Sie sind hier

Blondelfchen

 

Blondelfchen

von

Gustav Röhl

 

Verlag moderner Lektüre
G.m.b.H.
Berlin.S.O.26. Elisabethufer.44.

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO. 26.

 

 

1. Kapitel

Erziehungskünstler

Else Menke war fünfzehn und besuchte die zweite Klasse des Privatzirkels, als sie eines Mittags im Mai ganz aufgeregt nach Hause kam und ihre liebe Mama, die bereits wie eine Fünfzigerin ausschaute, in ihr Zimmer nahm und mit Tränen der Empörung in den dunklen Augen fragte:

„Mami ist es wahr, daß der Storch gar nicht die kleinen Kinder bringt?“

Frau Anna Menke wurde abwechselnd blaß und rot.

„Wie –– wie kommst du zu dieser Frage, Elfchen?“ meinte sie verlegen.

„Die Hilde Rönner hat mich heute in der Pause ausgelacht, als ich erzählte, daß der Storch bei Onkel Hugo eingekehrt und ihm ein ganz, ganz kleines Töchterchen gebracht habe, nachdem er vorher an den Storch mehrere besondere Botschaften eines Kindleins wegen abgeschickt hätte. – Auch die anderen alle haben so häßlich gelacht, mich Dummchen und Tugendelfchen genannt, und die Alice von Brewitzki hat noch gemeint: ‚Lacht doch nicht, ihr! Sie verstellt sich ja nur! Gerade solche wie Else Menke, die so im Glaskasten erzogen sind, kennen den Rummel heimlich am allerbesten!‛“

Die Frau Landgerichtsdirektor zitterte vor Ärger und auch vor Angst um ihres blonden, hübschen Kindes Seelenheil. –

Ja – Seelenheil! –

So dachte diese Dame, die in dem von einem Eisesschauer erfüllten elterlichen Haus – ihr Vater war Oberkonsistorialrat gewesen – nie jung gewesen, die mit neunundzwanzig den Landrichter Menke geheiratet und diesen ehemals so flotten Kouleurstudenten mit Hilfe ihres Vaters in kurzem so total umgekrempelt hatte, daß Otto Menke vor Reue über seine sündigen Jugendjahre am liebsten ein Halleluja-Mädchen geworden wäre, wenn das eben möglich gewesen, – scheinbar!

Gänzlich umgekrempelt hatten sie ihn – in noch nicht zwei Jahren. Kein Wunder, daß diese seine Ehe mit Frau Anna, geb. Hobensack, auch danach wurde.

Äußerlich war ja natürlich alles eitel Sonnenschein, Glück und Zufriedenheit. Das Ehepaar schmiß nur so mit harmlosen Kosenamen um sich, und es gehörte schon ein sehr feiner Riecher dazu, um zu wittern, daß unter dieser Schicht von Friedenswohlgerüchen allerlei andere böse Düfte sich verbargen.

Herr Jeremias Hobensack, der Schwiegervater, hatte so eine Art an sich, gegen die der frühere Korpsstudent nicht aufkam – oder nicht aufkommen wollte. Denn Otto Menke hatte Schulden und Fräulein Anna Hobensack, an der keinerlei Wölbung der Körperlinien sittlichen Anstoß erregte, achtzigtausend Mark Mitgift, – als Entgelt oder Ausgleich für ihre bis zum äußersten gesteigerte Reizlosigkeit freilich viel zu wenig. Da hätten es acht Millionen sein müssen. –

Aber: Menke saß das große Schlachtmesser, das aus unbezahlten Rechnungen und so weiter zusammengekleistert war, an der Kehle, und außerdem war ein Bruder des zukünftigen Herrn Schwiegervaters im Justizministerium Vortragender Rat! Das gab den Ausschlag. Und – Otto Menke griff zu – mit geschlossenen Augen und stillem Grausen! Denn – er hatte ja andere Frauen kennen gelernt, – Frauen mit anstößig vorgebauten Körperformen, mit schelmischem Lächeln um den Grübchenmund und heißen Sinnen.

All das fehlte der Braut und jungen Gattin – alles.

Otto Menke bezeigte denn auch nach der Hochzeit seiner Frau gegenüber eine solche Hochachtung vor ihrer noch total jungfräulichen Seelenreinheit, daß er fünf Nächte in seinem Zimmer auf dem Diwan schlief und Frau Anna am sechsten Tag ihrer Ehe noch immer nicht behaupten konnte, seine richtiggehende Gattin zu sein, dieweil ja das Wort ‚Gattin‛ von Begatten abgeleitet ist.

An diesem sechsten Tag nachmittags forschte die Frau Oberkonsistorialrat so ganz ‚hinten rum‛ ihre Älteste aus, ob Otto sich denn auch in der ersten Nacht so benommen habe, wie es sich für einen gebildeten Mann schicke.

Anna versicherte lebhaft, sie sei überaus zufrieden mit ihrem Ottchen. – Sie war’s nämlich auch. Sie hatte jah nur schreckliche Angst vor all dem Häßlichen, Widerwärtigen, was jeder Braut nach der Eheschließung bevorsteht – nur Angst – und keinerlei brünstiges Sehnen – nein, nicht die Spur.

Die Frau Oberrat bekam aber doch noch in derselben Stunde die Wahrheit heraus, – nämlich daß Ottchen nachts bisher allein geschlafen hatte. Sie war sprachlos! Das – das hatte doch nicht mal ihr Jeremias getan, und der war Geistlicher!

Dann, als sie sich etwas gefaßt hatte, stellte sie vorsichtig allerlei Fragen.

„Annchen, – vermißt du denn so gar nichts? – Fühlst du dich einsam nachts im Schlafzimmer? – Sehnst du dich nicht nach Ottos nächster Nähe – und nach lieben Kinderchen?“

Annchen verstand sehr wohl, errötete stark. Ihr Busen wogte vor schämiger Scheu, alldieweil sie den Büstenhalter ‚Venus‛ trug, der etwas vortäuschte, was nicht da war: Sie trug ihn aber erst seit der Hochzeit. –

Und schließlich erklärte sie weinerlich:

„Ihr – ihr habt mir doch immer diese – diese Liebe als etwas so Anstößiges, Häßliches, Unwürdiges hingestellt, daß ich – gern darauf verzichte –“

Die Rätin erblaßte hier. – Himmel – da hatten ja ihr Mann und sie in dem Bestreben, eine keusche Seele großzuziehen, was Nettes angerichtet…

Sie saß ratlos, verstört da. Plötzlich verabschiedete sie sich und eilte zu ihren Jeremias.

Der hatte gerade wieder Zahnschmerzen und diese durch Alkohol zu betäuben gesucht. Sonst war er Blaukreuzler. Nur in Krankheitsfällen wurde er diesem Grundsatz: Alkohol ist ein Gift! untreu. Zahnschmerzen hatte er sehr oft, was auch schon unter den Kollegen in der Stadt bekannt war.

Als seine Frau ihm berichtete, daß Ottchen Anna offenbar als ehelichen Bissen verschmähte, und als sie Annas Auslassungen hierzu wiedergegeben hatte, da sagte Jeremias Hobensack mit einer Kanzelgeste: „Ich werde ihm ins Gewissen reden! Die Ehe birgt Pflichten. In der Bibel heißt es: Seid fruchtbar und mehret euch!“

Ottchen nahm die folgende Strafpredigt schweigend hin und gelobte Besserung, kaufte sich an demselben Abend heimlich zwei Flaschen Sekt, trank sie um elf Uhr in seinem Arbeitszimmer allein und ebenso heimlich aus und – hätte es nun mit des Teufels Großmutter aufgenommen!

Annchen ahnte ihr Schicksal voraus. Gottergeben – denn auch ihr hatte der Herr Papa eine lange Rede unter vier Augen über den ‚heiligen‛ Zweck der Ehe gehalten! – erwartete sie das Furchtbare.

Und – der Kelch ging nicht an ihr vorüber. Aber Ottchen war wieder so sehr Kavalier, daß er alles auf ein Mindestmaß beschränkte. Und – so blieb es auch in Zukunft.

Deshalb vielleicht gingen auch zwei Jahre ins Land, bevor sich Anzeichen einstellten, daß Familienzuwachs nahte.

Blondelfchen wurde geboren. Und seitdem hatten Menkes getrennte Schlafzimmer. Seitdem schien Ottochen der Ansicht zu sein, seine ehelichen heiligen Pflichten für alle Zeit ‚voll und ganz‛ erfüllt zu haben.

Weiter aber auch ordnete sich Ottchen immer mehr den Wünschen seiner Schwiegereltern nach christlicher Lebensführung unter, strich den Stammtisch, den Kegelabend, die Korpsabende und lebte nur seiner Familie.

Inzwischen war er Untersuchungsrichter am dortigen Landgericht geworden. Da der Bezirk sehr groß, hatte er sehr oft auswärts zu tun und nahm auch jede Gelegenheit wahr, in den kleinen Orten der Umgegend sich von dem strapaziösen soliden Leben zu erholen. –

Diese seine Erholungsphase entschädigte ihn für alles, was er sonst aus Klugheit und Friedfertigkeit entbehren mußte.

Nur so ist es auch zu erklären, daß Ottchen Menke dies Dasein überhaupt aushielt.

Als Blondelfchen zehn Jahre geworden, wurde ihr Papa, weil er wirklich etwas leistete, und nicht etwa weil dort im Justizministerium ein Vortragender Rat namens Hobensack saß, in der Provinzialhauptstadt Landgerichtsdirektor. Er dankte Gott und seinem Vorgesetzten auf Knien dafür, – denn nun war er ja der Nähe der Schwiegereltern entrückt, nun konnte er aufatmen, sich in Astadt einen geselligen Kreis schaffen und langsam die Fesseln wieder abschütteln.

