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Feine Nummern

 

Feine Nummern

von

Emil Warnke

 

Verlag moderner Lektüre
G.m.b.H.
Berlin.S.O.26. Elisabethufer.44.

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1921 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO. 26.

 

 

1. Kapitel

Liebessorgen

Toni starrte ganz entsetzt hin.

Sie sah und sah –! Das Bild änderte sich nicht.

Der Mann, der ihre Zukunft bedeutete, lag so dicht mit der schwarzen Frau zusammen, daß diese Nähe schon mehr als verfänglich war.

Toni fühlte, wie ihr Herzschlag stockte.

Also das – das war nun ihr Erich, den sie für so treu, so aufrichtig, so solide gehalten hatte.

Ach – die Tatsachen sprachen ja vom Gegenteil. Und wie – sie hatte das furchtbare Bild ja nun unmittelbar vor sich! – Nein – nie – niemals hätte sie dies von Erich Köhler gedacht! Sie hatte ihm so blindlings vertraut! Und – er hatte doch immer betont, er liebe nur die blonde Farbe – Blond! Jetzt – jetzt – eine schwarze Frau – Schwarz!

Ihr wurde so namenlos schwer zumute.

Sie wollte nichts mehr sehen und hören – nichts! Aber – sie schaute doch wieder hin.

Es blieb derselbe Anblick: ‚Er’ lag unmittelbar neben ‚ihr’ – neben dieser Schwarzen, die natürlich reich war – selbstredend!

Da sprach die Kartenlegerin weiter:

„Freileinchen, nehmen Se sich also for die Schwarze in acht! Die angelt nach ihm. Die hatte ihm schon beinahe in den Klauen. – Da – sehn Se die Herzsieben, Freileinchen –. Die liegt grad unter die Schwarze. Das bedeitet ‘n feiriges Herz. Und Schwarze mit ‘n feiriges Herz sind doppelt jefährlich. Wenn die Herzsieben grad über die Treffdame jelegen hätt’, dann hätt’s janz was anders bedeitet, nämlich ‚die beese Sieben’, das heeßt zanksichtig, so ‘n rechter Deibel von Weib –“

Die Kartenlegerin schwieg und streichelte ihr Hündchen, das sie auf dem Schoß hielt. Das Hündchen war eine sogenannte Promenadenmischung, ein Kind des Zufalls, eine konzentrierte Hundeausstellung. Bis zu den Ohren war der Kopf dackelartig, dann begann ein Stück Bulldogge mit Stutzohren und Speckfalten, während der Leib überhaupt nicht mehr der Rasse nach zu entziffern war.

Toni dachte nur an die Herzsieben. –

‚Feiriges Herz!’ hatte Frau Schmudicke gesagt. Und was Frau Schmudicke sagte, war für alle Telephonmädels vom Amt mehr als Evangelium.

Mein Gott – ein feuriges Herz! Da – da konnte Toni nicht mithalten. Nein – sie war ja so schüchtern, so scheu, so überaus keusch in Wort, Blick, Tun und Gedanken, eben in allem. Wie sollte sie unter diesen Umständen wohl diese Nebenbuhlerin aus dem Felde schlagen, die doch jetzt schon so frech neben Erich lag – so dicht, daß die Schmudicke erklärt hatte ‚Die hat ihm schon beinahe in den Klauen!’

Ach – Toni Möller rutschte das kleine Herzchen immer tiefer – beinahe bis in die –. Aber nein, diese Redensart wendet man nicht bei holden Mädchen von zwanzig Jahren an, besonders nicht bei so holden, wie Tonichen es ist. –

Nun hatte Frau Anastasia Schmudicke ihre konzentrierte Hundeausstellung genügend geliebkost und fuhr fort:

„Passen Se uff, Freileinchen, nu kommt’s erscht!“

Toni kriegte einen Riesenschreck. Für ihren Geschmack hatte sie schon übergenug Trübes gehört.

„Also die Schwarze, die hat wat Kleenes!“ flüsterte die Schmudicke und legte ihr fettig glänzendes Vollmondgesicht in geheimnisvolle Falten.

„Wat Kleenes – hier die Karokarte ist’s! Und dieses Anhängsel is nich mit Hilfe des Trauscheins uff die Welt jelangt, ne, – so – hintenrum, so wie heitzutage Schweinefleesch jehandelt wird, unter Ausschuß der staatlichen Behörden – Sie vastehn!“

Tonichen verstand. Und Tonichen wurde zur Purpurrose vor Verlegenheit. Denn – was ‚Kleines’ unter Ausschluß der Behörden konnte sie sich einfach nicht vorstellen! Das ging über ihr Begriffsvermögen! – Und – mit einem solchen Weibe lag nun ihr Erich so dicht beisammen! – mit einer, die bereits unter Verzicht auf die segenspendende Wirkung des Trauscheins…! Doch – das wollte sie nicht mal in Gedanken zu Ende denken, dieses Schamlose, dieses Unfaßbare, dieses Sündhafte, dieses vielleicht doch einigermaßen Reizvolle. ‚Denn – wenn kein Reiz dabei, dann – dann würde doch niemand auf solche Abwege geraten!’ sagte Tonichen sich in ihrer harmlosen Philosophie.

„Also wat Kleenes hat die Schwarze – ‘n Balj,“ fuhr die gut genährte, würdige Dame fort, die noch vor einem Jahr Waschfrau gewesen, dann aber ihr wahres Talent entdeckt hatte und schnell berühmt geworden und auf einen grünen Zweig gekommen war, – einen sehr frisch grünenden, da die Dummen bekanntlich auch durch den Weltkrieg nicht weniger geworden sind, – im Gegenteil!

„Und dieser Balj, Freileinchen, wird in Ihre Lebensjeschichte noch ‘ne jroße Rolle spielen, wie Sie hier an die Treffzehn sehen, die unter det Balj zu liejen jekommen is. Treffzehn bedeitet zehn Kreize, also Kirchhof, Tod, Begräbnis. Det Wurm wird also wahrscheinlich erst schwer krank werden. Es wird jepflegt werden. Und bei dieser Pflege, wird ‚er’ dann sehn, wat for ‘n joldenes Herzchen Sie hab‘n. Da wird ‚Er’ die Schwarze loofen lassen, wird ‘ne lange Reise tun und wenn er hier wieder intrifft, jibt’s ‘ne Verlobung. Aber –“

Lange Kunstpause; Streicheln der Promenadenmischung; einen Schluck aus der Kaffeetasse. Und dann legte die Schmudicke von neuem los:

„Aber, Freileinchen, – vor die Verlobung liegt hier ‘n anderer Herr, ‘n Blonder, – hier der Karobube. Een sehr reicher! Sehr! Die Pikzehn – det is det Geld, wat er hat. Und außerdem hat er noch wat, aber wat, ‘s is, det läßt sich schwer sagen. Die Karten liejen so komisch hier um den Herrn rum. So – so, als wenn der reiche Blonde verheiratet is, aber den Ring stets ins Portmonäh träjt und nich zum Klub ‚Ewije Treie’ jehört. Jedenfalls, Freileinchen, – auch for den Blonden heißt ’s hellisch die kühle Hundeschnaute markier’n – vastanden?! Bloß sich nich mit dem verplempern. Sonst wird aus der Verlobung nischt.“

Frau Anastasias Aufmerksamkeit wurde jetzt durch einen Floh abgelenkt, der aus ihres vierbeinigen Lieblings struppigem Fell mit kühnem Satz auf das Tischtuch gehüpft war. Geschickt erwischte sie ihn mit den Fingerspitzen, zerrieb ihn erst halb und ‚knackste’ ihn dann auf dem Deckel der alten Bibel, die neben ihrer Kaffeetasse lag. Und – als der arme Floh unter ihrem Fingernagel endgültig sein blutsaugerisches Dasein aushauchte, murmelte sie triumphierend:

„Det Biest muß sterben!“

Tonichen, die von dem Flohfang nichts gemerkt, vielmehr wieder wie hypnotisierte auf ihren Erich und die so dicht neben ihm ruhende Schwarze gestarrt hatte, hörte diesen kurzen Monolog, glaubte, er gelte dem ‚reichen Blonden’ schrie leise auf und meinte ganz verstört:

„Sterben muß er?! Und – etwa – etwa durch mich?!“

Die Schmudicke war nie außer Fassung zu bringen. Den Flohmord unterschlug sie als allzu unromantisch und erwiderte besänftigend:

„Ne – ne, – nich durch Sie, Freileinchen! Er stirbt in ‘n Du – Elle!“ Sie trennte die Silben von Duell sehr deutlich, denn sie leitete diesen Ausdruck von ‚Du’ und ‚Elle’ ab, wobei ihr etwas unklar vorschwebte, daß ‚Du – Elle’ doch eine Art Schlägerei sei und dabei vielleicht eine Elle als Waffe benutzt werde.

„Ne – in ‘n Du – Elle“, wiederholte sie. „Und ‚Er’ wird den Blonden dabei ordentlich eens auswischen, Freileinchen, und nach ‘n langet Krankenlager stirbt der reiche Blonde eenes sanften Todes an die Lirum Klemens.“

„Woran?“ fragte Tonichen voller Teilnahme, denn sie hatte kein besonderes Interesse an dem Tod dieses Herrn, der vielleicht verheiratet war. Die Telephonmädels von Oberzentrum schätzten in dieser männerarmen, heiratsflauen Zeit nur Junggesellen bis zu sechzig Jahren etwa, bei Vorhandensein von Millionenvermögen auch über sechzig, – bis siebzig hinauf –!

