Vergiß mein nicht
Bibliothek der besten Romane
Band 412
Roman von
Waltraud Kebla.
Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin 26, Elisabethufer 44
Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1922 by Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin.
1. Kapitel
An einem klaren, kalten Novembernachmittag gegen halb sechs rief eine in einen langen Abendmantel mit Pelzbesatz gehüllte schlanke Dame am Kaufhaus des Westens ein Auto an, nannte dem Chauffeur als Ziel Promenadengasse 4, schlüpfte sehr eilig in den Kraftwagen und stellte den großen Pappkarton neben sich auf den Sitz.
Die Dame im Auto lehnte in einer Ecke mit tief gesenktem Kopf und seufzte verschiedentlich so schmerzlich auf, als bedrücke sie eine schwere Last.
Dann wischte sie die beschlagene Scheibe der Tür mit ihrem Spitzentaschentuch ein wenig ab und schaute hinaus. Langsam begann sie nun den Bindfaden von dem Karton zu lösen und knotete ihn so, daß sie ihm sehr leicht entfernen konnte. –
Der Kraftwagen hielt. Es war eine Straße mit himmelhohen Häusern, an denen die Balkons wie Schwalbennester klebten. Zwischen den Häusern gab es hier und dort noch eine freie Baustelle.
Die Dame bezahlte, gab ein gutes Trinkgeld und wanderte nun mit ihrem Karton die Promenadengasse aufwärts. Der Wind öffnete ihren Mantel. Darunter kam ein helles, kostbares Kleid zum Vorschein. Derselbe mutwillige Windstoß ließ auch ihren Spitzenschal, den sie so um den Kopf geschlungen hatte, daß er auch das Gesicht fast ganz verhüllte, nach hinten wehen und gab eine prachtvolle Fülle aschblondes Haar frei.
Hin und wieder schaute die Dame nach den Hausnummern. Ihre Schritte wurden immer zögernder. Bei Nummer 35 blickte sie sich wie suchend um, erspähte nun unweit einen Neubau und eilte hastig darauf zu. Doch – die Tür des Holzzaunes war verschlossen.
Sie hastete weiter. Die Straße war leer. Nur einige Kinder standen mit sehnsüchtigen Augen vor einem ärmlichen Bonbongeschäft.
Dann fand sie auf derselben Seite eine Baustelle, die mit einem schadhaften Drahtgeflechtzaun umfriedet war. Sie blieb stehen. Niemand war in der Nähe. Sie bückte sich, stieg vorsichtig durch ein Loch des Zaunes und hatte bald, mit ihren ausgeschnittenen Lackschuhen über Müllberge kletternd, eine Stelle erreicht, wo es vollständig dunkel war. Im Nu hatte sie den Karton geöffnet, nahm verschiedene Kleidungsstücke heraus und legte dafür ihren Abendmantel, den Schal, die Lackschuhe und das goldene Handtäschchen hinein.
Gleich darauf betrat eine Frau in einem altmodischen, gelbbraunen Umhang, einem bunten Kopftuch und schmutzigen, hohen Schnürschuhen wieder die Straße und eilte beinahe laufend bis zum Hause Nummer 49.
Die Frau machte davor halt, musterte es kurz, sah die entlaubten Linden und Kastanien des Vorgartens, sah fast hinter all den Fenstern Licht schimmern, sah vor dem rechten Vordereingang ein paar Männer stehen, zögerte, tat ein paar Schritte, zögerte wieder und ging schließlich doch im Bogen durch den Garten auf den Seiteneingang zu, fand die Treppe leer, lief die Stufen empor bis in den zweiten Stock und dann nach kurzem Umschaun weiter einen schwach erhellten Flur entlang. Dieser endete vor einer Mauernische, in die ein Riesenschrank eingefügt war. Rechts davon gab es eine Tür, an der ein ovales Porzellanschild mit dem Namen ‚Spinetti’ hing. Links neben der Tür befand sich der Druckknopf der elektrischen Glocke.
Kaum hatte die Frau das Schild überflogen, als die Tür sich auch bereits auftat. Nur soweit, daß jemand hindurchschlüpfen konnte.
Die Frau verschwand hinter der Tür. Im Flur war’s ganz dunkel. Nur geradeaus schimmerte ein langer Lichtstreifen.
„Bitte,“ sagte eine leise Stimme. „Bitte – auf das Licht zu.“
Die Frau stieß die Zimmertür auf, trat ein, umfing den Raum mit einem scheuen Blick.
Uralter Hausrat füllte das quadratische, zweifenstrige Gemach. Vor einem roten, kleinen Ripssofa1 mit geschweifter Lehne stand ein Tisch mit einer bunten welligen Decke. Darüber brannte eine Glaslyra.
Der Bewohner dieses Zimmers – rechts ging es noch in ein einfenstriges Schlafgemach hinein – hatte die starke Sicherheitskette wieder vor die Flurtür gelegt und folgte nun der Frau.
Es war ein gebückter Greis mit weißem Bart, blauer Brille und dichtem, etwas künstlerhaft langem weißen Kopfhaar. Er trug einen schäbigen Schlafrock, große Filzschuhen und auf dem Kopf ein seidenes Käppchen.
Die Frau schlug jetzt das Kopftuch, das sie auch vor das Gesicht gezogen gehabt hatte, zurück. Ein liebliches, jetzt aber blasses, verängstigtes Antlitz, umrahmt von reichem aschblonden Haar, wurde sichtbar.
„Setz’ dich,“ begann der Greis und deutete auf den Ripssessel neben dem Mitteltisch.
Sie gehorchte, denn der Mann hatte hier lauter und geradezu befehlend gesprochen.
„Ein sehr vornehmes Herrenzimmer, nicht wahr?“ sagte er ironisch. „Ja – du siehst, ich lebe bescheiden –“
Ihre großen, dunklen Kinderaugen, in denen jetzt ein Ausdruck von Furcht und ungläubigem Staunen zu lesen war, glitten immer wieder über die Gestalt des Greises hin.
„Oh –, so – so habe ich mir – das alles nicht gedacht,“ stotterte sie nun. „So nicht! – Sie – Sie – hätte ich nie –“
Er winkte lässig mit der Hand ab. „Du kennst ja die Gründe –“ Dann wieder das höhnische Auflachen. „Weshalb plötzlich so fremd, Rissa, – je?! Weshalb?!“
Sie blickte zu Boden auf den löcherigen Teppich. Ein Zittern lief über ihre Gestalt hin. Der häßliche, lange Umhang öffnete sich vorn. Das kostbare Kleid wurde sichtbar, die Brosche mit den blitzenden Diamanten, die Vorstecknadel mit dem grünen Smaragd.
„Antwort!“ meinte der Greis nach einer Weile. „Antwort verlange ich! Was heißt’s, daß du plötzlich so fremd tust?“
Sie nahm allen ihren Mut zusammen.
„Es – es muß heute das letzte Mal sein, daß wir uns sehen,“ brachte sie stoßweise heraus.
Ihre linke Hand legte einen gelben, großen Briefumschlag auf den Tisch.
„Hier – hier sind zehntausend Mark. Ich flehe dich an, verlange nie wieder, daß ich –“
Ein schneidendes „Ah – also so steht’s!“ ließ sie verstummen. „Zehntausend Mark! Eigentlich eine Unverfrorenheit, eine Demütigung, die ich nur deiner Jugend zugute halte! – Geld wagst du mir zu bieten – Geld! Wofür hältst du mich?! Wofür, Klarissa? – Antwort!“
Er war dicht vor die hingetreten. Seine gebückte, fast bucklige Gestalt richtete sich höher auf.
Mit einem leisen Schrei streckte sie die Arme wie abwehrend aus.
„Bitte – bitte – werde nicht heftig! Ich – ich vergehe ohne dies vor Angst!“ flehte sie.
Ihre Augen waren in rührender Hilflosigkeit auf den gerichtet, der über sie eine so verhängnisvolle Macht hatte.
Doch an ihm gingen der süße Klang dieser zarten, furchtdurchbebten Mädchenstimme und der Blick dieser wundervollen Augen spurlos vorüber. Er packte ihre Handgelenke, zischte ihr förmlich zu:
„Was sollen die zehntausend Mark?! Heraus mit der Sprache. – Du – du – armseliges Ding, du?!“
Da glitt sie vom Sessel herab, kniete vor ihm nieder. Und halb erstickt von Tränen waren ihre hilflosen Worte:
„Gib mir die Briefe. Oh – sei barmherzig!“
Er stieß sie von sich – schrie ihr ein „Nein – niemals!“ in die Ohren.
Sie kauerte vor dem Sessel, schluchzte herzzerbrechend.
Da – die Flurglocke rasselte – rasselte abermals.
„Mein Gott!“ stöhnte sie in furchtbarer Angst.
„Schweig! Ganz still!“ raunte er ihr zu und schlich lautlos hinaus. Er öffnete die Zimmertür so leise, daß auch nicht das geringste Geräusch zu hören war.
Gleich darauf erschien er wieder, flüsterte:
„Es ist der Hauswart. Du mußt fort. Ich schreibe dir. Aber – denke nicht, daß mir jemals – doch – darüber schriftlich. Komm’, – leise!“
Schon wieder die Flurglocke.
„Oh – wo – wo soll ich denn unbemerkt hinaus,“ fragte sie, und das Zittern ihrer Stimme machte die Worte fast unverständlich.
„Komm’!“
Er glitt voran in die kleine Küche, an die eine winzige Speisekammer angebaut war. In dieser Kammer befanden sich leere Regale.
Er zog beim Schein einer Taschenlampe, die er schnell eingeschaltet hatte, die Rückwand der Kammer samt den Regalen wie eine Tür auf, reichte ihr die Lampe, raunte ihr zu: „Dort hinein. Hier ist der Schlüssel. Gib acht, daß niemand im Flur ist. Laß den Schlüssel nachher stecken. Es ist der große, in die Nische eingemauerte Schrank. Die Lampe lege nachher auf den Boden –“
Er schob sie hinein, drückte die Rückwand wieder zu, eilte nach der Flurtür, sagte laut:
„Zum Teufel – so warten Sie doch, Herr Heberlein, ich komme ja schon –“
Er nahm die Sperrkette ab, und herein trat ein kleiner, dicker Mann, der nun entschuldigend sagte:
„Es tut mir leid, daß ich stören muß, Herr Spinetti. Aber es gibt hier einen Fragebogen auszufüllen. Sie haben wohl gelesen davon, genaue Personenbestandsaufnahme des neuen Steuergesetzes wegen –“
Spinetti nickte, wies auf die offene Tür seines Wohnzimmers.
Herr Heberlein schnupperte. Donnerwetter – welch feines Parfüm! Ob etwa der Spinetti – aber – was ging ihn das an.
Der Greis deutete auf den Sessel, nahm schnell den gelben Umschlag weg, den Klarissa vergessen hatte, setzte sich dann selbst vor ein Pult mit Rollverschluß, öffnete es, steckte ein Licht an und suchte Papiere aus einer Schublade heraus.
Heberlein begann zu fragen – so, wie’s die Spalten der Liste verlangten. Und Spinetti antwortete.
„Karl, Alexander, Emanuel Graf Spinetti – geboren zu München am 8. Dezember 1838, verwitwet, zwei verheiratete Kinder, von Beruf Künstler, Musiker“ – und so weiter. –
Sehr bald ging der dicke Heberlein wieder.
Die beiden Männer hatten kein Wort mehr gesprochen, als die Sache verlangte.
Inzwischen war das angstbebende Mädchen in den Flur gelangt, hatte die Tür des Riesenschrankes von außen verschlossen und war wie ein gehetztes Reh weiter bis zu jener Baustelle gelaufen, wo es ihr schwer genug wurde, in der Dunkelheit den dort zurückgelassenen Karton wiederzufinden. –
Spinetti saß im Sessel und zählte das Geld aus dem gelben Umschlag. Dann grübelte er vor sich hin. Bald führte er leise Selbstgespräche.
„Ich war ein Narr. Der Kitt hätte fester sein müssen. Sie täuscht sich in mir –“
Er lachte höhnisch in sich hinein. „Sie ist so jung, so unerfahren. Sie wird tun, was ich will –“
Und wieder nach einer Weile: „Ich hätte sie doch besser ins Schlafzimmer bringen sollen. Sie weiß jetzt zu viel. Aber – das Schlafzimmer – nein, es ging nicht! – Zu unangenehmen, daß es gerade Heberlein war. Jeden anderen hätte ich fortgeschickt –“
Er erhob sich.
„Ich müßte mal wieder gründlich lüften. Der verdammte Geruch!“ brummte er.
Er betrat die Schlafstube, nahm das brennende Licht mit, schaute sich scheu um, riß schnell das Fenster auf und kehrte ebenso hastig in sein Wohngemach zurück.
2. Kapitel
Die Geheimrätin kam mit allerlei Päckchen geladen nach Hause. Sie schloß die Flurtür mit dem Schnepper auf, fand aber die Sicherheitskette vorgelegt und mußte läuten. Sie begriff Ellens Ängstlichkeit nicht recht. Man wohnt hier doch im stillen, vornehmen Berliner Westen, wenn auch in einer älteren Seitenstraße. Hier kamen doch keine Raubüberfälle oder dergleichen vor. Und Ellen war doch sonst nicht so furchtsam. Im Gegenteil – sie hatte ganz ihre Natur geerbt. Und Klementine Bark nahm es mit jedem Menschen auf.
Es dauerte eine geraume Weile, bis Ellen endlich erschien. Die Geheimrätin wunderte sich, wie rot und erhitzt ihre Einzige war.
„Ist etwas vorgefallen?“ fragte sie im Wohnungsflur. „Etwa eine Rechnung?“
„Nein, Mama –“ Ellen war verwirrt. „Bonstedt ist da. Wir haben –musiziert –“
„Wie – im Salon – musiziert?! – Aber Ellen, Kind! Du vergißt, daß er uns seit heute vormittag nicht mehr gehört – sozusagen. – Nein – die Besitzrechte der neuen Hausgenossin müssen wir respektieren, schon damit wir die gute Einnahme nicht etwa wieder verlieren.“ Sie flüsterte jetzt. „Im übrigen – diese Besuche Bonstedts gefallen mir gar nicht. Du bist verlobt!“
Sie legte im Flur ab. Dann öffnete sie die Tür nach dem Salon, und auf der Schwelle erschien ein überschlanker, blonder Herr mit Monokel und küßte der Geheimrätin die Hand.
*
Manfred Berger war’s, als ob das rote Vollmondgesicht des Herrn Josef Saulmann sich in bunte Nebel auflöste, die sich dann wieder zu einem einzelnen, leuchtenden Wort zusammenballten:
Ruiniert!
Er wußte gar nicht, daß er dieses verhängnisvolle Wort soeben selbst ausgesprochen hatte, freilich ganz leise. Bankier Saulmann streichelte sich mit einer Miene, die Mitgefühl und Bedauern ausdrücken sollte, das feiste Doppelkinn und sagte:
„Lieber Herr Berger, – leider total ruiniert. Ich hatte Ihnen ja von dieser Spekulation abgeraten. Man soll nie sein ganzes Vermögen, besonders wenn man nur zweihunderttausend Mark besitzt, auf eine Karte setzen –“
Er redete weiter. Manfred Berger hörte so etwas wie „noch jung – Berufe ergreifen – vielseitige Fähigkeiten –“
Dann erhob Herr Saulmann sich.
„Tut mir sehr leid. Viel Arbeit. Entschuldigen Sie schon –“
Manfred verstand und verabschiedete sich.
Der Schriftsteller Dr. Berger, der jetzt außer der Einrichtung seiner Junggesellenwohnung nichts mehr besaß und der auch keinerlei Aussicht hatte, etwas zu verdienen, denn ebenso gut wie Schriftsteller hätte er sich Astronom nennen können, – dieser Dr. Berger wanderte langsam der nahen Friedrichstraße zu.
Manfred liebte Berlin und lebte ein Leben in Schönheit. Darunter verstand er jene verfeinerte Daseinsführung, die nur den Tatmenschen als Müßiggang und zweckloses Dahinvegetieren erscheint. Mit den Zinsen seines Vermögens hatte er, der hauszuhalten wußten, sich mehr gestatten können, als andere, die über Millionen verfügen.
Ein Leben in Schönheit. Dazu gehörte für ihn auch das Ausschalten all jener Zerstreuungen, die man in Berlin nach elf Uhr abends genießen konnte.
Und genau so hielt er’s mit den Frauen.