Er – hatte sich zu früh gefreut.

Jeremias Hobensack entschlief sanft, und die Oberrätin zog zu – ihren lieben Kindern nach Astadt.

Ottchen ging acht Tage wie ein Traumwandler umher. Dann hatte er auch diese bittere Pille hinabgewürgt.

Und fortan machte er es wie früher als Untersuchungsrichter: Er schätzte dringende Arbeiten vor, blieb in seinem Amtszimmer, weil es dort ruhiger sei, – blieb aber nicht immer dort, sondern hatte in einer behaglichen Vorstadtweinkneipe bald einen Kreis Gleichgesinnte gefunden, von denen er Verrat nicht zu fürchten brauchte: Künstler, Ingenieure, Kaufleute und ein paar Kollegen, – alles Leute mit vernünftigen Ansichten.

Die Erziehung Blondelfchens nahmen die beiden Damen in ihre ‚erfahrenen‛ Hände. Das Kind wurde mit einem geradezu raffiniert ausgeklügelten Überwachungssystem umgeben. Alles wurde von ihm ferngehalten, was den zarten Blütenstaub einer jungen Menschenseele nur irgend schädigen kann. Außerdem aber – und das war der schwere Fehler der beiden Frauen! – schilderten sie dem heranwachsenden Kind die Umwelt in Farben ohne jede Übergangsmischungen. Für Elfchen gab es nur ganz schlechte Menschen, ganz häßliche Dinge und ganz edle Charaktere und märchenhaft schöne Dinge. Zwischenstufen fehlten.

Daß Frau Anna Menke ganz besonders alles, was mit dem Liebesleben von Mensch und Tier zusammenhing, in lächerlicher Entstellung auch noch der Fünfzehnjährigen schilderte und erklärte, war bei ihrer ganzen Veranlagung, für die ein gefallenes Mädchen etwa einem Raubmörder gleichstand, selbstverständlich.

Zu dem Überwachungssystem gehörte auch die Ausschaltung des öffentlichen Schulunterrichts und die Unterbringung Elfchens in dem Privatzirkel Fräulein Hedwig Meiers, einer Lehrerin, die auch Töchter aus reichen Familien in Pension nahm

Fräulein Meier war fraglos tüchtig. Nur – auch sie litt häufig an Zahnschmerzen, roch dann nach Spirituosen und glühte wie eine Rose. –

Fehlerfreie Pferde sind selten; fehlerfreie Menschen noch seltener. –

Kehren wir zurück in Blondelfchens Mädchenstübchen. Diese Abschweifung in die Werdegeschichte unserer hübschen Heldin war nötig, um ihre ferneren Schicksale erklärlich zu machen.

Frau Anna Menke zitterte also – vor Ärger und Angst, wie schon ausgeführt.

Nach einer Weile nahm sie Elfchen in die Arme, küßte sie und sagte: „Du wirst nie wieder zu Fräulein Meier gehen. Die Kinder dort sind sämtlich verworfene Geschöpfe!“

Dann fuhr Frau Anna mit der Straßenbahn zu Fräulein Meier und machte dort eine Szene, die von den Pensionärinnen im Nebenzimmer mit Wohlbehagen belauscht wurde.

Die Lehrerin schwieg zunächst. Dann erklärte sie sehr ruhig:

„Frau Landgerichtsdirektor, ob Ihre oder meine Ansichten über Mädchenerziehung richtig sind, wollen wir nicht erörtern. Das eine steht aber fest: Man schützt ein Mädchen am besten gegen Versuchungen und Fehltritte, indem man ihr das Liebesleben so darstellt, wie es ist, – natürlich unter Weglassung alles wirklich Häßlichen. Die Natur hat dem Menschen den Liebestrieb nicht deshalb eingepflanzt, daß wir, die Erwachsenen, ihn in der Jugend künstlich zu ersticken suchen. –

Das ist Unnatur. Das mag sich rächen. Die Triebe brechen sich doch Bahn, wo sie stark genug sind.“

Frau Anna erhob sich schnell, sagte eisig:

„Ich kenne solche Triebe nicht. Das – das ist tierisch. – Ich habe die Ehre.“ –

Nach dem Mittagessen erfuhr Otto Menke das – Furchtbare. Er schwieg sich dazu so ziemlich aus.

Er hatte sich tadellos konserviert, sah geradezu noch jugendlich aus, der Herr Landgerichtsdirektor. Er war blond wie sein Elfchen, die auch seine dunklen, großen Augen geerbt hatte. Und – er war – ein forscher Mann, frei, offen, – nur daheim spielte er eine bestimmte Rolle. –

Seine Frau wirkte neben ihm wie seine Mutter. Und tatsächlich war es auch mal letztens in einem Restaurant vorgekommen, daß ein Kellner gefragt hatte: ‚Darf ich Ihrer Frau Mutter auch noch ein Helles bringen?‛

Der Erfolg dieses Zwischenfalls war der gewesen, daß Frau Anna sich die Haare wieder dunkel färbte und hellere Blusen trug.

Viel half das nicht! –

Er – schwieg sich so ziemlich aus. Nur als seine Frau fragte, was nun werden solle, da Elfchen doch noch Unterricht erhalten müsse, meinte er:

„Geben wir Elfchen in Pension – irgendwo zu einem kinderlosen Landpfarrer-Ehepaar, älteren Leuten. Ich denke da zum Beispiel an deinen Vetter Born, lieber Anna –“ –

Frau Anna beriet mit der Mama. Diese sagte ja. Daher sagte Frau Anna auch ja und die Sache war perfekt. –

Elfchen weinte herzzerreißend, als sie eine Woche drauf von dem Papa und der Großmama Abschied nahm.

Frau Anna brachte sie selbst nach Bruchwalk, einem reizend gelegenen Dörfchen an dem See gleichen Namens, der wieder rings von Laub- und Nadelwäldern umgeben war.

 

 

2. Kapitel

Die andere Erziehung

Es war Elfchens Herzenswunsch schon immer gewesen aufs Land zukommen. Man hatte ihr ja das Land im Gegensatz zur Großstadt als ein Paradies geschildert, in dem die Menschen nichts Arges denken und tun, in dem der Engel der Reinheit mit weißen Nelken über die Felder wandelt.

Der erste Abschiedsschmerz legte sich daher auch sehr bald. Von Onkel Born und Tante Amalie war Elfchen mit warmer Herzlichkeit begrüßt worden.

Frau Anna blieb drei Tage dort als Gast. Am zweiten Tag feierte man Elfchens sechzehnten Geburtstag. Und am Tag ihrer Abreise nahm die Frau Landgerichtsdirektor das Ehepaar Born zu einer ernsten Besprechung in die ‚gute Stube‛. Hier entwickelte sie nochmals ihre Ansichten über Mädchenerziehung. Borns kannten dies alle schon, denn sie waren ja zuweilen bei Menkes kurze Zeit zum Besuch gewesen. Außerdem hatte ja auch Otto Menke heimlich vor Elfchens Abreise an Pfarrer Gustav Born einen sehr langen ausführlichen Brief geschrieben.

Borns versprachen, ganz im Sinn Frau Annas die Erziehung fortzusetzen, die da soeben erklärt hatte:

„Elfchen darf nie heiraten. Sie mit ihrem zarten, unberührten Gemüt würde durch die – Brutalitäten der Ehe seelisch geknickt werden –“

Als sie dann abgereist, der altehrwürdige Postwagen in der Ferne verschwunden war, sagte Gustav Born kopfschüttelnd:

„Amalie, – sie ist wirklich noch genau so – übergeschnappt wie früher. – Nein, wie ist’s nur möglich, daß eine verheiratete Frau derartigen Quatsch redet.“

Gustav Born liebte kräftige Ausdrücke, war bei aller Gelehrtheit ein Naturmensch, der seinen großen Garten allein in Ordnung hielt, der von jedem Handwerk etwas Verstand und von dem die Bauern ringsum sich selbst in ‚Gerichtssachen‛ Rat holten.

Seine Frau paßte zu ihm. Sie war vierzig, er fünfundvierzig, beide auch gleich korpulent, beide noch jung im Herzen und nur ein wenig enttäuscht darüber, daß ihre Liebe nicht durch Kinder gesegnet war, diese Liebe, die so ganz anders gewesen als die des Menkeschen Ehepaares. –

Gustav Horn begann nun Elfchens Unterricht. Er hatte ja Zeit genug. Zwei Stunden am Tag ließen sich bequem erübrigen. Zunächst suchte er festzustellen, ob Elfchen etwa eines jener superschlauen Großstadtrackerchen wäre, die völlige Harmlosigkeit so trefflich zu heuchelnd verstehen.

Aber: Er hatte bald herausgebracht, daß Elfchen wirklich noch den Storch als den Kinderimporteur bewunderte und daß sie keine Ahnung hatte, was es bedeutete, wenn der stolze Hahn auf dem Hof einer Henne nachrannte, sie in den Kopf biß und dann auf ihr hockte.

Nein: Sie war harmlos! – Und dabei war sie vollentwickelt, für ihre Jahre sehr kräftig und zeigte bereits eine knospende Fülle der Brust, die sehr vielversprechend war.

Zwei Monate genügten, um Elfchen den letzten Rest von Stadtkouleur zu nehmen und sie noch prächtiger erblühen zu lassen. Frisch, leicht gebräunt, mit zwei langen Zöpfen, meist ohne Hut tollte sie mit dem Bernhardiner Leo im Garten umher, half dem Onkel graben, pflanzen, sähen und dem Hausmädchen freiwillig auch bei den gröberen Arbeiten.

Gustav Born war dem Wunsch Otto Menkes folgend, bei der Einführung Elfchens in vernünftige Daseinsansichten sehr vorsichtig.