„Woran, Freileinchen? – Nu, an die Lirum Klemens, wat doch so ‘n Art von vornehmen Säuferwahnsinn is.“

„Ach so!“ meinte Toni. „Delirium tremens! Der Ärmste!“

„Jotte doch – hab’n Sie ‘n mitfiehlendet Herzchen! – Den Kerl is det Ende nur zu gennen – nur! Er stellt Ihnen doch nach. Und wenn Sie nich sehr uff Ihre fünf Sinne uffpassen, Freileinchen, dann jibbt’s valeicht doch mit ihm ‘ne schwache Stunde, und denn is ‘s mit die Verlobung und die drei Kinderchen, die Ihnen hier die Karten voraussagen, Essig – total Essig! – Nu kennen Se sich danach richten. Und weil Sie so ‘n hübschet Kind sind, soll’s for Ihnen bloß fünf Mark kosten. Sonst nehm’ ich zehne!“

Tonichen erhob sich. Sie befand sich wie im Traum. In ihrem blonden Köpfchen führten die von der unfehlbar die Wahrheit weißsagenden Frau Schmudicke heraufbeschworenen Störenfriede ihres beginnenden Liebesglücks einen wilden Veitstanz auf.

Sie legte einen zerknitterten Fünfmarkschein auf die Bibel und den breitgequetschten Floh und ließ sich durch die Küche in den Flur bringen, da in der berühmten Kartenlegerin ‚guter Stube’ noch einige zehn Ratsuchende saßen, von denen sie sich nicht gern sehen lassen wollte.

Mit der Straßenbahn fuhr sie dann für 62 Pfennig, Zehnerbillett, vom hohen Norden nach dem freundlicheren Süden, wo ihre Eltern dicht am Kreuzberg seit vielen Jahren in einer Fünfzimmerwohnung hausten.

Sie fand noch einen Sitzplatz ganz vorn im Wagen. Sie war nach all dem Gehörten und Geschauten so erregt, daß sie gar nicht darauf achtete, daß neben ihr ein sehr elegant gekleideter Herr mit blondem Spitzbart saß.

Ihre Gedanken galten lediglich der Schwarzen mit dem Anhängsel und dem reichen Blonden, der nachher an der Lirum Klemens eingehen mußte. – Ach – wenn sie doch nur erst wüßte, dachte sie, wer dieses elende Weib sein könnte, die ihren Erich wegschnappen wollte! Dann könnte sie doch irgend etwas unternehmen, um diese schamlose Person rechtzeitig zu entlarven! Plötzlich fiel ihr ein: Das Kind spielt ja auch noch eine Rolle! Und ebenso – das feurige Herz!

Ihr wurde ganz wirr im Kopf! Mein Gott, weshalb mußte das Schicksal auch gerade ihr so viele Prüfungen auferlegen, bevor – bevor der schöne Schluß mit den drei Kinderchen da war! – Sie seufzte tief und schmerzlich auf, und aus ihren reinen, graublauen Kinderaugen perlten zwei dicke Tränen auf die frisch gewaschene Batistbluse herab und blieben gerade dort hängen, wo die Bluse sich am stärksten wölbte und etwas überspannte, das für Tonichens schlankes Figürchen fast zu üppig war.

Da – das sagte eine teilnehmende Stimme neben ihr:

„Verzeihung, – Sie scheinen so sehr betrübt zu sein. Kann ich Ihnen irgendwie mit Rat und Tat beistehen?“

Sie blickte zur Seite, fuhr erschrocken zusammen.

Ein Blonder! Ein Blonder!

Ihr Herzchen pupperte lebhafter.

Ein Blonder! – Da war er also schon, der – der Verführer, der nicht zum Klub ‚Ewige Treue’ gehörte, – an den sie sich nicht ‚verplempern’ sollte!

Verplempern! So hatte die weise Frau Schmudicke gesagt. – Und – dies Verplempern mußte fraglos etwas ganz Schlimmes sein! Was, das ahnte Tonichen nur so ungefähr.

Der Blonde also, – der Blonde! – Toni, paß auf! Das Unheil schleicht auf dich zu!

„Ich – ich danke!“ sagte sie eisig. „Ich brauche weder Rat noch Tat. Bei mir haben Sie kein Glück! Ich bin vor Ihnen gewarnt worden!“

„Nicht möglich?!“ meinte der Elegante. „Gewarnt?! Vor mir?! – Von wem denn?!“ In seinen dunklen Augen lauerte der Schalk, als er so sprach.

„Das – das geht Sie gar nichts an!“ erklärte Toni sehr ablehnend und schielte nach seiner rechten Hand, die auf der Silberkrücke eines Stockes ruhte.

Ah – ein Ehering! Er war verheiratet –! – Er war’s also ohne Zweifel, – er, einer der Störer ihres Glücks!

„Hm!“ machte der Blonde. „Hm! Gestatten Sie – das geht mich sehr wohl etwas an! Wenn mir hier eine junge Dame, eine hübsche junge Dame, die ich noch nie gesehen habe, ganz unvermittelt sagt: Ich bin vor Ihnen gewarnt worden, dann enthält diese Behauptung für jeden halbwegs anständige Menschen eine versteckte Beleidigung. Gewarnt wird man nur vor sittlich nicht ganz einwandfreien Personen, mein Fräulein, – was Sie zugeben müssen. – Ich habe also ein gutes Recht, dann nachzuforschen, wer mich dergestalt verdächtigt hat.“

Toni wurde plötzlich himmelangst. Sie sah ein, daß sie eben eine große Unvorsichtigkeit mit der Bemerkung begangen hatte. Sie war aber zu unerfahren in derlei Dingen, um durch diplomatische Künste die Dummheit wieder aus der Welt schaffen zu können. Sie schaute mit zusammengekniffenen Lippen starr geradeaus und einer Dame ins Genick, die sehr schlampig angezogen war und die um den Hals eine falsche Elfenbeinkette trug.

Der Herr neben ihr merkte, daß er ‚geschnitten’ werden sollte. Er gedachte sich mit dieser Erledigung der Sache jedoch nicht zufrieden zu geben, wollte gerade abermals und dringender eine klärende Antwort verlangen, als der Straßenbahnschaffner neben der Bank auftauchte und sich zu Toni hinabbeugte.

„Fräulein, Sie wechselten doch vorhin beim Bezahlen der Fahrkarte einen Fünfzigmarkschein, nicht wahr?“ fragte er in unheilverkündendem Ton. „Der Schein ist falsch, Fräulein. Da haben sie ihn zurück. Geben Sie mir anderes Geld.“

Ringsum war man nun aufmerksam geworden.

Toni fieberte vor Verlegenheit.

„Ich – ich habe nur diesen Fünfzigmarkschein,“ stotterte sie. „Und – er kann nicht falsch sein. Ich habe ihn ja vom Amt bei der Gehaltszahlung mit empfangen.“

„Er ist falsch!“ sagte der Schaffner etwas milder, als er merkte, daß die fesche Blonde mit zum verdienenden Teil der Bevölkerung gehörte. „Ich werde also die Banknote dann –“

Da mischte sich Tonis Nachbar ein. „Hier ist das Geld. – Die Sache ist damit wohl eingerenkt,“ meinte er leichthin.

Der Schaffner schob mit fünfzig Pfennig Trinkgeld zufrieden ab. Der Blonder aber prüfte den Schein und reichte ihn dann Toni mit den Worten:

„Er ist falsch. Der Mann hat recht.“

„Oh – das, das ist ja – furchtbar!“ stöhnte Toni auf, und sie vergaß ganz, daß der ‚Verführer’ neben ihr saß. „Fünfzig Mark! Wenn man nur auf dem Amt mir einen echten dagegen eintauscht! Ich kann das Geld doch nicht verlieren.“

„Hm – wissen Sie wirklich so genau, daß die Banknote Ihnen von der Behörde ausbezahlt wurde? – Die Fälschung ist nämlich so plump, daß ich kaum annehmen kann, eine öffentliche Kasse sollte den Schein haben passieren lassen.“

„Doch – doch, – es ist so!“ bestätigte Toni. „Ich kann mich kaum irren. Ich hatte das Geld in meiner Brieftasche, und als ich heute zur Karten-“ Da schwieg sie plötzlich; da erst, als sie hatte ‚Kartenlegerin’ sagen wollen, tauchte in ihrer Erinnerung jäh wieder das Bild der auf dem Tisch ausgebreiteten Spielkarten auf: Erich, der neben der Schwarzen lag, und das Anhängsel dieser Schwarzen und der reiche Blonde und das die Lirum Klemens und die drei Kinderchen, – kurz, alles war ihr plötzlich wieder in äußerster Lebhaftigkeit gegenwärtig und veranlaßte sie, plötzlich aufzuspringen und hastig auf die Plattform hinaus zu eilen.

Der Wagen hielt gerade. Toni sprang kurz entschlossen ab und ging zu Fuß die Linden entlang der Friedrichstraße zu.

Denn unsere Geschichte spielt in Berlin. Unter den Linden kennt wohl jeder als die breite alte Prachtstraße der Reichshauptstadt.

 

 

2. Kapitel

Der Mann mit den elf Flammen

„Meine teure Auguste – Verzeihung, mein teures Fräulein Schacklist, – das Wort wird ‚ehmeh’ mit dem Ton auf der letzten Silbe ausgesprochen. – Also nochmals: aimer, ehmeh – lieben! – J’aime, schmäh – ich liebe –“

Fräulein Auguste Schacklist verdrehte die Augen vor Wonne. Endlich – endlich! Ein Mann hatte ihren Wert erkannt, dazu noch ein so bildschöner Mann wie Erich Köhler –! Und – er hatte ihr von lieben gesprochen!

Achtunddreißig Jahre waren vergangen. Und nun – nun nahte ihr doch noch ein etwas verspätetes Glück! Er hatte sie ja soeben in der Zerstreutheit ‚meine teure Auguste’ angesprochen! Das sagte genug; das bewies, daß sie für ihn nicht nur lediglich die Schülerin, sondern weit mehr war, – eben ein Weib, dem seine zärtlichen Gedanken gehörten.

Sie war feuerrot vor heiliger Erregung geworden. Denn alles, was mit Liebe zusammenhing, war für sie heilig. Sie paßte jetzt gar nicht mehr auf, als er ihr das französische aimer – lieben vorkonjugierte.

Nein – sie hoffte, daß er sich nochmals in dieser für sie so beglückenden Weise versprechen würde.