Er kannte sie. Er hatte als Student die Münchenerinnen, die Bonner Mädels und die Berlinerinnen in allen Schattierungen studiert – richtig studiert. Er war ja von seinem achtzehnten Jahre an bemüht gewesen, seine Menschenkenntnis zu erweitern und zu vertiefen. Er hatte von vornherein Schriftsteller werden wollen. Und dazu gehörte seines Erachtens in erster Linie ein genaues Vertrautsein mit allem, was Vererbung, Schicksal und eigenes Wollen an verschiedenartigen Charakteren hervorbringt. Er überschätzte den Wert der Menschenkenntnis und -erkenntnis nur zu sehr. Er übersah, daß der Dichter aus der Fülle eigener Phantasie heraus seine Gestalten aufbaut, nur stets Modelle vielleicht benutzt, denen er doch nachher andere Züge gibt. Er überschätzte auch seine Begabung. Ihm fehlte der große Schwung, ihm fehlte jenes Feuer der Begeisterung, das notwendig ist, um auch nur Durchschnittsware zu liefern. Er sah dies bald ein, gab alle weiteren Versuche, auch einmal klingenden Lohn zu ernten, auf und – lebte sein Leben in Schönheit. –
Vor einem halben Jahre hatte er dann Ellen Bark, die einzige Tochter des verstorbenen Geheimrats Bark und seiner Gattin Klementine, geborene von Parstell kennen gelernt. Natürlich in einer Familie bei einer Abendgesellschaft. Anders machte Manfred keine Damenbekanntschaften. –
Drei Monate später verlobte er sich mit ihr, obwohl er wußte, daß er dadurch die Pflicht übernahm, sowohl irgend einen Beruf zu ergreifen, als auch die verwitwete Geheimrätin ‚standesgemäß’ zu unterhalten, denn Mutter und Tochter führten ein doppeltes Dasein. Nach außen hin spielten sie die in behaglichen Verhältnissen sorgenfrei Lebenden, während sie in Wirklichkeit alles auf den Schein berechneten, darbten und – wo es ging – um jeden Pfennig knauserten.
Ja – er hatte einen Beruf ergreifen, sein Dasein von Grund auf umgestalten wollen. Auch ihn hatte eben jener seltsame Taumel erfaßt, in dem der Mann für das geliebte Weib jedes Opfer bringen zu können glaubt. Vier Wochen hatte diese Selbsttäuschung vorgehalten. Als er erst merkte, wie schwer es war, eine passende – für ihn passende! – Stellung zu finden, da erschien ihm die Zukunft, dieses Leben eines nüchternen, sparsamen Hausvaters, so, daß er den Versuch wagte, sein sicher angelegtes Vermögen durch eine kühne Spekulation zu verdreifachen. Er tat’s nicht etwa wie einer, den die Sucht nach Wohlleben und Reichtum zum Börsenhasardeur macht. Nein – mit kühler Überlegung kaufte er jene afrikanischen Minenpapiere, die plötzlich stark gefallen waren und die, wie ihm ein mit den Verhältnissen in der Kapkolonie Vertrauter erklärt hatte, unbedingt wieder steigen – rapide steigen würden.
Niemandem hatte er etwas von dieser seiner ersten Spekulation mitgeteilt, auch Ellen nicht. Sie hätte ihm ja fraglos abgeraten. In Geldsachen dachte sie so überaus vernünftig. Sie war überdies sehr moralisch, sehr streng erzogen, hatte Grundsätze. Und – Sie war schön, blendend schön. –
Freilich, Manfreds einziger Freund, der Kunstmaler Steidel, hatte Ellen Bark stets als ‚kaltes, gefühlloses Puppengesicht’ bezeichnet. Steidels Geschmack war jedoch nicht maßgebend. Er verlangte von jeder Frau Temperament, heißes Blut. Und das müßte sich schon auf dem Antlitz widerspiegeln. –
So waren Manfreds Gedanken denn auch endlich bei Ellen angelangt – endlich! – Merkwürdig, sagte er sich, daß du nicht sofort an sie gedacht hast, als Saulmann mit der Unglücksmär herausrückte, denn jetzt – jetzt ist’s ja wohl auch mit dieser Verlobung aus. –
Er war inzwischen in die Passage eingebogen, die die Friedrichstraße mit den Linden verbindet, blieb vor dem Eingang des Panoptikums stehen und schaute sich die in dem einen Reklamefenster aufgestellte Gruppe von Wachsfiguren an. Plötzlich aber erinnerte er sich, daß er ja von seinem Freund Steidel heute Vormittag einen Logenplatz für das Viktoria Theater zugeschickt erhalten hatte, den der Maler einer plötzlichen Verabredung wegen nicht benutzen konnte.
Ob er wirklich die neue Operette ‚Das Schwarzwaldmädel’ in dieser Stimmung sich ansehen sollte? –
Er schwankte. Dann lachte er bitter auch. Weshalb schließlich nicht?! Es war doch immerhin eine Ablenkung. –
Als er die Loge betrat, hatte der erste Akt soeben begonnen. Der Raum war bis auf einen von einer Dame eingenommenen Sessel in der zweiten Reihe leer. Manfred nahm leise Platz. Rechts von ihm saß die Dame – jung offenbar, wie er mit flüchtigem Blick festgestellt hatte.
Weder die melodische Musik noch das vortreffliche Spiel konnten ihn jedoch fesseln. Er wurde die Gedanken an die Zukunft nicht los.
Dann – dann hörte er neben sich ein ganz leises Schluchzen. – Ja – es war keine Täuschung. Seine Nachbarin weinte, führte des öfteren das Taschentuch an die Augen, hielt den Kopf gesenkt, lehnte zusammengesunken im Sessel.
Also eine Leidensgefährtin! Auch ein Mensch, für den das Schwarzwaldmädel kein Interesse hatte. Auch hier irgend ein Grund zu trüben Gedanken – zu tiefem Schmerz.
Ganz unauffällig beobachtete er die Dame nun. Er sah, welche Mühe sie sich offenbar gab, die Äußerungen ihrer seelischen Erregungen zu unterdrücken. Und dabei flog ihr Körper zuweilen wie im Fieberfrost hin und her. Einmal kam’s auch über ihre Lippen wie ein selbstvergessener, ganz leiser Aufschrei: „Oh mein Gott – oh mein Gott!“
Jetzt schien’s, als würde die Unbekannte in einer Anwandlung von Schwäche vom Sessel gleiten. Doch – sie raffte sich wieder auf, bemerkte aber trotzdem, daß ihr Nachbar zur Linken bereits hilfsbereit die Arme ausgestreckt hatte, um sie zu stützen.
Manfred konnte auch jetzt ihr Gesicht nicht deutlich erkennen, sondern nur ein Paar große, dunkle Augen, die ihn scheu und angstvoll musterten. Da beugte er sich zu ihr hin, ganz dicht, flüsterte:
„Fürchten Sie nicht, daß ich einer von jenen Männern bin, die jede Gelegenheit wahrnehmen, sich Damen in irgendeiner Absicht aufzudrängen. Ich sehe, Sie leiden. Ein großer Schmerz zerwühlt Ihre Seele. Und – das ist ja das Merkwürdige, auch ich bin heute nur hierhergekommen, um mich vielleicht etwas ablenken zu lassen von jenen Gedanken, die mir meine Zukunft als ein Recht trostloses Bild zeigen. –
Warum soll ich’s Ihnen nicht ruhig eingestehen, worum sich’s handelt?! Ich habe heute mein ganzes Vermögen an der Börse verloren. Ich besitze nichts mehr – nichts! Und dabei bin ich ein Mensch, der bisher sein Leben ganz auf Schönheit, auf vornehmes Auskosten ideeller Daseinsfreuden eingestellt hatte – das ist der Schlag, der mich heute getroffen. –
Ich kam dann hier ins Theater. Ein Zufall hat gerade uns beide in einer sonst leeren Loge vereint, – uns beide, die wir nichts von dem sehen und hören, dessentwegen die anderen Menschen diese Stätte aufsuchten. An uns rauscht des Schwarzwaldmädels Leid und Lust unbeachtet vorüber. Vielleicht sind wir die einzigen hier, deren Herz sich mit ernsterem Grübeln abquält. –
Kann ich Ihnen irgendwie helfen? – Ich will nicht aufdringlich erscheinen. Reinstes Mitgefühl ist’s, das mich so sprechen läßt. Und – ich würde Ihnen meine Hilfe nicht antragen, wenn ich nicht ein Mensch wäre, der das Leben und seine Schattenseiten geradezu studiert hat, der sich fähig fühlt einen verständigen Rat, ein nutzbringendes Wort des Trostes –“
Bisher hatte sie regungslos zugehört. Nun aber wandte sie sich mit jäher Bewegung nach rechts, führte das kleine Opernglas an die Augen und deutete damit an, daß er sich alles weitere Reden schenken möchte.
Manfred Berger war enttäuscht und gleichzeitig auch verletzt. Er ärgerte sich über sich selbst. Wieder einmal war die Gutmütigkeit mit ihm durchgegangen. Vielleicht hatte dieses Mädchen da neben ihm nichts als ein wenig Liebeskummer, vielleicht war’s gar eine jener Damen, die – ein großes Fragezeichen verdienen.
So dachte Manfred. –
Und seine Nachbarin? –
Sie hielt noch immer das Opernglas vor die Augen. Aber nur zum Schein. Sie überlegte, was der Fremde da soeben zu ihr gesprochen hatte. Der leise, warme Klang seiner Stimme war noch in ihrem Ohr. Ja – er hatte recht – es war ein seltsamer Zufall! Gerade zwei, deren Herz so schwer, fanden sich hier inmitten dieser Menge zusammen, die doch nur lachen und froh sein wollte. Rat, Hilfe hatte er ihr angeboten. Ach – sie durfte sich ja niemandem anvertrauen! – Nur deshalb war sie so ablehnend gewesen. –
Dann – wie ein Blitz tauchte ein Gedanke, eine Ideenverbindung in ihrem Hirn auf. Er – der Fremde – arm, Vermögen verloren. Und sie – reich – und bereit zu jedem Opfer, um wenigstens das wiederzuerlangen, was für sie in der Hand des Anderen am gefährlichsten war. –
Langsam ließ sie das Opernglas sinken, lehnte sich wieder zurück, drehte den Kopf nach ihm hin.
„Ich bin zu einem Entschluß gekommen,“ flüsterte sie, als er so fort sich verbeugte, um besser zu hören. „Ich bitte Sie, führen Sie mich irgendwohin, vielleicht in eine kleine Weinstube, wo ich Sie ungestört sprechen kann –“
„Ich freue mich, daß Sie eingesehen haben, wie meine Annäherung einzig und allein zu deuten war,“ erwiderte er, indem er ihr kameradschaftlich die Hand hinstreckte. „Hier, schlagen Sie ein. Wir wollen uns gegenseitig nicht nach Namen, Stand und so weiter fragen. Aber – im übrigen – Offenheit wie zwischen guten Freunden!“
In demselben Moment fiel der Vorhang. Der erste Akt war vorüber. Der Kronleuchter flammte auf. Beifallklatschen, das Klappen von hoch–schnellenden Stuhlsitzen, Stimmengewirr. –
Und da sah er sie nun in aller Deutlichkeit vor sich. Sie hatte sich gleichfalls erhoben. Ganz dicht stand sie vor ihm.
Er war überrascht von so viel jugendfrischem Liebreiz, aber auch fast erschrocken von dem wehen, todestraurigen Ausdruck der wundervollen, dunkelbraunen Augen, die von langen Wimpern wie von Schleiern halb umrahmt waren.
„Gehen wir –“
Und die Fremde schritt ihm voran – zur Loge hinaus, nach der Garderobe. Schlank, biegsam, etwas über mittelgroß war sie. Ihr Theaterkleid geradezu kostbar. Und ihr aschblondes Haar mußte aufgelöst wohl wie ein Mantel tief herabhängen. Manfred erkannte, dieses prächtige Haar war echt. – Und der Gang der Fremden war ruhig, leicht, stetig. Eine Dame der besten Gesellschaft, sagte sich Manfred Berger.
3. Kapitel
Ein Auto führte das Paar nach der Mohrenstraße. Dort gab’s eine kleine, uralte Weinstube mit diskreten Nischen. Und dort war man ganz sicher.
Dann saßen sie in einer der Nischen. Berger bestellte Burgunder, kalten Hummer, Kaviar, Röstbrötchen und Weintrauben.
Seine schöne, jetzt so stumm und leicht verlegene Begleiterin hatte ihm die Auswahl ganz überlassen. Sie taute erst auf, als der Kellner das Bestellte gebracht und die Vorhänge der Nische geschlossen hatte.
Man sprach über gleichgültige Dinge zunächst. Ganz unvermittelt sagte sie: „Ich habe seit zwei Uhr nichts mehr genossen.“
Er war jetzt ganz fest überzeugt, eine wirkliche Dame vor sich zu haben. Und – sie mußte sehr wohlhabend sein. Er verstand etwas von Schmuck. Sie trug Brillanten, die ein Vermögen wert waren. Zum Beispiel der Smaragd in der Vorstecknadel war ein überaus kostbarer Stein.
Sie kamen allmählich in eine zwanglose Unterhaltung und unwillkürlich begann er dann nochmals über den Verlust seines Vermögens zu sprechen.
Sie hörte stumm zu. Sie wußte nunmehr, der Zufall hatte ihr hier einen Mann in den Weg geführt, der Vertrauen verdiente. Einen Ehrenmann ohne Frage. Aber – sie wußte jetzt leider auch, daß dieser feingebildete, elegante Herr sich nie dazu bereitfinden würde, gegen Geld ein solches Wagnis zu unternehmen, wie sie es ihm hatte vorschlagen wollen.
Und diese Gewißheit wälzte auch wieder die ganze Bergeslast ihrer Kümmernisse auf ihre Seele, nachdem sie eine kurze Zeit sich ein wenig freier, zuversichtlicher gefühlt hatte.
Sie merkte gar nicht, daß er bereits minutenlang schwieg und sie still beobachtete. Sie war ja mit ihren Gedanken so weit fort – draußen im Norden in einem uralten Haus bei dem Mann, der ihr Schicksal in der Hand hatte.
Da fragte Manfred leise:
„Woran denken Sie, Schwarzwaldmädel?“
Sie schaute auf, schaute ihn überrascht an.
Er lächelte liebenswürdig.
„Sein Sie mir nicht böse. Jeder Mensch muß doch einen Namen haben. Kennen wir diesen Namen nicht, so bilden wir ihn uns selbst. Eine Dame im Schleier nennen wir dann ‚die Verschleierte’, einen Mann mit langem, weißem Bart vielleicht ‚den Patriarch’ und sofort. –
Für mich werden Sie eben – das Schwarzwaldmädel sein.“
Da huschte auch über ihr junges Gesichtchen der Anflug eines Lächelns hin.
„Ein hübscher Gedanke eigentlich,“ sagte sie etwas verträumt. „Es klingt so lieb, so nett – Schwarzwaldmädel! Besonders, wenn Sie’s aussprechen.“
Sie errötete, senkte die Lider mit den langen, schwarzen Wimpern über die dunklen Augensterne.
Da fragte er nochmals:
„Woran dachten Sie?“
Sie drehte unschlüssig einen altertümlichen Ring, den sie am linken Ringfinger trug. Es war ein Schlangenring. Zwischen den Köpfen der beiden Schlangen lag etwas wie ein sechseckiges Kästchen, in dessen Handgriffe die Schlangen sich verbissen hatten.
Ihm war dieser Ring bereits vorhin aufgefallen, als sie so zierlich den Kaviar löffelte. Es mußte italienische Goldschmiedearbeit sein. Wahrscheinlich Florenz. Manfred war ja auch auf diesem Gebiet gut bewandert.
Sie drehte den Ring, sagte nun zaudernd:
„Ich dachte daran, daß es wenig Zweck hat, Ihnen mein Herz auszuschütten. Ich kenne Sie jetzt genügend. Sie – Sie eignen sich nicht als Helfer für mein Leid. – Oh – verstehen Sie mich recht,“ fügte sie schnell und warmen Tones hinzu. „Ich meine mit diesem – ‚sich nicht eignen’ lediglich, daß Sie eben zu sehr – Gefühlsmensch sind. Und ich brauche einen – Tatmenschen. Den Unterschied zwischen beiden Menschentypen haben Sie mir ja vorhin selbst auseinandergesetzt.“
Er hatte sich eine Zigarette angezündet. Er schwieg und überlegte ihre Worte.