Ganz langsam eröffnete er ihr, wie es mit dem Entstehen von Pflanzen und Tieren bestellt war; erklärte ihr, wie aus dem Ei das Hühnchen sich entwickelt, welche Rolle der Hahn dabei spielt, ging zu den anderen, in der Pfarrwirtschaft vorhandenen Tieren, Kaninchen, Schweinen und Schafen, über und hatte Elfchen nach zehn Wochen glücklich so weit, daß sie all dies durchaus nicht anstößig fand.

Dann – kam Besuch: ein Amtsbruder aus der Nähe mit seinem dreiundzwanzig jährigen Sohn, der jetzt zu den Studienferien daheim weilte.

Werner Link studierte Jus und war Burschenschaftler, wie dies auch sein alter Herr gewesen. Er hatte zwei lange Durchzieher im Gesicht, war schlank, groß und tat weit älter, als er in Wirklichkeit Jahre zählte.

Er wurde der erste jüngere Mann, den Elfchen näher kennen lernte.

Man hatte in der Laube gemeinsam den Nachmittagskaffee getrunken. Dann bummelten Elfchen und Werner durch den Garten. Sie war ihm gegenüber ganz zwanglos. Von Koketterie wußte sie nichts. Sie ahnte nicht mal, daß sie so bildhübsch ausschaute und ohne ihre Zöpfe ganz junge Dame gewesen wäre.

Der verlegenere von beiden war fraglos der Student. An einen solchen Typ von Mädel war er nicht gewöhnt. Er kannte von Berlin her jetzt andere Pflänzchen, die raffiniert wie Kokotten und heuchlerisch wie eine Familienblattromanschriftstellerin waren.

Man stand nun vor der Kaninchenhürde. In einer kleineren Abteilung befanden sich ein Bock und eine Häsin zum Zweck der Paarung.

Der Bock war sehr eifrig, und – zu Werner Links Entsetzen sagte Blondelfchen plötzlich, indem sie auf die beiden Tiere deutete:

„Es ist der beste Rammler, denn wir haben. Unter acht Jungen tut er’s nie. Und einen Tag braucht man ihn nur beizulassen, dann ist jede Häsin belegt.“

Oh – sie war sehr stolz auf ihre landwirtschaftlichen Kenntnisse – sehr!

Werner hatte einen blauroten Kopf bekommen, sprach schnell von etwas anderem, dachte aber: ‚Donner noch eins – ist das ein kleiner, hübscher Deibel! Und – sie geht doch fraglos gleich aufs ganze! Wie würde sie sonst wohl derartiges erörtern!‛

Er fand seine Sicherheit zurück.

Und abends, nachdem man in der Laube Bowle getrunken, spielte er mit Elfchen in den dunklen Gartenwegen Versteck; sie fingen auch Glühwürmchen, – bis er sie plötzlich, als der Mond gerade aufgegangen war, ganz hinten im Garten auf dem in den Ästen dreier uralter Linden eingebauten kleinen Pavillon, zu dem eine Zickzacktreppe emporführte, an sich riß und küßte.

Er nahm sie auf den Schoß. Willenlos ließ sie alles geschehen mit sich – alles!

„Ich habe dich lieb, Elfchen, unendlich lieb. Und im März mache ich mein Referendarexamen. Dann verloben wir uns. Ich will ehrlich sein: Einmal bin ich schon durchgefallen. Aber jetzt – jetzt werde ich – ochsen – ochsen! – Für dich!“ –

Sie war Otto Menkes echte Tochter, sie besaß seine regen Sinne. –

Und hier hatte sich Jugend zu Jugend gefunden, Trieb zu Trieb.

Sie war selig, überselig! Sie war eine heimliche Braut.

Jetzt küßte sie ihn.

„Du, – die Mama will nicht, daß ich heirate. Sie sagt, ihr Männer seid brutal,“ plapperte sie. „Und in der Ehe soll es so viel Widerwärtiges für uns Frauen geben. Wirklich edle Frauen heiraten nicht, sagt die Mama. Aber – ich heirate dich doch. –

Du bist lieb und gut. Noch nie war ich so glücklich wie jetzt –“

Da – da merkte Werner, daß er sich getäuscht hatte. Nein – sie war nicht raffiniert. Und – was er vorhin im Rausch der Leidenschaft gesprochen – von Verloben und Examen, das sollte nun erst recht bestehen bleiben. –

Sie verabredeten noch ein Wiedersehen für den nächsten Abend. Er wollte mit dem Rad herüberkommen – ganz insgeheim. –

Die beiden Ehepaare in der Laube ahnten nichts von alledem. Gustav Born hatte den Freunden über Elfchens Charakter Aufschluß gegeben und gemeint, in der nächsten Woche würde er nun mit dem Aufklärungsunterricht sacht auf die Säugetiergattung Homo sapiens übergehen.

Um elf fuhren Links heim.

Elfchen winkte dem Wagen nach. Sie war so ausgelassen, so vergnügt, erzählte, daß sie Werner alles ordentlich gezeigt habe: die Werkstatt mit der Handkreissäge und dem Blasebalg, die Acetylenlichtanlage, die Ställe und auch ihre Lieblinge, die Kaninchen.

Sie lachte.

„Du, Onkelchen, – nicht mal den Unterschied zwischen Rammler und Häsin schien Werner zu kennen. Er wurde ganz rot, als ich ihm unseren großen Bock zeigte, der gerade die graue Häsin begattete. Und der Werner ist doch auf dem Land aufgewachsen, müßte darüber doch Bescheid wissen –“

Onkel Gustav war starr.

‚Lieber Herrgott,‛ dachte er, ‚– das hast du ja vergessen: du hättest ihr erklären müssen, daß, wenn diese Dinger auch durchaus natürlich sind, ein junges Mädchen darüber nicht sprechen darf!‛

Nun – er holte dies sofort nach.

Blondelfchen machte große Augen.

„Wie, Onkelchen, – nicht darüber sprechen?! –

Ja – warum denn nicht? Es ist doch alles nur Naturgesetz, nur etwas Gutes. Junge Kaninchen gibt’s dann, hübsche Lämmer und steifbeinige Kälber. – Onkel – das versteh’ ich nicht, weshalb –“

Und sie schüttelte den Kopf, daß ihre Zöpfe nur so flogen.

Gustav Born saß jetzt schön fest.

Eigentlich hätte er nun sagen müssen:

„Liebes Kind! Junge Mädchen dürfen Herren gegenüber solche Dinge nicht erwähnen, weil es im menschlichen Dasein genau so hergeht wie bei den Tieren und weil derartige Bemerkungen über das Fortpflanzungsgeschäft bei jedem Mann Gedanken wecken müssen, die der Beurteilung des betreffenden Mädels nicht günstig sind. Das nennt man eben Keuschheit, dies feine Umhüllen der natürlichen Triebe mit duftigen Schleiern des Schweigens und Unbekannttuns –“

Aber – so durfte er leider nicht sprechen. Denn noch gestern hatte Elfchen beim Unterricht erklärt:

„Ich begreife jetzt den Unterschied zwischen Tier und Mensch immer mehr. Wir Menschen sind die am vollkommensten organisierten Lebewesen, die geistig am höchsten entwickelten, deshalb hat die Natur uns auch eine andere Art der Fortpflanzung beschert, eine mehr vergeistigte –“

Sie glaubte jetzt nämlich, daß jede Ehe ohne Dazutun der Ehegatten mit Kindern gesegnet werde, wenn das Ehepaar recht dringlich den Wunsch hegte, ein Kindlein zu haben, und daß dieses dann außen am Mutterleib großwüchse und ausgereift sich selbst später loslöste. –

Den Storch hatte sie doch bereits ausgeschaltet. –

Gustav Born begann von neuem zu reden. Aber alles, was er sagte, befriedigte Elfchen nicht ganz.

Nachher, als sie in ihrem nach dem Garten hinausgehenden Zimmerchen im Bett lag und der Mond so traulich hineinlugte, überkam sie plötzlich einen namenlose Sehnsucht nach Werner.

Siedend heiß wurde ihr in den Kissen. Sie stand auf, öffnete das Fenster.

Da – bemerkte sie im Garten eine Gestalt. Es war ein Mann. Sie erkannte ihn: der Sohn des Dorfschulzen, der auf Urlaub hier war; ein schmucker Unteroffizier von den Ulanen, der stets mit dem Säbel rasselte, wenn er durch die Dorfstraße ging.

Sie sah weiter, wie dieser Karl Matzner jetzt in ein Fenster des Seitenbaus hineinkletterte. Dort hatte die Jette, das Hausmädchen, ihre Stube.

Elfchen lächelte. –

‚Sie sind sicher auch heimlich verlobt‛, dachte sie.

Und sie schlüpfte wieder ins Bett.

Aber ihre Sehnsucht nach Werner wurde nur stärker; ihr Leib glühte förmlich. Sie hätte irgend etwas tun mögen, um sich zu beruhigen – doch sie wußte nur nicht was.

Als sie dann eingeschlafen war, träumte sie, daß Werner zum Fenster auch zu ihr hineinstiege, daß er sich auf den Bettrand setzte, sie küßte, ihr das Nachthemd herunterstreifte und seine Lippen ihren Hals, ihre Brust, ihren Leib wie mit glühenden Kohlen erhitzte. –

Morgens war sie so müde, so gedankenträge, hatte bläuliche Schatten unter den Augen und – nur einen Wunsch: daß es bereits elf Uhr abends sein möchte. –

Onkel Gustav gab ihr dann ein Buch zu lesen, eine seltsame Geschichte von zwei Kindern, die von zwei verschiedenen, gescheiterten Schiffen sich auf eine Insel retten, sich dort finden, allein wie die Wilden lebend aufwachsen und eines Tages dann merken, daß eine unwiderstehliche Gewalt sie zueinander treibt, sie sich küssen, im Gras wälzen – sich umarmen. Und nach neun Monaten bekommt das Mädchen dann ein Knäblein.