Und – er tat’s. Er hatte nun aimer in der Gegenwart erledigt, fuhr jetzt fort:

„Die Vergangenheit ‚ich liebte’ heißt – aber, aber, sie geben ja gar nicht acht, meine teure Auguste.“

Da – da hielt sie den Moment für gekommen, lispelte schämig:

„Warum nennen Sie mir immer so – so vertraulich ‚meine teure –’?“

Er ließ sie nicht ausreden. Er hatte sie so weit –! Und er begann nun den zweiten Teil des Programms.

„Warum – warum? Fragen Sie!“ rief er leise, aber voller Feuer. „Weil ich Sie liebe, Auguste! Weil ich eingesehen habe, daß nur Sie das holde Weib sind, das meine Persönlichkeit restlos zu ergänzen vermag.“ Er war aufgestanden. Er benahm sich wie ein Schmierenschauspieler bei einer Liebesszene. Aber für die achtunddreißigjährigen Jungfrauenaugen Augustes war er nichts als ein berückender Märchenprinz, – ihr Märchenprinz!

„Ich liebe Sie, Auguste!“ flüsterte er nun weiter und reckte die Rechte wie zum Schwur empor. „Ich werde nie aufhören, Sie zu lieben! Werden Sie mein angebetetes Weib, damit ich Sie liebevoll und fürsorglich durchs Leben tragen kann mit diesen meinen starken Armen, die noch keine Frau in Sehnsucht an meine Brust gedrückt haben!“ – ‚wenigstens noch keine so alte!’ fügte er in Gedanken hinzu, – „die nur Ihnen, meine teure Geliebte, beweisen wollen, welch ungebrochene Kraft in ihnen schlummert, die jeden Augenblick bereit sind, Sie zu den höchsten Wonnen dieses Daseins zu geleiten –“ Er schwieg, denn er mußte husten. Er vertrug das Flüstern nicht.

Auguste Schacklist erhob sich nun gleichfalls. In ihrem Herzen tobte ein Orkan von Empfindungen. Sie reckte sich höher, und ihre kleine, kugelrunde Gestalt mit dem geradezu ungeheueren Vorgebirge schien zu wachsen. Sie breitete die Arme aus, eilte um den mit Büchern bedeckten Tisch herum und flog dem schönen Erich an die Brust – mit solchem Übermaß von Leidenschaft, daß er das Gefühl hatte, ein prall gefüllter Mehlsack habe einen Angriff auf ihn unternommen.

Er taumelte etwas zurück! Als er das Gleichgewicht wieder erlangt hatte, beugte er sich zu Augustchens Mund hinab, dessen kurze Wulstlippen ihm begehrlich entgegenschmachteten.

Oh – dieser erste Kuß von einem bärtigen Mund, – von einem Mann, von – dem Verlobten –! Auguste schwebte im siebenten Himmel; ihr feistes Vollmondgesicht strahlte; und ihre Lippen hätten am liebsten die ihres heißgeliebten Erichs nie wieder frei gegeben.

Dieser Erich jedoch hatte durchaus keine Lust, von seinem gewöhnlichen Aktionsprogramm irgendwie abzuweichen. Nein – durchaus nicht! Und besonders nicht in diesem Fall, wo der andere Teil wirklich nicht allzu begehrenswert war.

Er suchte seine teuere, neue Flamme – es war Nummer elf, die Auguste, denn er führte ja ein sehr genaues Verzeichnis! – sanft von sich zu drängen, sagte dazu in einem Ton wie ein frommer Mönch etwa, der sich einer argen Versuchung entziehen will:

„Meine angebetete Auguste, laß es genug sein mit diesen ersten scheuen bräutlichen Zärtlichkeiten! Bedenke, daß ich nur ein schwacher Erdenpilger bin, der nur zu leicht vergessen könnte, wie weit er gehen darf! Bedenke, daß ich noch nie so heiße Frauenküsse gekostet –“ – Diese unverfrorene Lüge konnte er jedoch nicht beenden, da Auguste Schacklist inzwischen sich an die mahnenden Worte der um zehn Jahre jüngeren Kollegin Fränzi Menke erinnert hatte: ‚Kinder!’ hatte diese Fränzi vor acht Tagen im Garderobenraum des Telephonamtes Oberzentrum gesagt, ‚Kinder, heutzutage heiratet ein vermögensloses Mädchen nur nach dem modernen Rezept:

Küßt er dich und spricht von Liebe,

wecke schnell die stärksten Triebe.

Dann erst hast du ihn ganz fest,

wenn er Dein ist – ohne Rest Exempel

nur ein ‚ohne Rest-Exempel’

kriegt mit Sicherheit dem Ehestempel!

Daran dachte Auguste! Und – sie wollte hier sofort dieses ‚ohne Rest-Exempel’ zu berechnen anfangen, bevor noch eine Abkühlung nach diesem ersten Kuß eintrat.

Sie hielt den bildschöne Erich also weiter fest umklammert und flehte: „Noch einem Kuß, Geliebter – noch einen einzigen! Wirklich, Geliebter, du darfst – alles, alles wagen –“

Worauf der bildschöne Erich am liebsten gerufen hätte:

‚Ich will aber nichts wagen! Denn das wäre ein zu großes Wagnis! Wer garantiert mir dafür, daß ich nicht gegenüber der Überfülle deiner Reize kläglich mich blamiere?!’

Aber – er schwieg, dachte nur: ‚Donnerwetter, die ist ja geradezu gemeingefährlich! Da heißt es schlau sein!’ bewilligte den Kuß, schrie dann jedoch plötzlich leise auf:

„Oh – oh, – meine Migräne meldet sich. Das ist die Folge der süßen Erregung! Gewähre mir nur fünf Minuten Ruhe. Ich muß mich niederlegen –“

Er wankte zu dem Diwan hin, streckte sich darauf aus, schloß die Augen, machte ein Gesicht wie ein soeben in den unschädlichen Stand der Eunuchen Hineingezwungener und – hoffte, daß Auguste Schacklist nunmehr von ihm ablassen würde.

Weit gefehlt! – Auguste schwebte nur immer Fränzi Menkes Verslein wie eine Warnungstafel vor Augen. Schnell entnahmen sie ihrem Handtäschchen ein Büchschen Migränetabletten, die sie selbst sehr oft nötig hatte, wenn sie spät abends, nein spät nachts über einem Roman eingeschlafen war, der den Aufdruck trug

‚In Deutschland bisher verboten!’

Und wenn sie dann morgens nach sehr anregenden und sehr unkeuschen Träumen mit Kopfweh erwachte.

Kaum hatte der bildschöne Erich erkannt, daß er den Tabletten kaum entgehen würde – und er verabscheute all diese Präparate gründlich! – als er auch schon angeblich eine wesentliche Besserung verspürte.

Der Ärmste! Kaum war diese frohe Botschaft dem unvorsichtigen Munde entflohen, als Augustchen sich auch schon neben ihn auf den Diwan setzte. Und wie jede Tat nach dem bekannten Dichterwort ‚fortzeugend Böses muß gebären,’ so erlebte nun auch der vielgeliebte Erich hier Dinge, die er kaum für möglich gehalten. So rächte sich die Liebeserklärung, von der er sich diesen Erfolg wahrlich nicht versprochen hatte!

Sehr bald sah er ein, daß hier die 38 Jahre weit schlimmer als zweimal neunzehn waren! – Es half ihm alles nichts! Wenn er Augustchen nicht argwöhnisch machen wollte, mußte er sich fügen – ihren Wünschen fügen!

Er – fügte sich! Ach, es wurde ihm nicht leicht, hier den nunmehr in Flammen stehenden Liebhaber gefühlsgetreu zu spielen! Nein – es bedurfte seiner ganzen Gerissenheit auf diesem Gebiet, um so zu tun, als ob er ihr kniefällig danke, weil sie so verschwenderisch leichtsinnig in ihren Liebesbeweisen war.

Jedenfalls – Auguste Schacklist siegte! Es wurde ein ‚ohne Rest-Exempel!’, und Erich hätte nun als Ehrenmann die Pflicht gehabt, mit seiner elften Flamme schleunigst den Weg zum Standesamt anzutreten. Als Augustchen ihm dies unter einigen schämigen Tränen ‚durch die Blume’ nahelegte, sprach er sehr betrübt von seinen während des Krieges abhanden gekommenen Personalpapieren, die doch vorher wieder beschafft werden müßten.

Nun – die elfte Flamme war zufrieden, wollte gern noch acht Wochen warten und verabschiedete sich schließlich mit einem endlos langen Kuß und den geflüsterten Worten:

„Morgen – auf Wiedersehen! Ich nehme jetzt täglich französische Stunden bei dir, Geliebter! Täglich mußt du mir zeigen, daß ich wirklich die restlose Ergänzung deines ich’s bin –“

Was bei dem bildschöne Erich das Gefühl der Übersättigung bis zu leiser Übelkeit steigerte –: weshalb er auch nach Augustchens Verschwinden sofort zwei Eierkognak und einen Magenbitter trank; weshalb er ferner Augustchen Schacklist zu allen Teufeln wünschte.

Dann setzte der Herr Privatlehrer Erich Köhler sich an seinen Schreibtisch und nahm sein Geheimbuch vor, in das er unter Nr. 11 eintrug:

Auguste Schacklist, etwa vierzig, sehr lebhaftes Temperament, vorsichtige Behandlung nicht mehr nötig. –

Anrede: Meine Teuerste oder teuerste Auguste.

Dies genügte. Bei anderen Nummern war weit mehr hinzugefügt. Das waren eben die, bei denen erst die einleitenden Geplänkel stattgefunden hatten. –

Warum der bildschöne Erich diese Liste überhaupt führte?

Ja – weil er ein fabelhaft schlechtes Gedächtnis hatte und weil man elf Bräute oder halbe Bräute mit all ihren Eigentümlichkeiten und besonders mit dem Grad der bereits bestehenden Vertraulichkeiten kaum genügend auseinander zuhalten vermag, um nicht mal einen taktischen Fehler zu begehen, der sehr üble Folgen haben konnte. –

Erich Köhler hatte genau so viel Recht, diesen Namen zu führen, wie die Vortänzerin der Witwenbälle in den Bacchanten.Sälen Berlin N. sich etwa geprüfte Anstandslehrerin oder Verbreitern des guten Tones nennen durfte. – Er hatte sich eben vor etwa drei Monaten so getauft, weil ein glücklicher Zufall ihn im Obdachlosenasyl Papiere auf diesen Namen in die stets zugriffbereiten Hände gespielt hatte.

