an. „Freundschaft ist für uns nutzlos, Kind. Palmer muß an uns gekettet werden durch die innigsten Bande. – Du weißt, was ich darunter verstehe –“

Helma war rot geworden. Auf ihrer Stirn waren für Sekunden ein paar Falten dicht über der Nasenwurzel erschienen.

„Ja – ich weiß. – Ich habe mir längst gedacht, daß es in deiner Absicht liegt, Palmer und mich zu – zu Liebesleuten zu machen, Papa. Aber –“ – sie zauderte etwas – „aber – Liebe läßt sich nicht erzwingen, Papa –“

„So, mein Kind?! Nicht erzwingen?! – Du irrst! – Zunächst eine andere Frage. Wie denkst du selbst über Palmer? – Sei ganz offen. Wir beide sind ja nicht nur Vater und Tochter, – wir sind Lebenskameraden, gemeinsame Kämpfer. Du, Helma, gleichst nur äußerlich deiner Mutter. Dein innerer Mensch ist Zug für Zug mir ähnlich. – Also, was sagt dein Herz über Palmer?“

Helma senkte den Kopf tiefer und tiefer.

Ein langer, hörbarer Atemzug, fast ein Seufzer – dann –:

„Ich – ich liebe ihn!“

Gabriel Balke streckte die Rechte aus und strich Helma sanft über das aschblonde, volle Haar.

„Das – freut mich, Kind,“ flüsterte er jetzt. „Das erleichtert die Sache. – Und er?“

Helma hob die Schultern.

„Ich bin mir über seine Gefühle nicht klar,“ sagte sie widerwillig. „Er ist ein so – so schwerblütiger Mensch, so sehr verschlossen.“

Balke nahm Helmas Hände jetzt in die seinen, zog sie empor und blieb so Hand in Hand mit ihr stehen.

„Kind,“ meinte er noch leiser, „Kind, dieses Leben, das wir jetzt führen, kann in kurzem ein Ende haben, wenn du – klug bist. Nun, nennen wir’s beim richtigen Namen, wenn du raffiniert bist! – Sei es, Kind! Es handelt sich hier nicht nur um die Erfüllung von Herzenswünschen, die in dir wachgeworden sind –“ Er sprach lauter, energischer. „Es handelt sich um – Macht, Helma, – Macht! Und – nur Geld gibt Macht! – Frage nicht, wie das alles zusammenhängt. Vertraue mir. Ich will nur dein Glück und – meine Zufriedenheit! Und zufrieden werde ich erst dann sein, wenn ich das verwirklichen kann, was mich jetzt einzig und allein beschäftigt.“

Helmas Augen hingen wie gebannt auf dem bleichen Gesicht des Vaters.

Und Gabriel Balke sprach weiter.

Endlich zum Schluß eine Frage:

„Willst du, Helma?“

„Ja – ich will! Denn – ich liebe ihn –!“

Der ehemalige Anwalt lächelte und in diesem Lächeln war etwas wie eine Kampfansage gegen die Spießer mit den Spatzenhirnen, die die Moral hüteten und sich hinter den Gesetzen verkrochen.

 

 

2. Kapitel

Anni und Herbert

Das Bankhaus Erwin Tönning in Seeburg war eine sehr alte und sehr angesehene Firma. Seit neunzig Jahren befanden sich die Geschäftsräume im Erdgeschoß eines verwitterten Gebäudes am Bollwerksweg am Hafen. Dieser aus Granit ausgeführte zweistöckige Bau war wie für die Ewigkeit errichtet. Der Neuzeit hatten die Tönnings nur insofern Konzessionen gemacht, als man in den Kellern eine Stahlkammer eingerichtet und die Erdgeschoßräume unlängst modern ausgestattet hatte. Aber an dem Äußeren des alten Steinkastens war nichts geändert worden. –

An demselben Vormittag bat der junge Buchhalter Herbert Palmer den Chef um eine Unterredung.

Die Tönnings, wenigstens die ältesten Söhne, hießen alle Erwin mit Vornamen. Der jetzige Inhaber des Bankhauses war ein noch sehr frischer Sechziger, dessen Grundsatz lautete: ‚Leben und leben lassen!’ –

„Na, Palmer, so feierlich?!“ meinte der Chef freundlich. „Setzen Sie sich. Hier – Zigarette gefällig? Ach so, Sie sind ja Nichtraucher –“

Palma trat hinter den Lederstuhl und legte die Hände auf die Oberleiste der Rückenlehne. Er war blaß und offenbar nervös erregt.

„Herr Tönning, ich muß – muß leider meine Stellung hier kündigen,“ sagte er jetzt hastig.

„Na nu?! Machen Sie keine Witze, Palmer!“

„Mir ist wahrlich nicht danach zumute, Herr Tönning –“

„Ich begreife Sie nicht, Palmer. Was in aller Welt ist denn passiert, Mann?! Genügt Ihnen das Gehalt nicht?“

„Durchaus, Herr Tönning –“

Palmer fuhr sich über die Stirn, auf der ein paar Schweißperlen erschienen waren.

„Ich – ich kann Ihnen die Gründe zu meinem Bedauern nicht mitteilen, Herr Tönning, die mich zu dieser Kündigung zwingen,“ fügte er überstürzt hinzu. „Es sind Gründe, die jedenfalls nichts mit Ihrer Person oder der Firma irgendwie zu tun haben, wirklich nicht. Sie haben mich stets in diesen zwei Jahren, die ich hier –“

Der alte Herr winkte ab. „Weiß schon, Palmer! Mensch, seien Sie doch ehrlich! Weshalb also rennen Sie gerade jetzt davon, wo sie doch zum Herbst Prokura bekommen sollten?!“

Wieder trocknete Palmer mit dem Taschentuch die Stirn.

„Geirot eignet sich ebenso gut für den Posten, Herr Tönning,“ sagte er etwas unsicher. „Ich kann Ihnen Geirot nur empfehlen und – und Sie bitten, mich schon zum 1. Mai zu entlassen –“

Der alte Herr schlug mit der Faust leicht auf die Schreibtischplatte.

„Den Düwel ook, Miensch. Sie sein öwerjeschnappt!“ sprudelte er plattdeutsch hervor.

Dann stand er auf, trat dicht vor Palmer hin, schaute ihn scharf an.

„Hören Sie mal, mein Lieber, – hinter dieser Kündigung steckt irgendwas Besonderes,“ sagte er langsam. „Sie sind nicht der Mann, der eines Nichts wegen hier dieses warme Nest aufgibt. Ich will nicht weiter in Sie dringen. Aber – ich glaubte, Sie hätten in mir wohl so etwas wie einen väterlichen Freund gefunden, der vielleicht Anspruch darauf hat, von Ihnen – doch, was rede ich da. Sie werden schon wissen, was Sie tun –“

Er nahm Palmers Rechte, drückte sie kräftig.

„Gut denn – ich gestatte Ihnen, Ihre Stellung hier aufzugeben, wann Sie wollen. Und, lieber Palmer, – ich gestatte Ihnen ebenso, hier wieder einzutreten, wann Sie wollen –“

Herbert Palmer blickte starr zu Boden.

„Ich – ich danke Ihnen, Herr Tönning,“ preßte er hervor, wandte sich jäh um und verließ das Zimmer des Chefs.

Erwin Tönning schaute ihm kopfschüttelnd nach.

‚Das begreife ein anderer!’ dachte er. ‚Hm – ob da etwa ein Weib mit im Spiel ist?! Etwa dieser Racker, die Anni Wölk?! Das Mädel macht ja alle so halb verdreht – selbst den Lehrling und – mich!’ Er lächelte flüchtig. –

In der sogenannten Tippstube des Bankhauses, wo Anni Wölk lustig die Tasten klappern ließ und ebenso heiter die glühenden, dafür aber desto jämmerlicheren Verse las, die ihr der Lehrling Fritz Zunke jeden Morgen auf die Schreibmaschine legte, – in diesem winzigen Stübchen stand der Kassierer Maximilian Geirot neben dem Tipptischchen am Fenster und sah anscheinend sehr interessiert zu, wie Anni Wölk einen Geschäftsbrief herunter klapperte.

„Hm – wissen Sie schon das Neueste?“ fragte er jetzt und strich seinen blonden Spitzbart mit der zarten, wohlgepflegten Hand.

Anni Wölk schaute nicht auf.

„Und – das wäre?“

„Palmer hat gekündigt und verläßt am 1. Mai Seeburg –“

Ah – das saß!

Annis Hände waren in den Schoß gesunken und ihr Kopf förmlich herumgeflogen. Ihre dunklen Schelmenaugen hingen jetzt ängstlich ungläubig an dem Lebemanngesicht des Kassierers.

Geirot beugte sich etwas herab und fragte:

„Es ist so, Fräulein Wölk. Er hat heute den Chef um seine Entlassung gebeten. Er will ins Ausland. Ja – vielleicht ist dieses Ausland nur – Belgien, wo er ja während des Krieges in der Etappe Gelegenheit genug gehabt hat, allerlei Verbindungen – hm ja – anzuknüpfen –“

Anni Wölk war das Blut ins Gesicht geschossen.

„Das – das ist nicht wahr!“ rief sie in ihrer impulsiven Art.

„Was ist nicht wahr?“

Anni merkte die leise Ironie, senkte den Kopf und machte sich an der Schreibmaschine zu schaffen.

Geirot lächelte. Das Lächeln schwand. In seine Züge trat ein Ausdruck verzehrender Leidenschaft.

Er beugte sich noch tiefer über die Sitzende, sog fast gierig den Duft ihres dunkelbraunen Haares ein und flüsterte:

„Fräulein Anni, gestern abend war Palmer wieder bei dem – dem gewesenen Rechtsanwalt und seiner Tochter. Und – diese blendende Schönheit soll 1918 als Pflegerin in einem Lazarett in Belgien –“

„Schweigen Sie!“ rief das junge Mädchen empört. „Schweigen Sie! Sie – Sie wollen – wollen mich ja nur – nur –“

Tränen würgten ihr in der Kehle. Sie vollendete den Satz nicht, begann dann die Abschrift des Briefes fortzusetzen.

Tipp – Tipp – klapperte die Maschine.

Geirots Gesicht hatte sich verzerrt.

Ah – sie hatte sich jetzt endlich verraten – untrüglich verraten! Ja – sie liebte Palmer! – Nun wußte er es endlich ganz bestimmt!

„Fräulein Anni,“ raunte er ihr ins Ohr, und seine Stimme zitterte vor Leidenschaft. „Ich will Sie nicht quälen! Das wollten Sie doch soeben sagen, nicht wahr! – Nein, nein, ich meine es nur gut mit Ihnen. Ich kenne das Leben und die Menschen besser als Sie. Palmer verkehrt nicht umsonst so viel bei Balkes. Sie in Ihrer Harmlosigkeit ahnen ja gar nicht, wie viel Falschheit es hier auf Erden gibt. Nein, sie halten die Welt noch immer für –“

Draußen im Flur näherten sich Schritte. Geirot schwieg einen Moment. Er kannte diesen festen, kräftigen Schritt. Das war Palmer.

Und so legte er denn schnell den Arm auf die Rückenlehne des Stuhles, auf dem Anni Wölk saß, näherte seinen Kopf noch mehr dem ihren, sprach weiter:

„– noch immer für ein Lustspielhaus. Und dabei ist’s doch –“

Die Tür ging auf.

Herbert Palmer stutzte. Dieses vertrauliche Bild da?! Und – wie erschrocken Geirot sich jetzt aufrichtete!

„Pardon – ich störe wohl,“ sagte er kurz und zog die Tür wieder zu.

Anni Wölk war beim Klang dieser Stimme hochgeschnellt.

„Was – was war das soeben?“ stammelte sie verwirrt. „Weswe – gen –“

Ihre Blicke suchten den Ausdruck des Gesichts Maximilian Geirots zu ergründen.

„Weswegen verließ der Herr Palmer wieder das Zimmer? Ich – ich –“

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie konnte sich nicht mehr beherrschen. Diese – diese furchtbare – für sie so furchtbare Nachricht, daß Palmer aus Seeburg fortzog, hatte sie derart aus dem seelischen Gleichgewicht gebracht, wie dies kaum etwas anderes in demselben Maße hätte bewirken können.

„Gehen Sie – gehen Sie!“ bat sie jetzt und ließ sich wieder auf den Stuhl sinken.

Ach – sie schämte sich ja so unendlich, weil sie ihre Gefühle gerade vor dem ihr so widerwärtigen Geirot nicht hatte verhehlen können; sie sah ein, daß sie ihre wahren Empfindungen vor diesem Menschen preisgegeben hatte. Sie wollte allein sein – allein! Das war ihr einziger Wunsch!

Geirot griff nach ihrer Hand.

„Fräulein Anni – ich gehe! Es wird der Tag kommen, wo Sie einen Freund brauchen. Dann – denken Sie an mich!“

Leise schlich er hinaus.

Als er die Tür sacht zugedrückt hatte, als er nun aufblickte, stand er – Herbert Palmer gegenüber.

Das schmale Gesicht Palmers war undurchdringlich und von ablehnender Kälte.

„Ich wollte Ihnen nur mitteilen, daß es geschehen ist,“ sagte er leise. „Ich habe Sie auch, wie versprochen, Herrn Tönning warm empfohlen. Ich denke, Sie werden jetzt auch Ihrerseits halten, was zwischen uns vereinbart wurde.“

„Gewiß,“ erklärte Geirot und suchte den kühlen Ton der Stimme Palmers nachzuahmen. „Ich gebe Ihnen also mein Wort, daß ich schweigen werde.“

Palmer verbeugte sich förmlich, machte kehrt und betrat die Geschäftsräume. –

So leise die beiden auch gesprochen hatten, Anni Wölk hatte jedes Wort, dicht hinter der Tür der Tippstube stehend, ganz genau mitangehört.

Als Geirot auf ihre so dringende Bitte hin sie verlassen gehabt hatte, als der Riegel des Türdrückers mit kaum merklichem metallischen Klingen hinter dem sich entfernenden Kassierer eingeschnappt war, da hatte sie es schon bereut, ihn fortgeschickt zu haben.

Sie war ja Weib, diese reizende, heitere, zwanglose Anni Wölk! Sie war so sehr Weib, so sehr ganz echtes Temperament und fröhliche Lebensbejahung, daß alle Männer es merkten, ob alt, ob jung, – daß alle hinter ihr her waren mit schlecht verhehlten Blicken – alle! – Sie selbst ahnte nichts von dieser Macht, die die Natur ihr gegeben hatte. In ihrer frischen, munter übermütigen, neunzehnjährigen Harmlosigkeit hätte sie jeden ausgelacht, der etwa zu ihr warnend gesagt haben würde: ‚Anni Wölk – Vorsicht! Gerade Sie können so unendlich viel Unheil stiften, können jenen Dämon in Herzen wecken, der die schlimmste aller Leidenschaften wachruft: die Eifersucht!’