„Ich kann auch das zweite sein,“ meinte er dann, ohne sie anzusehen. Er wollte ihr die Beichte dadurch erleichtern, daß er sie mit seinen Blicken mied. „Ich habe bisher nur keine Veranlassung gehabt, mich als Tatmensch zu versuchen.“
„Oh – aber jetzt müssen Sie’s doch. Ihre Lage, Ihr Unglück, der Verlust Ihres Vermögens verlangt es. Sie werden nun doch irgend einen Beruf ergreifen. Und – da wird leider Ihr Leben in Schönheit zurückstehen müssen.“
„Vielleicht –“ Er dachte an Ellen Bark. Ja – wenn seine Liebe zu ihr wirklich so groß gewesen wäre, wie er’s in der ersten Zeit angenommen hatte, dann – dann hätte diese Liebe wahrlich eine Veranlassung abgegeben, den Tatmenschen zu beweisen. Und – wie war’s gekommen – wie? Hatte er nicht immer wieder gezaudert, sich nach einer lohnenden Beschäftigung umzusehen, hatte er nicht schließlich nur deshalb die Börsenspekulation gewagt, um weiter als Gefühlsmensch sein Dasein fortsetzen zu können?!
„Vielleicht – sagten Sie,“ meinte die aschblonde, liebliche Kameradin nun. „Vielleicht? Was bedeutet dieses Wort, das so viel Unausgesprochenes enthalten kann.“
Er blies den Zigarettenrauch in Ringen von sich, deklamierte dann leise:
„Rauch ist alles ird’sche Wesen –
wie des Dampfes Säule schwebt
schminken alle Erdengrößen.
Nur die Götter bleiben stet –“
„Mein Gott,“ entfuhr es ihr. „Wollen Sie etwa gar an – Selbstmord denken?“
Er schüttelte langsam den Kopf.
„Einen Augenblick spielte ich wohl mit dem Gedanken. Aber – ich bin nicht feige. Und Selbstmord ist Feigheit. In jedem Fall! Es gibt keine Lebenslage, aus der wir nicht wieder hochklimmen können wie aus einem finsteren Abgrund zu lichteren Höhen. – Ich kann nur nochmals wiederholen, mir hat bisher nur der große Anstoß gefehlt, auch mit der Tat mein Mannestum zu beweisen. Deshalb auch, haben Sie Vertrauen zu meiner Hilfsbereitschaft, Sie armes, liebes Schwarzwaldmädel –“
Eine Weile nichts. Er wartete. Dann hörte er, denn noch immer schaute er nicht zu ihr hinüber, daß sie sich mehr in die Ecke des hochlehnigen Sofas setzte, näher zu ihm hin. Nun fühlte er ihre Hand leicht auf seinem linken Arm.
„Sie – Sie versprechen mir vollste Diskretion, selbst wenn Sie mein – Angebot nicht annehmen sollten, was ich nur zu sehr befürchte –“ flüsterte sie.
„Verschwiegenheit zwischen uns ist selbstverständlich,“ meinte er einfach.
Und sie begann, indem sie ihm alles fast ins Ohr raunte:
„Ich bin sehr reich. Ich habe von meiner Großmutter mütterlicherseits ein großes Vermögen geerbt, über das ich seit meinem achtzehnten Jahre frei verfügen konnte. – Bitte, fassen sie nun das Folgende nicht falsch auf. Ich will Sie nicht verletzen. Nein, niemals, – gerade Sie nicht. Betrachten Sie das, was ich nun sage, mehr als – ein Geschäft, das ich Ihnen vorschlage –“
Sie zögerte. Sie scheute sich, ihm Geld zu bieten für seine Hilfe. Dann aber fuhr sie fort:
„Ich muß unbedingt ein Päckchen Briefe wiederhaben. Es sind im ganzen sechs. Sechs Briefe samt den Umschlägen. Außerdem noch – ein Bild. – All dies ist umhüllt mit einem indischen Schal. Es ist ein sehr bunter Schal mit großen Tierbildern, hauchdünn. – Von diesem Päckchen hängt das Wohl und Wehe einer – einer Familie ab. Ich würde dem, der es mir verschafft, eine Viertelmillion anweisen –“
Abermals schwieg sie.
Manfred Berger fühlte, wie ihre Hand jetzt die seine überstark drückte.
„Ich – ich flehe Sie an, tun Sie’s – tun Sie’s!“ klang’s an sein Ohr. Und er merkte, daß sie mit Tränen kämpfte. „Oh – helfen Sie mir! Holen Sie die Briefe. Nur dann – nur dann werde ich wieder froh sein können.“ Sie sprach heftiger. „Gewiß – für den Preis würde sich mancher bereitfinden, einen – einen Diebstahl sozusagen zu begehen. Aber, – wer bürgt mir dafür, daß dieser Jemand dann nicht dieses Geheimnis zu schändlichen Erpressungen ausnutzt?! –
Nein – nur ein Ehrenmann kommt für mich in Betracht. – Aber – nie würde ich Ihnen zum Beispiel weitere Einzelheiten angeben, wenn Sie mir vorher nicht fest versprechen, die Summe auch wirklich anzunehmen. Denn – es ist Gefahr dabei – vielleicht eine größere Gefahr, als ich selbst ahne –“
Berger erwiderte den Druck ihrer Hand.
„Wir wollen nicht viele Worte machen, kleine Schwester. –
Ich bin bereit, für die genannte Summe Ihnen das Päckchen zu beschaffen. –
Sie haben ganz recht, sehen wir die Sache als Geschäft an. Das erleichtert die Aussprache. Ich bin ruiniert, und ich wäre ein Narr, wenn ich nicht die Gelegenheit ergreifen würde, das Verlorene zu ersetzen. –
Ich werde also im Falle des Gelingens das Geld von Ihnen annehmen. Aber nur dann. –
Genügt Ihnen das?“
„Ja – ja!“
Wieder wartete Manfred Berger. Und er hatte noch immer ihre schmale, weiche Hand in der seinen. Es tat ihm so wohl. Wirklich – ihm schien’s, als säße er neben einem trauten Schwesterlein.
„Das Päckchen befindet sich im Besitz eines Mannes,“ erklärte sein armes Schwarzwaldmädel nun so leise, daß er sich manche Worte dem Sinne nach ergänzen mußte, – eines Mannes, der in der Promenadengasse Nr. 49 wohnt, Seiteneingang, zwei Treppen, dann den Flur geradeaus, letzte Türe rechts. Es – es ist ein alter Mann mit weißem Bart, aber ein noch sehr rüstiger Mensch. Er heißt Spinetti. Über seine Lebensgewohnheiten weiß ich nichts – gar nichts, auch nicht, wo er das Päckchen versteckt hält. Ich – ich war heute bei ihm – nachmittags, hatte nicht dabei so etwas verkleidet. Ich – ich hatte leider nur zehntausend Mark mit, die ich Spinetti für die Herausgabe des Päckchens bieten konnte. Mehr ließ sich so schnell von meinem Vermögen nicht flüssig machen. –
Es war eine Torheit von mir, ihm überhaupt auf diese Weise zu verraten, daß mir so viel an dem Päckchen gelegen ist. Vielleicht habe ich ihn nur argwöhnisch gemacht. –
Oh – er – er ist so schlau, so gefährlich! Und – Sie werden sehr, sehr vorsichtig sein müssen, falls Sie wirklich auch jetzt noch beabsichtigen, so viel für mich zu wagen. –
Ich will Ihnen noch etwas verraten. Spinettis Wohnung hat einen geheimen Zugang –“
Sie schilderte den eingemauerten Wandschrank und die bewegliche Rückwand der Speisekammer. „So – nun wissen Sie alles. Mehr – mehr darf ich nicht sagen. Wirklich nicht. Alles andere geht ja auch nur die – Familie etwas an, die Spinetti in der Gewalt hat –“
Manfred Bergers Gedanken mußten sich erst klären. Hätte er das soeben Gehörte in einen Hintertreppenroman gelesen, dann würde er gedacht haben, der Verfasser benutzt ein etwas abgebrauchtes Motiv! Wichtige Briefe sollen gestohlen werden – ein Greis, Geheimtüren usw. spielen dabei mit! Alles olle Kamellen! – Aber – nun saß er hier bei Pilarski in der gemütlichen Weinstube, hatte ein reizendes junges Weib neben sich, hatte ihre Hand in der seinen – und alles war Tatsache, Wirklichkeit! –
Sehr bald war er einig mit sich, wandte sich zu ihr hin, sah sie an, erblickte noch zwei Tränen in ihren Wimpern glänzen, schaute ihre flehenden Augen.
„Gut – das Geschäft ist abgeschlossen,“ meinte er möglichst gleichgültig tuend. „Wo aber sehe ich Sie wieder, oder wie kann ich Ihnen Nachricht geben? – Ich denke, ich werde etwa eine Woche Zeit brauchen. Ich muß den Mann beobachten, seine Gewohnheiten kennen lernen –“
Sie überlegte. „Ich werde von heute ab jeden zweiten Tag gegen sechs Uhr nachmittags im Erfrischungsraum des Kaufhauses des Westens sein,“ sagte sie nun. „Könnten Sie um diese Zeit dorthin kommen? – Es ist doch leicht möglich, daß wir dies oder jenes zu besprechen haben. – Geschieht nichts Wichtiges, so werde ich trotzdem mich einfinden. Also übermorgen wäre dann der erste Tag, an dem wir uns sehen könnten –“
Er war einverstanden. –
Absichtlich begann er nun wieder eine gleichgültige Unterhaltung. Und um elf Uhr verließen sie die Weinstube. Sie bestieg ein Auto. Dem Chauffeur nannte sie als Ziel die Gedächtniskirche in der Tauentzienstraße.
Noch ein Händedruck. Dann rollte der Kraftwagen mit ihr davon.
4. Kapitel
Benno Steidel wohnte am Schiffbauerdamm Nr. 52 hoch oben in der Mansarde. Das Atelier war klein – genau so klein wie Bennos Talent. Seit langem war er nur noch Illustrator. Ein Gemälde wagte er nicht mehr zu beginnen. So behauptete er seinen Bekannten gegenüber.
Das Atelier und der nebenan liegende Schlafraum gehörten zu der Wohnung der verwitweten Frau Mitzlaff. Ein Jahr war Benno nun bereits ihr Mieter. Sie vortrugen sich gut, obwohl mit Frau Amanda nicht leicht auszukommen war. Sie hatte den Reinlichkeitsfimmel und außerdem Ansichten über Moral, die dem Vorstand eines Sittlichkeitsvereins zur Ehre gereicht hätten. Ihr einziges Kind, ihre Tochter Agathe, war denn auch so streng erzogen worden, wie dies nie guttut, und noch heute überwachte sie jeden Schritt der Zwanzigjährigen mit den Augen eines Gefängnisaufsehers, der einen Schwerverbrecher zum Verhör vorzuführen hat.
Frau Amanda hätte Benno Steidel auch niemals als Mieter angenommen, wenn er, der vorher schon von dem Hauswirt über ihre Eigenheiten unterrichtet war, nicht sofort erklärt hätte, er sei verlobt, liebe seine Braut über alles und dürfe in Rücksicht auf die – durchaus grundlose Eifersucht seiner Verlobten eigentlich nirgends mieten, wo es eine unverheiratete Tochter gebe.
Frau Amanda fiel wirklich auf den Schwindel herein. Und noch jetzt nach einem Jahr glaubte sie steif und fest, ‚ihr’ Maler sei Bräutigam. In seinem Atelier standen ja auch drei Bilder derselben jungen Dame. Daß dies eine Münchner Schauspielerin war, ahnte sie ebenso wenig wie Agathe je vermutete, die Braut könnte nur Lug und Trug sein.
Benno Steidel hatte seine Braut nach Potsdam verlegt, hatte sie Helene Meier getauft und seine Freunde genau in alles eingeweiht, damit sie ihn nicht etwa durch einen Zufall verrieten.
An demselben Abend als Manfred Berger das liebe, süße, dunkeläugige Schwarzwaldmädel kennen gelernt hatte, pinselte Benno in seinem Atelier an Illustrationen und fluchte viel dabei auf Frau Amandas Neffen zweiten Grades, einen Kunstschlosser namens Erich Mielke, der seit vier Wochen sich jeden Abend bei Mitzlaffs einfand.
Benno stand jetzt auf, leistete sich eine Zigarre und horchte plötzlich auf. Von der Straße her hatte er einen lauten Pfiff vernommen. Er ging in sein Schlafzimmer, öffnete das Fenster. Unten stand Manfred Berger.
Benno knotete den Hausschlüssel in ein Tuch und warf ihn hinab. Gleich darauf drückten die Freunde sich die Hand.
„Endlich seh’ ich dich mal wieder,“ meinte der Maler erfreut. „Seit deiner Verlobung bin ich noch einsamer geworden, alter Fred. Du weißt – aus der ganzen übrigen Bande mache ich mir ‘n Dreck. Freunde von der Art können mir gestohlen bleiben. Ich habe nur dich, mein Alter – wirklich, – habe dich leider nicht mehr, denn nun hat mich die Ellen Bark beraubt! Und du bist die Beute! – Da – steck’ dir ‘ne Zigarre an, setz’ sich in den Großvaterstuhl – die verdammten Weiber! Nur Unheil stiften sie. – Entschuldige – ich will nicht zu kratzbürstig werden. –
Aber – Tatsache, auch ich schleiche jetzt herum wie ‘n kranker Kater –“
Er trat dicht vor den alten Lehnsessel, in dem Berger saß.
„Wie ‘n kranker Kater,“ sagte er nochmals, aber leiser. „Du bist ja eingeweiht – ich liebe die Agathe! Und – nun ist da plötzlich so’n Mensch aufgetaucht, ein Neffe von der Alten, den diese offenbar als Bewerber ernst nimmt und rein anhimmelt. ‘s mag ja ein ganz nette Kerl sein – gewiß, aber – na – der Deibel hole die Weiber und auch meine Geisterbraut dazu. Ich sitze jetzt fein in der Patsche mit Helenchen Meier! Ich kann doch nicht plötzlich den Schwindel aufdecken. Die Alte würde mich steinigen. Und – das Schlimmste, ich weiß, daß Agathe mich heimlich wiederliebt! Und nun muß sie die Süßholzraspelei von dem Mielke jeden Abend mit anhören!“
Berger lächelte zerstreut. „Es wird sich schon ein Ausweg finden lassen,“ tröstete er. Dann deutete er auf den Stuhl neben dem Ofen. „Nimm Platz, Benno. Vor dir habe ich keine Geheimnisse. Ich muß dir eine sehr merkwürdige Geschichte anvertrauen. Du bist ja verschwiegener als das vielzitierte Grab.“
Manfred erzählte ganz ausführlich. Der Maler unterbrach ihn nur ein einziges Mal, indem er fragte:
„Wie sagtest du soeben? Promenadengasse? – Hm – letztens habe ich irgendwo von irgendwem diese merkwürdige Straßenbezeichnung nennen gehört. – Also wirklich Promenadengasse –“
Nun war Berger mit der Schilderung seines Beisammenseins mit dem lieben, armen Schwarzwaldmädel fertig.
Benno Steidel meinte: „In der Tat – eine nicht gerade alltägliche Geschichte. Und – hoffentlich keine Falle –“
„Falle?“ Berger war geradezu sprachlos.
„Nun ja. – Dieses scheinbar so harmlose Mädel kann vielleicht ihren Seelenschmerz nur geheuchelt haben, um mit jemandem bekannt zu werden, der ihr kostenlos –“
„Hör’ auf,“ fiel Manfred ihm ins Wort. „Schade, daß du dieses süße Geschöpfchen nicht gesehen und gesprochen hast! Dann würdest du nie auf solchen Verdacht gekommen sein – niemals! – Wenn du zu der Sache nichts Besseres zu bemerken weißt, so schweige lieber.“ Er war wirklich etwas gereizt und machte daraus auch kein Hehl.
Der Maler, der sich stets glatt rasiert trug und dessen Durchschnittsgesicht eine zufriedene lebensfrohe und offene Seele widerspiegelte, pfiff leise durch die Zähne.
„Alter Fredy – Ohren steif halten! Du bist verlobt! Dieses Schwarzwaldmädel scheint dein schönheitsdurstiges Gemüt denn doch allzu stark beeinflußt zu haben. – Im übrigen, wie denkst du dir denn nun eigentlich die Erledigung dieses – Viertelmillionengeschäftes? Darf ich dir dabei nicht so etwas helfen? – Schau’ mich nicht so entgeistert an, alter Junge. Ich spreche das im vollen Ernst aus. Wirklich! Ich habe mein Leben nie in ‚Schönheit’ sondern jahrelang im – Dalles gelebt. Und der Dalles, Fredy, – der macht praktisch, der weckt allerlei schlummernde Geistesgaben. – Jedenfalls würde ich dich nie allein – na nu – es klingelt? Jetzt nach Mitternacht? Wer kann dem dann noch bei mir Einlaß begehren?“
Er stand auf und ging in den schmalen Vorflur hinaus, der das Atelier von dem Mansardenvorraum trennte.