Elfchen las und grübelte viel. –

‚Umarmen!‛ hieß es in dem Buch. Und auch Werner hatte sie ja im Traum umarmt, sich mit ihr im Bett gewälzt, und – ach – er war so wild erregt gewesen, hatte…

Wenn sie an dies Letzte dachte, dann wallte es ihr abwechselnd wie Frost und Hitze über den Leib. –

Der Tag verstrich. Ein schwüler Julitag, gewitterdrohend.

Und Elfchen flehte: Lieber Gott – nur heute kein Gewitter und kein Regen! Sonst ist der Landweg aufgeweicht, und Werner kann nicht kommen.

 

 

3. Kapitel

Gewitternacht

Kurz vor elf war’s. –

Blondelfchen hatte nur wenig an, hatte nur den seidenen Regenmantel übergezogen; darunter war sie im Mieder und Unterröckchen.

In der Ferne grollte der Donner, wetterleuchtete es auch.

Eilig huschte sie durch den finsteren Garten. Der Himmel war dicht bewölkt. Es tröpfelte bereits, und sie hatte wenig Hoffnung, ihren Werner heute wiederzusehen.

Aber – als sie bei den drei Linden anlangte, stand er dort schon neben seinem Rad.

Sie flog ihm um den Hals. –

Er aber hatte es eilig.

„Liebling, ich muß sofort heim. Bekommen wir einen Platzregen, dann muß ich drei Stunden zu Fuß wandern und das Rad führen. Der Weg ist ja so schlecht –“

Sie flehte: „Bleib’, – du wirst sehen, wie traulich es in meinem Stübchen ist. Das Rad stellen wir in den Schuppenvorbau –“

Ein hohler Wind fuhr durch die Bäume. Ein langer Blitz zuckte am Horizont auf.

Werner kämpfte mit sich.

„Nein, Liebling, – das darf nicht sein. Wir wollen uns eine Weile unter den Schuppenvorbau ins Trockene flüchten. Es gießt ja bereits. Dann gehst du schlafen. Ich kehre heim, sobald das Unwetter vorüber.“

Als sie aber erst unter dem schrägen Pappdach standen, als der Regen immer heftiger herabtrommelte, als es kühler und kühler und den beiden jungen Menschenkindern heißer und heißer unter Küssen und Aneinanderschmiegen ward, da – wurde er schwach.

Alles war ihm plötzlich gleichgültig – alles.

Sie kletterten durch das Fenster in das dunkle Zimmer; und Elfchen zog ihn nach ihrem Bett, schlüpfte unter die Decke.

Ihr Traum sollte Wahrheit werden.

Sie wollte es!

Und – Werner Links Gewissen war tot. Nur die Triebe flammten in ihm auf, das Gewaltige, was die Natur uns mitgegeben: die sinnliche Liebe, die sich in die Winkel scheu verkriechen soll, die man als etwas Unreines hinstellen will, die man nicht mit Namen zu nennen wagt, ‚man‛, die Opfer einer falschen Erziehung. Denn – als Heuchler wird niemand geboren. Man lehrt uns das Heucheln; die lehren es uns, die es selbst so oft sind: die Eltern. –

Gustav Born erwachte, hörte das Krachen der Donnerschläge, stand auf, kleidete sich an. Auch Frau Amalie tat’s. So ist’s Brauch auf dem Land. Denn – schlägt’s irgendwo ein, ist jeder Arm zur Hilfeleistung nötig.

Onkel Gustav stellte sich an das Fenster seines Studierzimmers, das neben der Stube Blondelfchens lag.

Ein Bündel Blitze fuhr in die Linden. Ein betäubender Donnerschlag. Der Holzpavillon, die Treppe lohte sofort auf.

‚Ich muß doch mal bei Elfchen anklopfen und sehen, ob sie wach ist,‛ dachte der Pfarrer. –

Keine Antwort. –

Er pochte stärker.

Da – täuschte er sich!? War das nicht Geflüster, nicht das Klirren eines Fensters, das hastig aufgestoßen wird?

Irgend ein dunkler, ungewisser Argwohn zuckte plötzlich in ihm auf. Sein Herzschlag stockte einen Moment. Dann hastete er an das Fenster seines Arbeitszimmers zurück.

Eine neue elektrische Entladung. Sekundenlang blendende Helle.

Und Gustav Born sah, wie die Gestalt eines Mannes nach dem Schuppen zu verschwand.

Draußen wieder schwere, lastende Finsternis. Der Regen, der eine Weile ganz aufgehört hatte, setzte mit erneuter Kraft wieder ein.

Der Pfarrer schlug mit der Faust gegen Elfchens Tür.

Sofort tat die sich auf. Und vor ihm stand Blondelfchen in einem Nachthemd bis auf die Knöchel herab und mit einem Licht in der Hand.

Sie lächelte den Onkel an.

„Oh – ich fürchte mich nicht vor dem Gewitter,“ begann sie, und – jetzt war sie ganz Weib geworden, ganz die Eva aus dem Paradies, die zu lügen und zu heucheln weiß.

Born nahm ihr das Licht ab, ging an das linke Fenster, sah sich den weißgestrichenen Fensterkopf an.

Frische Erdspuren darauf! Das – das sagte übergenug.

Ein lähmendes Entsetzen befiel ihn. Was – was war hier geschehen? –

Es gab hier nur eine Deutung. Und diese Deutung war – furchtbar.

Ihm zitterten jetzt die Knie. Er ließ sich in den Stuhl am Fenster fallen. Der Leuchter wäre beinahe seinen Fingern entglitten.

Elfchen beobachtete ihn. Sie ahnte, daß er alles wußte, und blitzschnell überlegte sie.

Werner preisgeben? –

Niemals – niemals! –

Ihren Werner?! –

Er war ja nicht Schuld daran, daß es so gekommen, daß – sie nun auch das Letzte erkannt hatte aus dem Liebesleben der Natur, der Menschen – den Sinnenrausch mit einem Mann. Ihr Storchglaube war endgültig erledigt. Aber – Reue empfand sie nicht! Ihr zitterten ja noch alle Nerven vor Seligkeit, vor diesem wilden, sinnbetörenden, berauschenden Genießen, das nur Mann und Weib sich gewähren können.

Sie war zum Weib erwacht. Sie war Otto Menkes Tochter, des einstigen Korpsstudenten, dem die Mädels in Bonn und München nachliefen, sich ihm aufgedrängt hatten, daß er sie kaum abwehren konnte. –

Gustav Borns Hirn gebar jetzt stets denselben Gedanken, denselben Vorwurf: Du hättest sie warnen sollen, du hättest sie aufklären müssen – restlos! Du hattest die Pflicht hierzu, nachdem die Mutter das versäumt hatte.

Dann hob er den Kopf.

„Elfchen, komm mal her.“

Ganz gütig klang’s. Sie – sie war ja auch ohne Schuld.

Sie kam, stand vor ihm wie ein schöner Geist – mit aufgelöstem Haar, mit den knospenden Brüsten unter dem zarten Batisthemdlein.

Er griff nach ihrer Hand.

„Kind – war – war jemand hier bei dir?“

So schwer flossen ihm die Worte über die Lippen.

Sie nickte.

„Ja, Onkel.“

Es klang fest, halb wie trotzig.

Er stöhnte auf.

„Wer – wer – war’s?“

„Jemand – hier aus dem Dorf –“

Schweigen. Und draußen rollte der Donner, flammten die Blitze. Die Treppe und der Pavillon bildeten nur noch qualmende Trümmer. Der Regen hatte den Brand gelöscht.

Gustav Born stand schwerfällig auf, deutete nach dem Bett hin.

„Dort – dort wart ihr beide? Und – er – er hatte ich geküßt, – umarmt?“

„Ja, Onkel.“

Sie war langsam zurückgewichen, schlüpfte ins Bett. „Mich friert,“ fügte sie hinzu.

„Wer – wer aus dem Dorf war’s? Und – war er schon häufiger bei dir?“

Sie hatte die Bettdecke bis zum Kinn hochgezogen.

„Den – Namen nenn’ ich nicht, nein, – nie nenn’ ich den. Fünfmal hat er mich – nachts besucht bisher.“

Born wischte sich den Schweiß von der Stirn.

„Kind, Kind, – was – was haben wir nur angerichtet, wir – wir Erzieher! – Ich – ich werde deinen Vater telegraphisch herbitten. Dies – trage ich nicht allein. –

Gute Nacht, Kind –“

Er tappte hinaus, drückte die Tür zu, ging ins Schlafzimmer, wo Frau Amalie ihn sofort mit den Worten empfing:

„Das Feuerhorn, Gustav, – horch. Es muß eingeschlagen haben –“

„Ja, Amalie – es hat eingeschlagen.“

Er sank auf den Bettrand.

„Bei uns!“

Seine Frau, die vor dem Spiegel ihr Haar aufgesteckt hatte, fuhr herum.

„Du – was – was –“

„Elfchen. Ein – ein Mann – war bei ihr. Ich – ich verliere den Verstand –“

Ihre Hände sanken herab. Haarnadeln klirrten auf die Dielen.