Ja – sie war Weib! Ganz Weib, diese lebenslustige, schlanke, etwas üppige Anni Wölk! Ihre wundervollen, leuchtend roten Lippen lockten wie rote Rosenknospen, die duftverheißend am Strauch glühen; ihre Freundlichkeit gegen jedermann konnte nur zu leicht gerade von Herren, die sich den Reizen dieses holden, frischen Wesens nicht entziehen konnten, falsch gedeutet werden. Und – in dem Weib, das sein Herz bereits verloren, das sein schönstes, tiefstes Geheimnis heute einem der wenigen, ihr von Grund auf unsympathischen Menschen verraten hatte, war durch dieses selben Mannes Andeutungen ganz plötzlich die Eifersucht in ihrem Herzen aufgelodert.

Sie hatte es bedauert, Geirot nicht näher ausgefragt zu haben.

Helma Balke sollte in Belgien gewesen sein – zusammen mit Herbert vielleicht am selben Etappenort?!

Wenn dem so war, dann hatte Palmer ja gelogen! Denn er hatte ihr erzählt, er sei erst hier durch einen Zufall mit Balkes bekannt geworden. –

Und deshalb war sie zur Tür geeilt, hatte den kaum zur Ruhe gekommenen Drücker wieder mit der Hand beschwert.

Lautlos war die Tür ein wenig aufgegangen. Dann hatte Anni sie festgehalten in derselben Lage. Denn an ihr Ohr war Herberts leise Stimme gedrungen.

So wurde sie Zeugin dieser seltsamen, kurzen Aussprache zwischen den beiden Männern. –

Geirot hatte durch eine andere Tür ebenfalls sofort die Geschäftsräume betreten. Anni aber saß nun ganz zusammengesunken vor ihrer Schreibmaschine.

Mein Gott – was hatten diese merkwürdigen Sätze zu bedeuten, die die beiden Männer da im Flur ausgetauscht hatten?!

Anni rief sich jedes Wort nochmals ins Gedächtnis zurück. Und dann – es war nur eine Eingebung des Augenblicks! – schrieb sie auf ein Stück Papier fast Wort für Wort das auf, was sie eben erlauscht hatte.

‚– nur mitteilen, daß es geschehen ist. Ich habe Sie auch, wie versprochen, Herrn Tönning warm empfohlen. Ich denke, Sie werden jetzt auch Ihrerseits halten, was zwischen uns vereinbart wurde.’

„Gewiß. Ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich schweigen werde.“

Anni überflog das Geschriebene immer wieder.

Sie war Weib, diese Anni. Aber nicht nur Weibchen. Sie besaß gesunden Verstand, gesunde Sinne. Herr Tönning hatte mal scherzend gesagt: ‚An Ihnen ist ein Rechtsanwalt verloren gegangen, Fräulein Wölk!’ Und damit hatte er nur andeuten wollen, daß sie nicht nur klug war, sondern auch über jene höhere Intelligenz verfügte, die Dinge kritisch zu prüfen und zu würdigen wußte, die weitschauend zu richtigen Schlüssen führten und auch wieder mit jener Schlauheit gepaart waren, wie sie auch dem einfachen Manne in gesunder oder ungesunder Selbstsucht eigen. –

Anni prüfte das Geschriebene.

Offenbar hatte es da eine beiderseitige Verpflichtung zwischen den beiden Männern gegeben, die auf Seiten Geirots in dem Versprechen des Schweigens bestand.

Des Schweigens! – Worüber wohl – worüber?! Was hatte Geirot verschweigen sollen? Doch nur etwas, das Herbert Palmer anging und ihm schaden konnte!

Und – wodurch hatte sich Palmer dieses Schweigen erkauft?

‚– nur mitteilen, daß es geschehen ist –’

Was – was nur war ‚geschehen’?

Anni sann und sann.

Schließlich schob sie den Zettel aufseufzend in ihr Handtäschchen und ging wieder tief betrübten Herzens an die Arbeit.

 

 

3. Kapitel

Wie es weiter kam ...

Dieser Sonnabendvormittag sollte Anni jedoch noch weit Trüberes bringen. Das Bankhaus Tönning schloß an jedem Sonnabend um ein Uhr. Das war seit langen Jahren so eingeführt. Die Tönnings hatten ein Herz für ihre Angestellten.

Anni hatte jetzt den Brief fertig und ging hinüber in das Privatkontor des Chefs.

Der alte Herr Tönning hatte inzwischen Zeit genug gehabt, über die ihm so ungelegen kommende Kündigung Palmers reiflich nachzudenken. Das Ergebnis war die Überzeugung, daß ein Weib hinter diesem plötzlichen Entlassungsgesuch steckte, – ein Weib, und sehr wahrscheinlich Anni Wölk! – Natürlich Anni Wölk! Wer sonst?! Tönning war ja gleich der Gedanke gekommen, daß nur sie hier, freilich unbeabsichtigt, Herbert Palmer vertrieben haben könnte.

Tönning drehte sich halb im Schreibsessel um und musterte das Tippfräulein nicht eben wohlwollend.

„Hm – Sie haben in diesem Brief recht oft daneben gehauen, Fräulein Wölk,“ meinte er. „Waren wohl so etwas zerstreut –“

Anni wurde feuerrot. In ihrer jetzigen Stimmung hatte sie ein feines Gehör für das wenig Freundliche in der Stimme des Chefs. Ihr stiegen schon wieder die Tränen in die Augen.

„Ich – ich habe – Ärger gehabt,“ sagte sie mit schwerer Zunge.

Tönning sah die in verräterischem Naß schwimmenden, sonst so heiter strahlenden dunklen Äuglein, stand plötzlich auf und fragte in ehrlicher Teilnahme:

„Worüber haben Sie sich denn geärgert, Kleine? Raus mit der Sprache? Sie wissen Ihr seliger Vater und ich waren gute Freunde, und diese Freundschaft besteht auch zwischen mir und Ihrer lieben Mutter. Da darf ich also schon mal den Chef vergessen und nur Mensch sein. Was gibt’s, in drei Deibels Namen?!“

Er wurde etwas erregt.

„Erst kommt der Palmer und kündigt, und jetzt stehen Sie hier wie ein geknicktes Röslein mit Tränen in den Wimpern –“

Anni Wölk schluchzte leise auf.

„Ich – ich möchte – darüber nicht sprechen,“ stammelte sie und schaute zu Boden.

„So so – nicht sprechen! Na – auch das genügt! Ich wittere da wohl nicht zu Unrecht einen Zusammenhang zwischen dieser Kündigung und – und diesen Tränlein – aha, Kleine, – Sie sind eine schlechte Schauspielerin. Dieses Zusammenzucken verrät viel. – Himmel – ist’s nicht geradezu schrecklich, daß sich nun diesen Palmer nur deshalb verliere, weil – weil – nicht weinen, Anni, nicht weinen! Ich bin ja schon still, ich will ja nichts, gar nichts mehr wissen. Gehen Sie, Kind, – fassen Sie sich! Diese – diese verdammte – Liebe –!“

Er schob Anni zur Tür hinaus, und während er seinen Schreibtisch immer aufs neue umkreiste führte er dabei halblaute Selbstgespräche. –

Anni saß wieder in ihrem Stübchen, tippte und schlug viel daneben. Hin und wieder sanken ihr die Hände wie kraftlos in den Schoß. Dann überfiel sie stets derselbe Gedanke wie lähmendes Entsetzen:

‚Palmer verläßt Seeburg! Bald wird er nicht mehr hier sein – so sehr bald!’

Dann kam Herr Fritz Zunke, der Lehrling, und brachte neue Arbeit.

„Fräulein, hier – dieses Schreiben an Jakoby Söhne eilt sehr, läßt Herr Palmer sagen,“ stotterte er.

„Gut, ich werde es sofort erledigen,“ erwiderte Anni matt.

Fritz Zunke seufzte kläglich und verschwand.

Anni schaute auf den Briefentwurf. – Das war Herberts klare, schmucklose Schrift. Bisher war er stets selbst zu ihr gekommen, wenn er eine dringende Abschrift hatte – stets! Auch das war nun vorbei. –

Die Tasten klapperten. Aber – überall schlichen sich Fehler ein. – Nein – sie mußte einen neuen Bogen nehmen. So konnte sie den Brief nicht abliefern.

Auch der zweite Bogen wurde verdorben.

Sie spannte den dritten ein. Sie war bereits ganz verzweifelt.

Wieder waren ihr die Hände in den Schoß gesunken.

Mein Gott – mein Gott, – wie sollte sie dies wohl überstehen! Herbert nicht mehr hier! Und – Herbert vielleicht in der Fremde wieder mit Helma Balke zusammen – vielleicht bald als deren Gatte!

Da – es klopfte.

Sie fuhr zusammen. – Was bedeutete das?! Seit wann war es hier denn Brauch, daß jemand anklopfte? –

Herbert Palmer war’s. Er blieb an der Türe stehen, behielt den Drücker in der Hand.

„Ist der Brief fertig?“ fragte er kurz. „Ich ließ doch sagen, daß das Schreiben sehr eilig ist, Fräulein Wölk. Eine halbe Stunde ist jetzt verflossen –“

Anni war aufgestanden. Palmers kurze, fast herrische Worte weckten etwas, das sie sonst nie kannte; trotzige Auflehnung und den Wunsch, ihm zu zeigen, daß er ihr völlig gleichgültig sei.

„Ich bringe Ihnen den Brief in wenigen Minuten,“ erklärte sie ebenso kurz und setzte sich wieder. „Ich hatte mich ein paarmal verschrieben. Das kann jedem passieren –“

Die Maschine klapperte.

Herbert Palmers Stirn zeigte drei tiefe Fall. Sein hageres, leicht gebräuntes Gesicht nahm einen fast drohenden Ausdruck an. Dann lächelte er bitter und zog die Tür ins Schloß.

Draußen im Flur trat er an das hohe Bogenfenster und blickte über die Straße und das Hafenbollwerk hinweg auf einen Segler, der soeben drüben am Ufer festgemacht wurde. Er kannte alle Flaggen. Die des Dreimasters dort war die der Republik Brasilien.

Brasilien! – Er wollte ja Deutschland verlassen, wollte auswandern, wußte nur noch nicht wohin. In Brasilien gab es ja große deutsche Siedlungen. Da würde doch ein gesunder Mann von neunundzwanzig Jahren wohl sein Brot verdienen können.

Auswandern! Nur nicht hier bleiben, wo er sich jetzt keinen Augenblick mehr sicher fühlen würde. Was dieser elende Spion, der Geirot, ausgekundschaftet hatte, das konnte vielleicht nach wenigen Wochen ein täppischer Zufall vollends an die Öffentlichkeit zerren. Und dann – dann?! Was würde dann werden?!

Herbert Palmer ballte die Hände zu Fäusten und preßte sie gegen die Schläfen.

„Die Gespenster!“ murmelte er. „Die Gespenster! – Und jetzt auch noch Anni verloren, mein sonniges Mädel! – Bin ich denn wirklich ein so schlechter Menschenkenner, daß ich mich so – so habe täuschen lassen, daß ich ihr nie Koketterie, Leichtfertigkeit und Flatterhaftigkeit zugetraut hatte?!“

Die Szene vorhin im Tippstübchen war ja Beweis genug gewesen! Ohne Zweifel hatte Geirot doch den Arm um Annis Schulter geschlungen gehabt!

Palmer stöhnte auf. Er hatte das Gefühl, daß die Welt um ihn her zusammenbrach. Und vorgestern noch hatte er auf einem seiner weiten, einsamen Morgenspaziergänge sich seine Zukunft bis ins einzelne so ganz anders ausgemalt gehabt. Im Mittelpunkt all dieser Einzelheiten hatte Anni Wölk gestanden, in Kranz und Schleier, als sein junges Weib.

Vorbei – vorüber!

Mit einem Mal fand er sich dann wieder in die hoffnungslose Gegenwart zurück. Dort auf dem Bürgersteig war ein Mann stehen geblieben und hatte zu ihn hinaufgewinkt.

Er schrak etwas zusammen, nickte dem Grüßenden dann zu.

Es war Gabriel Balke, der Winkelkonsulent, der Naturschwärmer, der geistvolle Plauderer, der Mann mit der Phantasie eines Jules Verne.

Oh – des ehemaligen Rechtsanwalts Erscheinung entsprach jetzt durchaus der Stellung, die er eingenommen hatte. Statt der Brille trug er einem goldenen Klemmer und der Anzug, noch aus besseren Zeiten von vor acht Jahren stammend, saß wie aufgegossen und machte Gabriel Balke noch schlanker und fast jung.

Wieder winkte er jetzt Palmer zu. Dieser verstand, Balke wollte ihn sprechen.

Er eilte die wenigen Stufen hinab und betrat die Straße.

Balke streckte ihm die Hand entgegen.

„Servus, Herr Palmer! – Was sagen Sie zu dem Prachtwetter? Wie wär’s, wenn wir nachmittags einen längeren Spaziergang machten? Sie haben heute ja frei. Wir nehmen ein paar belegte Brote mit und futtern dann irgendwo am Haff in einem Dorfwirtshaus Abendbrot –“

Palmers braune Augen strahlten auf.

„Ja – ja, – nur hinaus ins Freie, hinaus in die Arme der großen Trösterin Natur! – Soll ich Sie abholen kommen? Und wann?“

„Um dreiviertel drei, wenn es Ihnen recht ist. Für den Proviant sorgt Helma. – Auf Wiedersehen also. Ich will Sie nicht länger aufhalten. Und, mein Lieber, – bringen Sie gefälligst ein anderes Gesicht mit!“

 

 

4. Kapitel

Ich liebe dich ...

Die Sonne stand schräg über den roten Ziegeldächern der Strafanstalt Düsterberg.

Der von Gebäuden umgebene große Hofraum, auf dem die Gefangenen den gewohnten Bewegungsspaziergang, in Reih und Glied dahinmarschierend erledigten, waren nur zur Hälfte in Sonnenlicht getaucht.

Wenn die von vier Aufsehern bewachte Kolonne von sechzig Gefangenen auf die Sonnenseite kam, wurden die Schritte noch träger. Jeder wollte die Frühlingssonne auf dem Körper und dem fahlen Gesicht fühlen, solange es irgend ging.