Berger hörte Bennos Stimme:
„Ah – Sie sind’s, Herr Mielke. – Aber bitte sehr, treten Sie nur näher –“
Manfred lernte so den Neffen der Frau Amanda Mitzlaff kennen.
Und – Manfred war erstaunt, daß dieser Kunstschlosser sowohl äußerlich ein ebenso flotter und hübscher Mensch als auch in seinem Benehmen von einer Gewandtheit war, die beinahe etwas zu selbstsicher zwanglos schien.
Mielkes Kleidung entsprach durchaus seinem Auftreten. Berger, der auch sehr viel auf eine geschmackvolle äußere Aufmachung gab, war nicht besser als dieser ernsthafte Bewerber um Agathens Hand angezogen. Dazu hatte Mielke tadellos gepflegte Hände, spitzgeschnittene Nägel, die sogar einen Hauch von Politur verrieten, und verbreitete einen zarten Parfümgeruch.
Ein merkwürdiger Kunstschlosser, dachte Manfred. Dieser Mann war ihm interessant. In ihm regte sich wieder mal der Schriftsteller, der gern Menschen studierte.
Mielke nahm Platz, zündete die ihm angebotene Zigarre an, wechselte mit Berger ein paar höfliche Redensarten, sprach über das kalte Herbstwetter, erwähnte, daß er soeben von Mitzlaffs käme und wandte sich dann an den Maler.
„Herr Steidel, ich habe zufällig von meiner Tante erfahren, daß Sie einen photographischen Vergrößerungsapparat besitzen. Ein Bekannter – ein Freund von mir – möchte nun gern das Bild einer Dame vervielfältigt haben, ohne den Photographen, der seiner Zeit die Aufnahme gemacht hat, zu bemühen. Er wünscht diesen Auftrag ganz diskret behandelt zu sehen. Er würde Ihnen für ein halbes Dutzend Bilder, die lediglich den Kopf der Dame in etwa fünffacher Vergrößerung wiedergeben, drei hundert Mark zahlen. Voraussetzung wäre, daß Sie die Sache wie gesagt ganz streng vertraulich behandeln und daß niemand außer Ihnen –“
„Bedaure,“ fiel Steidel ihm kurz ins Wort. „Ich muß ablehnen. Oder aber, ich müßte vorher die Gewißheit erhalten, daß die Dame mit der Anfertigung dieser Vergrößerungen einverstanden ist.“
„Oh – das ist sie,“ lächelte Mielke liebenswürdig. „Ich habe hier ein Schriftstück von der Hand jener Dame, in dem diese Erlaubnis erteilt wird. Die Schrift gleicht wie Sie feststellen können, genau der auf der Rückseite des Lichtbildes –“
„Hm – unter diesen Umständen! Warum soll ich schließlich nicht dreihundert Mark verdienen?“
Mielke zog einen Umschlag aus der Tasche. „Bitte, er enthält das Bild und das Schriftstück. Schließen Sie ihn sofort weg, Herr Steidel. Auf Ihre allerstrengste Diskretion kann ich mich wohl verlassen.“
„Selbstverständlich!“
„So – dann will ich nicht länger stören – die Herren entschuldigen. – Guten Abend – Wiedersehen, Herr Steidel. In drei Tagen kann ich wohl die Vergrößerungen abholen.“
Steidel geleitete ihn hinaus, kam nun zu Berger zurück, setzte sich wieder neben den Ofen und meinte leise und kopfschüttelnd:
„Hm – ein etwas seltsamer Auftrag. – Weshalb wendet Mielke sich gerade an mich? Verschwiegene Photographen gibt’s genug. –
Ich will ehrlich sein, Fredy, ich hätte auch trotz der schriftlichen Erlaubnis dem Mielke einen Korb gegeben, wenn ich nicht endlich über diesen Menschen mehr näheren Aufschluß verschaffen möchte. Er hat für mich etwas Geheimnisvolles an sich. – Hast du seine Hände gesehen, die ganze Aufmachung dieses Kunstschlossers? –
Ich – ich bin nicht etwa nur aus Eifersucht ein Zweifler geworden. Nein – auch dann, wenn dieser Mensch nicht um Agathe sich bewürbe, wäre er mir reichlich zweifelhaft erschienen! Er kann nicht Kunstschlosser sein –“
Berger erwiderte nichts, sann vor sich hin. Plötzlich sagte er:
„Leih’ mir mal dein Schlüsselbund, Benno. Und – geh’ hinüber in dein Schlafzimmer –“
Steidel schaute den Freund prüfend an. Dann verschwand er im Nebenraum.
Gleich darauf rief Manfred:
„Bitte – du darfst wieder herein. –
Du siehst, Benno, ich habe mich soeben einer groben Indiskretion schuldig gemacht. Ich habe deinen Schreibtisch geöffnet, den Umschlag herausgenommen und mir das Bild und das Schriftstück angesehen. Du selbst hättest mir sie nicht zeigen dürfen. Aber – ich wollte beides prüfen, denn auch ich vermute, daß hinter diesem Erich Mielke kein braver Schlosser steckt. –
Setz dich wieder. Ich nehme an, du willst jetzt grob werden. Spar dir’s. Ich will dir nur helfen, diesen Mielke aus Agathens schöner Nähe zu verscheuchen. Eine Hand wäscht die andere! Du hast mir freiwillig deine Unterstützung in Sachen Spinetti zugesagt, – ich – vergelte Gleiches mit Gleichem – und – es war gut, daß ich so unverfroren mir den Inhalt des Umschlages aneignete. Ich – kenne diese Dame –“
„Wie – etwa Schwarzwaldmädel?“ Steidel griff nach der Photographie.
„Keine Rede. Wie kommst du darauf?! – Nein. –
Vor vier Wochen war ich mit Barks bei Exzellenz Bardowski auf einer Abendgesellschaft. Mir zur Linken saß bei Tisch die lediglich ihrer ungezählten Millionen wegen recht anziehende Tochter des bekannten Stettiner Großindustriellen Porkel, ein junges Ding, das mir durch seine geradezu unglaubliche Zerstreutheit auffiel. Fräulein Hildegard Porkel war offenbar mit ihren Gedanken stets weiß Gott wo, nur nicht bei Bardowskis im Speisesaal. Und dabei konnten diese Gedanken keineswegs angenehmer Natur sein. Anstandshalber sprach ich die junge Dame einige Male an. Und – stets erhielt ich verkehrte Antworten. –
Ja und dieses Kabinettbild stellt Hildegard Porkel in einer Gesellschaftsrobe dar. –
Da – du siehst – schön ist das Mädchen nicht. – Das Bild ist in Stettin bei Otto Limar hergestellt, wie der Firmenaufdruck beweist. Ferner steht hier auf der Rückseite noch mit fingerlangen Buchstaben, also in einer etwas affektierten Handschrift: ‚Dem, dem ich für’s Leben gehöre – die kleine Unscheinbare’. – Bezeichnend ist das – ‚kleine Unscheinbare’. Es besagt, daß Hildegard Porkel sich nicht überschätzt. – So, nun dieser ‚Erlaubnisschein’. –
Wieder fingerlange Buchstaben.
‚Ich bin damit einverstanden, daß von diesem Bild Vergrößerungen angefertigt werden. – Die kleine Unsichtbare.’
Was meinst du?“
„Komische Geschichte,“ brummte der Maler.
„Sehr komisch. – Du kennst ja meine Handschriftenstudien, Benno. Ich habe sie mal, um Charaktere auf der Schrift feststellen zu können, mit Feuereifer betrieben. Bisher hat mir’s wenig genützt. Heute kann ich aber mit aller Bestimmtheit auf Grund dieser Studien behaupten, daß dieses Schriftstück – gefälscht ist –“
„Donnerwetter!“
„Allerdings Donnerwetter! – Herr Erich Mielke tritt für uns hierdurch in eine recht fragwürdige Beleuchtung. – Ich werde diese Angelegenheit jedenfalls mit aller Vorsicht weiterverfolgen. Hildegard Porkel befindet sich noch hier in Berlin als Gast bei ihrem Onkel, dem Professor Porkel – Augenarzt – du kennst ihn ja sicher dem Namen nach.“
Benno Steidel wiegte zweifelnd den Kopf hin und her.
„Dolle Geschichte, Fredy! – Was hältst du davon?“ meinte er grüblerisch.
„Ich werde daraus nicht klug – wenigstens jetzt sofort nicht. Aber, wie gesagt, ich will versuchen, sie aufzuklären. Der Zufall hat mich ja ohnedies heute bereits auf einen etwas abenteuerlichen Pfad gedrängt. Ich muß – ein Päckchen stehlen! Warum soll ich also nicht tatsächlich versuchen, ob du etwa recht hast und ob ich mich wirklich zum Detektiv eigne –“ –
Als Manfred Berger dann gegen zwei Uhr morgens den Freund verließ, hatte dieser ihm ein Darlehen von dreitausend Mark aufgedrängt.
5. Kapitel
Klarissa Meyden fand die Geheimrätin und Ellen noch wach, als sie aus – dem Theater heimkehrte. Die Damen hatten die neue Hausgenossin erwartet. Als Klarissa die Flurtür öffnete, erschien die Geheimrätin sofort im Wohnungskorridor, drehte das Licht an und begrüßte ihre Pensionärin mit wohltemperierter Liebenswürdigkeit, bat sie, noch ein wenig näher zu treten und redete ihr zu, noch einen kleinen Imbiß einzunehmen.
Im Speisezimmer war der Tisch zierlich gedeckt. Die beiden Barks leisteten Klarissa Gesellschaft. Man unterhielt sich über die Operette, die Klarissa soeben genossen. Zum Glück kannten die beiden Damen diesen neuesten Schlager noch nicht. Klarissa war froh, als Ellen dann über andere Dinge zu sprechen begann. Auch Manfred Berger wurde erwähnt. Die Geheimrätin brachte aus dem sogenannten kleinen Salon zwei Photographien ihres Schwiegersohnes und legte sie vor Klarissa mit den Worten hin:
„Das ist Dr. Berger. Sieht er nicht wie eine Romanfigur aus einem Buch für junge Mädchen aus? Ist’s nicht eine stattliche Erscheinung? – Oh, ich spreche wahrhaftig nicht deshalb so über ihn, weil er Ellens Bräutigam ist! Nein – er gefällt überall. Sein lauterer, vornehmer Charakter entspricht seinem Äußeren. Und – er ist reich, wahrscheinlich sogar sehr reich, wenn er auch stets behauptet, nur zweihunderttausend Mark zu besitzen.“
Sie lachte und fuhr fort: „Als ob jemand von den Zinsen von zweihunderttausend Mark so leben könnte wie Manfred! Unmöglich! Er hat nur Eigenheiten, die kostspielig sind. Er ist dem Namen nach Schriftsteller. Dem Namen nach! – Eigentlich lebt er nur einer großen Idee, sein Leben ganz nach dem Schönheitsideal zu gestalten, ‚Schönheit’ will er so verstanden wissen, wie es zum Beispiel der arme englische Dichter Oskar Wilde tat –“ Sie redete hierüber recht viel noch. Man merkte, daß es Manfred Bergers Worte waren.
Sie beobachtete dabei Klarissa in keiner Weise. Aber Ellen hatte es getan. Schon deshalb, um festzustellen, welchen Eindruck Bergers Bilder auf die neue Hausgenossin machten.
Und – sie hatte verschiedenes bemerkt, was ihr sehr zu denken gab.
Klarissa Meyden hatte kaum den Kopf des Kabinettbildes erkannt, als sie erst tiefrot dann blaß wurde. Ihre Hände, die das Bild hielten, zitterten, so daß ihr Armschmuck leise klirrte. Ganz geistesabwesend starrte sie nun auf die Photographien. Ihre Gedanken hasteten in so wahnsinniger Eile, als jagten ihr Szenen eines Fieberspuks durch das Hirn.
Ihr Bekannter aus dem Theater war Ellen Barks Bräutigam. Er war ein Mann – und das sah sie nun mit aller Klarheit ein! –, der nie im Stande sein würde, sein Versprechen einzulösen! Wie sollte dieser Dr. Berger, den ihr die Geheimrätin so mit allen Feinheiten seines Charakters geschildert hatte, wohl gegen einen Spinetti aufkommen?!
Und der Gedanke an Spinetti ließ sofort zwei neue in ihrem Kopf aufspringen wie Schreckphantome: Berger konnte ihr das Päckchen niemals verschaffen – niemals! Sie waren wieder dieser Hoffnung beraubt, endlich freier aufatmen zu können. Sie würde weiter die willenlose Sklavin dieses Menschen bleiben, der ohne Zweifel Pläne verfolgte, deren vollen Umfang sie nicht zu durchschauen vermochte. – Das war das eine Schreckensphantom. –
Und das andere: Angst um Manfred Berger, eine geradezu betäubende Angst! War es doch Spinetti, mit dem er sich auf einen Kampf einlassen wollte, – gerade Spinetti, der ihr immer unheimlicher wurde, den sie jetzt fürchtete wie ein Ungeheuer, wie einem vielköpfigen Drachen, der stets neue Opfer sich auswählte. – Angst um Berger – um diesen feinsinnigen Schöngeist, der nie und nimmer einem Spinetti gewachsen war! –
Berger befand sich in Gefahr! Dieser Manfred Berger, der zu ihr so liebevoll wie zu einem Schwesterlein gesprochen hatte, für den sie – das Schwarzwaldmädel war! – Nein – er durfte sich ihretwegen nicht in Gefahr begeben. Sie würde ihm schreiben – anonym, würde ihn anflehend, von der Durchführung dieses seltsamen Geschäft abzusehen. Sie würde geradezu verlangen, daß er sich um die Angelegenheit nicht weiter kümmerte, zumal er ja – und auch dies wußte sie nun ganz bestimmt, niemals von ihr das vereinbarte Honorar annehmen würde, – er, Doktor Manfred Berger! – Niemals! –
Arme, kleine Rissa! Wie toll ging’s jetzt nur in deinem Köpfchen her, während die Geheimrätin redete und redete – von dem eleganten, vornehmen Schwiegersohn, von seinem Geld.
Ebenso jäh wie soeben die beiden Schreckphantome sich Klarissas Herzen bemächtigt hatten, genauso plötzlich nun wieder ein neuer Gedanke: Berger war Ellens Verlobter, und – sie – sie wohnte nur hier gerade seit heute bei Barks als ‚Pensionärin mit engstem Familienanschluß’. Mithin mußte sie ihm hier begegnen!
Gewiß – er würde sich natürlich nie verraten, nie zeigen, daß er sie bereits kannte, daß sie – sein Schwarzwaldmädel war. –
Aber, wußte er erst, wer sie war, dann – dann konnte er nur zu leicht dahinter kommen, daß sie – ihn ein wenig belogen hatte, was Spinetti anbetraf. Und – das durfte nicht sein – niemals sein – durfte nicht! Gerade Berger sollte –
Da stockten Rissas Gedanken.
Weshalb hatte sie soeben gedacht: Gerade Berger – gerade Berger! – War er ihr denn etwas Besonderes, war er ihr ein Mann, dem sie ihre Schuld und Fehler noch strenger verheimlichen wollte als anderen?
Ihr junges Herz tat schnellere Schläge. – Gerade Berger! – Mein Gott – empfand sie etwa bereits mehr für ihn, war er ihr wirklich bereits, obwohl sie kaum drei Stunden mit ihm zusammen gewesen, der, nach dem ihre Seele sich in Stunden träumerischen Zukunftshoffens in letzter Zeit so oft gesehnt hatte – in letzter Zeit, – war er für sie wirklich schon ihr Ritter Lohengrin geworden, der sie erretten sollte, – sie, eine moderne Elsa von Brabant?!