Anders verhielt es sich mit seinem Beruf. Er hatte wirklich einmal neuere Sprachen studiert, war dann aber infolge einer nicht zu zügelnden Vorliebe für die Mäntel seiner Kommilitonen, die er aus der Universität in edler Fürsorge mitnahm und in einem Leihhaus gegen Mottenschaden sicher aufheben ließ, gezwungen worden, sich allmählich gänzlich auf die sogenannte schiefe Bahn zu begeben, die für die ganz Schlauen, die sich nicht abfassen lassen, ein recht bequemer Lebensweg ist. Bisher hatte er denn auch ein geradezu unverschämtes Glück gehabt. Viermal hatte er vor dem Schöffengericht oder der Strafkammer als Angeklagter erscheinen müssen. Und stets hatten die Richter ihn aus Mangel an Beweisen freisprechen müssen – stets! Denn – gegen seine Gesiebtheit kam kein Staatsanwalt auf, zumal er es noch schwarz auf weiß hatte, daß er von Geburt her erblich belastet sei: Dämmerzustände, zeitweise Ausschaltung der freien Willensbestimmung – und so weiter.

Nach dem Kriege, den er in absoluter Bombensicherheit in Holland mitgemacht hatte, legte er sich zunächst auf Bettelei im großen als taubstumm gewordener Offizier. Dann degradierte er sich zum Gemeinen, gewann Sprache und Gehör wieder, litt nun aber vormittags von 10 bis 2 und nachmittags von 5 bis 8 als ‚Verschütteter’ an Kopfschlackern und Nervenzuckungen, Künste, die er auf dem Potsdamer Platz mit einem Tagesreingewinn von achtzig bis einhundertundzwanzig Mark produzierte. Als dann leider die verdammte Polizei sich langsam wieder auf ihre Pflicht besann und diesen Kriegsbeschädigten etwas das Handwerk verpfuschte, da ging es ihm eine Weile sehr jämmerlich, bis er als Erich Köhler und gleichzeitig als Teilhaber eines lohnenden Fabrikunternehmens das Obdachlosenasyl verließ und – Sprachlehrer wurde.

Inwiefern dieser anständige Beruf mit der Fabrik zusammenhängt, wird die Zukunft lehren. –

Erich Köhlers Zimmer hatte einen besonderen Eingang, zwei Fenster, einen kleinen Balkon und eine ganz nette Einrichtung. Es machte einen grundsoliden Eindruck, genau so wie der Inhaber, der es ja stets verstanden hatte, den stillen, ruhigen, schlicht bürgerlichen Gebildeten zu markieren.

Kaum war er mit seinen Notizen fertig, als es klopfte und ein Herr eintrat, dessen Wiege fraglos in Budapest oder sonst wo im schönen Ungarnlande gestanden hatte, wie schon die Begrüßung verriet.

„Servus, Freinderl,“ rief der sehr elegant gekleidete, sehr schwarze Besucher. „Servus! Wie ist derr Beffinden von dir?“

Baron Alexander von Fötzönis Adel war neueren Datums und insofern besonders wertlos, als er selbstverliehen war. Die letzten fünf Jahre etwa hatte der Baron auf einem Schloß in Österreich gelebt, – einem zur Strafanstalt umgebauten Schloß. Natürlich war er unschuldig dorthin geraten. Er sollte ein Dutzend Wechselunterschriften gefälscht haben. Der reine Unsinn! Er hatte sich damals eben zufällig Graf von Schalksdorf genannt, und zufällig existierte wirklich ein echter Graf dieses Namens, und zufällig –

Doch dies spielt hier in unserer dem Leben abgelauschten Geschichte nur eine Nebenrolle und soll daher nicht noch näher erörtert werden. Jedenfalls war der Baron mal früher ebenfalls Student, allerdings der Chemie, gewesen, und hatte gleichfalls dann die Gleitbahn des Lebens betreten, auf der er aber dank seiner vielseitigen Fähigkeiten bisher nur aufwärts statt abwärts gerutscht war.

Die Kompagnons – diese Bezeichnung deutet an, daß der Baron gleichfalls an der Fabrik mitbeteiligt war – hatten sich herzlich die Biedermannshände geschüttelt und begannen nun flüsternd eine geschäftliche Besprechung, die der Ungar mit den Sätzen einleitete:

„Der letzte Papier warr widder zu dick fir den Zweck. Da muß man widder erst allens rreiben und behandeln mit die Schmutzbirste.“

„Stimmt!“ nickte der Bildschöne. „Auch ich hab’s bemerkt. Lieferst du noch mal so ‘n Dreck, dann geh’ allein damit hausieren.“

Der Baron steckte die Grobheit ruhig ein.

„Wirr missen besorgen andere Papier, Freinderl. Und wenn ist besorgt, dann noch ein ganz grosse Coup, und wir sind gemachte Leite.“

„Spaß – großen Coup?! Leicht gesagt! Woher die Gelegenheit nehmen?“

„Oh – Gelegenheit is schon da, Freinderl.“ Der Baron grinste selbstgefällig. „Noch heite wird zu dir kommen eine Damme, eine serr scheene Damme, die ich hob gelernt kennen gestern bei dem Geheimrat – Geheimrat – hm – nun is sich mir weggefallen der Namme.“

„Entfallen,“ korrigierte der Sprachlehrer.

„Geheimrat – Geheimrat? – Hilf mir, Freinderl, – der Namme klingt a bißerl jidisch –“

„So?! – Vielleicht Pinkus, Levy, Seligsohn, Itzig, Schmuhl, Veitles, Aron, Kohn –“

Der Baron schüttelte den Kopf. „Nein – war sich ein Tier dabei –“

„Na – dann: Löwenstein, Wolfsberg, Katzenstein –“

„Gut – gut, – Wolfsberg, Geheimrat Wolfsberg, der sich is der Vorstand vom Verein fir Volksaufklerung –“

„Na wenn schon! Volksaufklärung! Auch ‘n Amt! – Und die Dame?“

Alexander von Fötztöni schnalzte mit der Zunge.

„Freinderl – eine Venus, eine Gettin, eine Scheenheit ersten Ranges! Wietwäh –“

„Was“

„Nu – Wietwäh –“

„Ach so – Witwe!“

„Ja – Wietwäh – reicht, Jugend, nurr eine Sprosse.“

„Sprößling meinst du.“

„Mein’ ich Sprößling – gut! Nurr einen hot sie. Haißt Frau Thea Humbert –“

„Ei verflucht! Humbert! Mensch, Baron, – schon faul! Humbert – du weißt doch, das war die Pariser Millionenschwindlerin, die ‘n Geldschrank und darinnen einen Hosenknopp hatte und mit Hilfe dieser beiden Besitztümer die Leute um Tausende und Abertausende neppte!“

„Weiß ich! Diese unserre Humbert besitzt auch Geldschrank, aber keine Hosenknopp –“

„Na na! Garderobengeheimnisse dürfte sie dir kaum schon anvertraut haben. Oder stets du etwa mit ihr bereits in Beziehungen, die derartige intime Einzelheiten –“

„Freinderl, du bist verrickt!“ fiel ihm Fötztöni scharf ins Wort. „Es es eine Damme, du! Eine Damme ohne jedde Fragwidrigkeit. Ihr Mann war Professor derr Viehlosofieh in Genf und um vierzig Jahre ehlter als sie und is gestorben an Gehirnverweichlichung –“

„Erweichung –“, korrigierte der Bildschöne.

„Bleibt sich eggahl, Freinderl. Jeddenfalls is derr Sprößling von ihm, trotz den Altersverschiddenheit, denn er hot ebbenfalls bereits –“

„Etwa Gehirnerweichung?“

„Nein, Freinderl, – mit acht Jahre hot er geschribben eine wissenschaftliche Abhandlung ibber ‚Die Geschlechtsnot der ehelosen Frau’!“

„Donnerwetter! Allerhand Achtung! Das nennt man geistige Reife.“

„Die Frau Thea Humbert besitzt etwa zwei Millionen Vermeggen. Und –“

Das weitere flüsterte der Baron so vorsichtig, daß es gerade nur Erich Köhler verstehen konnte.

Als Fötztöni seinen Plan entwickelt hatte, atmete der Bildschöne tief auf und sagte:

„Du – die Sache gefällt mir! Wenn’s gelingt, sind wir jeder für fünf Jahre aus allem Dalles heraus, denn ich gedenke jährlich dann einhunderttausend Mark auszugeben. Du mußt nun also sehr fleißig sein, edler Baron, – denn eine runde Million zu fabrizieren, das ist immerhin ‘n Stück Arbeit!“

„Wird geschehen! Kleinigkeit! Hob’ ich doch in letzte Tagge bis zu dreihundert Nummern gemacht –“

„Janz nette Leistung für ‘n einzelnen Mann!“ lobte Köhler und fügte hinzu: „Wann kommt denn die Frau Humbert zu mir?“

„Geggen finf Uhr. – Heiligge Eidoxia von Ofenpest – is ja bereits fünf Uhr! Freinderl – ich ziehä mir zurick. – Servus – Widdersehn! – Also – serr vorsichtigg, Freinderl, – weißt du ja nu Bescheid.“

 

 

3. Kapitel

Die Schwarze mit’s Anhängsel

Und der schöne Erich war wieder allein. – Er begann sofort mit den Vorbereitungen für den Empfang der Frau Thea mit den zwei Millionen.