Die Aufseher kannten das schon. Selbst wenn die Kolonne einmal ganz von selbst in der Sonne ein paar Minuten stehen blieb, duldeten sie es schweigend. Nur eins duldeten sie nicht, daß die Gefangenen miteinander sprachen!

Das war von jeher streng verboten. Und so und so oft klang es über den Hof scharf und mahnend:

„Ruhe! Es wird geflüstert!“

Oder der Aufseher rief gar den betreffenden mit Namen an und drohte mit Strafe.

Wieder hielt der Trupp in der Sonne. Alle sechzig standen da mit halb geschlossenen Augen, das Gesicht der Sonne zugekehrt.

Doch nicht alle! – In der letzten Reihe ging als einzelner ein gebückter Greis. Der ließ auch jetzt den Kopf hängen, schien sich nicht mal über die Sonne zu freuen.

Dann – allgemeine Unruhen. Der Alte war umgesunken!

Ein Aufseher sprang zu, beugte sich über ihn.

„Ohnmächtig!“ rief er den Kollegen zu. „Los – bringen wir ihn gleich ins Lazarett –“ –

Am Abend meldete der Anstaltsarzt dem Direktor, daß es mit dem Strafgefangenen Lothar Kalwer zu Ende ginge.

Der Greis lag regungslos mit fest geschlossenen Augen in seinem Bett. Man hatte dieses bereits in das kleine Zimmer gerollt, wo die hoffnungslosen Fälle untergebracht wurden, damit den anderen Kranken der Anblick eines Sterbenden entzogen würde.

Der Direktor, der Arzt und der Oberaufseher betraten jetzt den einfenstrigen Raum. Auch da regte der Greis sich nicht. Erst als der Arzt ihn anrief, öffnete er matt die Augen.

Sein halb umflorter Blick glitt über die drei Männer und das Zimmer hin. Wer wie Lothar Kalwer neun Jahren in den grauen Mauern gelebt hatte, der wußte sofort Bescheid, was diese Einzelhaft für einen Kranken bedeutete.

Seine Augen blieben auf dem Direktor ruhen, wobei er schwach die Lippen bewegte.

Der Direktor beugte sich über das Bett.

„Kalwer, haben Sie noch etwas zu Protokoll zu geben? Haben Sie noch einen Wunsch?“ fragte er den Sterbenden.

Der Greis nickte eifrig.

Der Arzt beriet flüsternd mit dem Direktor und machte dem Verscheidenden dann noch eine Kampferinjektion.

Die schlaffen Züge Kalwers belebten sich etwas. Man stützte ihm den Oberkörper höher. Der Direktor setzte sich auf den Bettrand.

„Kalwer, wollen Sie vielleicht Ihr Gewissen erleichtern,“ fragte er eindringlich. „Wollen Sie jetzt zugeben, daß Sie Ihre Frau im Jähzorn erschlagen haben?“

Der Alte starrte mit großen Augen den Direktor an. In seinem Gesicht spiegelte sich deutlich der Kampf wieder, der in seinem Gewissen rege geworden.

„Nein,“ flüsterte er dann. „Nein, ich habe nichts zu gestehen. Aber – etwas – etwas anderes wünsche ich. – Wo – wo sind meine Schuhe?“

Sie wurden schnell herbeigebracht. Mit zitternden Fingern faßte der Alte in den rechten Schuh hinein und holte aus der äußersten Spitze ein eng zusammengefaltetes Stückchen Leinwand hervor. Auf dieses war mit Bleistift etwas wie eine Geländeskizze gezeichnet. –

Dann flüsterte der Alte weiter:

„Es – es wird nach meinem Tod, der – von meinen – hier gemachten Ersparnissen im Stettiner Tagesboten sechsmal in Abständen von drei Tagen veröffentlicht werden soll, jemand hier in der Anstalt meinen – Nachlaß einfordern. Dem Betreffenden soll man, falls er sich durch einen Leinenfetzen ausweist, der eine ähnliche Skizze zeigt, alles aushändigen, was mir gehörte, besonders aber dieses Leinwandstück. Man soll den Abholer nicht nach seinem Namen fragen. – In die Zeitung –“

Er schwieg erschöpft, fuhr erst nach einer Weile fort: „In die Zeitung, den Stettiner Tagesboten, soll man folgendes einrücken:

Am so und so vielten entschlief, versöhnt mit seinem Gott, der frühere Kaufmann und spätere Strafgefangene Lothar Kalwer.

Auf Wunsch des Verstorbenen veröffentlich durch die Anstaltsdirektion Düsterberg.

Dies soll sechsmal als Anzeige erscheinen. – Angehörige besitze ich nicht mehr. Ich hatte zwei Kinder. Eines davon starb in jungen Jahren. Das andere ging in die Fremde und ist verschollen.“

Der Oberaufseher brachte all dies schnell zu Papier. Dann reichte man Kalwer die Feder. Mit zittrigen Buchstaben entstand sein Name: Lothar Kalwer.

Dann unterzeichneten noch die drei Beamten als Zeugen. –

Am nächsten Morgen um sechs Uhr starb der Greis. Er war sanft ohne Todeskampf in eine bessere Welt hinübergeschlummert.

Sein Todestag war ein Sonnabend, war der 24. April 1920. Und an demselben Sonnabend hatte Gabrielle Balke den Brief mit der englischen Adresse erhalten, hatte Herbert Palmer seine Stellung gekündigt und sich mit Anni Wölk entzweit.

*

Die Sonne sank.

Ein kühler Wind strich von Ost her über das Stettiner Haff, warf kleine Wellen auf und erzeugte am Ufer der kleinen, in einen kahlen Sandberg auslaufenden Halbinsel ein sanft murmelndes, eigentümliches Brandungsgeräusch.

Alle Farbenwunder eines prachtvollen Sonnenuntergangs zeigten der Himmel und die weite Wasserfläche des Haffs.

Rosig erstrahlte auch das schmale, feine Antlitz Helma Balkes. Sie saß neben Herbert Palmer auf einem kleinen Abhang jener Halbinsel, die Augen gen Westen gerichtet.

Die beiden schwiegen schon eine ganze Weile.

Noch nie hatte Herbert Palmer – und er war mit Helma doch bereits so häufig allein gewesen – einen so tiefen Blick in diese Rätselseele von Weib getan wie heute.

Wie etwas, das er nicht begreifen konnte, wie etwas völlig Wesensfremdes war ihm Helma bisher erschienen. Sie liebte es, gerade vor ihm sich als ein Mensch aufzuspielen, der spöttisch erhaben über all das war, was andere durch Gefühle beglückt oder schmerzt. Absichtlich hatte sie sich so gegeben, als wäre für sie Liebe – Liebesglück und Liebesleid etwas Albernes, etwas, das nur schwache Naturen aus dem seelischen Gleichgewicht bringen könne. Sie als die Tochter eines Gabrielle Balke hatte sich eben gesagt, daß ein Herbert Palmer als Mann, als das Ziel sehnsüchtiger Wünsche für sie nicht in Betracht käme. Sie hatte Komödie gespielt vor ihm. Sie konnte dies ja so gut. Sie war nur äußerlich der schönen Mutter ähnlich. Innerlich war sie ganz eine Balke.

Dann aber heute früh die Unterredung mit ihrem Vater.

Da hatte sie förmlich befreit aufgeatmet; da hatte das namenlose Sehnen nach einem lange entbehrten Glück, nach zarten Liebesworten, nach stürmischen Zärtlichkeiten ihr beinahe die Brust zu sprengen gedroht.

Herbert Palmer! Herbert Palmer! Sie durfte ihn sich erobern, mehr noch, der Vater wünschte es!

Und dann der Spaziergang nach dem kleinen Fischerdorf am Haff. Balke war absichtlich immer wieder zurückgeblieben, angeblich, um Käfer zu sammeln. So waren Herbert und Helma denn volle zwei Stunden allein auf den einsamen Waldwegen gewesen.

Heute hat Helma sich von vornherein ganz anders gegeben. Sie war plötzlich ein ganz gewöhnliches Durchschnittsmädel geworden, plauderte harmlos, lachte heiter, freute sich über die Anemonen im Wald, über die Eichhörnchen, – kurz, sie war wie ausgewechselt.

Herbert staunte, wurde noch einsilbiger.

‚Sphinx! Rätselwesen!’ dachte er.

Dann blieb sie plötzlich stehen, schaute ihn offen an.

„Nicht wahr, Sie sind jetzt völlig an mir irre geworden, Herr Palmer,“ sagte sie „geben Sie es nur ruhig zu: Sie wissen heute weniger denn je, was man von Helma Balke eigentlich zu halten hat. Nun, ich will ehrlich sein, die Helma, die Sie bisher kannten, war gar nicht Helma! Nein, das war ein junges Weib, das sich durch den Gedanken, die Tochter eines – Sträflings zu sein, dazu verführen ließ, auch Ihnen gegenüber nichts als eine einstudierte Rolle zu spielen. Heute hat Papa, mich deswegen gehörig ins Gebet genommen und mir gesagt: ‚Du, der Palmer verdiente es nicht um uns, daß du dich ihm gegenüber so zeigst, wie du gar nicht bist!’ – So, nun wissen Sie Bescheid, Herr Palmer. Nicht wahr, Sie sind mir nicht böse deswegen?“

„Nein, nein! Im Gegenteil, ich freue mich so ehrlich, daß Sie nun erst wirklich junges Mädchen geworden sind,“ hatte er erwidert und ihr herzlich beide Hände hingestreckt.

Und sie hatte die ihren hineingelegt, hatte seine Finger umklammert und plötzlich in holder Verwirrung und über und über rot werdend geflüstert:

„Ich – ich danke Ihnen –“

Und da – da war in Herberts Seele jäh eine seltsame Erkenntnis aufgedämmert. – Sie liebte ihn!

Sie hatte sich dann plötzlich losgerissen und war – davongelaufen.

Er stand wie angewurzelt und schaute ihr nach.

‚Mein Gott – sie liebt dich!’ dachte er. ‚Sie liebt dich! Und du – du?!’

Annis Bild tauchte vor ihm auf. Und ein Seufzer mischte sich in das Rauschen der Waldbäume.

Dann – ein anderes Bild. Das Tippstübchen und, über Anni gebeugt, der elegante, blonde Kassierer.

„Weg mit den Gedanken!“ rief er sich zu. „Anni war deiner nie wert!“

Und – eilends lief er hinter Helma drein, fand sie dann jenseits der Biegung des Waldpfades mitten unter weißen Anemonen knien, das Gesicht mit den Händen bedeckt, und – weinen – weinen.

Jetzt spielte sie nicht Komödie, wußte selbst nicht, was ihr plötzlich die Tränen in die Augen getrieben hatte.

Er trat neben sie.

„Fräulein Helma!“ sagte er leise.

„Nein – nein!“ schluchzte sie. „Gehen Sie – gehen Sie – lassen Sie mich jetzt eine Weile allein.“

Und er ging. Später gesellte sie sich wieder zu ihm, war noch etwas verlegen und bedrückt.

Er suchte sie aufzuheitern. Und es gelang ihm.

Im Dorfwirtshaus trank man Kaffee; dann schritten Helma und Herbert der Halbinsel zu, um sich den Sonnenuntergang anzusehen.

Sie saßen nun ganz dicht nebeneinander. Herbert Palmer hatte sich inzwischen vieles überlegt. Und aus all den Gedanken war dann auch bei ihm etwas wie eine neue Sehnsucht nach Glück emporgewachsen.

Er hatte sich so sehr auf ein inniges Liebesglück mit Anni Wölk gefreut; nur dieser Zukunft hatte sein Denken gehört. Dieser Traum war ausgeträumt. Anni war tot für ihn. Und doch war in seinem Herzen eins so rege geblieben; das Sehnen nach einem Weib, das ihm ganz gehören sollte, die ihm Kamerad, Freund, Geliebte, eben alles – alles sein sollte.

Und nun hier diese wundervolle Abendstimmung, das Rauschen der Wellen; und er allein mit Helma Balke, der stolzen, unnahbaren, kalten Helma, die – – die ihn liebte.

Sie saßen da und schwiegen. Über ihre Köpfe strichen Möwen hin mit heiserem Schrei.

Er blickte nach ihr hin; hatte ganz langsam den Kopf gedreht.

Wie schön sie war! Welch klassisch reines Profil sie hatte!

Sie merkte, daß er sie prüfend musterte, auch ihr Kopf wandte sich ihm zu; ihre Augen begegneten den seinen.

Eine Welt von Liebe strahlte ihm daraus entgegen.

„Helma!“ flüsterte er halb unbewußt.

Noch einmal war’s ihm, als verändere sich dieses zarte Antlitz, als säße da Anni Wölk neben ihm.

Nur einen Moment dauerte diese Rückerinnerung, meldete sich das, was in seinem Herzen nie erloschen würde.

„Helma, wir sind beide keine Durchschnittsnaturen, sind Menschen, die abseits der Heerstraße wandern,“ flüsterte er weiter und griff nach ihren Händen, stand gleichzeitig auf und zog sie mit empor. „Helma – wollen wir beide nicht vereint den Kampf mit diesem oft so jämmerlichen Dasein aufnehmen?“

Sie starrte ihn jetzt wie geistesabwesend an.

„Herbert, haben Sie sich all das auch reichlich bedacht?“ sagte sie leise, und ihre Stimme zitterte und bebte. „Ich bin das Kind eines – Sträflings! Und – der Mann, dem ich mich aus Liebe zu eigen gebe, muß mein sein und mein bleiben mit jeder Faser seines Herzens!“

Wie eine Warnung waren die letzten Sätze. Da hatte Helmas Stimme nicht mehr gebebt; da hatte sie Herbert Palmers Hände mit einer Kraft gepreßt, daß er leicht zusammenzuckte vor Schmerz.

Und abermals wollte sich da das Bild der Anderen zwischen die beiden drängen.

Wollte! – Herbert hatte schon mit ungestümer Kraft die Tochter des Winkelkonsulenten in seine Arme genommen, küßte sie.

Ein Fischer, der vorüberruderte und ihnen einen derben Scherz zurief, scheuchte sie hinweg in ein kleines, gestrüppbewachsenes Tal.

Hier blieben sie, bis das letzte Abendrot erloschen war.

Und als sie dann in das Dorfwirtshaus zurückkehrten und Herbert dem Zurückgebliebenen strahlend mitteilte, daß er ein Brautpaar vor sich habe, da schüttelte Gabriele Balke ernst den Kopf und meinte:

„Kinder, Kinder, meinen Segen habt ihr ja! Aber – was werden die Seeburger dazu sagen?! Ich bin nun doch einmal für die biederen Spießer ein so genanntes Mauvais sujet zu deutsch ‚anrüchiges Luder’. Lieber Palmer, ob Sie recht getan haben, mit dem Kinde eines –“

Während er so sprach, hatte er Herberts und Helmas Hände in den seinen, und das freudige Leuchten in seinen Zügen bewies, daß er trotz dieser Worte überaus zufrieden mit dieser Verlobung war.