Ritter Lohengrin! Ja – so hatte sie ihn gekauft in demselben Augenblick, als er ihr so zart zugeflüstert hatte: ‚Jeder Mensch muß doch einen Namen haben. Für mich werden Sie eben das Schwarzwaldmädel sein –’
Ritter Lohengrin – Elsa! – Und sie sollte ihm hier begegnen?! – Ach, wie – wie nur ließ es sich einrichten, daß dies vermieden würde?! – Wenn sie – nach Hause reiste, zurück nach Kiel in das Elternhaus, aus dem nur die Stiefmutter sie vertrieben hatte, deren Jugend es unerträglich war, eine erwachsene und dazu noch leidlich hübsche Stieftochter neben sich zu haben. –
Nein – nach Kiel zurück, – das kam nicht in Frage, obwohl sie sich so sehr nach ihrem Vater sehnte, diesen gütigen Mann, der leider – leider vor einem halben Jahr so schnell in die Netze dieses gefallsüchtigen Weibes geraten war, daß er alles Hausdame zu sich genommen in das prunkvolle Heim in der Villenvorstadt. –
Einen Moment war Klarissa mit ihren Gedanken abgeschweift, dann war sie bereits wieder zu – Lohengrin und Elsa zurückgekehrt. Es schossen ihr Wagners bekannte, so oft zitierte Verse durch den Kopf:
Nie sollst du mich befragen
noch Wissens Sorge tragen...
Nun – vielleicht ließ es sich doch so einrichten, daß sie Berger hier auswich, daß er sie nicht zu Gesicht bekam. –
Klarissa verabschiedete sich dann bald. Sie hatte die beiden nach der Straße hinausgelegenen Zimmer zu ihrer Verfügung. Ihr Salon, den sie zugleich auch als Atelier benutzte, hatte drei Fenster. Er war heute sehr behaglich durchwärmt.
Sie setzte sich in die gemütliche Ecke neben den Kamin. Sie hatte nur die elektrische Stehlampe auf dem kleinen Mosaiktischchen eingeschaltet. Der große Raum lag daher in einer gelben Dämmerung. Der gelbseidene Schirm der Lampe verlieh Rissas im Schoß verschränkten Händen den Farbenton alten Elfenbeins.
Sie grübelte wieder.
Und gerade in dieser Dämmerung erstanden nur zu schnell all die Gespenster abermals mit schreckhafter Deutlichkeit, die ihre Seele ängstigten.
Sie fröstelte. Und sie dachte an die kleine Nische in der Weinstube. Dachte an Manfred Bergers streichelnde Stimme, dachte an seine Hand, die die ihre schützend umklammert hatte.
Sie merkte kaum, daß ihr schon wieder Tränen über das Gesicht rannen. Sie fühlte sich so furchtbar verlassen und einsam. Sie hatte hier niemanden, dem sie ihr großes Leid klagen konnte. Ihr Vater – ja, – wenn die Stiefmutter nicht gewesen wäre, die den herzensguter Papa nun völlig beeinflußte. Und sonst – sonst gab es keinen Menschen, an dessen Brust sie sich hätte flüchten und dort ausweinen können.
Sie stierte vor sich hin in das halbdunkele Zimmer.
Da – wie gelähmt sank sie den Sessel zurück. Ihre Arme fielen schlaff herab.
Eine Gestalt hatte sich hinter einem der Fenstervorhänge hervorgeschoben, stand nun mitten im Zimmer, legte den Zeigefinger auf den Mund, huschte zur Tür, verriegelte sie, hing ein Taschentuch über den Drücker, kam auf Klarissa zu, – all das mit den Katzenschritten – Spinettis!
Es war Spinetti. Er trug einen ärmlichen Überzieher, Gummischuhe über den ungeputzten Stiefeln, hatte auf dem Kopf einen breitrandigen Schlapphut, den er nun abnahm, indem er sich mit ironischer Höflichkeit vor dem armen Mädchen verbeugte.
„Ich merke dir die Freude an, mich so unerwartet wiederzusehen,“ flüsterte er. „Du brauchst nicht länger Salzsäule zu spielen, liebes Kind. Ich bin kein Geist, wenn ich auch die Fähigkeit habe, durch alle Türen, selbst verschlossene zu schlüpfen –“
Er setzte sich Rissa gegenüber in den anderen Sessel und legte seinen Hut auf den Teppich, schlug behaglich ein Bein über das andere und fügte hinzu:
„Ja – ich bin überall, wo ich sein will, Rissa. Überall! Du hast mich, scheint’s, unterschätzt. Ich verfüge über Hilfsmittel, die dir fremd sind. Ich kam vor einer Viertelstunde hier zu dir. – Du hast mir verschwiegen, daß du die Pension ‚Ulbrich’ gegen diese Wohnung bei der Geheimrätin vertauscht hast. Du suchst durch allerlei Winkelzüge dich dem zu entziehen, was du mir gelobt – feierlich, – auch schriftlich versprochen hast. Du weißt, was ich meine.“
Da endlich hatte Klarissa das Entsetzen überwunden. Aber noch immer halb sinnlos vor Angst raunte sie ihm nun mit zitternder Stimme zu:
„Wenn – wenn man Sie hier bemerkt! – Oh mein Gott, gehen Sie, gehen Sie! Ich flehe Sie an. Verlassen Sie mich sofort –“
Er schüttelte den Kopf, beugte sich vor, rückte seinen Sessel dicht vor sie, griff nach ihren Händen und sagte leise ein paar Worte.
Klarissa zuckte zusammen. Ihre Augen wurden weit; und der Ausdruck dieser Augen verriet vieles.
„Niemals – niemals!“ keuchte sie. „Nie – nie!“
Da war’s mit ihrer Fassung vorbei. Sie riß ihre Hände aus den seinen, schluchzte – schluchzte, daß ihr Körper bebte.
Und während diese namenlose Qual ihr Inneres zerwühlte, gebar ihr Hirn einen einzigen Gedanken. ‚Nur Zeit gewinnen – Zeit gewinnen! Heucheln mußte sie – heucheln, und dann – dann sich selbst befreien!’
Und dieses ‚sich selbst befreien’, das ihr in seinem vollem Umfang so klar noch nie vor die Seele seiner Ungeheuerlichkeit wegen getreten war, – dieser Entschluß, der da soeben blitzartig in ihr aufgestiegen, gab ja auch die Kraft, alles vorzubereiten, was zu seiner Ausführung nötig.
Ihr leises, jammervolles Weinen ließ nach. Sie nahm die Hände vom Gesicht, trocknete die Tränen, schaute zu Boden und sagte stockend:
„Ich – ich will ehrlich sein!“ Und dabei log sie noch nie so kaltblütig wie jetzt! „Ganz ehrlich sein. Ich – ich habe – Angst um meinen Vater! Ihn wird die – die Nachricht, wenn alles geschehen, furchtbar treffen. Ich liebe ihn. Und diese Liebe hat mich bisher zaudern lassen. Das ist’s – das ist der Grund, weshalb ich mich scheute, mein Versprechen einzulösen.“
Sie sprach weiter. Und sie hatte Spinettis Rechte nun in ihren eiskalten Händen. Sie heuchelte gut, das arme, kleine Mädel. Spinetti blieb arglos. Als sie ihm dann fest zusagte, übermorgen wieder abends zu ihm zu kommen, damit sie auch das Letzte noch vereinbarten, war er zufrieden.
Er stand auf.
„Ich bin also gegen halb neun bei dir,“ sagte sie nochmals.
Er ging – ging in das Schlafzimmer nebenan, wo ein Fenster nur angelehnt war, kletterte hinaus, kletterte an einem Strick zu dem Balkon des nächsten Stockwerks hinauf. Jene Wohnung stand leer.
Klarissa Meyden lehnte in dem dunklen Schlafzimmer an ihrem Bett und lauschte, die Hände auf das jagende Herz gepreßt. Minuten vergingen. Kein Laut erklang ringsum. Dann schlug im Salon die Uhr drei, drei Uhr morgens.
Klarissa atmete tief, beruhigte sich langsam. Sie setzte sich wieder in den Sessel am Kamin. Auf ihrem jungen Gesicht lag etwas Starres, Drohendes. Um den Mund, auf der Stirn lagen Falten. Ihr Antlitz war völlig verändert.
Sie saß und überlegte die Einzelheiten ihres Planes ganz genau. Nie hätte sie vermutet, daß sie fähig wäre, so scharf alles abzuwägen.
Dann ging sie schlafen.
Und bald war ihr Kissen feucht von wehen Tränen.
Immer wieder kehrten in all ihrer trostlosen Verlassenheit die Gedanken zu Manfred Berger zurück.
Sie hatte schon immer an eine Liebe auf den ersten Blick geglaubt. Und – sie hatte in törichter Mädchenschwärmerei stets auf eine solche Leidenschaft gehofft, die urplötzlich kommt und die Seele in Flammen setzt.
Einmal hatte sie diese jähe Liebe zu fühlen vermeint. Es war bitterste Täuschung gewesen.
Und nun – nun hatte ihr der Zufall heute einen Mann in den Weg geführt, der ihr – davon war sie so fest überzeugt! – den Himmel auf Erden geschaffen hätte. Ja – heute war ihre Seele zum zweiten Mal in ihrem jungen Dasein in Flammen aufgegangen. Es war so. Sie versuchte nicht sich selbst zu belügen.
Und – dieser Mann war der Verlobte einer anderen.
Sie – Sie hatte eben kein Glück auf dieser Welt. Alles wurde ihr genommen, – alles! Erst der Vater. Und dann kam das große Unheil über sie, tauchte Spinetti auf. Jetzt – liebt sie, liebte sie, wie sie nie wieder lieben würde mit ihrer durch die unseligen Kümmernisse geläuterten Seele, – und dieser Mann, dieser gütige, seltsam weiche Charakter, dessen Eigenheiten sie so gut verstand, war für sie unerreichbar.
6. Kapitel
Klarissa hatte so gut wie gar nicht geschlafen. Trotzdem spürte sie keine Müdigkeit, als sie gegen acht Uhr sich erhob.
Die Aufwärterin der Geheimrätin brachte ihr das Frühstück und einen Brief ihres Vaters. Das Schreiben enthielt folgende bemerkenswerte Stelle:
‚Ja, mein Kleines, oft kommt man zu spät zur Einsicht. Nun – ich bin ja genug gewarnt worden! Die Schuld trage ich ganz allein. Wir Männer sollten zwischen fünfzig und sechzig polizeilich überwacht werden. Ich kann dir das alles nicht genauer auseinandersetzen. Aber jedenfalls dürfte man in diesen Jahren einer nur zu schnell aufflackernden letzten Leidenschaft niemals Gehör schenkten. –
Du fehlst mir hier überall, mein Kleines, mein Einziges!
Überall. –
Es ist so überaus still geworden im Haus –
wenigstens am Tage, denn abends haben wir immer große Gesellschaft. Adda versteht es, den Gästen unser Haus angenehm zu machen. Gerade ihre sozusagen internationale Eigenart lockt Herren aller Berufszweige an, die gern mit ihr in halben Geistreicheleien (es sind wirklich nur halbe!) plänkeln. Ich sitze dann müde und abgespannt dabei. –
Erwähne in deinen Briefen nichts von der – polizeilichen Überwachung. Ich glaube, Adda spioniert so etwas. Letztens schien es mir, als wäre einer deiner Briefe heimlich geöffnet worden – –’
Klarissa verbrannte das Schreiben. Armer Vater! Also wirklich, er bereute diese übereilte Heirat schon.
Um zehn Uhr verließ sie das Haus. In einer Waffenhandlung in der Tauentzienstraße kaufte sie ‚für meinen Bruder, der Landwirte ist’ eine moderne, kleine Selbstladepistole nebst zweihundert Patronen.
Klarissa begab sich zum nächsten Postamt und suchte im Fernsprecherteilnehmerverzeichnis Bergers Namen und Adresse. Sie hatte richtig vermutet. Er hatte Telephon und so erfuhr sie seine Adresse.
Dann schrieb sie ihm einen Rohrpostbrief – ohne Anrede.
‚Ich trete von unserem Geschäft zurück. Eine Viertelmillion ist mir denn doch zu viel für ein paar Familienbriefe. – Sollten Sie mir irgendwo begegnen, so kennen wir uns nicht. Vergessen Sie unser Beisammensein! Streichen Sie es vollständig aus Ihrer Erinnerung. Damit erweisen Sie mir den besten Dienst. – Das Schwarzwaldmädel.’
*
Regierungsassessor Theo von Bonstedt war Hilfsarbeiter im Kolonialamt. Er saß um dieselbe Zeit, als Rissa ihren Einkauf in der Tauentzienstraße besorgte, in seinem Dienstzimmer und dachte bei einer billigen Zigarre wieder mal über die ungleichmäßige Verteilung des kläglichen und doch so schönen Mammons nach.
Ja – wenn er Geld gehabt hätte – wenn! Dann brauchte er Ellen nicht an diesen Waschlappen von Berger abzutreten! Aber – er hatte – nischt, nischt, – nur monatlich ruppige hundert Emchen Zuschuß von daheim und – die langten gerade so zum Durchhungern. In dieser Beziehung ging’s ihm genau so wie Barks. Alles nur Schein!
Ein Jammerdasein! – Gewiß, er hätte spielend leicht in Berlin/W ein Goldfischchen angeln können. Aber – das lag ihm nicht, so eine Heirat, bei der die Mitgift die Hauptsache und die Liebe ganz Nebensache war.
Nee – das – konnte er nicht! Dazu liebte er Ellen denn doch zu sehr – zu aufrichtig.
Er dachte an den gestrigen Abend. – Ellen hatte nach ihrer Verlobung mit Berger ihm sehr deutlich und sehr energisch abgewinkt, hatte eben Schluß gemacht. Schwer war’s ihr geworden. Tränen hatte es damals im Tiergarten gegeben, als sie ihm erklärte, nun müsse alles aus sein – alles.
Und doch, gestern war sie ihm plötzlich an die Brust geflogen wie eine Verschmachtete.
‚Du – du – küsse mich. Ich habe mich ja so nach dir gesehnt –’
Dann war die Geheimrätin zurückgekehrt. Sie war eisig kühl zu ihm gewesen. Aber – er war doch geblieben. Nachher hatte sie Ellen hinausgeschickt und ihn ins Gebet genommen, hatte ihm das Ehrenwort abverlangt, daß er das Barksche Haus fernerhin meiden und nie mehr Ellen etwa heimlich sprechen würde.
Er hatte ja eingesehen, die Frau Geheimrat war völlig im Recht mit allem, was sie sagte und verlangte. Und – er hatte sein Wort gegeben. Wozu schließlich auch die unnütze Quälerei, dieses Wiederaufreißen von Wunden, die noch so frisch waren! –
Die ganze Welt war ein Jammertal! – Theo von Bonstedt seufzte. – Dann klopfte es. Einer der Geheimräte war’s.
Bonstedt horchte auf. Der Geheimrat teilte ihn mit, daß man gerade den Assessor von Bonstedt für den Posten eines Bezirksamtmanns in Kammin in Aussicht genommen habe. Er brauche nur ja sagen.
„Sie wissen, diese Stellung ist so, wie kaum eine andere. Und am klügsten tun Sie, wenn Sie sich gleich ein Frauchen mit hinübernehmen, lieber Bonstedt.“ –
Theo war wieder allein. Natürlich hatte er ja gesagt. Und natürlich dachte er jetzt an Ellen.
Er putzte sein Monokel, sog an der billigen Zigarre.
Donnerwetter – hatte er nur einen Dusel! Aber ne, Dusel war’s nicht. Man wußte eben, daß er solide, fleißig und fest in allen Sätteln war.
Er rannte im Zimmer auf und ab.
Himmel – dieser Berger! Nun hätte er ja Ellen heiraten können! Und – dieser Berger! Das Genick hätte er ihm umdrehen mögen!
Was war da nur zu tun?! Die Geheimrätin würde ja von ihm als Schwiegersohn nichts wissen wollen, denn selbst als Bezirksamtmann konnte er sie kaum pekuniäre unterstützen. Dieser Berger hingegen sollte schwerreich sein. –
Manfred Berger kam aus dem Kunstsalon Cassirer, wo er schnell noch ein paar neue Gemälde sich angesehen hatte. Er war nun von morgens an auf den Beinen und hatte Hunger.
Benno Steidel, der ihn vorläufig als Mittagsgast eingeladen hatte, damit er Geld sparte, würde bereits warten. Aber – trotzdem fuhr er erst noch nach seinem Junggesellenheim, um der Frau Klimmke, von der er die beiden Zimmer gemietet, die traurige Botschaft zu verkünden, daß er ausziehen müsse. Morgens war die brave Klimmke noch nicht sichtbar gewesen, als er ausging.
Und jetzt – jetzt war sie geradezu entsetzt, als er ihr erklärte: „Ich muß ziehen – muß, liebe Klimmken – Tatsache! Fragen Sie nicht, weshalb. Es muß eben sein –“
Dann ging er in sein Arbeitszimmer. Die Klimmke rief ihm noch nach: „Ein Rohrpostbrief liegt auf dem Schreibtisch –“ –
Benno Steidel stand bei Frau Amanda Mitzlaff in der Küche und versuchte sie über ihren Neffen Erich Mielke auszuforschen.