„Ein – Mann? – So – spricht doch –“

Und stockend berichtete er. Dann zum Schluß:

„Nein, Amalie, – laß sie jetzt allein. Geh’ nicht zu ihr. – Wozu das Kind aufregen? Wozu?! – Ich – ich muß jetzt sehen, wo’s brennt. Gib mir den Lodenumhang. Vielleicht ist diese Ablenkung ganz gut. Und, Amalie, – laß Elfchen allein. Was solltest du ihr auch sagen? Sie – sie kann nichts dafür, nein – sie nicht.“–

*

Elfchen weinte

Der Vater würde kommen, den sie so abgöttisch liebte, und dem sie’s doch nicht so recht zu zeigen gewagt hatte, weil er sich nicht viel um sie kümmerte. Aber – oft hatte er sie doch still angeschaut mit Augen voller Liebe. So ganz anders als die Mama.

So viel Wärme lag in seinen Augen.

Und – er – er würde sie ausfragen, und er würde vielleicht ebenso unglücklich dann sein wieder Onkel Gustav.

Sie schluchzte kläglich. –

Wenn – wenn nur Werner hier wäre. –

Ach, sie hatte ja jetzt so furchtbare Angst vor – ja, wovor eigentlich?

Ihr Herz war so namenlos schwer.

Ja, – der Vater – ansehn würde er sie mit den lieben, warmen Augen. Aber – die würden vielleicht ernst und böse sein, – so wie damals, als sie vor Jahren hinter der Portiere gehockt und der Vater zu Mama gesagt hatte: ‚Gut – nimm’ deine Mutter hier zu uns ins Haus – gut! Es kommt ja auch darauf nicht mehr an – nein – es ist ja doch ein erbärmlich verpfuschtes Leben –‘ –

Elfchen hatte nur noch einen Gedanken: Dieser Begegnung mit dem Vater zu entfliehen.

Eine Erinnerung kam ihr. Eine Kindergeschichte. Ein Knabe, der in den Wald lief, um der Strafe zu entgehen.

Elfchen kleidete sich hastig an. –

Fort – nur fort von hier! –

Sie steckte alles zu sich, was sie an Schmuck besaß, ihr Geld dazu; dann zog sie den Seidenmantel an, drückte den weichen Glanzlederhut über das hastig hochgeknotete Haar.

Sie kletterte zum Fenster hinaus, lief durch den Garten bis zur Hinterpforte, die auf die Chaussee mündete. Es regnete nicht mehr. Die Chaussee war schlammig, voller Pfützen.

Und Elfchen hastete weiter, – planlos, ohne zu denken: Nur fort – fort!

Noch ein Blick zurück.

Aus der Mitte des Dorfes schossen Flammen hoch. Eine Scheune lohte auf. Brennende Heubälle entführte der Wind wie Leuchtkugeln. Funkenregen sprühte hoch.

Elfchen kannte den Wald, durch den die Chaussee führte – meilenweit. Jenseits lag die Kreisstadt. Und von dort konnte man die Eisenbahn benutzen.

In dem weltfremden Geist des Mädchens formten sich phantastische, unklare Pläne. Nach Berlin wollte sie reisen, sich dort unter falschem Namen ihr Brot verdienen und warten, bis Werner dorthin käme. Dann würden sie heiraten, und die Eltern würden ihr nichts mehr nachtragen – nichts.

Der Wald begann. Zunächst mit Gebüsch, einzelnen Kiefern und einer hellschimmernden Sandgrube. Inzwischen war ein Teil des Himmels klar geworden. Sterne blinkten auf. Die Dämmerung einer Julinacht breitete sich wieder über die Erde aus. Der Donner grollte seltener. Und im Rücken des blonden Mädchens stand rot und leuchtend der Feuerschein am Horizont, wie ein flammender Abschiedsgruß für die, die nun ihre Zukunft mit den eigenen schwachen, törichten Händen aufbauen wollte.

 

 

4. Kapitel

Schmale Gnitzes Truppe

Die moderne Zeit hat nicht viel Romantik übriggelassen.

Ein Stück echte Romantik, wenn auch etwas schmutzige und übelduftende, sind die Zigeuner.

Nicht etwa die, die zum Beispiel in bestimmten Straßen von Berlin N in bestimmten Häusern wohnen und Pferde- und anderen Handel treiben, während die Frauen und Mädchen bettelnd und wahrsagend die Stadtteile durchziehen, und die schwarzhaarige jüngste Jugend anderswo zusieht, ob es nicht etwas zu ergattern gibt.

Nein – diese Zigeuner haben die Art und Sitte ihrer Voreltern längst abgestreift, insbesondere den nie müden Wandertrieb, der wie ein Fluch auf diesem in mehr als einer Beziehung rätselhaftem Volk lastet.

Aus Indien sollen sie stammen. Ihre Sprache, ihr Körperbau und manches andere machen dies wahrscheinlich. –

Die Landbevölkerung Deutschlands lernt nun die Zigeuner anders kennen als der Großstädter. Man liebt sie in den kleinen Städten und Dörfern nicht, diese ziehenden Banden mit ihren klapprigen Wohnwagen. Aber – offen tritt man nicht gern gegen sie auf. Sie sind rachsüchtig, nachtragend, unberechenbar. Ihre alten Weiber, meist übermäßig dick, sollen den bösen Blick haben und damit Unheil stiften. Andererseits sieht man sie auch nicht ungern kommen, denn sie sind vielseitig, verstehen fast jedes Handwerk und kaufen, was selbst dem Trödler wertlos dünkt.

Wenn so ein Zigeunertrupp, zuweilen bis zu zwanzig Wagen, gegen Abend in einem Dorf erscheint, beeilt sich die Ortspolizei stets, ihnen recht weit außerhalb der letzten Häuser einen Platz zum Nachtlager zuzuweisen. Recht weit! Und dann gibt’s für die Dorfbewohner eine schlaflose Nacht. Hühner- und Taubenställe müssen bewacht werden. Denn sie stehlen ja wie die Raben, die braunen Gesellen, stehlen mit einer Gewandtheit ohnegleichen. –

Schmale Gnitze lagerte mit seiner Truppe – sieben Wagen, neunzehn Erwachsene, einundzwanzig Kinder – auf einer großen Waldlichtung. Der Herr Förster hatte erlaubt, daß sie hier ein paar Tage sich ausruhten. Zum Dank hatte Schmale Gnitze dem Förster ein Fahrrad repariert und ein Pferd umgetauscht und bei letzterem Geschäft nicht betrogen – ausnahmsweise.

Schmale Gnitze war klein, dick und jetzt fünfzig Jahre alt. Für Zigeuner schon das Greisenalter. Ihre Frauen welken ja früh dahin, wie tropische Gewächse, und sie sterben meist in den Fünfzigern.

Seine Truppe war auch seine Familie: Söhne, Schwiegersöhne mit ihren Familien; hauptsächlich Kinder, die sich dauernd vermehrten. Es ist fruchtbar, dieses Rätselvolk, daß heute in Deutschland, ein halbes Jahr später mit ihren Wagen in Spanien oder Rußland auftaucht, immer in kleinen oder größeren Abteilungen. –

Noch eins – und all das aus eigener Sachkunde: Im Winter, zumeist aber nur von Dezember bis März in der allerkältesten Zeit, haben sie ihre festen Wohnsitze. In Westpreußen gibt’s ein paar Dörfer, die zur Hälfte Zigeunern gehören. In diesen Anwesen bleiben während der warmen Jahreszeit nur ein paar ganz Alte zurück. Der Haupttroß wandert – wandert und verdient viel Geld. Die scheinbare Armut der Zigeuner ist nichts als Schlauheit; ihr schmutziger Anzug nichts als Festhalten an dem Althergebrachten. –

*

Das Gewitter war der Sippe Schmale Gnitzes sehr gelegen gekommen. Man hatte sich in alle Winde zerstreut, um – ohne Geld einzukaufen. Im Lager waren nur die Kinder, sieben Frauen, Schmale Gnitze und dessen ältester Schwiegersohn, der lahme Olje Biffzi zurückgeblieben.

Schmale Gnitze schlief in seinem Wohnwagen mit Frau und zwei noch ledigen Töchtern den Schlaf der Gerechten.

Dann wurde an das Wagenfenster geklopft. Schmale Gnitze öffnete es. Im Dämmerlicht der Sommernacht standen zwei seiner Enkel, schlanke, sehnige Burschen von fünfzehn Jahren, da und zwischen ihnen eine weiße, feine Dame mit Seidenmantel und weichem Lackhut.

Die Zigeuner besprachen sich in ihrer Mundart. Der eine der Burschen erklärte, sie seien dem jungen Mädchen auf der Chaussee vor fünf Minuten begegnet.

So war es auch. Blondelfchen hatte sich plötzlich den beiden jungen Zigeunern gegenüber gesehen. Es war nicht die ersten, die sie sah. Im Hause des Onkels hatten sich häufiger Zigeuner eingefunden.

Elfchen empfand keine Angst, weil sie die Menschen insgesamt noch zu wenig kannte. Sie hatte die beiden angesprochen, dann – ganz plötzlich war nun wieder ein anderer Gedanke in ihr aufgezuckt.

Deshalb stand sie nun vor Schmales Wohnwagen.

Der Zigeunerprimas schüttelte erst den Kopf. Dann holte Elfchen aus dem Täschchen ihre Ringe, Armbänder und die goldene Uhr nebst Kette sowie achtzig Mark hervor. –

Das gab den Ausschlag.

Schmale weckte seine Frau, seine Töchter.

Roßtäuscherkünste – darin sind die Zigeuner Meister! Und dazu gehört auch, gestohlenen Pferde einzufärben, daß aus einem Fuchs ein Brauner und aus einem Braunen ein Falber wird. –

Übrigens: daß sie Kinder stehlen, ist ein Märchen. Wozu auch, sie haben doch selbst übergenug davon.