Deshalb schnitt Herbert ihm auch das weitere mit einem kurz hervorgestoßenen: „Um die Meinung der Welt kümmere ich mich nicht einen Deut! Also lassen Sie das alles, lieber Herr Balke!“ so energisch ab, daß Balke meinte:

„Ja, wenn Sie wirklich so viel Mut haben, dann – na – also meinen Glückwunsch, Kinder! Mit Sekt können wir die Verlobung nicht begießen. Ich bin nicht Großkapitalist. Aber ‘ne anständige Flasche Rheinwein wird der Wirt hier fraglos haben!“

Erst gegen Mitternacht langten die drei wieder in Seeburg an. Balke hatte Herbert gebeten, die Verlobung hier geheim zu halten. Da Palmer ja doch seine Stellung zum 1. Mai gekündigt hätte und da auch er mit Helma Seeburg wieder verlassen wollte, weil er hier als Winkelkonsulent zu wenig zu tun habe, so würde man eben die Stadt zum ferneren gemeinsamen Aufenthalt wählen, wo Herbert bestimmt eine neue Anstellung fände.

 

 

5. Kapitel

Geheimnisse

Vater und Tochter waren allein. –

Balke hatte erst noch draußen die Läden vor die kleinen Fenster gelegt und die dürftigen Vorhänge sorgfältig zugezogen.

Bisher war kein Wort zwischen ihnen gewechselt worden, nachdem sie jetzt ohne Zeugen waren.

Helma hatte sich in die Sofaecke gesetzt. Sie war noch ganz erfüllt von dem namenlosen Glück der verflossenen Stunden. Jetzt trat Balke zu ihr, reichte ihr beide Hände.

„Kind, ich freue mich in der Hauptsache um deinetwillen,“ sagte er scheinbar gerührt.

Helma stand auf und umschlang ihn. Tränen rollten über ihre Wangen.

„Ich bin ja so unendlich glücklich,“ flüsterte sie.

„Hoffentlich ist das Glück auch von Bestand, Helma,“ erwiderte er. „Ich wünsche es dir von Herzen. Na – Herbert wird ja auch wohl kaum anderen Sinnes werden. Verlobungen gehen ja leider so oft auseinander –“

„Vater,“ stieß sie in verzehrender Angst plötzlich hervor, „Vater, das, was du – vorhast und worauf du heute Morgen hindeutetest, – dies kann mir doch Herbert nicht etwa wieder rauben oder einen Schatten auf unsere Liebe werfen?“

Er schüttelte den Kopf.

„Keine Sorge, kleine Braut, keine Sorge! Du wirst reich sein – sehr reich! Und Geld ist nun einmal nötig zum Glück. Sorgen und drückende Verhältnisse fressen die Liebe auf. Gerade du würdest in einem sogenannten bescheidenen Haushalt dich nie glücklich fühlen. Du hast von dem Blut deiner Mutter doch so viel in den Adern, daß du wie sie eine glänzende Umgebung braucht. Ich werde sie Herbert schaffen, mein Kind. Nebenbei wird dann auch noch für mich genug übrigbleiben, um auch meine eigenen Pläne verwirklichen zu können.“

Er drückte sie auf das Sofa zurück, setzte sich neben sie, behielt ihre Hände in den seinen und sprach weiter:

„Nur eins beachte, Helma! Nie – niemals darfst du auch nur durch die geringste Andeutung Herbert gegenüber auf das anspielen, was zwischen uns beiden ein ewiges Geheimnis sein muß. Sei vorsichtig, Kind! Zuweilen entschlüpft gerade dem Frauenmund nur zu leicht ein unbedachtes Wort. Und das, was erst einmal über unsere Zunge geglitten und an das Ohr eines anderen gedrungen ist, läßt sich kaum wieder ausmerzen, da kann man noch so geschickte Erklärungen für diese unbedachte Äußerung erfinden. Ein Argwohn, der erst einmal aufgekeimt ist, gleicht einem Schwamm. Er saugt von selbst immer mehr auf, schwillt an und ruhte nicht eher, bis er gefüllt ist –“

Helmas Gesicht war ernst und nachdenklich geworden.

„Papa, vertraue mir doch alles an,“ bat sie. „Du sprichst von Reichtümern? Gehören diese etwa Herbert? Oder besser, würden sie ihm gehören, wenn – wenn du nicht die Hand im Spiel hättest?“

Er war aufgestanden und ging auf und ab – mit gesenktem Kopf, mit kurzen, kraftvollen Schritten und tiefen Falten auf der Stirn.

Nach ein paar Minuten machte er neben seiner Tochter halt.

„Nein, Kind,“ erklärte er leise, aber sehr bestimmt, „es ist besser, du weißt von alledem nur gerade so viel, als nötig ist. Die Reichtümer gehören dem, der sie zu heben weiß. Das mag dir genügen. Außerdem wird ja auch Herbert sein Gutes davon haben – als dein Gatte!“

Über Helmas Antlitz lief ein Leuchten hin.

„Als – mein – Gatte –!“ wiederholte sie leise. „Als mein Gatte!“

*

Maximilian Geirot hatte das Gespräch zwischen Balke und Palmer vor dem Bankhaus auf der Straße vom Fenster aus beobachtet. Dieses Fenster mit den unteren Milchglasscheiben hatte halb offen gestanden. Von dem Gespräch selbst hatte er nur den letzte Zuruf des Winkelkonsulenten vernommen: ‚Also dann um halb drei auf Wiedersehen!’

Das hatte ihm genügt. – Geirot war bis vor kurzem nur Lebemann gewesen, nebenbei ehrgeizig und reich. Sein Lebensziel, seit langem schon eine Teilhaberschaft bei der alten angesehenen Bankfirma, konnte er jedoch auf dem geraden, anständigen Weg nicht erreichen. Das hatte er erkannt, als Herbert Palmer, der um fast zwei Jahre jüngere, sich in kurzem das Vertrauen des Chefs in weit höherem Maße erworben hatte, als es ihm, Geirot, je zuteil geworden war. Von dem Tage an haßte er Palmer. Aber dieser Haß genügt noch nicht, Geirot auch zum Intriganten zu machen. Dazu wurde er erst, als Anni Wölk ganz offenbar ihr Herz an Herbert Palmer verlor. Was Neid, Mißgunst und ein Gefühl ständig wachsender Abneigung nicht vermocht hatten, das schuf die besinnungslose Eifersucht in wenigen Tagen.

Jetzt war Maximilian Geirot Intrigant – seit Wochen schon; jetzt handelte es sich für ihn nicht nur um das eigene geschäftliche Lebensziel; jetzt sprachen hier Liebe und Eifersucht mit. Und aus dem süßlichen, geschniegelten Geirot ward so ein Ränkeschmied gefährlichster Art.

Er als Kassierer bewahrte im Tresor auch die Zeugnisse und Papiere der Angestellten auf. Und da hatte er denn eines Tages in einer Urkunde, die die Person Palmers betraf, etwas entdeckt, das ihm Anlaß gab, reichlich Geld für allgemeine Nachforschungen aufzuwenden, die durch eine Berliner Detektei erledigt wurden. Der Erfolg dieser Spionage entsprach nicht nur seinen Erwartungen, nein, diese wurden bei weitem übertroffen. Er hatte Herbert Palmer nun in der Hand; er konnte ihn vernichten, wenn er wollte.

Und dann begann er das Netz seiner Intrigen auch über Anni Wölk auszuspannen, über dieses frische, heitere Mädel, für die er eine verzehrende Leidenschaft empfand. An diesem Sonnabendvormittag hatte er Glück gehabt. Der erste Keil zwischen die Liebenden war heimtückisch gesetzt; es bedurfte nur noch einiger Streiche, um den Keils so tief zu treiben, daß diese zarte, heimliche Neigung vollends auseinanderklaffte. –

‚– um ein halb drei auf Wiedersehen!’

Ja, das hatte für Geirot genügt! Er hatte aufgepaßt, war den Ausflüglern gefolgt, war Zeuge der ungestümen Zärtlichkeiten in dem kleinen Tal auf der Halbinsel geworden, hatte abends in der Gaststube die drei beim Wein sitzen sehen.

Verlobt – verlobt! – Er jubelte – jetzt war ihm auch dies also gelungen! –

Auf den warmen Sommerabend mit seiner leuchtenden Sonnenpracht war ein ebenso klarer, köstlicher Sonntag gefolgt. Geirot kannte Anni Wölks Gewohnheiten. Den Sonntag morgen benutzte sie stets zu einem längeren Strandspaziergang nach dem benachbarten Badort.

Dort wieder stand er auf der Lauer wie gestern Nachmittag; jetzt aber dicht neben dem Musikpavillion auf der Strandpromenade.

Anni kam, und wie immer lief neben ihr der grauschwarze Wolfspitz ‚Kerlchen’, ihr Liebling.

Geirot holte sie bald ein, sprach sie an.

„Seien Sie gnädig, Fräulein Wölk, und gestatten Sie mir, daß ich Sie ein Stück begleitet,“ bat er. „So ein einfacher Junggeselle wie ich –“ und es folgten Phrasen, die unverstanden an Annis Ohren vorüberrauschten.

Sie nickte nur. Sie war viel zu gleichgültig heute, um den ihr so unsympathische Menschen fortzuweisen.

Um ihre harmlosen Kinderaugen lagen die Schatten einer durchwachten, durchweinten Nacht. Ihre Seele war wie zerbrochen. – Vielleicht, dachte sie jetzt, ist es ganz gut, daß Geirot dich etwas ablenkt. Es ist ja so zwecklos, Herbert Palmer noch weiter nachzutrauern. Du hast dich eben getäuscht, er hat mich nie geliebt! –

Geirot ging neben ihr und sprach von allem Möglichen. Er erzählte, daß er gestern nachmittag die Wälder am Haff durchstreift habe.

„Abends kam ich in das kleine Fischerdorf am sogenannten Teufelsberg,“ sagte er jetzt. „Aber – ich konnte in der einzigen Kneipe nicht einkehren. Ich hatte zufällig vorher durch das Fenster geschaut – und die Gäste dort behagten mir nicht. Ich gehe Leuten gern aus dem Weg, die sich einem aufdrängen und dies, obwohl sie stark anrüchig sind. Nein, ich begreife andere nicht, die so gar keinen Anstoß daran nehmen, daß jemand wegen recht verurteilenswürdiger Straftaten abgeurteilt worden ist. – Na – lassen wir das. Wozu bei diesem Prachtwetter so häßliche Dinge streifen –“

Ah – der Pfeil saß! – Anni war aufmerksam geworden. Eine feine Röte bedeckte plötzlich ihre Wangen.

Geirot schwärmte jetzt von den Haffwaldungen. Anni schaute vor sich hin. Dann fragte sie plötzlich:

„Es waren wohl Balkes, die dort im Wirtshaus saßen?“

„Ja. Balkes und –“ er räusperte sich. „Na – jedenfalls mochte ich mit den Leuten nicht zusammentreffen.“

Anni schwieg und ließ Geirot reden. Sie hörte gar nicht hin. – Also war Herbert Palmer mit Balkes dort am Haff gewesen. Für sie unterlag das keinen Zweifel mehr. Geirot hatte nur Palmers Namen nicht nennen wollen.

Herbert – Herbert und Helma Balke! Die ‚bildschöne’ Helma, wie die Seeburger sie nur nannten.

Alles Weh ihres jungen Herzens war wieder aufgelebt.

Aber – vielleicht täuschte sie sich doch. Vielleicht war es gar nicht Herbert gewesen.

Armes Mädchenherz! – Was man wünscht, hüllt man ja so gern in Hoffnungen ein!

Sie kämpfte eine Weile mit sich. Sie scheute eine direkte Frage. Dann kam sie auf Umwegen wieder auf die Gäste des Dorfwirtshauses zu sprechen, sagte so nebenbei:

„Sie haben ganz recht, Herr Geirot. Jedermanns Geschmack ist es nicht, mit einem Manne wie diesem Balke zu verkehren. Herr Palmer tut es auch wohl mehr aus Opposition gegen die öffentliche Meinung.“ Sie hatte das möglichst gleichgültig hingesprochen.

Geirot blieb jetzt stehen. Eine kleine Kiefergruppe entzog hier Anni und ihn den Spaziergängerblicken, die drüben die Strandpromenade benutzten.

„Fräulein Wolk,“ sagte er ernst und in fast väterlichem Ton, der ihm auch recht gut gelang, „ich habe eigentlich diese Dinge nicht berühren wollen. Vielleicht ist es aber besser, daß Sie sich in Palmers Charakter völlig auskennen. Er – er ist mit Helma Balke verlobt. Wie lange schon, weiß ich nicht. Das, was ich gestern durch das Fenster beobachtete, zeigte mir deutlich, daß der Winkelkonsulent mit dieser Verlobung einverstanden ist – natürlich einverstanden ist. Die drei tranken Wein und waren sehr vergnügt.“

Anni war jeder Tropfen Blut aus dem Gesicht gewichen. Sie stierte Geirot an, als begriffe sie den Sinn seiner Worte gar nicht.

Dann streckte sie wie einen Halt suchend die Arme aus, schwankte.

Geirot fing sie auf, riß sie an seine Brust. Die schnell vorübergehende Ohnmacht nahm ihr die Kraft, sich gegen seine Zärtlichkeiten zu wehren. Sie fühlte seine Lippen auf den ihren; sie duldete, daß er sie immer fester an sich preßte, daß er ihr heiße Liebesworte ins Ohr stammelte.

„Anni, Anni, – werde mein angebetetes Weib. Ich bin reich. Ich will dich auf Händen tragen. Palmer ist nichts als ein elender Betrüger – nicht nur an dir, der er schöne Augen machte. – Ich könnte ihn entlarven. Ich verzichte darauf. Das Schicksal wird ihn richten. – Anni, verzeih’, daß ich diese Gelegenheit ausnutzte. Bei einem reichen Mann, wie ich es bin, ist es um die Liebe anders bestellt als bei der flatterhaften Jugend –“

Anni begann zu weinen. Sie ließ sich täuschen. Sie glaubte daran, was Geirot ihr als raffinierter Heuchler scheinheilig und gefühlvoll zuraunte.

In ihrem wunden Herzen gellte nur immer wieder dasselbe Wort:

‚Verlobt – verlobt!’