Benno wurde von Frau Amanda seit langem auch vollständig ‚bekocht’. Er fuhr gut dabei. Frau Mitzlaff war eine Künstlerin auf dem Gebiet billiger und schmackhafter Speisen. Jetzt rührte sie gerade einen Pudding an und meinte: „Ihr Freund Berger soll doch sehen, daß ‘s bei mir besser wie in ‘ner teuren Kneipe schmeckt!“
„Recht so, liebe Frau Mitzlaff. – Hm – was ich soeben sagte, also der Erich Mielke war in der Jugend ein böses Früchtchen?“
„Und ob! Ich sag’ Ihnen, was der seinen Eltern für Ärger und Kummer bereitet hat! Na – dafür ist er jetzt ein desto braverer Mensch geworden. Er verdient in der optischen Anstalt von Huter & Co. seine zweihundert Mark monatlich und arbeitet daheim noch an Privataufträgen. So ganz feine Instrumente stellt er her. Präzisionsinstrumente –“
„War er denn von Anfang an Kunstschlosser?“
„Gott bewahre. Er hat das Gymnasium bis Obersekunde besucht, wurde Kaufmann, ging sehr bald ins Ausland und war gut sieben Jahre verschollen. Dann fand er sich plötzlich hier bei mir ein. Ich bin seine letzte noch lebende Verwandte. Er hat zwar noch irgendwo eine Schwester. Doch – von der mag er nichts wissen. Sie ist ihm zu leichtsinnig, treibt sich überall in der Welt umher, meist als Reisebegleiterin alleinstehender reicher Damen, von denen eine ganz alte verschrobene sie auch adoptiert hat, so daß sie den ehrlichen Namen Mielke, der ihr nicht fein genug war, los wurde. Na – schön war sie ja, die Adda, wie sie stets genannt sein wollte. Blendend schön! Sie merken ‘s auch schon an der Ähnlichkeit mit dem Erich, Herr Steidel, denn das ist doch auch ein hübscher Mensch. –
Wie geht’s eigentlich Ihrem Bräutchen? Ich hätt’ sie so gern mal gesehen. Aber – wenn sie die kranke Mutter immer pflegen muß, – das sehe ich ja ein, dann ist nichts zu machen –“
„Oh – danke, sie ist wohl und munter, nur –“
Frau Amanda schaute auf. „Na – nur?“
Benno seufzte recht kläglich.
„Nur – ihre Briefe werden immer kühler. Ich fürchte fast, sie – sie will mich los sein. Sie hat vielleicht ‘n reicheren gefunden. Die Weiber sind ja alle käuflich –“
Frau Amanda war starr. „Wie – Ihnen will sie den Laufpaß geben! Na – da hört sich verschiedenes auf! Dann werde ich doch mal zu diesem scheinbar ‘n bißchen – verdrehten Fräulein Meier nach Potsdam fahren und ihr ordentlich –“
„Um Himmels willen – nur das nicht, liebste Frau Mitzlaff,“ unterbrach Benno sie entsetzt, der nun endlich einen Weg gefunden zu haben glaubte, Helenchen wieder verschwinden zu lassen. „Ich will Ihnen nämlich die Wahrheit anvertrauen. Sie hat die Verlobung bereits gelöst. Heute früh bekam ich einen Brief. Es ist alles aus. Und – vielleicht ist es gut so. Denn – Sie können ja schweigen, Frau Mitzlaff! – Es war nicht die rechte Liebe, von beiden Seiten nicht –“ –
Als Dr. Berger gegen ein halb zwei nachmittags das Atelier seines Freundes betrat, empfing Steidel ihn mit den leisen Worten: „Du, Fredy, ich habe einen ganzen Lastwagen von Neuigkeiten bereit.“
Während der Mahlzeit kramte Benno ‚den Lastwagen’ aus.
„Also – ich leistete Amandachen in der Küche Gesellschaft. Sie plauscht gern ein wenig. Sie hat mir folgendes anvertraut über das saubere Früchtchen von Neffen –“ Er berichtete, was Frau Mitzlaff über des Kunstschlossers Jugend ihm mitgeteilt hatte und fügte nachher hinzu: „Er hat hier bei meiner harmlosen Wirtin einen großen Koffer mit zwei Schlössern untergestellt, der angeblich Reiseandenken enthält. Das Ding steht in der Kammer neben der Küche. Des öfteren soll er den Koffer öffnen und darin herumkramen. Aber nie läßt er Mutter oder Tochter einen Blick hineintun. Ich werde diesen Koffer mir mal ansehen! Du verstehst! – Und dann Fredy, – dann habe ich meine Beziehungen zu Lenchen Meier heute gelöst –“
Berger lächelte, als er hierüber Näheres vernahm.
„Benno, du bist der größte Schwindler, den die Welt je gesehen!“ meinte er. „Nur – Herr Erich Mielke ist dir über. Du wußtest ja schon früher, daß er bei Huter & Co. arbeitete – angeblich. Ich war also heute vormittag dort. Der Chef versprach Diskretion. – Kein Mielke ist dort beschäftigt oder beschäftigt gewesen! –“
„Aha – da haben wir ihn ja schon!“ triumphierte Benno. „So ein Halunke. – Na – noch was Neues?“
„Und ob! – Ich will der Reihe nach erzählen. –
Bereits um halb acht ging ich von Hause fort. Ich fuhr nach der Promenadengasse. – Der Wirt heißt Heberlein, ist ein früherer Bäckermeister und wohnt ganz in der Nähe. Ich traf ihn beim Morgenkaffee. Er sagte mir strengste Verschwiegenheit zu. Spinetti ist Graf, Künstler, jetzt über siebzig Jahre alt und wohnt seit achtzehn Jahren in dem alten Steinkasten. Er lebt ganz für sich, empfängt nie Besuche. Nur – gib acht! – Gestern abend roch es bei ihm, als Heberlein bei ihm war, stark nach Parfüm! Nun – wir wissen ja, – das Schwarzwaldmädel war dort gewesen. – Spinetti gilt in dem Haus als stolz und etwas geistig angeknaxt. Vor zwei Wochen war er schwer krank. Die Nachbarn pflegten ihn freiwillig. Dann aber jagte er sie eines Morgens, als es ihm plötzlich besser ging, grob von seiner Flurtür weg. –
Das wäre alles, was ich bei Heberlein erfahren habe. –
Von ihm ging ich zu einer alten Dame, die neben Spinetti und noch länger als er dort wohnt. Heberlein gab mir einen Brief mit. So führte ich mich gleich gut ein. Ich fand in diesem Fräulein Siewert eine ehemals berühmte Konzertsängerin wieder, deren Name mir durchaus geläufig war. Sie versprach mir gleichfalls strengste Diskretion.
Sie hat für Spinetti ebenso wie wie anderen Flurnachbarn freundschaftlich während seiner Krankheit gesorgt. Alle, die dem Kranken sahen – einen Arzt hatte er verschmäht, waren überzeugt, daß es mit ihm zuende ginge und waren daher sehr überrascht, als er sich so unerwartet wieder erholte. –
Die Siewert erzählte mir auch, daß Spinetti jetzt täglich gegen sieben Uhr etwa seine Wohnung verläßt und meist wohl erst spät heimkehrt. Am Tage ist er wenig zu sehen. Aber er ist ein Frühaufsteher und ob schon um halb sieben unterwegs. –
Das ist nun wirklich bis zur Neige der Erfolg meiner heutigen Tätigkeit. – Viel ist’s eigentlich nicht. Nur – daß Spinetti ziemlich regelmäßig abends bummelt oder sonst was treibt, wäre – wäre – für uns nützlich, wenn eben nicht dieser Rohrpostbrief mich heute erreicht hätte! –
Da, lies ihn. Es ist eine klare Absage des Schwarzwaldmädels.“
Benno Steidel schien den Brief mühsam zu entziffern, so lange Zeit brauchte er für die wenigen Sätze. Dann sagte er:
„Du, Fredy, es ist natürlich Schwindel, daß dem Mädel eine Viertelmillion zu viel ist. Sie hat sich die Absage aus anderen Gründen überlegt.“
„Das ist auch meine Überzeugung.“
„Und nun?“
„Nun werde ich eben gegen ihren Willen und ohne Auftrag die Briefe stehlen. Und die wieder werden wir verraten, wie mein Schwarzwaldmädel heißt, und dann werde ich von ihr sicher einen lieben Blick und einen herzlichen Händedruck als Dank für die Räuberei ernten –“
„Liegt dir so viel an dem lieben Blick?“ lächelte Benno spitzbübisch.
Manfred Berger blieb ernst. „Ja – mir liegt was dran –“ Er starrte auf seinen Teller. „Ich muß nun ja doch die Verlobung mit Ellen lösen –“
*
Zwei Stunden später.
Klarissa Meyden war zum Ausgehen fertig angezogen. Sie stand im Salon vor dem Spiegel und betrachtete nochmals ihr heute so blasses Gesichtchen. Es schien ihr, als wäre sie seit der verflossenen Nacht um Jahre gealtert. Um viele Jahre.
Plötzlich horchte sie auf. Die Flurglocke hatte angeschlagen.
Sie war zusammengezuckt; eilte zur Tür, lauschte. Die Tür lag dicht an der des Flurs. Und nun hörte Rissa, wie Ellen jemand begrüßte.
„Ah, – Mama war deinetwegen schon in Sorge –“
„Entschuldige, Ellen, – ich hatte sehr wichtige Abhaltungen –“
Schritte im Flur – Flüstern.
Und Rissa malte sich aus, wie Manfred Berger, dessen Stimme sie nur zu gut erkannt hatte, – gerade diese weichen, schmeichelnde Stimme – jetzt wohl Ellen umarmen und küssen würde.
Sie stand da, und wehe Trauer erfüllte ihr armes Herz.
Ihr Ritter Lohengrin! Und – er küßte eine andere.
Eine Träne rann ihr nun über die Wangen. – Nein – sie hatte kein Glück. Sie war wie verfehmt. Und – sie trug sich jetzt mit Gedanken, die so unendlich schwer waren.
Nun klappte eine Tür. Stille im Flur.
Und Klarissa Meyden lehnte ganz matt an der Wand des Salons, hatte wie verzweifelt die Finger ineinander geschlungen und überlegte – überlegte, ob es denn überhaupt einen Zweck hätte, sich Ruhe und Freiheit um den – den Preis zu erkaufen.
Ja – wenn Manfred Berger der Lohn gewesen.
Aber so – so?! Hatte es da Sinn, noch weiter diese Daseinsbürde zu tragen?! –
Sie hatte in die Malstunde zu Professor Röthel gehen wollen.
Und nun – ging sie schwerfällig bis zu dem Sessel in der gemütlichen Ecke und ließ sich hineingleiten – ganz kraftlos. Wie ein krankes Vögelchen saß sie da. Und – dachte nur an ihn, der nun drüben bei Barks weilte – bei seiner Braut.
Und wie sie so an ihn dachte, da – da zog plötzlich eine wunderbare Ruhe in ihre gequälte Seele ein. Neue Pläne stiegen in ihrem Geist auf. Sie wollte ein letztes versuchen bei Spinetti, wollte ihm dieselbe Summe bieten, die sie Berger versprochen. Ja – sie wollte auf diese Weise frei werden. –
Sie saß und lauschte wieder. Sie blieb nur daheim, um in seiner – seiner Nähe zu sein.
*
Die Geheimrätin war jetzt mit Berger allein in kleinen Salon.
„Nun, Manfred, – du bist heute ja so merkwürdig feierlich,“ begann sie.
„Ich – muß es sein. – Höre mich an, Mama. Es sind sehr ernste Dinge, die wir zu besprechen haben.“
Ohne Scheu erklärte er nun, daß und weshalb er spekuliert und nun sein ganzes Vermögen verloren habe.
Die Geheimrätin schwieg minutenlang, als er geendet hatte. Sie wußte nicht, sollte sie sich freuen, daß es so gekommen?! – War es ihr nicht stets unerträglich gewesen, wenn sie die – allerdings recht lauen – Zärtlichkeiten des Brautpaares hatte mit ansehen müssen?! Und – würde es nicht vielleicht für sie eine Qual sein, wenn Ellen erst Bergers Frau geworden?!
„Du willst die Verlobung lösen, weil du keine Aussicht hast, demnächst an die Gründung eines eigenen Heims denken zu können. Sehr ehrenwert. Aber – Ellen wird wohl doch an dir festhalten, lieber Manfred. Ich bitte dich, überlege dir alles nochmals reiflich. Dann spricht in einigen Tagen mit Ellen.“ –
Manfred verabschiedete sich sehr bald. Es war ihm geradezu unerträglich, länger in diesem Haus zu weilen, wo er sich jetzt wie ein Fremder fühlte.
Im Flur küßte er Ellen sehr förmlich die Hand. Dann stieg er langsam die Treppe hinab. Er war unzufrieden mit sich. Er hatte sich so bestimmt vorgenommen gehabt, schon heute volle Klarheit zwischen sich und Ellen zu schaffen. Nun – war scheinbar alles geblieben, wie es war – scheinbar, denn daß die Geheimrätin jetzt in aller Ruhe und Gründlichkeit mit ihrer Tochter diese seine vertraulichen Mitteilungen über seine gänzlich veränderten pekuniären Verhältnisse durchsprechen würde, davon war er genau so fest überzeugt wie von der Absicht der Geheimrätin, nur eine Anstandspflicht verstreichen zu lassen, bevor man ihm – den Abschied in Gnaden erteilte. –
Es hatte nachmittags eine Stunde tüchtig geschneit. Der erste Schnee in diesem Jahr. Der Tiergarten mußte unter dieser weißen Decke ein schönes winterliches Bild darbieten. Und Manfred Berger sehnte sich nach Einsamkeit, Ruhe und Klarheit.
Er sucht im Tiergarten dann ganz stille Seitenwege auf. Der Schnee leuchtete förmlich. Eine lichte Dämmerung herrschte unter den Bäumen. In dem weißen, weichen Schnee waren ganz scharf die Fußspuren derer abgezeichnet, die vor ihm hier gegangen. Fraglos auch Menschen, die wie er die Natur liebten. –
Nun bog er in einen schmalen Weg ein. Da liefen vor ihm zwei Fährten her, die eines Mannes und die einer Frau. Die Frau mußte sehr schmale Stiefelchen tragen. Und sie ging sehr auswärts; während die breitere, plumpere Spur verriet, daß der Mann den rechten Fuß stark einwärts setzte.
Genau wie Benno, dachte Manfred.
Die beiden Fährten interessierten ihn. Er witterte ein Liebespaar. Freilich, die beiden Spuren – es waren die einzigen auf diesem Seitenweg – zeigten, daß das Paar sehr sittsam nebeneinander her geschritten war. –
Doch nun – hier waren sie stehen geblieben; hier war der Schnee geradezu zertreten. Die Spuren gingen kreuz und quer übereinander hin.
Manfred lächelte ein wenig. Vielleicht haben sie sich hier geküßt; vielleicht hat sie sich ein wenig gesträubt.
Er verfolgte die Fährte weiter. –
Hm – die Spuren liefen jetzt enger nebeneinander hin. Und zuweilen gab’s wieder eine so arg zerstampfte Stelle.
Da – Berger stutzte, bückte sich, hob – ein Handtäschchen auf, – aus Leder, ein noch recht neues Handtäschchen.
Natürlich ein Liebespaar, überlegte er. Und Liebesleuten merken nicht, wenn sie etwas verlieren.
Er öffnete die Tasche. Ein feiner Duft stieg ihm in die Nase.
Seltsam – das war doch das Parfüm, daß Agathe Mitzlaff benutzte. Manfred fand außer einem feinen Taschentuch auch eine Börse – ein winziges Silbertäschchen. Nun war er seiner Sache sicher. Denn diese silberne Börse war ja ein Geschenk Bennos. –
Das alles konnte kein Zufall sein.
Aber – mit wem mochte Agathe, die so streng bewachte Agathe, hier wohl lustwandelt sein?!
Berger brauchte nicht lange über diesen Begleiter sich den Kopf zu zerbrechen. Sehr eilig kam jetzt ein Paar auf ihn zu, machte halt.
Gegenseitiges Erkennen; Ausrufe einer etwas verlegenen Überraschung von Seiten des Pärchens.