Sie wollte englische Stunden bei ihm nehmen. Fötztöni hatte ihn ihr empfohlen – vorgestern bei Geheimrat Wolfsberg. – Ja – der Baron verstand’s! Der fand den Eingang in die jetzt feinsten Kreise. Der trug kein Monokel. Oh nein! Monokel waren nur noch für junge Schieber und Kinoschauspieler ‚vornehmen’. Der ‚alte’ Adel trug jetzt Hornbrille mit runden Gläsern. So auch Fötztöni. – Ja – von ihm konnte man sehr viel lernen. Der hatte Glück gehabt! Der hatte in dem österreichischen Schloß die fünf Jahre über einen Zellengenossen gehabt, einen leibhaftigen Grafen! Und von dem hatte er sich all die Feinheiten wahrer Adelsmenschen angeeignet, denn zu denen hatte der Graf noch immer gehört, obwohl er wegen allzu stark ausgeprägter Kinderfreundlichkeit ‚im Rückfall’ sechs Jahre aufgeknackt bekommen hatte.

Der bildschöne Erich wusch, parfümierte, lackierte die Hände bzw. die Fingernägel, tat einen um eineinhalb Zentimeter höheren Kragen und eine andere Krawatte um, puderte das Gesicht ganz leicht mit ‚Puder, bräunlich’ über, wie ihn sonnengebräunte Herren benutzen, räumte im Zimmer schnell noch auf und rief dann, als es nun schüchtern klopfte, mit einigem Herzpumpern „Herein!“ – Denn es handelte sich ja schließlich um eine Million hier, also Grund genug, etwas unruhig zu sein.

Aber – es war nur das Töchterchen seiner Wirtsleute, des Rechnungsrat Möller’schen Ehepaares; es war Tonichen, die soeben von der Schmudicke kam und nun in ihrer Herzensangst sofort zu ihrem Erich eilte, um sich hier persönlich zu vergewissern, daß ‚die Schwarze mit dem Anhängsel’ ihr den Liebsten noch nicht geraubt hatte.

Der schöne Erich war enttäuscht, ließ sich jedoch nichts merken, sondern rief scheinbar ungeheuer beglückt:

„Ah – meine kleine Muse! Tag, liebes Tonichen, – nett, daß Sie mal nach mir armem, geplagtem Menschen sehen! – Aber – Sie schaun ja so betrübt drein, Tonichen?“ Er hatte ihre Hände in die seinen genommen. „Wie – und gar Tränen in den lieben Augen?! Aber – aber! Was ist denn geschehen, daß Sie –“

Da schluchzte Toni laut auf. „Ach – ich – ich bin so unglücklich! Ich – ich – habe so – so schlechte Nachrichten erhalten.“ – Die Wahrheit – die Schmudicke! – wollte sie doch nicht eingestehen.

Der schöne Erich hatte es bisher sehr schlau zu vermeiden gewußt, daß dies kleine Schäfchen von Toni zu ihm in vertrautere Beziehungen trat. Es hatte sich erübrigt; das Geschäft war auch so gegangen. Und – wo’s nicht unbedingt nötig war, schonte Erich Köhler sein Herz.

Jetzt, wo Tonichen weinend im Plüschsessel saß, konnte er nicht gut anders, als etwas zärtlicher zu werden. Er streichelte ihre Hand und meinte:

„Schlechte Nachrichten? – Ja – über wen denn?“

Sie weinte stärker. – „Über – über Sie!“ platzte sie dann heraus.

Er wurde sofort mißtrauisch. Als Teilhaber einer solchen Fabrik muß man jederzeit argwöhnisch sein und auf dem Sprung stehen – nämlich schleunigst zu entwischen! Jedenfalls mußte er erfahren, was Toni mit diesen ‚Nachrichten’ eigentlich meinte. – Er küßte ihre Fingerspitzen, küßte den Handrücken, das Handgelenk. Er wußte – das wirkte unfehlbar. Und dann bat er, sie solle ihm alles anvertrauen.

„Liebes Tonichen, Sie wissen ja, wie wir zueinander stehen,“ flüsterte er zärtlich. „Wenn ich erst so viel Einkommen habe, daß ich auch ein süßes Frauchen mit ernähren kann, dann –“

Tonis Tränen versiegten – sie fühlte alle Zweifel schwinden – alle! Und – sie stotterte nun mit holdem Lächeln eine kleine frei erfundene Geschichte heraus von einer Freundin, die ihr Karten gelegt und ihr prophezeit habe, sie würde eine schwere Herzensenttäuschung erleben.

Erich, der Bildschöne, hatte indessen zum ersten Mal infolge Tonichens halsfreier Sommerbluse und vornübergebeugter Haltung sich überzeugen dürfen, daß bei Tonichen alles absolut echt war – alles, – daß sie kein Patentmieder Marke ‚Blusentrost’ trug und bei der Fülle auch nie zu tragen brauchte. – Und weiter hatte er nach dem vorhin mit Augustchen durchgemachten Intermezzo und nach den zwei Eierkognaks und dem Magenbitter geradezu einen Heißhunger nach jüngeren, frischeren und weniger entgegenkommenden Lippen. Schließlich war ihm auch noch ein Stein von gehörigem Gewicht vom Herzen gefallen, als Toni ihm nun bewiesen, daß er keinen Grund hätte, etwa – auf dem Sprünge zu stehen.

Und aus all diesen Gründen heraus überkam ihn eine gewisse gebefreudige Stimmung, die mit seiner sonst geübten Zurückhaltung den ‚Kundinnen’ gegenüber nicht in Einklang stand. – Er beugte sich noch tiefer und – wollte gerade den ersten Kuß auf Tonichens Rosenmund drücken, als – es klopfte.

Himmel – die zwei Millionen! Die hatte er ja ganz vergessen gegenüber dem Anblick der zwei jeden ‚Busentrost’ entbehrlich machenden zarten Gebilde!

„Eine neue Schülerin, liebes Tonichen!“ flüsterte er hastig. „Es könnte einen schlechten Eindruck machen, wenn Sie hier so grundlos bei mir gewesen wären. Ich werde Sie also der Dame als eine Schülerin vorstellen.“

Dann rief er „Herein!“ Und – über die Schwelle rauschte nun eine pompöse Gestalt – rauschte! Da mußte alles Seide sein, was man nicht sah – alles!

Erich, der Mann mit den elf Flammen, verbeugte sich tief. – „Gnädige Frau, – ich irre wohl nicht, – Frau Professor Humbert? – Mein Gönner, Baron Fötztöni, hat mir bereits die freudige Mitteilung gemacht, daß gnädige Frau –“

Der schöne Erich war ganz hin von dieser neuen Schülerin und trug seine Phrasen mit einem Schwung vor, der sofort in Tonichens eifersüchtigem Herzen allerlei Unkraut aufschießen ließ. Als sie nun der Frau Professor vorgestellt wurde, als diese den kostbar gestickten Schleier über den Hutrand hochhob und so ihr schwarzes Haar zum Vorschein kam, des weiteren auch ihre starken, schwarzen Augenbrauen, langen Wimpern und tiefdunkeln großen Augen, die aus einem geradezu kunstvoll zurechtgeschminkten Gesicht von sehr pikantem Reiz leidenschaftlich hervorleuchteten, da ging dieses Unkraut in Tonichens Herz noch üppiger auf, da regte sich das Mißtrauen und der furchtbarer Verdacht, diese Schwarze könnte vielleicht ‚die’ Schwarze sein – die mit dem Anhängsel.

Unglücklicherweise begann der Bildschöne nun noch in seinen Phrasenschwall miteinzuflechten, daß der Baron ihm bereits von dem Wundersöhnchen der gnädigen Frau so staunenerregende Dinge erzählt habe.

Und – in demselben Moment ging es Tonichen wie ein Stich durch den Leib.

Die Schwarze! Kein Zweifel! – Oh – hier hieß es nun aufpassen. Das Unheil nahte, drohte! Am liebsten hätte sie hier den Tugendwächter gespielt. Aber das ging nicht gut; sie mußte sich verabschieden. Immerhin blieb ja noch ein Trost, das Nebenzimmer und die zugestellte Verbindungstür! Noch nie hatte sie daran gedacht, diese Tür zum Lauschen zu benutzen! Noch nie. So was tat Toni Möller nicht. – Doch unter diesen Umständen, wo sie ihre Liebe bedroht sah, war ihr alles gleich – alles!

Und – so ging sie denn, – ging hinüber in die elterliche Wohnung, die sie leer fand, Vater und Mutter machten ja um diese Zeit den gewohnten Spaziergang, und der Mieter des Nebenzimmers, der Herr Mittelschullehrer Gustav Pfännchen, war jetzt noch in der Universität, wo er als Hörer zugelassen war, da er zum Doktor der Philosophie promovieren wollte.

Tonichen huschte also in Pfännchens Zimmer. Dies war nur einfenstrig. Links vor der Tür nach Erich Köhlers Junggesellengemach stand ein Kleiderschrank. Es war für Toni eine Kleinigkeit, dieses Möbel so weit abzurücken, daß sie in das durch die Türfüllung gebildete Versteck hineinschlüpfen konnte. Ja – sie besaß Kräfte, das schlanke, hübsche, harmlose Mädel! Und deshalb konnte sie das Spind, in dem nur die drei ‚besseren’ Anzüge Pfännchens hingen, ebenso leicht wieder an den alten Platz ziehen. Dies tat sie für alle Fälle! Es war ja nicht ausgeschlossen, daß der blonde, freundliche Gustav, den die Eltern geradezu in den Himmel lobten, früher zurückkehrte, als die Schwarz drüben sich verabschiedete.

Toni Möller überlegte gar nicht, daß dieser Lauscherposten für sie eine böse Mausefalle werden konnte. Ihre Eifersucht machte sie unfähig, die Folgen dieses Spionierens richtig abzuwägen. Oh – sie begnügte sich jetzt auch nicht etwa damit, zu versuchen, durch die Tür einiges von dem Gespräch der beiden drüben aufzuschnappen. Nein – sehr vorsichtig drehte sie nun den von dieser Seite im Schloß steckenden Schlüssel um und drückte dann den Türgriff herunter. Sie wußte ja, in Erichs – ihres Erichs – Zimmer war vor dieser Tür eine Stoffdraperie1 angebracht, die an einer Stange mindestens fünfzehn Zentimeter von der Wand abhing.

Und nun – nun hörte sie jedes Wort, jedes Geräusch, konnte sich unschwer auch die Gesichter vorstellen, die ihr Erich und die ‚Schwarze’ bei diesem oder jenem Satz machten.