Und, als Verlobter hatte Herbert Palmer ihr immer so innig die Hand gedrückt und sie mit lieben Blicken geradezu zärtlich gestreichelt.

Verlobt! – Gab es da nicht einen Weg, den sie jetzt so leicht beschreiten konnte, einen Weg der Rache und Vergeltung? Gab es da nicht eine Möglichkeit, ihm zu beweisen, daß sie ihm nicht nachtrauere, daß er für sie gerade nur so viel gegolten habe, wie sie für ihn? – Ja; Weg und Möglichkeit waren gegeben, standen vor ihr; Maximilian Geirot – eine Verlobung mit ihm!

Sie handelte jetzt ohne jede Überlegung, folgte nur dem, was der Augenblick ihr als Versucher zuflüsterte.

Sie drängte Geirot sanft von sich, überließ ihm aber ihre Hände. Ihr Gesicht war bleich; die Schatten unter den Augen hatten sich noch vertieft. In ihren langen Wimpern hingen noch zwei Tränen und glitzerten im Licht der heiteren Sonne.

„Ich – ich will – Ihren Antrag annehmen,“ stieß sie überhastet hervor. „Nur etwas verlange ich! Sie müssen mir mitteilen, was Sie von Herbert Palmer wissen, weshalb Sie ihn verderben können.“

Ein Schatten flog über Geirots Gesicht hin.

„Ja – mein Wort darauf,“ erwiderte er gepreßt. „Am Hochzeitstag wirst du alles erfahren, mein einziger Liebling –“

 

 

6. Kapitel

Abschied

Am Montag nachmittag stand Annis Verlobungsanzeige im Seeburger Tageblatt.

Herbert Palmer hatte hiervon jedoch bereits am Vormittag Kenntnis erhalten. Anni war nicht mehr zum Dienst bei ‚Tönnings’ – denn nur so nannte man in Seeburg das Bankhaus – erschienen, und der alte Herr Tönning hatte bei einer geschäftlichen Rücksprache mit Palmer diesem um neun Uhr früh so nebenbei mitgeteilt, daß man sich nach einem anderen Tippfräulein umsehen müsse.

„Unsere Kleine hat sich gestern mit Geirot verlobt. Und er wünscht nicht, daß seine Braut noch weiter bei uns Klapperschlängchen spielt –“

Absichtlich kleidete der Chef diese Nachricht in eine etwas scherzhafte Form, beobachtete aber Palmers Mienen dabei sehr genau.

Der war zusammengezuckt. Leichte Blässe erschien auf seinen Wangen. Dann krauste sich die Stirn.

„Diese Verlobung war vorauszusehen,“ sagte er kurz.

Tönning stand auf, legte seinem Buchhalter beide Hände auf die Schultern.

„Palmer,“ meinte er leise, „Palmer, Sie – Sie sind mir wie ein Sohn geworden. Geht es Ihnen sehr nahe?“

Herbert senkte den Blick.

„Jetzt nicht mehr,“ erklärte er langsam. „Nein – jetzt nicht mehr!“ – Er dachte an Helma. Sie liebte ihn. Das fühlte er. Und sie hatte es ihm ja bewiesen. Sie war sein geworden, und ihre schrankenlose Hingabe, ihre bisherige keusche Weiblichkeit war zu einem Sinnestaumel geworden, hatte ihm gezeigt, daß sie so ganz anders war, als sie sich bisher gezeigt hatte.

„Palmer – wollen Sie nun die Kündigung nicht doch zurücknehmen?“ fragte Direktor Tönning ebenso herzlich.

„Das kann ich nicht. Wirklich – ich kann es nicht –!“

Tönning seufzte. „Na – dann muß Geirot also wirklich die Prokura bekommen. Gern gebe ich sie ihm nicht. Nein – ganz unter uns, Palmer – der Mensch bleibt mir unsympathisch –“

Wieder seufzte der alte Herr. –

*

Gabriel Balke saß in seinem ‚Sprechzimmer’ am Schreibtisch und überflog die Anzeigen im Stettiner Tagesboten. Das tat er jeden Tag – seit seiner Entlassung aus der Strafanstalt Düsterberg.

Plötzlich fuhr er wie elektrisiert hoch. Seine Hände zitterten. Die Zeitung raschelte.

Balke lachte kurz auf, sagte halblaut: „Ah – da war ja die Todesanzeige! Da war sie ja.“ –

Seine Hände zitterten, die Zeitung raschelte.

Balke lachte kurz auf, sagte halblaut:

„Aber, aber, – Gabriel, du bist nervös wie ‘ne alte Jungfer! Das gewöhne dir nur ab –!“

Er griff nach einer Zigarre, ging dann rauchend durch das Büro.

„Hm – ob ich wirklich selbst fahre?“ fragte er sich im Selbstgespräch. „Riskant ist die Sache. Wie, wenn man mich dort – doch nein! Unsinn! Diese Anzeige beweist, daß der Alte bei vollem Verstand vor seinem Tod gewesen ist und alles so geregelt hat, wie er’s mit mir vereinbart hatte –“

Plötzlich machte er halt.

„Zum Donner – daran habe ich noch gar nicht gedacht,“ murmelte er. „Ein Zufall kann ihm die Zeitung in die Hand spielen. Dann – dann besteht die Gefahr, daß er womöglich – hm, ich glaube, ich sorge mich da sehr überflüssigerweise. Wenn er bisher den Wunsch des Alten so genau befolgt hat, dann wird er doch jetzt nicht plötzlich – nein, nein, auch die Angst kann ich getrost als unnötig streichen. Immerhin, ich werde aufpassen! Sechs mal sollte die Anzeige erscheinen. Hm, am besten wäre, wenn ich – ja, ja, – das ist am sichersten! Und gleich morgen müssen sie fort, gleich morgen!“

Er lächelte wieder. „Na – der gute Herbert wird sich kaum sträuben. Hat er doch die Aussicht, mit Helma tagelang allein zu sein –“

Dann nahm er die Zeitung und schloß sie ein. –

Helma stand in der Küche in der großen Wirtschaftsschürze und briet Kartoffeln zum Abendbrot. Um sieben Uhr wollte Herbert sich zu Tisch einfinden.

Balke öffnete die Tür und trat ein.

„Na – ein netter Qualm ist hier, Kind,“ meinte er und setzte sich auf einen Küchenstuhl.

Helma lachte klingend. „Ein Glück, daß ich bei Tante Bebra kochen gelernt habe. Jetzt kann ich’s noch besser brauchen als bisher.“

„Glaub’ ich gern, kleine Braut. Wirst deinen Bert wohl ein bißchen besser pflegen als mich, wirst alles mit Liebe kochen –“

„Und vielleicht versalzen,“ scherzte sie.

„Na – lange wirst du ja nicht Köchin spielen in eurem jungen Haushalt, Kind, wirst sehr bald in der Lage sein, dir übergenug Bedienung zu halten. – Hm, noch eins, Helma. Ich werde also heute Palmer gegenüber so die ersten Andeutungen von der Erbschaft machen, die wir zu erwarten haben. Er muß bei Zeiten vorbereitet werden. –

Die Sache mit dem Wohnungstausch habe ich auch erledigt. Wenn es auch nur eine Dreizimmerwohnung im Hinterhaus ist – zugreifen müssen wir. Am besten wäre, wenn Herbert schon morgen bei Tönnings austreten könnte. Ihr solltet dann morgen nachmittag schon nach Berlin fahren, euch die Wohnung ansehen und gleich dort bleiben. Herbert will ja neue Möbel kaufen. Diesen alten Kram hier habe ich bald veräußert und komme dann nach.“

Helma wurde aufmerksam.

„Papa, dahinter steckt doch wieder etwas!“ sagte sie beklommen und abermals griff eine unbestimmte Angst mit gierigen Krallen nach ihrem Herzen und preßte es schmerzhaft zusammen.

„Leise, Kind, leise!“ warnte er. „Ja – wozu soll ich’s dir verschweigen. Ich halte es aus bestimmten Gründen für ratsam, daß Palmer hier aus Seeburg verschwindet. – Nein, nein, frage nicht, Helma. Habe Vertrauen zu mir. Du bist glücklich, und dein Glück soll dir bewahrt bleiben. Rede Herbert also zu, daß er jede Rücksicht Tönnings gegenüber außer acht läßt und daß ihr morgen abreist –“

Eine halbe Stunde drauf erschien Palmer. Es ging sehr behaglich beim Abendrot her, so bescheiden die Mahlzeit auch war.

Helma hatte schon vor Tisch nach dem Stettiner Tagesboten gesucht. Sie las den Roman darin, und ein Zufall wollte es, daß sie jetzt gerade sich an die Zeitung erinnerte und ihren Vater danach fragte.

„Oh – ich glaube, ich habe sie vorhin in der Zerstreutheit zerrissen,“ meinte er. Doch sofort sah er ein, daß er mit dieser Äußerung einen schweren Fehler begangen hatte.

„Ich kaufe dir morgen die Nummer aus der Buchhandlung,“ sagte Palmer nämlich sofort zu Helma.

„Nein, nein,“ rief Balke lachend, aber mit merklich gekünstelter Heiterkeit. „Unsinn – ich habe die Zeitung ja eingeschlossen, wie mir soeben einfällt. Wirklich, die Jahre melden sich bei mir. Das Gedächtnis läßt nach –“

Palmer vergaß diesen Zwischenfall heute sehr schnell, obwohl er den Eindruck gewonnen hatte, daß Balke bei diesem angeblichen Versagen seines Gedächtnisses nicht aufrichtig gewesen war.

Auch Helmas scharfen Ohren war das Erzwungene bei diesem Auflachen des Vaters nicht entgangen. Jetzt konnte sie ihn deswegen nicht näher ausforschen. Aber tun wollte sie es auf jeden Fall. Sie wurde das Gefühl nicht wieder los, das vorhin in der Küche sich ihrer bemächtigt hatte. Eine Gefahr drohte ihrem Glück, ihrer Liebe durch all diese Heimlichkeiten. Dieses Liebesglück erschien ihr wie auf rinnendem Sand aufgebaut.

Daß Herberts Liebe zuerst Anni Wölk gehört hatte, wußte sie freilich nicht. Sie hatte hier in Seeburg ja mit niemandem Verkehr. Wie sollte man es ihr da hinterbracht haben, was die Seeburger längst als gewiß angenommen hatten, daß die vergnügte, hübsche Anni den Buchhalter Palmer ganz bestimmt heiraten würde! –

Nein – davon ahnte sie nichts – nichts! Anni Wölk war für sie lediglich eine Angestellte der Tönnings, bei deren Mutter Palmer hin und wieder zu Gast gewesen. –

Nach dem Abendessen ging Balke noch spazieren. So war das Brautpaar denn allein.

Eng aneinander geschmiedet saßen sie auf dem alten Plüschsofa. Herbert Palmer, der stille, einsame Mensch, der so viel schweres Leid stets wortlos mit sich herumgetragen hatte, der hier zum ersten Mal das tief Beglückende einer wahren Frauenliebe kennen lernte, glaubte Anni jetzt vollkommen vergessen zu haben, glaubte Helma ebenso leidenschaftlich zu lieben wie sie ihn. Ihre Zärtlichkeiten, ihre heißen Lippen, der wunderbare Reiz ihres in Sehnsucht getauchten Gesichts, – all das machte diese Selbsttäuschung noch nachhaltiger.

Helma sprach jetzt von den Wunsch des Vaters, daß sie beide nach Berlin vorausreisen sollten. Palmer sträubte sich erst. Aber – was kam es auf die wenigen Tage bis zum 1. Mai an?! Da konnte Herr Tönning ihn auch jetzt schon entbehren.

Balke war nach dem Bahnhof gegangen. Er wollte sich nach den Zuganschlüssen nach Düsterberg erkundigen. Kerzengerade, straff wie immer schritt er durch die Straßen. Er war hier in kurzem eine bekannte Persönlichkeit geworden; denn er fiel auf. In seiner Gesamterscheinung war etwas, das die Augen auf sich zog.

Man flüsterte hinter ihm drein: ‚Der verkrachte Anwalt – Winkelkonsulent – acht Jahre Gefängnis – die schöne Tochter –’

Er sah über all diese Menschen hinweg. – Spießer – nichts weiter! In seinen Manteltaschen krampften sich die Hände zu Fäusten. ‚Wartet – ihr sollt mich kennen lernen!’ dachte er ‚diesen morschen Bau, den ihr Stadt nennt, dieses Gebilde aus Unzulänglichkeiten und Widerstand, werde ich zertrümmern – ich, Gabriele Balke, ich – ein Engel Gabriel, aus grauen Mauern emportauchend mit dem freudigen Schwert!’

Noch höher reckte er sich; noch selbstbewußter wurde der Schritt. Sein Gesicht hatte einen geradezu dämonischen Ausdruck angenommen; seine Augen hatten sich geweitet, glühten in einem verzehrenden Feuer.

Da – ein Zufall, da begegnete ihm Maximilian Geirot unter einer Laterne. Der Lichtschein traf Balkes Gesicht. – Geirot starrte dem Gewesenen mit einem Ausdruck von Überraschung und Scheu lange nach.

„Ein seltsamer Mensch,“ murmelte er dann. „Weiß Gott, der sah so aus, als ob er etwas im Schilde führte. – Anni kann schließlich noch eine Weile warten.“

Er ging hinter Balke dreien. Als dieser sich dann am Schalter nach der besten Zugverbindung nach dem in der Mark gelegenen Städtchen Düsterberg erkundigte, stand Geirot keine zwei Schritte hinter ihm.

Düsterberg! – Geirots Gesicht zuckte. – Düsterberg! Und – heute hatte er im Stettiner Tagesboten eine Todesanzeige entdeckt, die ihm nur des Namens eines Verstorbenen wegen aufgefallen war.

Geirot verließ den Bahnhof wieder, betrat dann das Postamt und gab folgende Depesche auf:

Merkur Berlin, Lützowplatz 5. – Sofort jemand hersenden, möglichst mit Nachzug. Geirot, Seeburg

‚Merkur’ war die Detektei, der er sich schon einmal bedient hatte.

Schmunzelnd verließ er das Postamt. – Dieser Balke und Düsterberg, dazu noch jetzt Herbert Palmer als dessen Schwiegersohn –! Dahinter witterte etwas ganz Besonderes! –

Der Empfang durch Anni bei Frau Steuerrat Wölk benahm ihm dann etwas die Stimmung. Anni war heute so kühl, so wortkarg, entschuldigte sich mit Kopfweh bei ihm.