Agathe schaute zu Boden, war sehr rot und sehr verwirrt. Ihr frisches, keckes Bubengesicht mit den starken Brauen und den schüchternen, dunklen Augen, deren Ausdruck zu dem ganzen Antlitz so wenig paßte, verlor jedoch trotz der holden Verwirrung nicht den Schimmer eines großen Glücks, das ihre Seele erfüllte.
Benno hatte dem Freund sehr kräftig die Hand geschüttelt.
„Gott sei Dank – du hast die Tasche gefunden,“ meinte er vergnügt. „Du, Fredy, du brauchst uns durchaus nicht so anzuschauen wie zwei ertappte Sünder – wirklich nicht! Wir genießen hier den Winter mit Mutters Erlaubnis. Agathe hat heute ihren freien Nachmittag. Und da hat die sonst so strenge Mama uns beide, mich als Ehrengarde, an die frische Luft – nicht gesetzt, aber geschickt. – Ja – und – die Gelegenheit war günstig. Nicht wahr, Agathe? – Wir – haben uns –“
„– soeben verlobt,“ ergänzte Berger heiter. „Das bewiesen die Spuren im Neuschnee. Ich kann euch beiden ganz genau die Stelle zeigen, wo – und so weiter! – Nach – herzlichsten Glückwunsch, meine Lieben – allerherzlichst sogar!“
Er nahm Agathens Hand. „Sie bekommen einen braven Mann, Fräulein Agathe.“
„Oh – Agathe weiß mit allem Bescheid,“ erklärte Benno lachend. „Auch – mit der seligen Lenchen Meier. Ebenso mit Erich Mielke. Und sobald wir diesen Herrn Neffen ganz entlarvt haben, werden Agathe und ich vor Mutter Amanda hintreten und sagen: ‚Lenchen Meier hat nun eine lebende Nachfolgerin erhalten!’ –“
Zu dreien gingen sie jetzt der nächsten Hauptallee zu. Benno hatte seine Agathe untergehakt. Er war rein aus dem Häuschen vor Glück. Und – Manfred Berger kam sich neben den beiden so arm, so einsam vor. Ein Sehnen glomm in seinem Herzen auf – nach einem Weibe, das an ihm hing mit schrankenloser Leidenschaft. Und – da fiel ihm wieder sein kleines, armes Schwarzwaldmädel ein. Da sah er plötzlich ihr Bild, ihr holdes, verstörtes Gesichtchen vor sich. – Wer – wer mochte sie wohl sein?
*
Schwarzwaldmädel – Spinetti! – Die Gedankenverbindung lag so nahe. – Und Manfred Berger sprang auf eine Straßenbahn und fuhr nach der Promenadengasse hinaus.
Manfred stand versonnen und überlegte. Heute hatte er Benno nicht gut zumuten können, jener Wohnung den geplanten Besuch abzustatten, in die man auch mit Hilfe des großen Flurschrankes gelangen konnte. Heute hatte Benno keinen Sinn für so abenteuerliche Dinge. Aber morgen – morgen abend, – dann sollte das Wagnis unternommen werden, das Päckchen zu stehlen. –
Berger trat plötzlich noch mehr in das Dunkel der Häuserschatten zurück und ging dann weiter die Straße hinauf. Spinetti war im Vorgarten erschienen, wandte sich nun der Stadt zu, verschwand.
Manfred läutete gleich darauf an der Flurtür der greisen Sängerin. Fräulein Siewert empfing ihn sehr freundlich.
Er zögerte erst. Dann vertraute er sich ihr rückhaltlos an. Gestern bei seinem ersten Besuch hatte er ihr verschwiegen, weshalb er sich für den alten Musiker interessierte, heute erzählte er ihr alles.
Die weißhaarige Künstlerin fand all das so überaus poetisch. Aber dann meinte sie mit ihrer zittrigen Stimme: „Spinetti soll ein – ein solches Scheusal sein, das ein armes Mädchen derart peinigt, wie’s hier zu geschehen scheint?! – Nein, lieber Herr Doktor – das halte ich für ausgeschlossen.“
Trotzdem suchte das alte Fräulein auf Manfreds Bitte hin ein Stück Wachs heraus, erweichte es, huschte in den Flur und kam mit einem Abdruck des Schlüsselloches von dem Wandschrank zurück.
Berger ging mit herzlichem Dank. Fräulein Siewert hatte versprochen, die beiden Freunde morgen in ihrer Wohnung so lange aufzunehmen, bis Spinetti seinen gewohnten Abendgang antrat.
Dann fuhr der Doktor zu Benno Steidel. –
Benno war so ein kleines Allerweltsgenie. Er besaß alles Nötige, um einen anderen Schlüssel nach dem Wachsabdruck zurechtzufeilen.
„Der Mielke sitzt wieder drüben bei der Mitzlaff und raspelt Süßholz,“ meinte er ironisch lächelnd. „Mag er! Mir kann’s recht sein. Alles vergebliche Liebesmüh! Agathe ist mein!“ Und nach einer Weile fügte er hinzu: „Du, Fredy, wie wär’s, wenn wir dem Burschen heute abend nachschleichen würden?“
Berger war ganz einverstanden.
Von elf Uhr ab lauschten die Freunde abwechselnd im Vorflur des Ateliers. Um halb zwölf verließ Erich Mielke seine Tante. Agathe brachte ihn die Treppen hinab.
Benno und Manfred machten sich sofort hinterdrein. Sie begegneten Agathe im zweiten Stock, klärten sie kurz über ihre Absichten auf und eilten weiter.
Mielke ging dem Lehrter Bahnhof zu, wandte sich nach der Invalidenstraße und verschwand hier in einem Haus dicht am Stettiner Bahnhof, wo er im Erdgeschoß ein möbliertes Zimmer bewohnte.
Hinter den beiden Fenstern wurde es hell. Die Freunde standen auf der anderen Straßenseite in einer Haustür und beobachteten von hier. Sie sahen Mielke hin und her gehen. Dann wurde die Beleuchtung des Zimmers schwächer. Mielke schien eine Kerze angezündet zu haben.
„Es hat keinen Zweck, hier weiter Posten zu stehen,“ meinte Berger enttäuscht. „Gehen wir, Benno –“
Sie schritten trotzdem nochmals langsam an dem Haus vorüber. Es war ein alter, verräucherte Kasten. In der Invalidenstraße herrschte noch ein sehr lebhafter Verkehr. Berger drückte plötzlich des Malers Arm.
„Du – das war soeben die kleine Unscheinbare – Hildegard Porkel! Ich habe sie trotz der Schleiers erkannt. Sie hat einen so merkwürdig tänzelnden Gang. – Kehren wir um! Es scheint doch gelohnt zu haben, daß wir heute schon ein wenig Detektiv spielen –“
Das junge Mädchen wich scheu allen Vorübergehenden aus. Vor dem Hause Mielkes ging sie langsamer, schaute nach links auf die Parterrefenster, blieb einen Moment stehen.
Berger war bereits mit seinem Entschluß fertig.
„Ich werde sie ansprechen,“ flüsterte er Benno zu. „Leb wohl – auf Wiedersehen. Ich komme nachher noch zu dir. Gib auf den Pfiff acht –“
Hildegard Porkel war zögernd weitergegangen. Sie fuhr entsetzt herum, als Berger sie mit einem „Guten Abend, gnädiges Fräulein!“ begrüßte.
Er fügte sofort hinzu: „Ich habe einen ganz bestimmten Grund, Ihnen meine Begleitung aufzudrängen. Gewähren Sie mir bitte eine Unterredung. Vielleicht setzen wir uns in den Wartesaal des nahen Stettiner Bahnhofs.“
„Ich – ich finde dieses Ansinnen etwas sehr eigenartig, Herr Doktor,“ entgegnete sie kühl und ablehnend. „Ich begreife nicht, was –“
„Oh – es handelt sich um – Erich Mielke,“ meinte er kurz, ihr ins Wort fallend.
Sie blieb wie angewurzelt stehen. Hinter dem Schleier hervor leuchtete ein jetzt geisterbleiches Gesicht.
„Ich möchte Ihnen helfen,“ sagte Berger schlicht. „Ich vermute, Sie sind an einen Elenden geraten, der –“
Er schwieg. Er hörte ihr verzweifeltes Aufschluchzen. Sie war unfähig, auch nur ein einziges Wort über die Lippen zu bringen. Da bot er ihr den Arm und sie folgte ihm willenlos.
Dann saßen sie wirklich an einem Tisch des Wartesaales in einer leeren Ecke dicht beieinander. Und Berger sprach von der Photographie und dem gefälschten Schriftstück. –
Benno Steidel wartete voller Ungeduld. Endlich der bekannte Pfiff. – Er warf den Schlüssel hinab.
Berger war erregt, begrüßte den Freund sofort mit den Worten: „Jetzt haben wir ihn ganz fest, diesen gemeinen Erpresser!“ Dann berichtete er Einzelheiten.
Hildegard Porkel hatte den angeblichen Kunstschlosser zufällig im Warenhaus Wertheim kennen gelernt. Er hatte sich ihr sehr respektvoll genähert, hatte es verstanden, unter Vermeidung jedes Scheins von Aufdringlichkeit mit ihr bekannt zu werden, hatte sich als Ingenieur Mielke vorgestellt, hatte mit großem Geschick das Mädchen zu umgarnen gewußt und ihr die Ehe versprochen, indem er so getan hatte, als glaubte er ihr, daß sie ganz mittellos wäre. Sie hatte gerade deshalb an seine Liebe geglaubt und heimlich mit ihm korrespondiert, ihm auch ihr Bild geschenkt, ihn gleichzeitig aber gebeten, zunächst das Verlöbnis noch gegen jedermann zu verschweigen, da sie es später irgendwie einrichten wollte, daß er sie daheim in Stettin scheinbar erst kennen lernte. Sie scheute eben vor den Ihrigen das Geständnis, einem Fremden hier in Berlin so schnell ihr Herz geschenkt zu haben.
Diese heimliche Verlobung hatte vor drei Wochen stattgefunden. Sehr bald war Mielke dann mit Geldforderungen an sie herangetreten, hatte ihr allerdings stets nur seine bedrängte Lage geschildert, ihr aber doch auf diese Weise nahegelegt, ihm auszuhelfen. Den ersten kleineren Summen folgten größere. Er hatte behauptet, sich an geschäftlichen Unternehmungen beteiligen zu wollen.
Und Hildegard hatte als Tochter eines Millionärs leicht hier und dort das Nötige geborgt erhalten. Vor einer Woche war er dann jedoch zum ersten Mal mit der Bitte an sie herangetreten, ihr in kurzem fünfzigtausend Mark zu verschaffen. Sie hatte erklärt, das wäre ihr unmöglich. Und da hatte er halb und halb die Maske fallen lassen, hatte bis zu versteckten Drohungen sich verstiegen und darauf hingewiesen, daß er Briefe von ihr besäße, deren Inhalt sie stark bloßstelle.
Er war immer frecher und zudringlicher geworden. Offenbar hatte er es darauf abgesehen, Hildegard so einzuschüchtern, daß sie ganz sein willenloses Werkzeug würde.
Heute nun hatte Hildegard vormittags einen Brief von ihm erhalten, in dem er sie zu einer Unterredung um zwölf Uhr abends zu sich bestellte. Falls sie nicht käme, würde er sich genötigt sehen, ihren Eltern mitzuteilen, daß er sich mit ihr verlobt hätte; und als Beweis würde er einige ihrer Briefe und eines ihrer Bilder mit Widmung beifügen.
Soweit Bergers Bericht. –
Er hatte Hildegard geraten, gleich frühmorgens Mielke einen Brief durch einen Boten zuzusenden, daß sie verhindert gewesen wäre und daher am kommenden Abend sich zur selben Stunde einfinden werde.
„Bis dahin,“ meinte Berger nun zu dem Maler, „hoffe ich, den schamlosen Erpresser unschädlich gemacht zu haben. Ich bin mir nur noch nicht klar darüber, wie wir es anstellen sollen, daß die kleine Unscheinbare nicht mit in diese Skandalgeschichte hineingezogen wird. Aber – kommt Zeit, kommt Rat. Ich werde schon noch einen Ausweg finden –“
Gleich darauf sagte er Benno Lebewohl. Dieser erklärte noch: „Natürlich will der Schurke die Vergrößerungen für seine Erpresserzwecke benutzen. Natürlich! – Wenn ich morgen Gelegenheit finde, breche ich mit Agathens Hilfe mal den Koffer Mielkes auf. Er weiß, was er darin verbirgt.“ –
Klarissa Meyden hatte auch Bergers Abschied von Ellen wieder belauscht. Sie war noch zum Ausgehen angezogen, und daher eilte sie gleich nach ihm zum Hause hinaus und blieb auch hinter ihnen, bis er in den einsamen Tiergarten einbog.
Da erst machte sie kehrt. Und – sie ärgerte sich über sich selbst. Vielleicht hätte sie es so einrichten können, daß er sie ansprach. Ach – sie sehnte sich ja so namenlos nach ihm, nach seiner gütigen Stimme, nach der Ruhe, die seine Gegenwart ihr gab.
Ja – er sollte bestraft werden. Und sie, seine Mörderin, würde ihm dann folgen in jenes Land, woher es keine Heimkehr gibt.
*
Am folgenden Abend kurz nach sechs Uhr.
Es schneite, und ein scharfer Nord blies die kalten Flocken zwei Männern ins Gesicht, die schnellen Schrittes die Promenadengasse aufwärts strebten. Sie hatten die Mantelkragen hochgeschlagen, trugen Gummischuhe und tief in die Stirn gezogene Reisemützen.
„Na, Fredy, wie ist dir so als Einbrecher zumute?“ fragte Benno Steidel.
„Mir wäre noch behaglicher, wenn ich erst wüßte, wie ich der armen Hildegard aus der Patsche helfen könnte,“ erklärte Berger gelassen. „Du irrst jedenfalls, wenn du annimmst, ich sei auch nur die Spur aufgeregt. – Schade, daß der Kofferinhalt so wenig Belastendes ergab. Allerdings – mit den Briefen läßt sich vielleicht etwas anfangen, – mit den Briefen der schönen, von der Freifrau von Gretting adoptierten Adda an den Herrn Erpresser-Bruder. Das Frauenzimmer scheint überaus gefährlich zu sein. In wie scheußlich gemeinem Ton äußert sie sich in den Briefen nur über ihren jetzigen Gatten! Wenn man nur herausbekäme, wie der Betrogene heißt, auf dessen baldigen Tod ‚mit Nachhilfe’ das Weib spekuliert! Aber nichts von dem Namen ihres Mannes in all den Schreiben! – Ah – da sind wir ja! Nun schnell hinein und hinauf zur Siewert. Sie erwartet uns, hält die Flurtür offen.“ –
Eine halbe Stunde später verließ Spinetti seine Wohnung und das Haus. Benno hatte hinter der nur angelegten Flurtür der greisen Sängerin gestanden und folgte ihm heimlich, bis er sich überzeugt hatte, daß Spinetti wirklich der Stadt zuwanderte.
Dann probierte Fräulein Siewert den von Steidel angefertigten Schlüssel. Er paßte.
Nun begaben Berger und Steidel sich in den Hausflur, stiegen schnell in das riesige Möbel und schlossen hinter sich ab.
Ihrer Taschenlampen blitzten auf. Bald hatten sie den einfachen Verschluß gefunden, der die Seitenwand des Schrankes, die zugleich die Rückwand der kleinen Speisekammer war, öffnete.
Sie hatten bereits vorher vereinbart, wer von ihnen innen an Spinettis Flurtür Wache halten sollte. Benno war diese Rolle zugefallen. Er stellte sich denn auch sofort dort auf, während Manfred in Spinettis Wohnzimmer verschwand, dessen Türe er weit offen ließ.
Beim Schein der Taschenlampe begann er den ärmlichen Raum ganz eingehen zu durchsuchen. Er begann mit dem Schreibpult, zog einen Bund Dietriche hervor und fand auch einen passenden.
So verging eine Viertelstunde.
Berger kniete jetzt vor einer Kommode, durchwühlte deren Schubladen. – Wieder vergeblich.
Steidel kam und fragte leise, ob Manfred nicht lieber das Schlafzimmer jetzt vornehmen wollte. –
„Laß dir nur Zeit, Fredy,“ fügte er hinzu. „Der Alte kehrte ja nie vor Mitternacht heim. Trotzdem ist’s besser, du erledigst erst den Nebenraum. Von dort kann ich dich schwerer rechtzeitig herausrufen –“
Berger befolgte den Rat. Er drückte ganz sacht die Tür auf, trat ein. Sofort fiel ihm ein sehr scharfer Geruch auf. –
Was war das nur? – Richtig: Chlorkalk!