Sie hörte –! Und gleich die ersten dir Worte, die sie vernahm, genügten, ihr die helle Röte in die Wangen und eine namenlose Wut ins Herz zu jagen. –

Drüben hatte die pompöse Gestalt der Frau Thea Humbert in einer Ecke des Plüschsofas sich niedergelassen, während der schöne Erich rechts neben ihr im Sessel saß und so ganz bequem feststellen konnte, daß die gnädige zu den schicken Halblackschuhen seidene Florstrümpfe von dünstem Gewebe trug, daß der Enkel2 tadellos und das Weitere entschieden sehr umfangreich war. Die Gnädige hatte nämlich recht zwanglos ein Bein über das andere geschlagen und hatte auch sofort von ihren dunklen Glutaugen ausgiebigen Kokettiergebrauch gemacht.

‚Himmel!’ dachte der Vielbeflammte, ‚da hat mir ja der Fötztöni hier eine Nummer zugeschickt – eine Nummer! Donner noch eins! Das muß eine geborene Französin sein! Nur die schminken sich derart stark und gehen gleich so scharf ins Zeug!’

Und Tonichen hörte folgendes:

„Aber nein doch, Herr Köhler! Da hat der Baron mich ganz falsch verstanden. Die Abhandlung ‚Die Geschlechtsnot der ehelosen Frau’ hat mein Mann verfaßt – und nicht mit acht, sondern mit achtzehn Jahren auf Grund so gründlicher, persönlicher Studien, daß unsere Ehe stets mehr ein freundschaftliches Verhältnis blieb und ich froh war, als nach einer achtwöchigen Badereise meine Sehnsucht nach einem Kinde erfüllt ward. Übrigens muß ich noch einen zweiten Irrtum richtig stellen. Mein Gatte war nicht Universitätsprofessor, sondern Professor an der Berlitz-Schule in Genf und erteilte als geborener Spanier Unterricht in den romanischen Sprachen. – Sie sehen also in mir eine jener bedauernswerten Frauen vor sich, die während ihrer Ehe einen fortdauernden Kampf zwischen Pflicht und heißem Blut gekämpft hat.“ Ein langer Seufzer. „Ich habe in diesem Kampf gesiegt und bin meinem Mann treu geblieben, der mir nichts – nichts mehr bieten konnte, so gut wie nichts, und der dabei noch eifersüchtig wie ein türkischer Pascha war und mir dauernd derart nachspionierte, daß keiner meiner Verehrer je den Mut fand, sich unliebsamen Überraschungen auszusetzen, – Sie verstehen wohl!“

Und sie lächelte und funkelte den schönen Erich dabei derart an, daß dieser dachte: ‚Das werden ja nette englische Stunden werden! Ich danke! Dieser Fötztöni hat mir die Gemeingefährlichkeit dieser Berlitz-Professorswietwäh schlauerweise unterschlagen! – Nun – ich werde es darauf ankommen lassen! Ich komme dieser Thea keinen halben, nein keine viertel Schritt entgegen!“

„Ich verstehe, gnädige Frau!“ sagte er etwas kühl. „Der Kampf zwischen Pflicht und heißem Blut endete mehr mit einem Zufallssieg!“

„Sie – Sie Schäker!“ lachte die schwarze Thea. „Nun – Ihnen muß man viel verzeihen! Wer so – so stattlich als Mann ist, darf weiter gehen als für gewöhnlich erlaubt ist. Der Baron hat nicht zu viel gesagt: Sie sind ein Sprachlehrer, bei dem man sich schnell wohl fühlt!“

‚Donner – die kürzt das Verfahren gehörig ab!’ dachte der Vielbeflammte wieder. „Eigentlich müßte ich nun doch die Taktik ändern! Vielleicht läßt sich heute schon erreichen, was Fötztöni auf viele Wochen verteilen wollte. Ich werde ihr also doch entgegenkommen –!“

Er tat’s, indem er ihre Hand ergriff, einen feurigen Kuß darauf drückte und dann flüsterte: „Gnädige Frau, Sie werden es mir sehr schwer machen, Ihnen gegenüber nur Lehrer zu bleiben.“

„So?! – Sie sollen aber mein Lehrer sein. Sie gefallen mir! Und Sie sollen es – auch in anderen Dingen sein, und bleiben, solange Sie wollen.“ Abermals ein Seufzer wie aus den tiefsten Tiefen eines unbefriedigten Frauenherzens.

Und – abermals von seiner Seite einen Handkuß und ein geflüstertes: „Sie sind die reizendste meiner Schülerinnen, Frau Thea! – Oh – was tut nicht alles der besondere, prickelnde Charme der verheirateten Frau. Das ist wie der Duft einer vollerblühten Rose, wie der Trank aus einer geöffneten Sektflasche, wie ein köstlicher Bissen von –“

Das weitere konnte er sich sparen. Frau Thea Humbert hielt ihm mit kokettem Lächeln den Mund zu, worauf er sofort einen Kniefall wagte, seine oft erprobten Phrasen liebeglühend stammelte und von ihr dann sehr huldvoll durch einen Kuß belohnt wurde, – einen Kuß, wie Erich Köhler ihn nicht oft geküßt hatte –“

 

 

4. Kapitel

Der Blonde von der Straßenbahn

Arme Toni! – Alles, alles vernahm sie mit unheimlicher Deutlichkeit, was dort drüben geschah. Ihre Eifersucht kannte keine Grenzen mehr. Sehen wollte sie, daß all dies Gehörte auch wirklich Wahrheit, – sehen! Und so drängte sie sich halb durch die Tür, bohrte mit ihrer Nagelschere aus ihrem Handtäschchen rücksichtslos ein Loch in die Stoffdraperie und hatte nun das zärtliche Paar gerade vor sich, hatte Gelegenheit, Dinge zu beobachten, die ihr völlig neu waren, die sie einfach nicht für möglich gehalten!

Als einziges Kind ihrer Eltern, die sehr spät geheiratet hatten, war sie von diesen stets wie ein Augapfel gehütet worden. Sie selbst war allem Unreinen, Häßlichen abhold, teilte nicht jene Neigung vieler junger Mädchen, über das Liebesleben sich in recht zweideutigen Gesprächen zu unterhalten, war keuschen Sinnes aus natürlicher Herzensreinheit heraus. Als der wegen eines Gehörleidens pensionierte Rechnungsrat dann infolge der allgemeinen Teuerung gezwungen gewesen war, zwei Zimmer der Wohnung zu vermieten, hatte er sehr darauf gesehen, daß er nur ganz ‚solide’ möblierte Herren aufnahm, damit durch diese nicht etwa das Seelenheil seines Kindes irgendwie gefährdet würde. Gustav Pfännchen war in dieser Beziehung über jeden Zweifel erhaben und wohnte nun bereits ein halbes Jahr bei Möllers. Das Balkonzimmer jedoch hatte die Insassen häufiger gewechselt. Nun aber glaubten Rechnungsrats in der Person des Sprachlehrers einen ihrem Gustav Pfännchen etwa gleichwertigen Mieter gefunden zu haben. – Ach – das Ehepaar war ja so weltfremd, so menschenunkundig! Was wußten Möllers von einer Sorte von Herren, die auf falsche Papiere reisen, die auf der schiefen Bahn heiter und frech sich bewegen und Heuchler von Beruf sind.

Nein – selbst wenn der Herr Rat die Szene mit angesehen hätte, deren heimliche Zeugin nun sein Tonichen wurde, – auch er hätte gedacht, er träume nur höchst fragwürdige Dinge, – denn in seiner Ehe war es stets außerordentlich brav hergegangen! Alle heftigeren Zärtlichkeiten hatten sich bei Rats nur unter dem Schutz nächtlicher Dunkelheit abgespielt – stets! Und doch war diese Ehe ideal zu nennen, und doch war der Herr Rat noch heute in sein Trudchen manchmal ganz bräutlich verliebt.

Und jetzt – jetzt mußte die süße Frucht dieser keuschen Ehegemeinschaft mit ihren unschuldvollen Augen Sachen, Vorgänge – Intimitäten beobachten, die ihr zunächst die Glut der Scham in die Wangen trieben, bald aber andere Empfindungen und Gedanken in ihr weckten.

Inzwischen hatte nämlich der Bildschöne so berauschende Liebesglut von Frau Theas Lippen getrunken, daß er es für passend hielt, die gelben Fenstervorhänge zu schließen und die Tür abzuriegeln. –

Und dann – je wilder das Stöhnen nebenan wurde, dann schaute Toni eine ganze Weile nicht mehr durch das Guckloch; dann gingen in ihrem Herzen einige ihr selbst unverständliche Veränderung vor. Urplötzlich erkannte sie, was sie bis dahin sich als ernste Frage nie vorgelegt hatte, daß ihre Liebe zu Erich Köhler wohl doch mehr eine unreife Schwärmerei gewesen, hervorgerufen durch die Gespräche im Garderobenraum vom Amt Oberzentrum, dessen Mädels bald sämtlich für Erich Köhler genau so ziellos geschwärmt hatten, wie sie von Frau Anastasia Schmudicke Pythiatalenten felsenfest überzeugt waren. –

Ja – es war wohl bei dieser Schwärmerei ein gut Teil Eitelkeit dabei gewesen, die törichte Eitelkeit aller Mädchen, den Mann für sich zu erobern, der von vielen angehimmelt wird. Jetzt, wo Toni sich dies kühlen Verstandes überlegt hatte, geradezu angewidert durch die heuchlerische, schamlose Bereitwilligkeit dieses Mannes, mit der er einem begehrlichen Weibe entgegenkam, – jetzt schwand aller Schmerz, alle Eifersucht aus ihrer Seele; wie befreit fühlte sie sich. Und in demselben Augenblick zog sie auch schon die Tür behutsam zu und drehte den Schlüssel wieder um. Sie wollte nicht mehr die Horcherin spielen, wollte es nicht, weil Erich Köhler ihr völlig gleichgültig geworden.