Aber Geirot ahnte das Richtige. Anni hatte noch immer nicht überwunden; Palmer lebte noch fort in ihrem Herzen trotz alledem!

Sein Haß und seine Eifersucht gegen den Buchhalter flammten stärker denn je auf. – Nun, einen kleinen Trost hatte er wenigstens. Frau Wölk suchte durch übergroße Herzlichkeit die ablehnende Kälte Annis auszugleichen; ihr war dieser Schwiegersohn weit erwünschter als der vermögenslose Palmer. –

Am nächsten Morgen ging Herbert Palmer wirklich sofort zu Herrn Tönning und bat, dieser möchte ihn sogleich entlassen. Gründe hierfür nannte er nicht.

Tönning sah in dieser Bitte eine grobe undankbare Rücksichtslosigkeit. Er hatte Palmer vorschlagen wollen, in Amsterdam bei einer Bankfirma einzutreten, mit der Tönnings seit einem halben Jahrhundert in geschäftlichen Beziehungen standen. Eine Empfehlung von ihm hätte Palmer dort fraglos sofort eine Stelle verschafft. –

Unter diesen Umständen schwieg er jedoch. Der Abschied war förmlich. Auch von den übrigen Angestellten verabschiedete sich Palmer ohne jede Wärme. Er war bedrückt und nervös. Er empfand sehr wohl, wie schwer er heute den alten Herren Tönning verletzt hatte. Da wollte er recht schnell aus der Bank wegkommen.

Geirot reichte ihm die Hand.

„Na – viel Glück, Palmer! Lassen Sie mal etwas von sich hören.“

Von Herberts Seite nur eine Phrase als Antwort. Dann war auch das vorüber.

Er verließ das alte Gebäude, drehte sich nicht mehr um. Ein würgendes Gefühl in der Kehle bewies ihm, wie schwer der Abschied wurde.

‚Unsinn – nur keine Rührung!’ dachte er und beschleunigte seine Schritte noch mehr, eilte zu Balkes hin.

Helma flog ihm an die Brust.

„Du – du – wie habe ich mich nach dir gesehnt!“ flüsterte sie. „Also frei bist du jetzt – frei! Und mittags reisen wir –“

Mit dem Vier-Uhr-Zug fuhren sie dann ab. Balke hatte sie zum Bahnhof begleitet.

Die Seeburger sperrten Ohren und Mund auf. Und abends wußte es die ganze Stadt; Herbert Palmer war mit der bildschönen Helma zusammen nach Berlin gefahren!

 

 

7. Kapitel

Die Gespenster

Balke kam vom Bahnhof zurück. Um fünf Uhr sollte der Möbelhändler die Sachen in der kleinen Wohnung sich ansehen und vielleicht gleich im Ramsch kaufen.

Der Winkelkonsulent hatte noch eine halbe Stunde Zeit bis dahin. Er schloß das alte Zylinderbureau auf, öffnete das Geheimfach im Mittelschrank und nahm ein Papierschächtelchen heraus, setzte sich an den Schreibtisch und hob dessen Deckelchen ab.

Darin lag nur ein Brief mit Umschlag, ein Zeitungsausschnitt und ein viereckiges Stückchen Leinwand, auf das eine Art Geländeskizze gezeichnet war.

Balke strich die Leinwand nachdenklich glatt. Und während seine Fingerspitzen darüber hinfuhren, erschien vor seinem inneren Auge das Bild der Tischlerwerkstatt in der Strafanstalt Düsterberg.

Da hatte er dich neben Lothar Kalwer gearbeitet; da waren sie miteinander vertraut geworden; da hatten sie trotz des strengen Verbots geflüstert, hatten sich dünne, als Schreibpapier benutzte Hobelspänen zugeschoben.

So war Gabriel Balke eingeweiht worden in des Gattenmörders großes Geheimnis; einen feierlichen Eid hatte er geschworen, die Aufträge des Alten wörtlich auszuführen, sobald er wieder frei wäre.

Balke lächelte spöttisch selbstbewußt.

„Armer Tor!“ sagte er halblaut. „Was sollte der Andere wohl mit den ungezählten Millionen?! Was ist ein Schwur für den, der nur an sich selbst glaubt?!“

Er beugte sich tiefer über die Zeichnung, nahm dann den Brief mit der englisch geschriebenen Adresse in die Hand.

Der Briefbogen trug links den englischen Firmenaufdruck:

Jankins u. Robler, Schiffsmakler

Gibraltar

Trafalgar–Street 15

Der Brief lautete auf deutsch:

Gibraltar, den 2. April 1920

Herrn Gabriel Balke,

Seeburg, Deutschland

Auf Ihrer Anfrage vom 8. März d.J. erwidern wir höflichst, daß ein Kaufmann Lothar Kalwer, ein Deutscher, bei uns ein Jahr lang und zwar vom Oktober 1891 bis Oktober 1892 als Korrespondent in Stellung war.

Was die von Ihnen erwähnten Straßen und besonderen Punkte in der Nähe des Hafens betrifft, so können wir Ihnen nur mitteilen, daß diese tatsächlich existieren. Es wäre uns interessant zu erfahren, aus welchem Grunde Sie sich nach diesen Örtlichkeiten erkundigen.

Jankins u. Robler

Wieder lächelte Balke.

„Glaub’ ich euch, daß es euch interessant wäre!“ murmelte er. „Werdet lange warten können – sehr lange!“

Dann steckte er das Leinwandstück, den Brief und den Zeitungsausschnitt – es war die Todesanzeige Kalwers – in seine Brieftasche und diese in die Innentasche seiner Weste.

Die Flurglocke schellte. Es war der Möbelhändler. Das Geschäft kam zu Stande. Und am folgenden Nachmittag verließ auch Gabriel Balke die Hafenstadt für immer. Und wieder am nächsten Vormittag stand er im Büro der Strafanstalt Düsterberg.

Der Direktor stutzte. –

„Balke – Sie – Sie?!“

„Ja, ich, – der Erbe Lothar Kalwers! – Hier ist das Leinwandstück als Legitimation –“

Die Sache war bald erledigt. Balke erhielt Kalwers geringe Habe und noch achthundertundzehn Mark ausgezahlt, ebenso ein Bündel Kleider, in denen Kalwer seiner Zeit eingeliefert worden war.

Von Düsterberg fuhr er nach Berlin. Und mit ihm im selben Zuge fuhr abermals der Mann vom ‚Merkur’, dem Geirots ihm an die Fersen geheftet hatte. –

Helma und Palmer waren in einer billigen Pension am Stettiner Bahnhof in Berlin abgestiegen, wohnten Zimmer an Zimmer dort, benutzten aber zumeist nur das eine.

Herbert hatte sofort nach ihrer Ankunft versucht, bei einer Bank unterzukommen. Er hatte sich dies aufgrund seiner vorzüglichen Zeugnisse sehr leicht vorgestellt. Aber – nirgends war eine Stelle frei. Überall erklärte man ihm, man könne ihn selbst auf dem bescheidensten Posten nicht beschäftigen. Alles sei überfüllt.

Er besaß etwa dreizehntausend Mark an Ersparnissen. Damit ließ sich ja einige Zeit leben. Aber – er mußte ja auch die Möbel für die Dreizimmerwohnung im Gartenhaus Knesebeckstraße 138 anschaffen, denn Gabriel Balke hatte ihm offen erklärt, daß er kaum so viel besäße, um sich einige Wochen durchschlagen zu können.

Balke traf das Brautpaar denn auch in etwas gedrückter Stimmung an. Ihm gelang es jedoch sehr schnell, Herbert wieder aufzurichten.

„Lieber Junge, ich sagte dir ja schon in Seeburg, daß ein Onkel von mir unlängst im Ausland verstorben ist,“ erklärte er mit heiterem Lächeln. „Ein Onkel, Bert – ein Erbonkel! Mehr erfährst du heute nicht! Aber ich garantiere dir, in vier Wochen schwimmen wir in den dreckigen Lappen, deutsches Papiergeld genannt!“

Herbert atmete wieder freier. Man kaufte Möbel – von einem Lombardspeicher1, bezog die neue Wohnung, richtete sich dort ein. Herbert galt als ‚möblierte Herr’ der Balkes, hatte das kleinste Zimmer für sich genommen.

So war inzwischen der 1. Mai herangekommen. Diesen Tag hatte Balke für seine Abreise bestimmt. Herbert mußte ihm noch dreitausend Mark vorschießen. Er tat es gern. Du Zuversicht Balkes wirkte so ansteckend. Freilich – ihm waren jetzt nur noch zweitausendfünfhundert Mark verblieben. Aber – Balke wollte ja spätestens in drei Wochen ‚mit einem Sack voll Geld’ wieder zurück sein. Nur Helma wußte, wohin die Reise ging. Sonst aber kannte sie von dem großen Geheimnis auch jetzt nichts Näheres. –

Nun war sie mit Bert allein in der netten Wohnung; nun hatten sie sich ganz, nun lebten sie nur ihrer Liebe – nur! – Schwüle Tage und Nächte folgten. Und auf diese glutheißen Liebesnächte kamen stets für Bert Palmer Stunden, wo er wie aus wüstem Traum zu erwachen schien. Dann rannte er allein durch die Straßen, angeblich auf der Suche nach einer Anstellung, dann schrie alles in ihm nach – Freiheit – Freiheit, nach Erlösung von diesem Taumel, in den Helmas ungestüme Leidenschaft ihn immer wieder hineinriß. Und in diesen Stunden kam dann auch die Angst vor der Zukunft über ihn. –

Wenn diese Erbschaft nun ein Trugbild war, wenn Balke arm wie er abgereist auch wieder heimkehrte – was dann – was dann –?! –

Am 8. Mai war’s, als er nach einer solchen Flucht vor Helma mittags müde und abgespannt die Wohnung wieder betrat.

Heute kam ihm Helma nicht wie sonst entgegengeeilt, küßte ihm nicht schon im Flur die nachdenklichen Falten von der Stirn. – Sie war nicht daheim. Auf dem Eßtisch lag ein Zettel.

Liebling, bei Goldenberg ist Ausverkauf. Ich brauche doch so notwendig ein Sommerkostüm. Mehr als achthundert Mark werde ich aber nicht anlegen. –

Deine süße kleine Frau

Frau – Frau?! – Da besann Herbert sich, daß er ja am 1. Mai das Aufgebot bestellt hatte, daß der Beamte aber seine Papiere zunächst noch zurückbehalten und versprochen hatte, sie ihm wieder zuzusenden.

Und neben Helmas Zettel lag ein Schreiben – von der Polizei.

Er riß es auf.

Er wurde leichenblaß, sank in den nächsten Stuhl.

Eine Vorladung – eine Vorladung zur Vernehmung in – einem Untersuchungsverfahren –

Er wußte Bescheid! Die Gespenster meldeten sich.

Dicke Schweißperlen traten ihm auf die Stirn.

Was nun – was nun?!

Er las die Vorladung nochmals. Zum 10. Mai! Das war übermorgen – übermorgen schon!

Seine Augen glitten wie Hilfe suchend hin und her, blieben auf Helmas Zettel haften.

Ein Kostüm – achthundert Mark! Dieser Leichtsinn! Und – ohne ihn zu fragen, hatte sie das Geld genommen – ohne ihn zu fragen, weil er auf ihre Andeutungen, daß ihr so nötig Garderobe fehle, stets geschwiegen hatte.

Achthundert Mark! Wenn nun Balke wirklich mit leeren Händen –

Er stöhnte auf, preßte die Fäuste gegen die Schläfen. – Nur nicht denken – nicht denken!

Dann schwankte er in die Küche, stürzte ein Glas Wasser hinunter. – Dicht am Herd lag da ein Papierschnipsel mit einer abgestempelten Briefmarke. Unwillkürlich bückte er sich. Die Marke trug den Stempel des 5. Mai dieses Jahres, dazu ‚Seeburg’ als Ortsbezeichnung.

Seeburg – 5. Mai –? War denn ein Brief aus Seeburg –?

Ein Verdacht zuckte ihm auf. Er begann den Ascheimer zu durchsuchen, fand die Stücke einer Einladungskarte – zu – zu Annie Wölks am 9. Mai stattfindender Hochzeit, darunter mit Tinte geschrieben von Geirots Hand der höhnische Zusatz:

‚Würde mich freuen, Sie wiederzusehen.’

Und der Umschlag, den er gleichfalls zusammensetzte, trug seine Adresse.

Er stand vor diesen Beweisen von Helmas Unaufrichtigkeit jetzt wie ein Gelähmter.

Helma hatte diese Einladung ihm vorenthalten, hatte den Brief vernichtet – aus Eifersucht!

Und – Anni feierte Hochzeit – morgen, morgen.

„Anni,“ flüsterte er selbstvergessen.

Er sah sie vor sich, wie sie in dem Tippstübchen am kleinen Tischchen gesessen und ihn so strahlend aus ihren harmlosen, fröhlichen Kinderaugen angelächelt hatte.

„Anni – meine Anni!“ stöhnte er auf.

 

 

8. Kapitel

Hochzeitsreise

Die Seeburger Stammtische und Kaffeekränzchen hatten jetzt ein Klatschthema, das infolge ständig hinzukommender neuer Einzelheiten nie zu erledigen war: das Brautpaar Anni Wölk und Maximilian Geirot.

Geirots Stimmung war wie Aprilwetter. Dazu war er mager und nervös geworden, manche behaupteten, er nehme seit einiger Zeit Morphium; er sei mit den Nerven eben ‚total fertig’.

‚Liebe zehrt,’ lächelten diejenigen spöttisch, die den geschniegelten Herrn nicht leiden mochten. Und von dieser Sorte gab es in Seeburg übergenug. Sie sagten absichtlich, ‚Liebe zehrt’, denn die Spatzen pfiffen es ja von den Dächern, daß zwischen diesem Brautpaar etwas nicht stimmte und daß Anni Wölk den Kassierer von Tönnings aus weiß Gott was für Kunden, nur nicht aus Liebe genommen hatte.

Man brauchte das einst so vergnügte Mädel ja nur anzusehen, dann wußte man Bescheid!

Die Frau Steuerrat hatte sehr bald herausgemerkt, daß Anni unter dieser Verlobung seelische Folterqualen litt und daß diese Ehe für ihr einziges Kind nie ein Glück werden könnte. Ein paar Tage sah sie sich das alles schweigend an. Dann nahm sie eines Morgens ihr Mädel in die Arme und fragte sie aus, bat und flehte, Anni solle ihr gegenüber doch ehrlich sein; sie habe den Eindruck gewonnen, daß sie Geirot nicht nur nicht liebe, sondern daß dessen Zärtlichkeiten sie abstießen. Wenn dem so wäre, müsste das Verlöbnis gelöst werden; unglücklich solle Anni nicht werden.