Elfchen wurde vor dem im Wagen herrschenden Geruch fast übel. Aber – sie überwand den Ekel, ließ alles mit sich geschehen. Die Töchter Schmales holten für sie ihre besten, sauber gewaschenen Sachen hervor, und Elfchen wurde nach der Haar- und Hautfärbeprozedur von Kopf bis Fuß neu eingekleidet. Ihre eigenen Sachen verschwanden in einem jener Verstecke des Wohnwagens, den selbst ein Berliner Kriminalbeamter nicht aufgefunden hätte.

Dann wies ihr Schmale einen Verschlag ganz hinten als Schlafstelle an; saubere Decken bekam Elfchen und sogar ein Kissen mit weißem Bezug. Sie war jetzt vollständig erschöpft – vollständig. Und sie schlief sehr bald ein.

Gegen Morgen war Schmales Truppe wieder vollzählig beisammen. Im Nu wurden die Hühner, Enten und Tauben gerupft, ausgenommen, zerlegt und eingepökelt. Der Abfall wurde vergraben. Nun konnten die Bauern – und auch der Gendarm – suchen.

Schmale nahm die Männer beiseite und beriet mit ihnen, setzte ihnen auseinander, weshalb er, der dem Strafgesetz so vorsichtig stets aus dem Wege ging, das feine Mädchen aufgenommen habe.

Er kannte das Leben besser als Frau Anna Menke, geb. Hobensack, weit besser.

„Die blonde Chalik1 ist weggelaufen, weil sie Liebeskummer hat. Sie ist hier in der Nähe daheim, ganz bestimmt. Ihre Schuhe beweisen einen nicht allzu langen Marsch.

Ihren Namen nennt sie nicht. Nur achtzehn Jahren will sie sein. Nun – es wird eins mehr sein etwa. Sie ist sehr kräftig. –

Wir werden warten, bis ihre Angehörigen eine Belohnung aussetzen. Dann werde ich sie diesen bringen und sagen, ich sei nur deshalb ihrem Verlangen, sie bei uns zu behalten, nachgekommen, weil sie sonst weiter gelaufen wäre.

Uns kann nichts passieren, nichts. Nur – daß keiner von euch zu der Chalik frech wird. Sie muß es gut haben bei uns, damit sie bleibt, denn wir werden warten, bis die Belohnung hoch genug ist. Es ist was feines, die Chalik, und wir werden ein gutes Geschäft machen mit ihr. –

Schirrt die Pferde an. Wir ziehen weiter, dort den Waldweg entlang. Mein Wagen kommt in die Mitte. Und – niemand weiß was von der Chalik, wenn jemand fragen sollte. Werden die Wagen durchsucht, verschwindet Klepsche – das war Schmales jüngste Tochter – mit ihr im Wald. Daher muß mein Wagen auch mitten in den Zug.“

Fünf Minuten später setzte der Trupp sich in Bewegung.

Elfchen erwachte bei dem heftigen Rütteln und Schütteln. Als sie sich bewußt wurde, wo sie sich befand, begann sie zu weinen. Kleptsche, die draußen gelauscht hatte, trat schnell ein. Sie war erst vierzehn, aber voll entwickelt und eine jener jungen Zigeunerinnen, die jenen pikanten Reiz ausstrahlen, dem schon mancher Gebildete erlegen ist.

Kleptsche bezeigte eine so freundliche Teilnahme für Elfchen, daß diese schnell an dem das deutsche so komisch radebrechenden Mädchen Gefallen fand. Die Zigeunerin wieder war von einer glühenden Neugier beseelt. Sie hätte zu gern erfahren, weshalb die Chalik von Hause entlaufen sei.

Erst gegen Mitternacht machte der Zug mitten in einer hügeligen Heide an einem Bächlein halt. Schmale kannte diesen Platz. Die Heide gehörte zu einem großen Gut, dessen Besitzer kein Zigeunerfeind war und die braune Gesellschaft nicht fortjagte. –

Dicht am Bach zog sich Buschwerk hin, vermischt mit Disteln- und Brombeergesträuch. Dort wurde für Elfchen zunächst ein Versteck für den Notfall hergerichtet. Dann ging’s ans Mittag kochen. Feuer lohten auf, eisernen Kessel wurden darüber gehängt, Kartoffeln geschält und Keller, Löffel und anderes im Bach gespült. Derweil tobte die Kinderschar um die Wagen herum, bis Schmale sie weiter in die Heide hineinjagte, wo die halbnackte Bande seltsame Spiele trieb, anders als unsere Kinder, alles mehr mit dem bereits wachen Erwerbssinn, – Spiele, bei denen der der König war, der am besten die anderen betrog.

Elfchen war all das so neu, daß sie aus dem Staunen und Bewundern gar nicht herauskam.

Kleptsche wich nicht von ihrer Seite. Der Geigenvirtuos der Bande mußte Elfchen vorspielen. Sie verstand genug von Musik, um mit Recht loben zu können. Der junge Zigeuner lächelte und zeigte wundervolle weiße Zähne.

Dann – aus einem dicht am Bach errichteten Zelt ein heiserer Aufschrei – dem ein Stöhnen, Wimmern.

Elfchen wurde ganz blaß vor Schreck. Aber Kleptsche erklärte ruhig:

„Die Frau von Olje kriegt nur ein Kind – das fünfte. Es wird bald vorüber sein. Sie macht’s immer kurz.“

„Oh – kann ich das nicht mit ansehen,“ meinte Elfchen harmlos. „Ich weiß ja, die Kinder wachsen außen am Mutterleib groß, wenn ein Ehepaar –“

Und sie kramte ihre ganze Weisheit aus.

Kleptsche machte ungläubige Augen. Ob die Chalik sich nur verstellte, oder ob sie wirklich nicht Bescheid wußte? –

Ihr erschien das undenkbar, schon deshalb, weil ja alle Zigeunerkinder sehr früh in alles, was mit der Fortpflanzung des Geschlechts zusammenhängt, eingeweiht werden, worauf es vielleicht zurückzuführen ist, das junge Zigeunerinnen so schwer auf Abwege geraten und sich nur aus dieser Leidenschaft einem Mann hingeben.

Kleptsche lachte. Sie merkte: Die Chalik war noch unerfahren, tat nicht nur so. –

Nun begann sie Elfchen die Augen zu öffnen. Sie drückte alles klar aus, ohne jede Gemeinheit. Sie war eben ein halbes Naturkind, und ebenso einfach hätte sie auch über das Rupfen von Hühnern gesprochen.

Elfchen wollte erst nicht alles glauben. Zweimal fragte sie:

„Also so – so entstehen die Kinder?“

Das Zigeunermädel nickte. „Ja – und wenn man ein Kind bekommen wird, das merkt man an verschiedenem,“ fügte sie hinzu und setzte ihre Belehrung fort.

Elfchen war blaß geworden.

Ein Kind! Also – auch sie hatte Aussicht, ein Kind zur Welt zu bringen – vielleicht – vielleicht –

Dunkeln besann sie sich, daß die Mama mal gesagt hatte, alle Mädchen kämen in die Hölle, die sich ein Kind wünschen. Solche Mädchen seien verkommene Geschöpfe. Denn manchmal käme es vor, daß der Wunsch ihnen auch erfüllt würde ohne Heirat.

In die Hölle! – Verkommenes Geschöpf! –

Also, wenn sie nun Mutter wurde, dann – dann –

Sie begann jämmerlich zu schluchzen, setzte sich in das Gras, schlug die Hände vor das jetzt gebräunte Gesicht und weinte – weinte, daß ihr schier das Herz zerbrach.

Kleptsche begriff alles. Und – ihr Mitleid wurde rege. Sie umschlang Elfchen wir eine liebe Schwester, tröstete sie und erreichte auch, daß die schöne Chalik sich beruhigte. Dann nahm sie sie mit in das Zelt.

Dort wurde gerade in einem großen Tränkeimer das Neugeborene gebadet; dort auf dem Lager saß die Mutter schon aufrecht, hatte eine der prallen übervollen Brüste entblößt und meinte zu Schmale Gnitzes Frau:

„Viel Milch, sehr viel Milch – gute Nahrung. Mehr als sonst.“ Und sie lachte. Zigeunerinnen kennen kaum ein Wochenbett. Am nächsten Tag stehen sie auf, gehen der gewohnten Arbeit nach. Nur die ‚kultivierten‛ Frauen sind so verweichlicht, daß sie gehegt und gepflegt werden müssen. Kultur ist ja in vielem Unnatur.

Elfchen fand das kleine, braunrote Wesen, ein Mägdelein, süß, entzückend. Den Rest des Tages wich sie kaum aus dem Zelt. Das Muttergefühl war rege geworden, nachdem ein Naturkind dem Großstadtkind natürliche Dinge natürlich erklärt hatte. –

*

Gustav Born von Frau Amalie stellten erst gegen neun Uhr vormittags Blondelfchens Abwesenheit fest. Das ganze Dorf wurde alarmiert. Dem überall beliebten Pfarrer tat man gern jeden Gefallen. Die Bauernburschen durchstreiften zu Pferd die Umgegend; die Fischer suchten mit Netzen den See ab.

Born hatte den Leuten gesagt, er hätte abends mit seiner Nichte eine ernste Auseinandersetzung gehabt; vielleicht habe Elfchen sich dies zu sehr zu Herzen genommen.

Es wurde Mittag, Nachmittag, – wurde dunkel. Gustav Born war mehr tot als lebendig; seine Frau lief wie eine Irre umher.

Abends schrieb er dann an den Landgerichtsdirektor einen Eilbrief. Von einer Depesche sah er ab. Der Brief mußte in zehn Stunden spätestens in Menkes Händen sein. –

Tatsächlich erhielt Menke das Schreiben von seiner Frau ins Landgericht nachgeschickt. Menke war Vorsitzender einer Strafkammer. Er wollte gerade die Sitzung um neun Uhr eröffnen, als ihn der Brief erreichte.