Schon hatte sie den Kleiderschrank gepackt, um ihn abzurücken, als zu ihrem namenlosen Schreck – Gustav Pfännchen heimkehrte!

Sie war gefangen! Sie mußte bleiben, wo sie war.

Und das Schlimmste, er kam nicht allein! Er brachte Besuch mit. Einen Herrn, der nun sagte:

„Mein lieber Gustav, schau’ an wie gemütlich du’s hier hast!“

Diese Stimme – diese Stimme! – Toni mußte sie schon gehört haben. Aber wo nur – wo und wann?!

Sie stand regungslos. Sie dachte: ‚Wenn dieser Freund Pfännchens stundenlang bleibt, dann – dann halte ich’s nicht aus, hier so lange zu stehen. Dann werde ich ohnmächtig, dann – kommt alles an den Tag, und ich bin unsagbar bloßgestellt – als Horcherin.“

Ihr wurde ganz elend zumute. Und doch verwünschte sie den Gedanken nicht, der sie veranlaßt hatte, hier diesen Lauscherposten zu beziehen. Nein – sie war ja nun innerlich frei geworden von dieser lächerlichen Schwärmerei, von diesem unwürdigen Menschen, der vielleicht auch noch mit anderen Mädchen ein so unehrliches Spiel trieb wie mit ihr –

Gustav Pfännchen mit seiner goldenen Brille und dem schlichten Anzug war die Solidität in Personen. Aber er war nebenbei ein ganz stattlicher Mann, dem die Herzensgüte aus den blauen Augen strahlte und der bei seinen Schülern wegen seiner Gerechtigkeit und wegen seines feinen Verständnisses für die Regungen der heranreifenden Seelen überaus beliebt war. Mit seinen dreißig Jahren hatte er sich bereits eine tiefgründige Menschenkenntnis erworben. Nebenbei neigte er ein wenig zu einer romantischen Lebensauffassung, dichtete und schriftstellerte und kannte nur einen Ehrgeiz, es in seinem Beruf möglichst weit zu bringen. Sein Ehrgeiz war jedoch nicht von jener ungesunden Art, der jedes Mittel recht ist, ihn zu befriedigen. – Daß er jetzt scheinbar ganz zufällig mit seinem langjährigen Freund vor dem Haus zusammengetroffen war, freute ihn ehrlich.

Nochmals betonte er dies jetzt und drückte Horst Helmer kräftig die Hand. „Fünf Jahre haben wir uns nicht gesehen – eine endlose Zeit. Ich danke dir übrigens noch für deine Briefe und Karten. Du hast ja inzwischen die ganze Welt bereist. Du mußt köstliches gesehen –“

Er schwieg. Er hatte an des Schriftstellers Hand den glatten Goldreif bemerkt, fragte nun zögernd: „Hast du dich verheiratet, Horst?“

Elmar lachte. „Lieber Alter – weshalb dieses entsetzte Gesicht?! Bist du immer noch ehescheu, weil du fürchtest, du könntest die Unrechte erwischen?! Ja – ich bin verheiratet! Sogar sehr glücklich. Und noch heute abend sollst du meine Frau kennen lernen.“

Pfännchen gratulierte herzlich. Dann seufzte er tief auf.

„Lieber Horst, du sprachst eben von meiner Ehescheu,“ sagte er zögernd. „Ja – so ein Leben, wie du es geführt hast, das wäre mir eine Hölle gewesen –“

„Eine süße Hölle!“ warf Helmer gutgelaunt ein. „Denn diese Teufelinnen von Weibern können wirklich viel Süßes spenden. Frauenliebe ist ja überhaupt – doch davon verstehst du nichts! Ich nehme wenigstens an, daß dir noch immer die Tugendrose der Keuschheit gebührt. Oder solltest du inzwischen –“

Pfännchen streckte abwehrend die Hände aus. „Nein – nein, ich bin der Alte geblieben, Horst!“

„Schade! Wenn du mal die Rechte findest und heiratest, wirst du’s bereuen. Ich kenne eine Dame, die ebenfalls einen gänzlich unberührten Mann heiratete, die erst selig in dem Gedanken war, daß er ihr vollständig gehörte, die dann aber in und nach der Brautnacht bittere Tränen weinte, da ihr Herr Gemahl wegen mangelnder Sachkenntnis sich scheute, sich ihr liebend zu nähren. Du verstehst! Er fürchtete, sie zu verletzen, sie zu kränken, wagte daher nichts – gar nicht! Stell’ dir vor – zwei Wochen lang! Bis die junge Frau sich der Mutter anvertraute, diese wieder ihren Mann scharf machte, und der Herr Schwiegervater dann den Herrn Schwiegersohn ins Gebet nahm, ihn geradezu fragte, ob er etwa nur dem Anschein nach ein Mann sei oder ob er gar Angst habe, seine Gattenrechte geltend zu machen. – Du kannst dir denken, wie scheußlich peinlich diese Aussprache für den Tugendbold war. Besonders peinlich, da der Schwiegerpapa erklärte, falls die Ehe nun nicht sofort im Sinne des Wortes eingeleitet würde, dann müßte seine Tochter die Scheidung beantragen. Worauf der arme Schwiegersohn ganz verstört heimeilte und – sein allerliebstes Frauchen, das nebenbei bemerkt ein heißblütiges Rackerchen war, angeblich krank im Bett vorfand, angeblich geplagt von furchtbarem Leibweh, das angeblich nur durch heiße Kompressen zu beseitigen sei. Na – der keusche Joseph mußte dann also die Kompressen auflegen, sah und ertastete dabei so allerlei, was ihm bis dahin fremd, und – riegelte plötzlich das Schlafzimmer ab, erfaßt von einer Tollkühnheit, die auch die besten Früchte trug. Nach genau neun Monaten einen strammen Jungen! – Diese Geschichte ist wirklich passiert, mein lieber Alter! Und die Moral: Ein keuscher Mann kann seinem jungen Weibe nur zu leicht das ganze Eheglück verderben! – Gewiß – man soll kein Wüstling sein, aber man tut gut, wenigstens die Anfangsgründe der Kunst zu lieben vorher zu lernen!“

Gustav Pfännchen schaute ernst drein, seufzte, seufzte nochmals und platzte dann heraus: „Horst – ich liebe! Ich glaube die gefunden zu haben, die für mich paßt, – ein reines, holdes Mädchen, ein entzückend harmloses, hübsches Geschöpf! Aber – ich warte bisher vergeblich auf Gegenliebe. Mehr noch, meine süße Toni, die Tochter meiner Vermieter, himmelt einen Menschen an, der ein alberner Geg ist, der sich sogar – pudert! Stell’ dir vor – pudert! Es ist mein Zimmernachbar, ein verkrachter Student, ein sehr fragwürdiges Subjekt, nach dem die Weiber aber rein toll sind. Weiß Gott, wie er’s anfängt, daß sie ihm das Haus einlaufen! Er hat wohl ein Dutzend Schülerinnen, alles Telefonfräuleins, die wohl sämtlich hoffen, ihn für sich allein erobern zu können. So sind die jungen Mädchen von heute nun einmal! Bilden sich ein, ein Mann würde sie heiraten, wenn sie sich ihm aufdrängen! Ach – das wäre mir ja sehr gleichgültig, wenn nur eben nicht auch Toni Möller zu diesen Törinnen gehören würde!“

„Hm!“ machte der Schriftsteller nachdenklich. „Beschreibe mir doch mal diese Toni. Ich bin da nämlich hier bis vor dein Haus einem Mädchen ‚nachgeschlichen’, daß in der Straßenbahn neben mir saß und daß plötzlich vor mir geradezu flüchtete, – wie ich annehme eines falschen Fünfzigmarkscheins wegen. Sie schien mir kein ganzes reines Gewissen zu haben, und da ich selbst letztens mit nicht weniger als fünfzehn dieser Falsifikate angeschmiert worden bin, wollte ich so ein wenig auf eigene Faust den Detektiv spielen. Ich glaubte, das Mädchen könnte vielleicht mit zu einer Banknotenfälscherbande gehören.“

Pfännchen war unruhig geworden. Hier im Hause wohnte nur ein einziges junges Mädchen – Toni! Und Toni sollte –, Nein, das war der helle Unsinn! – Etwas zögernd schilderte er der Geliebten Aussehen. Sehr bald unterbrach Helmer ihn.

„Sie ist’s ohne Frage! – Natürlich ist mein Verdacht jetzt hinfällig. Immerhin würde ich Fräulein Toni ganz gern einmal nochmals des falschen Scheines wegen ausforschen. Sie kann ihn nicht von der Kasse bei der Gehaltszahlung empfangen haben – unmöglich ist das!“

Pfännchen erklärte da sehr lebhaft, es seien jetzt doch gerade von Fünfzigmarkscheinen so zahlreiche Fälschungen im Umlauf, daß es ihm selbst schon passiert sei, von der Behörde Falsifikate erhalten zu haben. „Einer einzelnen falschen Banknote also nachzuspüren, ist ziemlich aussichtslos,“ fügte er hinzu. „Wenn du aber Wert darauf legst, wird sich eine Unterredung mit Toni schon herbeiführen lassen. Ich verkehre ja mit ihren Eltern ganz zwanglos, die mich sicherlich als Schwiegersohn herzlich willkommen heißen würden. Nur – Toni bin ich gleichgültig! Ach – und wie sehr ich darunter leide – wie sehr! Ich liebe sie ja so ehrlich – haben noch nie etwas für ein Weib empfunden! Den Himmel auf Erden würde ich ihr bereiten, unsere Ehe würde wie ein Traumglück sein, und –“

„Halt stopp! Komm auf die Erde zurück!“ rief der Schriftsteller da. „Du redest Dinge, von denen du nichts verstehst! Zu einem Traumglück, mein Lieber, gehören die notwendigen gemeinsamen trauten Nächte, und du – du siehst mir ganz so aus, als ob auch du vor lauter Ehrfurcht vor der Reinheit deiner Erkorenen mindestens vierzehn Tage lang auf Leibschmerzen und Kompressen warten würdest.“

Pfännchen schwieg ernst, erwiderte dann sehr kleinlaut:

„Eigentlich – eigentlich hast du gar nicht so unrecht. Ich sehe das jetzt ein. Vielleicht werde ich lediglich in Rücksicht auf Tonichen, der, wie ich hoffe, der Gepuderte bald über sein wird, von meinen Grundsätzen abweichen und – und –“ Er errötete – wahrhaftig, er errötete, verstummte und schaute zu Boden.