Und Anni? – Anni hatte sich ein gequält – harmloses Lächeln abgerungen, hatte die Zweifel der Mutter zu zerstreuen gesucht und – geheuchelt, wie sie noch nie in ihrem Leben geheuchelt hatte.

Wieder gingen drei Tage hin. Da hatte die Frau Rat ihr Kind mitten in der Nacht so herzzerreißend schluchzen gehört, daß ihr förmlich ein Eisesschauer vor Schreck über den Leib gegangen war; da war sie in ihrer hilflosen Verzweiflung morgens zum alten Herren Tönning gelaufen, der doch ihrem verstorbenen Mann so nahe gestanden hatte, war aufschluchzend und völlig erschöpft in einen Sessel gesunken und beinahe in Weinkrämpfe verfallen. Tönning hatte sie nachher begleitet, hatte Anni in ihrer Gegenwart nun seinerseits aufs liebevollste und zarteste ausgefragt, Hatte alles getan, was nur ein Mensch von so viel Herzensgüte, wie er sie besaß, tun kann, um den Weg zu einer verstörten armen Mädchenseele zu finden.

Aber – auch er fand diesen Weg nicht. Er begriff Anni nicht. Er fühlte, daß sie heuchelte, daß sie Ausflüchte ersann, ihre Blässe und ihr so völlig verändertes Wesen den um sie Besorgten zu erklären.

Nein, er fand den Weg nicht, denn Anni hatte diesen Weg so fest versperrt, daß niemand diese Hindernisse beseitigen konnte. –

Sie handelte seit dem Tage, als ihr zufällig ein an Geirot gerichteter Brief in die Hände geraten war, nach einem ganz bestimmten Plan. Sie hatte jetzt ein Ziel vor Augen, und den Dornenpfad, der zu diesem Ziel führte, wandelte sie mit der ganzen Energie einer ausgereiften Menschenseele.

Klarheit wollte sie haben, volle Klarheit! Und dies konnte sie nur an ihrem Hochzeitstag erhalten. Sie hatte ja Geirots ehrenwörtliches Versprechen, daß er ihr dann mitteilen würde, weshalb er Herbert Palmer hätte vernichten können und was dieser begangen hatte.

Herbert Palma! Herber, der jetzt der Anderen gehörte, der mit ihr dort in Berlin zusammenlebte wie Mann und Frau, – einst ihr Herbert, einst ihr Zukunftsglück! Auch dies hatte Geirot ihr gelegentlich als Allerneuestes mitgeteilt, daß Balke ins Ausland gereist sei und daß die ‚Turteltauben’ nun das Nestschen in der Knesebeckstraße ganz für sich allein hätten.

Er hatte es ihr erzählt in einer jener Anwandlungen besinnungsloser Eifersucht, die ihn so oft überkam, die sich notwendig einstellen mußte, wenn er wieder einmal erkannte, daß Anni seine Zärtlichkeiten zumeist nur duldete und sie nur ganz schwach erwiderte, wenn er sie mit maßlosen Vorwürfen überschüttete, weil sie den anderen noch immer nicht vergessen hätte – den Fälscher, den Betrüger, der dorthin gehöre, wo auch sein Herr Schwiegervater Balke gesessen hatte – und noch andere Leute!

In solchen Momenten kannte Geirot sich nicht. Die ohnmächtige Wut darüber, daß Anni ohne Zweifel noch immer an Herbert Palmer zurückdachte, machte ihn halb zum Wahnsinnigen. Über seine Lippen sprudelten dann Worte eines unendlichen Hasses gegen Herbert Palmer, schlüpften auch allerlei Andeutungen, denen Anni dann mit geschärften Ohren lauschte. Aber – auch diese Andeutungen genügten nicht, ihr das Geheimnis vollständig zu enthüllen, das es zwischen Geirot und Palmer geben mußte.

Nach solchen Szenen, bei denen Geirot zitternd mit geballten Fäusten, leichenblaß und mit haßsprühenden Augen vor Anni stand, kam dann regelmäßig der Rückschlag. Aus dem geifernden, irren Eifersüchtigen wurde der um Verzeihung bettelnde, unmännlich winselnde, um Liebe flehende Liebhaber. Es geschah so und so oft, daß er sich dann Anni zu Füßen warf, ihre Knie umklammerte und mit Tränen kämpfte. Sie empfand jedoch nie Mitleid mit ihm. Selbst dazu war sie nicht fähig. Nur vorsichtiger und weitschaunender wurde sie durch diese Ausbrüche einer Eifersucht, die etwas Dämonisches an sich hatte. Sie sagte sich sehr richtig, daß sie die Dinge nicht auf die Spitze treiben dürfe. So nahm sie sich denn zusammen, verbarg ihre Abneigung nach Möglichkeit und fand auch zuweilen Worte, die ihn beglückten und in einen Zustand neuen Hoffens versetzten. Daß ihre junge Seele durch all das zermürbt wurde, daß sie sich selbst verachtete, weil sie zur Heuchlerin geworden, trug sie wie etwas Unabwendbares. Längst war aus dem harmlos frohen Mädel unter all diesen seelischen Einwirkungen ein reifes Weib geworden. Diese innere Reife verlieh ihr auch die Kraft, den Dornenpfad weiter zu schreiten wie eine Märtyrerin.

Geirot hatte auf eine schnelle Hochzeit gedrängt. Sie war sofort einverstanden gewesen. Sie freute sich auf diesen Tag. Sie wußte, er würde die Abrechnung bringen.

Und nun war er da, dieser 9. Mai. In der Nacht vorher hatte es das erste, schwere Gewitter gegeben. Anni hatte sich an das Fenster gestellt und die Blitze beobachtet, die über das nachtschwarze Firmament hinglitten. –

Morgens füllte dicker, grauer Nebel die Straßen der Hafenstadt. Der Wind kam von See und drückte die feuchten Schwaden landeinwärts.

Um elf Uhr holte Geirot sie zum Standesamt ab. Der Nebel war in einen tristen Landregen übergegangen. Für drei Uhr nachmittags war die kirchliche Trauung angesetzt. Eine Unmenge Neugieriger hatte sich im Gotteshaus eingefunden. Anni sah im Brautstaat lieblicher denn je aus. Man wunderte sich, daß sie so stolz, so hochaufgerichtet an Geirots Arm zum Altar schritt.

Aber ihr ‚Ja’ beim Ringwechsel klang nur wie ein Hauch. Eine plötzliche Schwäche befiel sie. Sie schwankte; ein nervöses Zittern ging über ihren Leib hin. Die Willenskraft jedoch genügte auch jetzt noch, die nahende Ohnmacht zu verscheuchen.

Die Hochzeitsgesellschaft war nur klein. Die Stimmung an der Tafel blieb gedrückt. Die Heiterkeit, die dieser oder jener Herr herbeizuzwingen suchte, hatte stets etwas Krampfhaftes an sich und verebbte schnell wieder. Die trüben Schatten erschienen hinterher um so dunkler, die über den Gästen schwebten wie die Vorahnung widriger Ereignisse. Nur Anni war heute so ganz anders als bisher. Wenn Geirot ihre Hand verstohlen drückte, schaute sie ihn mit einem rätselhaften Blick in die Augen und lächelte ebenso rätselhaft.

Um halb acht Uhr kleidete Anni sich zur Abfahrt um. Das junge Paar wollte mit dem Acht-Uhr-D-Zug zunächst nach Berlin reisen und von da weiter nach Thüringen.

Geirot hatte Fahrkarten 1. Klasse genommen. Er und Anni waren allein in dem Nichtraucherabteil. Der Schaffner, der ihn kannte, hatte ein Trinkgeld erhalten und verständnisinnig genickt.

Nun saßen sie nebeneinander. Er hatte den Arm um sie gelegt. Sein weinduftender, schneller Atem schlug ihr unangenehm aufdringlich ins Gesicht. Geirot, sonst im Trinken sehr mäßig, hatte noch zuletzt mehrere Gläser Sekt hinuntergestürzt.

Mit gierigen Lippen küßte er sie, wurde immer kühner, immer zudringlicher. Er hatte Blenden über die Lampe gezogen, so daß es nun fast dunkel im Abteil war.

„Bitte – löse dein Versprechen ein,“ sagte Anni leise und drängte ihn von sich.

„Aber Liebling, – jetzt?! Das hat doch Zeit.“

„Nein, das hat nicht Zeit! – Und – sage mir alles. Ich bin jetzt dein, und zwischen uns darf es kein Geheimnis geben –“

Er zauderte. Aber die in ihm lodernde Leidenschaft, noch dazu der Wein machten ihn unvorsichtig. Mit einem Schlag war wieder der eifersüchtige Haß in ihm lebendig geworden. Der Wunsch, Herbert Palmer in Annis Augen zum Verbrecher zu stempeln, war stärker als die warnende Stimme, die ihm zuraunte, Anni könnte seine Intrigen durchschauen.

„Ich spreche sehr ungern darüber,“ erklärte er nun, indem er diese Einleitung mit einem Seufzer begleitete. „Ich will die Sache daher auch ganz kurz erledigen, Liebling. –

Ich hatte als Kassierer auch von Palmer einige Personalpapiere im Tresor zur Verwahrung. Zufällig nahm ich sie eines Tages – es kann so etwa im Februar gewesen sein, zur Hand und blätterte darin. Als Bankmensch, der doch für Fälschungen von Unterschriften, Rasuren auf Wechseln und so weiter ein besonders geschärftes Auge hat, fiel mir auf, daß die Namen in Palmers Geburtsurkunde offenbar geändert worden waren. Das gleiche stellte ich dann auf anderen Papieren, einem Schulzeugnis zum Beispiel, fest. Diese Entdeckung veranlaßte mich, der Herkunft Palmers etwas genauer nachzuforschen. Ich tat dies lediglich im Interesse der Bank, da ja schon oft genug Hochstapler und dergleichen sich mit Hilfe falscher Papiere bei Firmen haben einstellen lassen und dann bei guter Gelegenheit mit einer lohnenden Beute flüchtig geworden sind –“

‚Lügner!’ dachte Anni.

„So brachte ich denn heraus, daß in Düsseldorf, wo Palmer im Jahre 1891 in der Bochumer Straße Nr. 2 geboren sein sollte, zur damaliger Zeit kein Kaufmann namens Palmer gewohnt hatte, der als Vater Herbert Palmers in den Papieren angegeben war. Es hatte dort jedoch ein Kaufmann Lothar Kalwer gewohnt, der in reiferen Jahren eine – Soubrette geheiratet hatte. Aus dieser Ehe waren zwei Kinder hervorgegangen. Das eine starb; das zweite, ein Sohn namens Herbert, galt als verschollen. Lothar Kalwer, der Vater, aber war im Jahre 1910 vom Schwurgericht wegen Totschlages, begangen an seiner eigenen Ehefrau, zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt worden. –

Sehr bald unterlag es für mich keinem Zweifel mehr, daß Herbert Palmer der Sohn jenes Mörders war, der im Gefängnis Düsterberg seine Strafe verbüßte. Es war meine Pflicht, Palmer dieserhalb zur Rede zu stellen. Der Sohn eines Mörders konnte nur zu leicht dieselben schlechten Instinkte wie der Vater besitzen und –“

„Weiter, weiter,“ drängte Anni, in der bereits eine furchtbare Ahnung aufgestiegen war.

„Nun – Palmer versuchte die Fälschungen erst zu leugnen. Dann flehte er mich an, ihn nicht zu verraten. Ich beruhigte ihn, sagte ihm, daß ich gar nicht daran dächte, ihn ins Unglück zu bringen. –

Sein ganzes Benehmen machte den Eindruck, als hätte er auch in anderer Beziehung noch ein sehr schlechtes Gewissen. Freiwillig aus eigenem Antrieb versprach er mir dann, er würde seine Stellung bei Tönnings kündigen und Seeburg schleunigst verlassen. Ich riet ihm ab; das könnte doch nur Aufsehen erregen und –“

Anni hatte sich jäh erhoben und die Stoffkugeln der Lampe hochgeklappt. Dann setzte sie sich wieder, aber so, daß zwischen ihr und Geirot ein weiter Zwischenraum blieb.

„Fahre fort,“ sagte sie scheinbar gleichgültig. „Die Sache ist ziemlich uninteressant –“

Geirot ließ sich täuschen.

„Hm – sie gewinnt aber dadurch an Interesse, daß der Winkelkonsulent Balke ebenfalls in Düsterberg seine Strafe abgesessen hat und daß derselbe Balke mit Herbert Palmers Vater eng befreundet gewesen sein muß. Die Freundschaft zwischen Herbert Palmer und dem Winkelkonsulenten findet so eine sehr einfache Erklärung. Gleich und Gleich gesellt sich gern.“

Anni wandte ihm jetzt das Gesicht zu.

„Wie hast du denn all diese Einzelheiten erfahren? Durch briefliche Nachfragen?“

„Ja –“

„Und Herbert Palmer hat sich also von dir nicht umstimmen lassen und sofort gekündigt?“

„Ja –“

Anni richtete sich plötzlich kerzengerade auf. Schon vorher hatte sie ihrem Handtäschchen heimlich einen Zettel und einen zusammengefalteten Brief entnommen. Jetzt breitete sie den Zettel aus, las mit zitternder Stimme vor:

„– nur mitteilen, daß es geschehen ist. Ich habe Sie auch, wie versprochen, Herrn Tönning warm empfohlen. Ich denke, Sie werden jetzt auch Ihrerseits halten, was zwischen uns vereinbart wurde. Gewiß. Ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich schweigen werde.“

„Diese Sätze,“ fügte Anni mit erhobener Stimme hinzu, „wurden zwischen dir und Palmer an jenem Sonnabend vor unserer Verlobung gewechselt. Damals begriff ich ihren Sinn nicht. Heute – heute durchschaue ich diese ungeheure Schurkerei von dir! Mir hast du soeben vorgelogen, Palmer hätte freiwillig gekündigt! Nein, nein, – du hast ihn dazu gezwungen, indem du ihm mit Anzeige der Fälschungen drohtest! –

Und weiter, du willst lediglich brieflich Nachforschungen angestellt haben! Hier – dieser Brief fiel dir bei uns aus der Tasche. Ich fand ihn. Es ist ein Schreiben der Detektei ‚Merkur’, in dem diese dir mitteilt, daß sie dir für den neuen Auftrag denselben Detektiv sendet, der für dich schon in Düsseldorf tätig gewesen sei –“

Sie sprang auf.