Er las – las. –

Aber – er blieb ruhig, unnatürlich ruhig. Er ließ sich von einem Kollegen vertreten und eilte heim.

Frau Hodensack und Frau Anna empfingen ihn sofort mit einer Flut von Fragen. –

Ein Eilbrief! Das müsse doch Schlimmes bedeuten.

Schonungslos gab er den Inhalt des Schreibens kurz wieder, sagte dann:

„Das – habt ihr angerichtet, – ihr allein! Und ich fühle mich mitschuldig, weil ich diese verrückte Erziehung geduldet habe.“

Frau Anna markierte einen Ohnmachtsanfall, kreischte dann, sich schnell erholend:

„Eine Gefallene – eine Dirne! Sie ist mein Kind nicht mehr, nein, – ich wünschte sie wäre tot –“

Menke stand sprachlos da. So viel Herzensroheit, so vollkommen unmündige Denken hatte er seiner Frau denn doch nicht zugetraut.

Und dann die Rätin mit eisiger Würde:

„Lieber Otto, – wir sollen schuld sein, wir? –

Nein, – du allein bist’s! Du bist der Vater! Dir gleich diese – diese Unwürdige auch äußerlich. Von dem ehrbaren Blut der Hodensacks fließt nichts im Elses Adern. Einer Hodensack hätte so etwas nie passieren können!“

„Das stimmt,“ meinte Menke ironisch. „Ich reise sofort zu Borns. Alles weitere wird sich finden – hier zwischen uns. Fast achtzehn Jahre meines Lebens sind mir verloren gegangen. Nicht ein Tag soll mir mehr verloren gehen, wenn ich mein Kind noch lebend zurückerhalte, – nicht ein Tag mehr.“

„Wir begleiten dich!“ bestimmte die Rätin, die hier ja überhaupt kommandierte.

„Nein! Ihr bleibt hier.“ Menkes Stimme schwoll an. „Und – wehe euch, wenn ihr wagt, mir zu folgen. Es ist mein Kind allein. Ihr habt das Anrecht auf Elfchen verloren, – auf die eurer Ansicht nach Gefallene, Verworfene –“

Frau Hodensack zog die welken Lippen verächtlich hoch.

„Das – das ist der Ton eines rüden Viehtreibers,“ sagte sie. „Vergiß nicht, wem du gegenüber stehst –“

Er lachte nur wieder auf und verließ dann das Zimmer.

Nachmittags langte er im Pfarrhaus an. –

Von Elfchen immer noch keine Spur. Da depeschierte Menke nach der Provinzialhauptstadt an seinen Korpsbruder Blunk, der dort Kriminalinspektor war, bat ihn, im Auto zu kommen; Kosten gleichgültig.

Blunk, ein wahrer Hüne mit gemütlichem Genießergesicht, traf gegen Morgen ein. Er brachte diesen krankhaft erregten Gemüter Ruhe und Zuversicht, die so planlos die Nachforschungen betrieben hatten, daß dabei unmöglich etwas hatte herauskommen können. Er stellte in einer halben Stunde fest, daß Elfchen nicht an Selbstmord, sondern an Fluch gedacht haben müsse. Ihr Schmuck, ihr Geld, Mantel und Hut fehlten ja. Er gab die Personalbeschreibung Else Menkes an die Polizeipräsidien weiter, bat um Überwachung der Bahnhöfe.

„Sie lebt,“ versicherte er immer wieder.

Dann besichtigte er auf seine Weise Haus und Garten. So fand er unter dem Vordach des Schuppens in einem Maulwurfhügel den deutlichen Abdruck eines Radgummireifens mit geringelter Oberfläche. Borns besaßen keine Räder, und ein Radler war seit langem nicht bei ihnen gewesen.

Blunk behauptete daher, Elfchens Liebhaber sei kein Bursche aus dem Dorf, sondern mit dem Rad hergekommen in jener Nacht. –

Nochmals fragte er Borns aus. Und als er von Werner Link hörte, dem Elfchen in ihrer Unschuld den Kaninchenstall gezeigt hätte, da wollte er wissen, ob der Student Radfahrer sei.

Gustav Born ging jetzt ein Licht auf.

„Werner Link – natürlich!“ rief er.

Und eine Stunde später rollte ein Bauernwagen dem vier Meilen entfernten Dorf Sellertin zu. In dem Wagen saßen Born, Menge und Blunk.

 

 

5. Kapitel

Ausklang

Schmale Gnitzes Trupp lagerte noch immer in der Heide. Das Wetter war prächtig. Und hier gab’s eine Unmenge wilde Kaninchen, die sich leicht in Drahtschlingen fangen ließen. Außerdem hatte der Wirt des Kurhotels am Sellertin See vier von der Sippe als Kapelle für den Abend verpflichtet, zahlte gut und duldete auch, daß die Zigeunerinnen den Gästen wahrsagten.

Elfchen hatte sich bereits völlig eingelebt. Die Zigeuner behandelten sie mit Achtung und, da sie sich so sehr des Säuglings annahm, mit kameradschaftlicher Herzlichkeit.

Kleptsche war Elfchens Vertraute geworden. Das Zigeunermädel kannte nun die ganze, kurze Liebesgeschichte. Und altklug hatte sie dazu geäußert:

„Habe keine Angst. Vielleicht bekommst du kein Kind. Manchmal dauert es ein halbes Jahr, ehe eine Frau was merkt. Du weißt schon –“

Elfchen machte ein enttäuschtes Gesicht.

„Ich – ich möchte aber sehr gern so ein herziges Püppchen haben. Oh – wie glücklich würde ich darüber sein – so glücklich! Denn – wenn ich bei euch bleibe, dann – dann erfährt doch niemand, daß – daß –“

Kleptsche meinte, man solle ein Stück in die Heide hinaus wandern.

„Wir sagen’s niemand. Wir gehen bis zum Seeufer. Dann sehen wir drüben das Dorf und das Kurhotel. Es ist ein so großes Haus – wie eine Stadt fast.“

Elfchen wußte nicht, daß Sellertin und ihr Liebster ihr so nahe. Kleptsche kannte den Namen des Dorfes nicht.

Sie wanderten durch die Heide. Diese zog sich bis an den langgestreckten See hin. Elfchen schwärmte. Sie liebte die Natur, das Weite, Freie, liebte jede Blume. Sie hatte all das bei Onkel Born lieben gelernt.

Die junge Zigeunerin erzählte von Nizza. Dort war Schmale Gnitzes Sippe im vorigen Sommer gewesen.

„Oh – so viel verdient haben wir dort – so – viel!“ meinte sie begeistert.

Man hatte jetzt einen Feldweg erreicht, der auf den See zulief.

Ein Radler kam hinter den beiden Mädchen drein, fuhr ganz lautlos rechts auf dem Fußsteig an ihnen vorüber, wandte nur flüchtig den Kopf.

Elfchen war blaß geworden und stehen geblieben.

„Du, Kleptsche, – er war’s – er!“

Werner Link fuhr langsam. Und immer wieder legte er sich die Frage vor: ‚Wo nur – wo habe ich doch das eine der beiden Zigeunermädels schon gesehen?‛

Minuten vergingen. Dann: wie ein Blitz die Erkenntnis: ‚Die Ähnlichkeit mit Elfchen ist’s, die dich aufgeschreckt hat –‛

Mit Elfchen! – Und – Elfchen war verschwunden. Born hatte dem Amtsbruder einen Brief schon gestern geschickt und ihm die furchtbare Tatsache mitgeteilt: Spurlos verschwunden!

Pfarrer Link aber hatte mit Werner den Fall besprochen. Vater und Sohn standen ja wie gute Freunde miteinander. Link merkte nicht, wie sein großer Junge bleich wurde, wie konfus er redete.

Als Werner dann allein mit sich und seinen Gedanken war, belegte er sich selbst mit Ausdrücken, deren geringster ‚Lump‛ war.

Das, was er getan, erschien ihm jetzt als ein ungeheures Verbrechen. Er – er hätte stark bleiben, widerstehen müssen! Und – wenn sie sich nun etwas angetan hatte, dann war er ihren Mörder.

Daß sie ihn nicht irgendwie verraten, seinen Namen irgendwie als den ihres Verführers genannt hatte, ging ja aus Borns Verhalten hervor. Eine unmittelbare Gefahr drohte ihm also nicht. Doch was wollte das heißen gegenüber den Qualen des eigenen Gewissens.

Nur um nicht untätig daheim zu bleiben, erklärte er den Seinen, er wurde nach Elfchen suchen helfen. So jagte er denn in der Umgegend mit seinem Rad umher, fragte die Leute auf den Feldern aus, die Förster, die Landbriefträger, die Milchfahrer der Güter.

Und – soeben kehrte er von so einer Streife zurück. Da sah er vor sich die beiden Zigeunermädels.

Ähnlichkeit mit Elfchen – so große Ähnlichkeit! Der Gedanke ließ ihm keine Ruhe.

Und plötzlich machte er kehrt. Immer schneller trat er die Pedale. Nun hätte er die braunen Mädels längst erreicht haben müssen. Aber – die waren verschwunden.

Er suchte nach Hufspuren, die vom Wege abbogen. Und – er fand Fährten, die ihn nach dem Seeufer brachten. Dort, hinter einem Busch halb versteckt, saßen die beiden. Er legte sein Rad auf den Boden, schlich näher. Er hörte die eine weinen, schluchzen.

Dann stand er neben ihnen. Elfchen schaute auf.

Ein Schrei. Sie schnellte hoch, streckte die Arme abwehrend aus, lief davon – der Heide zu.

Und Werner hinterdrein. Bald hatte er sie eingeholt.