Aber – noch eine Beimischung hatte dieser Geruch. Etwas widerlich Süßliches. –
Berger stand und sog prüfend die Luft ein, dachte: ‚Wer kann hier nur schlafen! Mir wär’s unmöglich!’ –
Benno Steidel langweilte sich durchaus nicht auf seinem Lauscherposten. Im Gegenteil. Es gab genug Momente, wo ihm der Herzschlag stockte, – immer, wenn jemand die knarrende Treppe emporkam. Aber – er hatte sich den schweren Gang Spinettis gut eingeprägt und verließ sich auf sein Gehör.
Nun tauchte plötzlich Manfred Berger lautlos vor ihm auf.
„Benno du – ich habe eine furchtbare Entdeckung gemacht,“ flüsterte er mit vibrierender Stimme. „Komm’ einen Augenblick mit ins Schlafzimmer. Aber – nimm’ deine Nerven zusammen!“
Steidel schlich hinter Manfred drein. Der trat dicht an die Lagerstatt heran, hob die Bettdecke und dann das Zudeck hoch. –
Und dort lag, vollständig mit Chlorkalk bestreut, ein Toter. Von dem Gesicht war wenig zu sehen. Nur das weiße Kopfhaar und der weiße Bart waren zu erkennen.
„Der echte Spinetti!“ raunte Berger dem Freund zu. „Hier spielt ein Anderer also dessen Rolle. Nun ist es auch verständlich, weshalb der falsches Spinetti so unhöflich zu der Siewert und so undankbar den Hausgenossen gegenüber war. Und nun fällt mir auch ein, daß das alte Fräulein einen Mieter erwähnt hat, der ganz plötzlich nach der vor etwa vierzehn Tagen erfolgten Wiedergenesung Spinettis ausgezogen ist und der den Kranken gleichfalls eifrig pflegte. Dieser Mensch –“
„Später,“ meinte Benno. „Ich muß auf meinen Posten zurück.“
Er huschte in den Flur. Da – wahrhaftig – da wurde gerade ein Schlüssel in das Schlüsselloch der Flurtür gesteckt. Zum Entrinnen war’s zu spät. Der Maler fand gerade noch Zeit, die Tür der Wohnstube ins Schloß zu drücken, eilte dann ins Schlafzimmer.
Berger blieb völlig ruhig. Sie standen nun im Dunkeln mitten in dem unheimlichen, verpesteten Raum, dessen Tür der Maler gleichfalls noch schnell und lautlos zugezogen hatte. Berger brachte seinen Mund an das Ohr Steidels: „Nur gut, daß wir Revolver mithaben. Ich glaube nicht, daß der falsches Spinetti dieses Zimmer betreten wird. Er wird sich vor der Leiche fürchten. Warten wir ab. Jedenfalls nehmen wir den Kerl auf jeden Fall fest.“
Sie hörten, wie der falsches Spinetti im Nebenraum hin und her ging. Dann wurde ein Stuhl gerückt. Und nun quietschte der Rollverschluß des Schreibpultes.
Berger schob sich der Türe zu – Zentimeter für Zentimeter. Das Holz zeigte dort, wo die Füllungen eingefügt waren, breite Spalten, durch die langen Lichtstreifen hindurchschimmerten.
Berger sah jetzt durch die größte dieser Ritzen, daß Spinetti vor dem Schreibpult saß und soeben das Mittelfach des Aufsatzes herauszog. Nun faßte er in die Öffnung hinein, tastete darin umher und holte einen Blechkasten heraus. Es mußte sich dort also ein Geheimfach befinden.
Spinetti blätterte in Papieren, die in dem Kasten gelegen hatten. Bisweilen lachte er höhnisch auf. Dann packte er die Papiere wieder weg und verschloß das Pult, ging in die Küche und kehrte mit einem Teebrett zurück, auf dem allerlei Eßwaren lagen. Er setzte sich an den Mitteltisch auf das geschweifte Sofa. Berger hatte ihm nun gerade vor sich, deutlich beschienen von der Gaslyra. –
Wieder verstrich eine Viertelstunde. Dann trug Spinetti das Teebrett hinaus und kam mit einer Weinflasche und zwei Gläsern wieder an den Tisch, entkorkte die Flasche, trank ein Glas und setzte sich in den eignen der verschossenen Sessel. –
Inzwischen hatte sich der Maler dem Freund zugesellt und ebenfalls eine Spalte gefunden, durch die er den Mann dort beobachten konnte.
Spinetti zündete sich gerade eine Zigarre an, als die Flurglocke kurz anschlug.
„Ah – ein Besucher,“ flüsterte Berger. „Vielleicht erlauschen wir Wichtiges.“ –
Er ahnte ja nicht, wen Spinetti erwartete! Aber – er sollte sehr bald sehen, wer es war. –
Spinetti führte Klarissa Meyden ins Zimmer. Sie trug wieder den alten Mantel und das Kopftuch. Und doch – Berger erkannte sofort sein Schwarzwaldmädel.
Sie nahm in dem linken Sessel Platz. Spinetti füllte die Gläser.
„Dein Wohl, Rissa! – Trink’ nur. Es ist wirklich kein Gift drin!“ höhnte er. „Nun – hast du dir die Sache etwa wieder anders überlegt? – Du weißt, ich habe dein schriftliches Versprechen, daß du mich auch gegen den Willen deines Vaters heiraten willst. Und – ich habe zärtliche Briefe, die beweisen, daß du dich als meine Verlobte betrachtest. Sehr zärtliche Briefe sogar. Und – du hast in der ersten Zeit mich auch recht gern geküßt, Rissa –“
Sie saß da mit starrem, versteinertem Gesicht. Sie weinte heute nicht, und als er jetzt schwieg, sagte sie hastig:
„Du hast meine Unerfahrenheit ausgenutzt, meine Vereinsamung. Ich fühlte mich hier in Berlin so verlassen. Und dann – sprachst du mich damals in der Untergrundbahn an. So – begann das Unheil. –
Doch – wozu all diese Erinnerungen auffrischen?! –
Erich, höre mich an. Ich bitte dich, gib mich frei! Ich werde dir eine viertel Million in Staatspapieren auszahlen. Ich – ich flehte dich an, Erich, nimm das Geld! – Wie soll ich wohl je deine Gattin werden können, wo ich jetzt vor dir –“
Er lachte schneidend auf, ergänzte ironisch: „–vor dir Angst habe, nachdem du mir eingestanden, daß hier nur deswegen den Spinetti spielst, um einen sicheren Schlupfwinkel zu haben! – Nicht wahr, das wolltest du doch sagen!“
Sie nickte. „Ja – so ist’s! Damals gingen mir die Augen auf, argwöhnisch war ich bereits geworden, als ich in der Zeitung von einem polizeilich gesuchten Hochstapler las, der als besonderes Kennzeichen eine rote Narbe unter dem Kinn haben sollte. Und – gerade diese Stelle hattest du stets stark überpudert. Ich habe dir dies bisher verschwiegen. Aber – heute müssen wir zu einem Ende kommen.“
Spinetti starrte sie durchdringend an. Er saß hoch aufgerichtet in seinem Sessel.
„Du – du bist heute ja so – so ruhig,“ meinte er argwöhnisch. „Gedenkst du etwa – mich der Polizei zu verraten?“
„Nein. Ich würde mich dadurch bloßstellen. Das darf nicht sein. Der geachtete Name Meyden sollen nicht von Skandalblättern in den Schmutz gezerrt werden. – Nochmals, Erich, sei verständig! Ich kann niemals deine Frau werden! Gib den Gedanken auf. Eine viertel Million sichert dir –“
Er erhob sich jäh. „Genug!“ rief er halblaut. „Genug! – So wisse denn, wenn du mir nicht bis morgen abend einen an deinen Vater gerichteten Brief vorlegst, in dem du ihm deine Verlobung mit dem Ingenieur Erich Mielke mitteilst, dann – werde ich deine Briefe und dein Bild an eine Zeitung verkaufen, die gern in die sogenannte ‚gute Gesellschaft’ hineinleuchtet. –
Rissa, sei verständig!“ fügte er in leisem, weicherem Ton hinzu. „Ich – liebe dich! Ich – lasse nicht von dir – niemals! Ich – will dein Geld nicht. Und – deine Stiefmutter, die ich persönlich gut kenne, wird uns bei deinem Vater schon die Wege ebnen.“
Er beugte sich über sie. Da – fuhr sie hoch, stieß ihn zurück.
„Du – du mich lieben! Du – Lügner, – du Erpresser!“ kam’s überhastet über ihre Lippen. „Ich weiß, was du bezweckst. Mein Vermögen willst du an dich bringen. Das – das ist deine Liebe! – Aber ich rufe dir jetzt zu: Genug! Sogar – übergenug! – Ich – verabscheue, ich – hasse dich! Ich bin besudelt worden durch deine Küsse! Elend hast du mich gemacht! Nie mehr darf ich’s wagen, einem Mann, der mich vielleicht lieben lernt, diese entweihten Lippen darzubieten! Du bist ein Verbrecher! Ein – Elender –, oh – wie ich dich hasse!“ Alle Vernunft, alle Überlegung war dahin. All das, was an Seelenqualen in ihr aufgespeichert, verwandelte sich jetzt in glühenden Haß, in eine zügellose Wut. Sie bebte am ganzen Körper. Ihre Augen flammten, und die Hand nun gegen ihn ausstreckend, fragte sie abermals:
„Willst du das Geld annehmen – ja oder nein? Entscheide dich sofort – sofort! – Ich warte nicht lange. – Ich gehe, und dann – dann –“
Er setzte sich wieder mit einem höhnischen Kichern in den Sessel.
„Köstlich bist du – geradezu köstlich!“ meinte er. „Wirklich – du hast Temperament, und – du bist in diesem Augenblick nicht mehr Kind, bist ein reifes Weib. Jedem anderen würdest du vielleicht imponieren. Mir nicht. – Hm – nimm wieder Platz. Du sagtest da soeben, du könntest deine – entweihten Lippen keinem mehr darbieten. –
Du – du liebst wohl schon jemand, he?! – Na – meinetwegen, – trotzdem wirst du –“
„Schuft, Verbrecher!“ keuchte sie. „Ja – wisse denn, ich liebe, – ich habe jetzt die Liebe kennen gelernt, die uns überfällt wie ein zuckender Blitz. – Ja – ich liebe, – liebe einen Mann, den – ich auf dich hetzen wollte, einen vornehmen, gütigen Menschen, dem ich meinen Auftrag nur wieder entzog, weil ich für sein Leben fürchtete –“
Erich Mielke sprang auf. „Du – du hättest mich etwa schon verraten?!“ zischte er. „Warte – ich werde –“
Er wollte auf sie zustürzen – wich zurück. Eine Pistolenmündung scheuchte ihn hinter den Sessel.
„Heraus mit meinen Briefen und dem Bild,“ sagte Klarissa Meyden kalt. „Ich bin zu allem fähig! Vergiß das nicht! – Heraus mit dem Päckchen!“
Er atmete tief auf. „Gut – es sei,“ meinte er. „Das Päckchen liegt in der Schublade dort an deiner Seite des Tisches. Schlage die Decke hoch. Dann findest du die Schublade –“
Sie tat’s. Darauf hatte er nur gewartet. Die Pistole in ihrer Rechten war jetzt gesenkt. Blitzschnell packte er ihre Hand.
„So – nun habe ich dich, mein Täubchen!“ frohlockte er und suchte ihr die Waffe zu entwinden.
Da krachte ein Schuß. Mielke, der verkleidete Spinetti zuckte zusammen, sank zur Seite.
Berger hatte schon die Tür aufgerissen.
„Bring’ Fräulein Meyden zur Siewert, Benno,“ befahl er. „Fort – nur fort. Sie darf hier nicht gefunden werden –“
Bevor es noch auf dem Flur und im Hause lebendig wurde, befand Klarissa sich in Sicherheit. Ebenso hatte Berger schnell aus dem Geheimfach den Kasten herausgenommen und die darin befindlichen Papiere zu sich gesteckt.
Fäuste trommelten gegen die Flurtür. Berger ließ drei im Hause wohnende Arbeiter ein, zeigte ihnen die Leiche im Bett und wies auf die zweite Leiche im Sessel mit den Worten:
„Sie sehen, die Kugel ist ihm von unten in den Mund und durch den Kopf gegangen. Er ist tot. Er war ein Verbrecher, auf den ich zufällig aufmerksam wurde, da er ein Verwandter der Wirtin meines Freundes Steidel ist. Aus Liebhaberei habe ich den Detektiv gespielt und ihm nachgespürt. Ich hatte mich hier in seine Wohnung eingeschlichen, und als ich ihn nun zwingen wollte, vor mir her zur nächsten Polizeiwache zu gehen, rang er mit mir. Die Pistole entlud sich dabei und – die Kugel streckte ihm nieder. – Bitte, holen Sie jetzt die Polizei. Ich bleibe hier, damit ich den Beamten alles erkläre.“ –
Berger blieb bei diesen Angaben. Da Mielke tatsächlich ein berüchtigter Hochstapler und Heiratsschwindler war, wie sofort festgestellt wurde, durfte Berger sehr bald die Wohnung Spinettis verlassen. Er war unschlüssig, wohin er sich wenden sollte. Zu der greisen Sängerin war er absichtlich nicht gegangen. Er wollte niemand darauf aufmerksam machen, daß sich dort Klarissa und Benno befanden.
Am Südende der Promenadengasse traf er dann jedoch auf den Maler.
„Dein Schwarzwaldmädel sitzt dort in jenem Auto, Fredy,“ flüsterte Steidel. „Steig’ ein. Fahrt nach der Weinstube von Pilarski. Du weißt ja, Nische von damals. Ich komme nach – “
Manfred öffnete die Tür. Setzte sich neben Rissa. Der Kraftwagen ruckte an. Er wandte sich ihr zu. Sie lehnte in der Ecke und weinte.
Da nahm er ihr die Hände vom Gesicht.
„Mein armes, liebes Schwarzwaldmädel,“ sagte er zärtlich „nie wieder glaubtest du deine Lippen einem Mann darbieten zu können? – Auch mir nicht?“ Er zog sie sanft an sich. Und sie lehnte den Kopf an seine Brust und schluchzte.
Er streichelte ihr das Haar. Und er dachte: ‚Dich habe ich mir schwer erobert, du liebes Geschöpf. Aber desto mehr werde ich dich lieben –’
Dann hob sie den Kopf. Ihre großen Kinderaugen forschten in seinem Antlitz. Ganz leise flüsterte sie dann: „Und – und Ellen Bark?“
„Vorbei – vorüber!“
Da kam’s aus ihrer Brust wie ein Ton endlosen Jubels. Ihre Lippen fanden sich. Und Manfred Berger tilgte die Schmach, die diesen Lippen angetan, durch heiße Küsse. –
In der Nische der Weinstube ging’s sehr ernst zu. Die Ereignisse der letzten Stunden lasteten doch zu schwer auf den drei Menschen, die sich hier zusammengefunden hatten. Jetzt erfuhr Rissa Meyden auch, daß für ihre Stiefmutter sehr belastende Briefe von Steidel in Mielkes Koffer entdeckt worden waren. –
Nachher, als Berger sein liebes Mädel heim nach dem Barkschen Hause gebracht hatte, wurden in Steidels Atelier im Ofen sowohl Rissas als auch der kleinen Unscheinbaren Briefe und die Photographien unbesehen verbrannt. –
Drei Tage später verließ Frau Adda Meyden, geborene Mielke, adoptierte von Gretting, für immer das Haus in der Kieler Villenkolonie, in das nun wieder Klarissa ihren Einzug hielt. Aber nicht allein. Sie hatte Manfred Berger gebeten, sie zu begleiten. Und Herr Meyden gab dem Brautpaar gern seinen Segen. –
Viele Monate drauf – welch seltsamer Zufall! – standen in einer der weitverbreitetsten Berliner Zeitungen drei Geburtsanzeigen genau untereinander.
Kunstmaler Benno Steidel und Frau Agathe geb. Mitzlaff zeigten hocherfreut die Ankunft des Stammhalters an.
Bezirksamtmann Egon von Bonstedt und Frau Ellen, geb. Bark gaben sich die Ehre, das Eintreffen eines Sohnes zu melden.
Und – Manfred und das Schwarzwaldmädel?
Ja – da war’s natürlich ein Mädel geworden – ein ganz kleines, süßes – Schwarzwaldmädel...
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Fußnote:
1 Rips (engl.) ist Gewebe mit oder weniger deutlich ausgeprägten Rippen