„Lügner, Lügner!“ rief sie schrill. „Gemeiner Intrigant! Jetzt bist du entlarvt. Ich, ich war das Ziel deiner Wünsche. Deshalb mußte Palmer fort von Seeburg! Und wer weiß, was du noch sonst alles an Ränken geschmiedet, wie du mich noch in anderen Dingen belogen hast! Geahnt habe ich das alles! Nur deshalb freute ich mich auf diesen Tag, – nur weil ich ihr deine schändlichen Geheimnisse entreißen wollte! – Oh – ich werde auch den Rest deiner Schurkereien aufdecken! Ich werde zu Palmer gehen und ihn nach alldem fragen. Du – du Elender, wer weiß, ob du nicht –“

Geirot, der bisher völlig verstört regungslos dagesessen hatte, schnellte jetzt hoch, packte Anni und riß sie an sich.

„Warte – warte, – ich will dir beweisen, daß ich – noch gemeiner sein kann,“ keuchte er in sinnloser Wut. „Ich werde –“

Aber – er hatte mit Annis kräftigem Körper nicht gerechnet. Ihre kleinen Fäuste fuhren ihm unter das Kinn, sein Kopf flog nach hinten, er selbst taumelte zurück.

Da hatte Anni auch schon die Gangtür aufgerissen. Im Nebenabteil ‚Raucher’ saßen zwei Fahrgäste. Sie trat schnell zu ihnen ein.

„Meine Herren,“ sagte sie noch zitternd vor Erregung, „ich bitte Sie um Ihren Schutz. Ein Schurke hat mich zu seinem Weib gemacht und –“

Sie schwankte. Einer der Männer fing sie auf, ließ sie in die Fensterecke gleiten.

Gleich darauf erschien Geirot, rief sofort: „Anni – du wirst sogleich in unser Abteil zurückkehren.“

„Gemach – Gemach!“ meinte der jüngere der beiden Herren. „Die Dame hat sich unter meinen Schutz gestellt und wird nur das tun, was sie selbst will.“

So mußte Geirot das Feld räumen, und Anni wurde dann von demselben Herrn, einem verheirateten hohen Regierungsbeamten, mit in dessen Wohnung genommen, wo auch seine Gattin sie sehr liebevoll willkommen hieß.

Diesen beiden Menschen, die das Herz auf dem rechten Fleck hatten, erzählte sie dann die Geschichte ihrer Ehe, und der Geheimrat Wüllner versprach ihr, Herbert Palmer zu sich zu bitten, damit Anni sich mit ihm über das, was sie an Schändlichkeiten von Geirots Seite noch weiter vermutete, aussprechen könnte.

 

 

9. Kapitel

Der Liebe Glück und Leid

Helma hatte gerade das neue Kostüm vor dem Spiegel anprobiert, als Herbert früher, als sie vermutet hatte, heimkehrte.

Er war sehr bleich und betrat mit so müden Schritten das Zimmer, das Helma vor Schreck abwehrend die Hände ausstreckte und rief: „Bert – Bert, – was ist denn geschehen?“

Er ließ sich in den nächsten Stuhl fallen, behielt den Kopf gesenkt, murmelte kaum verständlich:

„Ich – ich werde wegen Urkundenfälschung unter Anklage gestellt werden. Es – ist – alles aus – alles! Die – die Schande überlebe ich nicht –“

Sie eilte zu ihm hin, sank neben ihm in die Knie.

„Bert, – Anklage – Urkundenfälschung?! – Ich begreife nichts – nichts!“ Sie umschlang ihn, flehte dann: „Nein – Nein, – du mußt leben, Bert, – für mich, für mein Glück! Ohne dich ist mir die Welt nichts, – ich liebe dich ja, Bert –“

Er starrte sie geistesabwesend an, lachte dann bitter auf.

„Einsperren wird man mich ins Gefängnis, – wie meinen Vater. Ja, ja, Helma, – mein Vater sitzt noch dort – als Mörder, als Totschläger. Er hatte eine um zwanzig Jahre jüngere Frau geheiratet, und diese Frau, meine Mutter, hat ihn dann, als ich neunzehn Jahre zählte, betrogen, und – in der ersten Wut, als er diese Untreue entdeckte, schlug er sie nieder mit – mit einem Bügeleisen, das gerade in der Nähe stand. Er hat diesen Todschlag nie eingestanden. Er schämte sich, zuzugeben, daß sein Weib ihn mit einem seiner Angestellten hintergangen und noch bestohlen hatte. Nur mir beichtet er. Und bevor er damals sich selbst der Polizei stellte, mußte ich ihm versprechen, fortan unter anderem Namen, als Herbert Palmer, zu leben und ihn als tot zu betrachten. Er wollte nicht, daß sein Kind unter der Verfehlung des Vaters litt –“

Die Erinnerung übermannte ihn. Ein trockenes Schluchzen rang sich aus seiner Kehle los.

„Ich heiße in Wahrheit Herbert Kalwer,“ fuhr er ebenso trostlos gleichgültig fort. „Mein Vater Lothar Kalwer lebt noch heute in der Strafanstalt Düsterberg. Aber – er wird seine Leidenszeit bald hinter sich haben –“

Helma hörte nichts mehr – nichts! Der Name Düsterberg hatte sie wie ein Faustschlag getroffen.

Düsterberg! Und den Namen ‚Kalwer’ hatte der Vater ihr gegenüber einige Male erwähnt; und – Herbert war der Sohn dieses Gefängnisgenossen ihres Vaters!

Mit einem Male sah sie nun die näheren Einzelheiten jenes wertvollen Geheimnisses, dessentwegen ihr Vater jetzt nach Gibraltar gereist war, völlig klar vor sich wie ein grell beleuchtetes Bild.

Das Geheimnis mußte Lothar Kalwer dem Vater anvertraut haben, damit dieser es dem Sohn mitteilte! Deshalb also hatte ihr Vater so lange gesucht, bis er Herbert Palmer in Seeburg entdeckt hatte; deshalb waren sie dann dorthin verzogen; deshalb hatte sie sich mit Herbert verloben müssen, – alles dieser Reichtümer wegen, die eigentlich Herberts Eigentum waren!

Helmas Brust entrang sich ein Stöhnen. Sie wußte gar nicht, daß Herbert längst zu sprechen aufgehört hatte, daß er sie erstaunt beobachtete; sie wußte nicht, wie verstört sie jetzt aussah, als ihre Lippen nun die Worte formten:

„Es – es ist ein Betrug, – und ich – ich habe dabei geholfen!“

Herbert beugte sich zu ihr herab.

„Helma – Helma, was redest du da? Betrug – Betrug?“

Sie schrak zusammen.

„Mein Gott, – sagte ich etwas?“ stieß sie hervor, und ihre verängstigten Augen hingen fest auf seinem Gesicht.

Draußen schellte die Flurglocke. –

Helma sprang auf, eilte hinaus.

Ein Depeschenbote.

Helma riß das Telegramm auf. Eine sinnlose Angst ließ ihre Hände beben. Sie hörte nichts, sah nichts. –

Und eine Hand nahm ihr die Depesche ab. – Herbert las halblaut vor:

„Helma Balke, Berlin–Charlottenburg

Knesebeckstraße 138

Völliger Fehlschlag hier in Gibraltar. Bin trostlos. Ihr seht mich nie wieder.

Gabriel Balke“

Helma war gegen die Wand getaumelt.

„Was – was soll das?!“ fragte Herbert und schaute sie mißtrauisch an. „Gibraltar – Gibraltar?! – Sprich, Helma, – rede! Handelt es sich um die Erbschaft?“

Helma sank in die Knie, hob flehend die Arme.

„Bert – Bert, – glaube mir, ich habe all das nicht gewußt. Nein – keine Erbschaft, – ein – ein Geheimnis. Mein Vater muß es von dem Deinen in Düsterberg erfahren haben –“

Herbert griff nach ihren Händen.

„Also wußte dein Vater, daß ich Lothar Kalwers Sohn bin,“ flüsterte er heiser. Eine entsetzliche Ahnung war in ihm aufgestiegen. Nun wollte er Gewißheit haben.

„Ja – ja, – er zog nur deinetwegen nach Seeburg –“

„Ah – und des Geheimnisses wegen suchte er meine Bekanntschaft! Sprich, Helma – lüge nicht!“

„Ja – ja!“ wimmerte sie. „Bert, Bert, – vergib mir. Ich liebte dich. Und da – da war ich so gern mit allem einverstanden –“ in ihrer wahnwitzigen Furcht, ihn zu verlieren, plauderte sie aus, was sie so gut hätte verschweigen können. „Und – und an jenem Sonnabend, Bert, als – als er mich halb in alles einweihte, da – da wurdest du dann auch mein. – Bert, schau’ mich an. – Ich –“

Eine furchtbare Lache kam über seine Lippen.

„Das Geheimnis! Das Geheimnis! Also deshalb – deshalb!“ Er preßte Helmas Hände, daß sie leise aufschrie. „Du – du, also der Reichtümer wegen damals die heißen Küsse am Haff, – dieser Reichtümer wegen, die nie existiert haben, die eine fixe Idee, eine Wahnvorstellung meines sonst geistig durchaus gesunden Vaters waren, – nur die Folge einer Gehirnentzündung, an der er einst als junger Mensch in Gibraltar erkrankte, – nichts als eine fixe Idee, von der er sich nicht abbringen ließ! Also deswegen – deswegen!“

Er schleuderte Helmas Arme von sich, riß den Hut vom Garderobenhalter und stürmte die Treppe hinab, rannte im Flur dann gegen einen Mann.

„Halt – einen Augenblick!“ rief der Herr und hielt ihn fest. „Der Beschreibung nach sind Sie Herr Palmer. – Mein Name ist Wüllner. Ich komme im Auftrag von Frau Anni Geirot, geborene Wölk –“

*

Anni betrat den Wüllnerschen Salon. Herbert stand auf, ging ihr entgegen.

Sie standen sich gegenüber, beide so bleich, beide mit jagenden Herzen.

Anni reichte ihm stumm die Hand. Sie brachte kein Wort über ihre Lippen.

Herbert setzte sich wieder. Anni nahm neben ihm in der Sofaecke Platz.

„Ich – will – Klarheit haben –“

Da war es schon vorbei mit der mühsam bewahrten Fassung. Sie schluchzte, hielt das Gesicht in den Händen vergraben.

„Herr Wüllner hat mir bereits alles mitgeteilt,“ sagte Herbert schnell. „Ich will Ihnen nun ganz genau schildern, was damals an jenem Sonnabend geschah und was diesem Tage vorausging und folgte.“

Ihr leises Weinen verstummte. Und als Herbert geendet, begann sie zu sprechen – ohne Scheu, erzählte von jenem Sonnabend, wie er für sie verlaufen war, schilderte ihren Seelenzustand bei der Verlobung mit Geirot und den Ausgang dieser Ehe, die keine Ehe war.

„Man hat uns betrogen, Herbert, schändlich betrogen! Dämonen waren an der Arbeit, darunter der schlimmste Dämon – die Eifersucht!“–

Sie weinte wieder.

Er hatte sich erhoben, nahm ihre Hände.

„Anni – Anni, – ja, man hat uns beide um das Glück betrogen! Aber – vor uns liegt die Zukunft, Anni!“

Sie schaute zu ihm auf; sie lächelte unter Tränen.

„Die Zukunft!“ flüsterte sie. „Die Zukunft! Die Zukunft heißt für mich Herbert Kalwer, selbst wenn man diesen Herbert verurteilen sollte, weil er sich Palmer nannte –“

Er küßte ihre Hände, wandte sich um und eilte hinaus. –

Und als er heimkam nach der Knesebeckstraße, fand er auf dem Eßtisch einen Brief von Helma – nur wenige Zeilen.

‚Leb wohl auf ewig! Ich werde nie wieder Deinen Weg kreuzen. Hab Dank für die Tage des Glücks! – Helma’

*

Die Seeburger Kaffeekränzchen und Stammtische hatten neuen Gesprächsstoff – und welch reichhaltigen gleich!

Geirots Ehe war schon wenige Stunden nach der Trauung in die Brüche gegangen; Anni war ihm davongelaufen; und Anni war nun wieder bei ihrer Mutter und nannte sich wie bisher Anni Wölk, saß wieder bei Tönnings im Tippstübchen und hatte glückliche, strahlende Augen.

Geirot war nie wieder in Seeburg aufgetaucht. Zu seinem Glück! Man hätte ihn allgemein ‚geschnitten’, diesem elenden Intriganten.

Und sehr bald erschien dann auch Herbert Kalmar in Seeburg. Man wußte, daß er gar nicht vor Gericht gezogen worden war, daß das Verfahren wegen Urkundenfälschung eingestellt wurde.

Ja – wochenlang hatten die Seeburger ihre großen Sensationen. Man debattierte eifrigst darüber, wie lange der Scheidungsprozeß Annis wohl dauern würde; man eilte in Scharen auf den Kirchhof, als dort die Leiche Kalwers, des Gattenmörders, beigesetzt wurde, die Herbert aus Düsterberg hierher hatte überführen lassen; man freute sich allgemein mit Herbert, als dieser Teilhaber bei Tönnings wurde. –

Und im September lief man wieder in Scharen zur Kirche, als Anni und Herbert Hochzeit feierten.

Oben auf dem Chor aber stand eine dichtverschleierte Frau und schaute mit brennenden Augen zum Altar hinab, vor dem zwei Glückliche knieten.

Laut und feierlich erklang Herberts ‚Ja’.

Da schluchzte die verschleierte Frau noch lauter, fiel auf die Bank zurück und legte den Kopf in die Arme.

Der Küster drehte die Kronleuchter aus, stieg auf den Chor, rüttelte die Frau sanft.

„Ich muß abschließen –“

Sie erhob sich, schlich von dannen.

Der Küster schaute ihr kopfschüttelnd nach.

„Hm – war das nicht die bildschöne Balke?“ murmelte er. –

An der Hochzeitstafel hielt der alte Herr Tönning eine lange, ernste Rede, sprach von der Verirrung armer Menschenseelen und wie schließlich doch noch alles zum Besten sich wende, wenn nur die wahre Liebe die Herzen leite.

Und Herbert drückte Annis Hand und beugte sich zu ihr.

„Verirrte Menschenseelen – Dämon Eifersucht!“ flüsterte er. „Also, mein Einziges, – nie eifersüchtig sein als mein liebes, süßes Frauchen, – nie!“

Und Anni lächelte ihn an.

„Ich verspreche: nie!“ –

*     *

*

 

 

Fußnote:

1 Lombard ist Begriff aus dem Bankwesen, Kredit gegen Verpfändung beweglicher Sachen