„Elfchen – Liebling –“ er hielt sie fest. Da warf sie sich in das Heidekraut, schluchzte wieder:

„Ich – ich will dich nicht sehen. Ich schäme mich so. Jetzt weiß ich, was – was wir getan haben. Kleptsche hat mir alles erklärt. Ich war doch nicht deine Frau. Ich schäme mich furchtbar –“

Er kniete neben ihr, richtete sie mit Gewalt auf, bis sie, den Kopf an seiner Brust bergend, weiter weinte, bis er ihr dann zuraunen konnte:

„Aber du wirst doch meine Frau werden, Elfchen – ganz bestimmt. Weine doch nicht. Ich allein bin ja der Schuldige. Und ich nehme alles auf mich –“

Da verflogen das Gefühl der Scheu, der Beschämung. Und hastig erklärte sie, den Kopf hebend und ihn lieb anschauend:

„Ich bin schuld – ich, nicht du, Werner. Und das werde ich auch später dem Papa sagen, wenn – wenn ich –“

Sie wollte fortfahren: „Wenn ich erst das süße Püppchen habe –“

Aber – das brachte sie doch nicht über die Lippen.

Dann saßen sie nebeneinander. Er hielt sie umfaßt; er küßte sie innig. Und sie erzählte – von Schmale Gnitze, und daß sie vorläufig bei dem Trupp bleiben würde, nein, bleiben müsse, denn vielleicht…

Und da begriff er; küßte sie wieder; redete ihr gut zu, bis sie einwilligte, mit ihm zu seinen Eltern zu kommen.

Kleptsche tauchte mit dem Rad auf. Und als sie erfuhr, daß Werner die blonde Chalik mitnehmen würde, da raufte sie sich das Haar, schrie:

„Oh – der Vater schlägt mich blau und grün. Er hat auf eine Belohnung gerechnet. Oh – er schlägt mich halb tot –“

Werner beruhigte sie. „Dein Vater wird Geld erhalten. Ich werde dafür sorgen. – Hier sind für dich zwanzig Mark. Du warst lieb und gut zu Elfchen –“

Die zwanzig Mark stillten Kleptsches Tränen.

Ihr Abschied von Elfchen war herzlich. Das Zigeunermädel küßte der Chalik die Hand.

„Ich werde dich nie vergessen,“ sagte sie, und das kam aus ehrlichem Herzen.

Elfchen und Werner schritten um den See herum dem Dorf zu. Aber sie machten weite Umwege. Elfchen mochte sich mit dem gefärbten Haar und Gesicht nicht sehen lassen. –

Das Pfarrhaus in Sellertin beherbergte drei Gäste, die mit dem Wagen gekommen waren. Und sie saßen jetzt mit dem Ehepaar Link in der Glasveranda nach dem See zu und erörterten, was zu erörtern war.

„Werner war das einzige Kind der Pfarrersleute, die recht vermögend und vom Schlage der Borns waren, – keine Frömmler, sondern Menschen mit gesunden Ansichten.

Trotzdem wetterte Vater Link los, als er hörte, daß sein Junge damals in der Gewitternacht bei Elfchen gewesen. Er besann sich ja: Werner hatte angeblich nach der Kreisstadt radeln wollen, war dann völlig durchnäßt und beschmutzt heimgekehrt.

Er wetterte. Aber sofort legte sich Menke ins Mittel.

„Lieber Herr Pastor, – die Schuldfrage wird überhaupt nicht angeschnitten! Ich werde Gott danken, wenn ich mein Kind lebend und gesund wiedersehen darf –“

Und Gustav Born erklärte gleichfalls:

„Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet! Lieber Link, die ganzen Umstände liegen in diesem Fall so eigenartig, daß man hier mit besonderem Maß messen muß. – Ich möchte gleich jetzt eins bemerken: Wir haben keine eigenen Kinder. Daher soll Elfchen uns beerben. Und – haben wir sie erst wieder, dann soll aus den beiden jungen Leuten schnell ein Ehepaar werden, so bekommt Elfchen von uns eine tadellose Aussteuer und dreißigtausend Mark Mitgift –“

Inspektor Blunk nickte zustimmend.

„Recht so! Jung gefreit, hat noch niemand gereut. – Finden werden wir Elfchen schon, meine Herrschaften. Keine Sorge!“

Er saß so, daß er den Gartenweg entlang bis zum See blicken konnte.

Und diesen Gartenweg kamen jetzt zwei recht langsam hinauf. Blunk dachte: ‚Wie die armen Sünder.‛ –

Und dachte weiter: ‚Student mit Schmissen – sicher der junge Herr Werner! Aber – das Zigeunermädel mit dem grünen, kurzen Rock und dem bunten Brusttuch? – Sollte – sollte –?‛

Er stand auf. „Entschuldigen Sie einen Augenblick, meine Herrschaften. Bin gleich wieder da –!“

Er ging dem Paar entgegen, winkte es hinter ein Gebüsch, stellte sich vor, erklärte kurz alles Nötige.

Elfchen hatte sich blutrot abgewandt. Blunk nahm sie bei der Hand.

„Ihr lieber Vater sehnt sich nach Ihnen. Kommen Sie. Und – eins bitt’ ich mir aus: zu Ihrer Hochzeit werde ich eingeladen, sonst schnappe ich ein!“

Er brachte die beiden im Bogen bis an den Fuß der Treppe zur Veranda. Dann stieg er allein nach oben, trat hinter Menke und legte ihm die Hand auf die Schulter.

„Otto – was würdest du tun, wenn – dein Kind bereits da wäre – gesund, – nur so etwas als Zigeunerin verkleidet?“

Menke sprang auf. „Du – ist’s die Wahrheit? –

Wo – wo ist sie?“

Blunk deutete die Treppe hinab. Und der noch so jugendlich aussehende Landgerichtsdirektor sprang mit ein paar Sätzen hinab in den Garten.

Und – dort stand Elfchen – sein Kind, – eine reizende Zigeunerin.

„Papa!“ – Sie lag an seiner Brust, lachte, weinte, redete fast irre.

Er streichelte ihr das Haar.

„Still, Kind, – beruhige dich. Niemand wird euch beiden Vorwürfe machen. Niemand erfahren, weshalb du geflüchtet warst und weshalb ihr so bald heiratet.“

Heiratet! Sie horchte auf.

„Also – wir dürfen bald heiraten, Papa?“ fragte sie glücklich.

„Ja, – und dann werden wir beide, mein Mädel, uns erst so recht kennen lernen, denn bisher hat immer die Mama und die Großmama als Scheidewand zwischen uns gestanden –“

Man feierte noch an selbigen Tages im Pfarrhaus in Sellertin Verlobung. Es ging sehr vergnügt her. Und als man gerade abends bei Tisch saß und Onkel Gustav seine Rede beginnen wollte, da – vor den Fenstern – Zigeunermusik. –

Kleptsche war’s gewesen, die die Verlobung ausspioniert hatte. Und Schmale Gnitze hatte dann sofort die Künstler seiner Sippe nach dem Pfarrhaus geschickt.

Zigeunerweisen.

Ein Walzer – lebensprühend, hinreißend – der Walzer aus: Ein Walzertraum.

Süß, einschmeichelnd, temperamentvoll und wie jubelndes Lachen die Klänge:

Einmal noch leben, eh’ es vorbei,

Einmal noch küssen, lieben im Mai. –

Und als der Walzer verrauscht, trat Schmale Gnitze ein in seinem besten Staat, mit gewichstem Schnurrbart, fettriefendem Scheitel – und einem Rosenstrauß.

Die Rosen vermißte ein Gutsgärtner nachher. Aber – das tat dem Glückwunsch Schmale Gnitzes keinen Abbruch.

Er hielt eine kurze Ansprache, reichte dann Braut und Bräutigam zwei Ringe aus Golddrahtgeflecht, mit einem Stein obenauf, der allerlei mystische Gravierungen hatte:

„Indische Wunschringe – sie bringen Glück und mindestens zwölf Kinder,“ erklärte er feierlich.

Und – er hatte richtig spekuliert, der schlaue Primas: Menke schenkte ihm fünfhundert Mark, Gustav Born ebensoviel und Pfarrer Link sogar einen braunen Lappen. – –

Frau Anna Menke, geb. Hobensack, hatte in ihrer Ehe nun endgültig verspielt. Der Mann hatte ihr erklärt, daß er nur Elfchens wegen mit ihr zusammenbleibe; aber die Rätin müsse raus – sofort!

Und Frau Anna hatte jetzt plötzlich Angst vor ihrem Gatten, der so energisch noch nie gewesen. Die Rätin verschwand. Und Otto Menke richtete sich sein Leben jetzt so ein, wie er sich’s schon lange gewünscht hatte. Und dieses Leben hieß – Wiederaufleben – nochmals jung werden; Frau Anna brauchte er dazu nicht. – –

Elfchen war bei Borns geblieben. Dort fand auch die Hochzeit statt. Zigeuner spielten zum Tanz auf. Im Dorf feierte man mit bei einer Tonne Bier und Riesenmengen Kuchen.

Um elf Uhr brachte ein Wagen das junge Paar nach der Kreisstadt zum Nachtschnellzug.

Schmale Gnitzes Sippe lagerte hart an der Chaussee am Dorfausgang.

Und Schmale warf Rosen in den Wagen; und Kleptsche eine Hand voll Roggenkörner, denn das war Zigeunerbrauch und bedeutet: Seid fruchtbar wie das Korn.

Nun – dieser zarten Aufmunterung bedurfte es nicht. Das erste Püppchen bei Jung-Werners kam sogar eigentlich fünf Wochen zu früh.

Frau Anna Menke sah jedoch darüber hinweg und freute sich ehrlich mit an dem Glück ihrer Kinder.

Womit unsere Geschichte zu allseitiger Zufriedenheit endet.

 

 

Fußnote:

1 weiße Herrin