Helmer lachte. „Gustav, Gustav, – du renommierst ja!“

„Warten wir ab!“ erklärte Pfännchen mit unheilverkündender Miene. „Sobald ich merke, daß Toni mir gegenüber etwas wärmer wird, werde ich für alle Fälle – auch wärmer werden, irgendeiner anderen gegenüber, die nichts dagegen einzuwenden hat, mir gegen angemessenes Honorar ein paar ‚diesbezügliche’ Unterrichtsstunden zu erteilen.“ –

*

Armes Tonichen! Arme Horcherin! Wenn je die ganze Torheit ihres kleinen Mädchenherzens ihr klar zum Bewußtsein gekommen war, so geschah es jetzt! Sie erkannte, was sie von sich gewiesen, als sie die zarten Huldigungen des braven Pfännchen absichtlich übersah! Eines elenden Betrügers wegen hatte sie diesen ernsthaften Bewerber mutlos gemacht, den doch ihre Eltern ihr stets als das Muster eines guten Ehekandidaten hingestellt hatten. – Mehr noch erkannte sie in dieser Stunde innerlicher Abrechnung, daß die scheinbar freundschaftlichen Gefühle, die sie Pfännchen entgegengebracht hatte, doch nichts anderes gewesen waren als der Beginn einer tiefen Seelenneigung! – Ihre zwanglose Vertraulichkeit gegenüber dem gesetzten, in sich gefestigten Manne war doch aus einem heißeren Quell entsprungen, als lediglich aus dem einer harmlosen, wunschlosen Freundschaft! Das fühlte sie so recht in dem Augenblick, als Pfännchen sich entschloß, – für alle Fälle seine Grundsätze zu ändern!

Arme Toni! Bei dem Gespräch der Freunde war ihr immer wieder die helle Röte ins Gesicht geschossen. Vieles hatte sie ja mit angehört, was genau so wenig für Mädchenohren bestimmt war wie die unglaublichen Szenen vorhin in Erich Köhlers Zimmer! – Jetzt aber beherrschte Toni nur ein Gedanke, der, daß Gustav Pfännchen seiner Reinheit opfern wolle, um – um nicht als gänzlicher Neuling zu heiraten – sie zu heiraten, sie, Toni Möller, die er liebte! Nein – das durfte nicht sein – um keinen Preis! Niemals sollte er sich wegwerfen an irgend ein käufliches Geschöpf – niemals! Sie mußte dies verhüten, selbst wenn –

Da erst fiel ihr auf, daß es in Pfännchens Zimmer ganz still geworden war. Sie hatte in den letzten Minuten auf das Gespräch der beiden nicht mehr geachtet; in ihrem Herzen hatte nur die Angst gelebt, dieser brave, edle Mensch könnte ihretwegen etwas tun, daß er ja doch selbst bald bitter bereuen würde.

Ja, – die Freunde mußten das Zimmer verlassen haben! Nichts regte sich; sie hatte ja auch gehört, wie die Tür geöffnet und geschlossen wurde.

Sie zauderte jetzt keine Sekunde! Sie packte den Schrank, schob ihn zurück, drückte sich durch den Spalt hindurch und –

Das saß am Fenster ein Herr – Helmer! Und der Herr hatte jetzt das Buch, in dem er gelesen hatte, in den Schoß sinken lassen.

Toni stieß einen leisen Schrei aus; erstarrte dann zur Bildsäule; bis – bis sie zu – weinen begann, vor Scham, vor namenloser Scham!

Aber Horst Helmer zeigte, daß er der Situation gewachsen war. Er stand schnell auf.

„Ah – Sie haben sicherlich dort hinten Staub wischen wollen, mein Fräulein,“ sagte er völlig ernst. „Gestatten Sie, daß ich den Schrank wieder an die alte Stelle schiebe! So, das wäre erledigt – Helmer ist mein Name. Ich freue mich, hier Ihre persönliche Bekanntschaft machen zu dürfen. Pfännchen ist nebenan zum Zigarrenhändler gegangen. Er selbst raucht nicht. Er wollte für mich ein paar Zigaretten holen. – Nehmen Sie doch Platz, Fräulein Möller. Sie brauchen nicht zu fürchten, daß Gustav je erfährt, was wir jetzt als kleines Geheimnis zwischen uns treu bewahren wollen. Sehen Sie, ich bin ja ein verheirateter Mann, bin Gustavs Freund. Mir könnten Sie wohl anvertrauen, weshalb Sie gerade dort heute – Staub wischen wollten, dort zwischen Schrank und Tür.“

Toni hätte nie geglaubt, daß man zu einem fremden Herrn so schnell Zutrauen fassen kann. Aber Helmers gütige Art ließ sie schnell in ihm einen wohlmeinenden Bundesgenossen erwarten. Sie beichtete alles in überstürzter Hast ohne aufzublicken, – alles, angefangen von der Schmudicke bis zu Thea Humbert, wobei sie freilich sehr vieles unterschlug. Daß diese Beichte nicht ohne einige Tränen abging und das Tonichen auch nur andeutete, in welcher Weise sie ihr Herz nun entdeckt habe, ist selbstverständlich.

Dann begann Helmer zu fragen, wollte allerlei über Erich Köhler wissen. Und da kam so manches zu Tage, was eine der Schülerinnen des Herrn Sprachlehrers der anderen unter dem Ziegel tiefster Verschwiegenheit mitgeteilt und was Toni wieder von Fränzi Menke erfahren hatte, – daß der bildschöne Erich den jungen Mädchen erklärt hatte, er könnte für sie mit geringem Anlagekapital an der Börse nutzbringende Geschäfte machen, daß die Schülerinnen ihm dann regelmäßig in kurzen Zwischenräumen ein paar hundert Mark anvertrauten, die er ihnen meist schon am übernächsten Tag mit ganz nettem Gewinn, bald sechzig, bald hundert Mark, zurückgab, wobei er nur eins als Dank verlangte – absolute Verschwiegenheit! Und letztens hatte auch Toni dem geschäftskundigen Herrn ohne Wissen dreihundert Mark ausgehändigt und schon am folgenden Tag dreihundertfünfzig zurückerhalten – in Fünfzigmarkscheinen. Der Herr Rechnungsrat war aber dahinter gekommen und hatte ihr dieses den Charakter verderbende Börsenspiel verboten.

Helmer machte zu diesen Mitteilungen ein sehr ernstes Gesicht. Dann reichte er Toni die Hand. „Wir wollen gute Freunde sein!“ meinte er. „Schweigen Sie über dies alles. Das weitere wird sich finden.“

Als Gustav Pfännchen zurückkehrte, las Helmer wieder in dem Gedichtband. Toni war verschwunden.

 

 

5. Kapitel

Gustav wird Mann

Eine Woche war seitdem vergangen. Im Hause des Rechnungsrats Möller war scheinbar alles beim alten geblieben. Scheinbar nur! Denn für einen schärferen Beobachter bewiesen Gustav Pfännchens jetzt stets so strahlende Augen und nicht minder Tonichens stets trällerndes Mündchen, daß sich hier langsam sehr erstaunliche Dinge vorbereiteten, soweit diese beiden lieben und liebenden Menschenkinder in Betracht kamen.

Weniger Erfreuliches dagegen ballte sich dank der eifrigen Tätigkeit des vielgewandten Schriftstellers über dem Haupt des bildschönen Erichs zusammen und ebenso über dem hoch aristokratischen Schädel des Herrn Baron von Fötztöni.

Helmer hatte sich mit den Schülerinnen Köhlers einzeln durch Toni bekannt machen lassen und aus diesen jüngeren und älteren heiratswütigen Mädchen alles herausgelockt, was er gern wissen wollte. Die meisten hatten nicht gemerkt, daß mit ihrem angehimmelten Lehrer irgend was nicht ganz richtig sein konnte. Zu den Schlauen, denen Helmers Interesse für den Sprachlehrer stark verdächtig erschien, gehörte Auguste Schacklist. Helmer hatte Gelegenheit gehabt, mit ihr bei Möllers zu sprechen, und drei Tage nach dieser Unterredung hatte er dann von ihr einen Rohrpostbrief erhalten, durch den sie ihn für den selben Abend noch zu Möllers bestellte ‚zwecks dringender Rücksprache.’

Das Ehepaar Möller weilte bei Bekannten. Augustchen hatte bis neun Uhr abends Dienst gehabt und läutete daher erst gegen einviertel zehn an der Flurtür von Rechnungsrats. Zu ihrem Erstaunen öffnete Helmer die Tür.

„Pst!“ flüsterte dieser. „Treten Sie nur ein. Toni hat noch etwas in der Stadt zu besorgen. Sie ist vor fünf Minuten fortgegangen. – Köhler hat Gäste bei sich,“ fügte er dann im Flur hinzu, nachdem er die Tür zugedrückt hatte. „Ich konnte daher nicht allzu laut reden.“

Augustchen war in den letzten Tagen sehr blaß geworden. Ihr Gesicht wirkte wie ein kugelrunder, heller Ananasapfel. Die Winkel ihres mit recht kräftigen Wulstlippen gesegneten Mundes waren tief herabgezogen. Jeder sah ihr das schwere Seelen- und Herzeleid auf den ersten Blick an.

Sie tat Helmer aufrichtig leid. Er als guter Frauenkenner ahnte, daß dieses kleine, rundliche Geschöpf sich seit vielen, vielen Jahren umsonst nach einem eigenen Heim und eigenen Kindern gesehnt hatte und daß es gerade diesem im Innersten ihres Herzens fraglos seelenguten Wesen härter als jeder anderen ankommen müsse, diese zarte Hoffnung, die Erich Köhler hieß, begraben zu sollen.

Sie befanden sich nun im Möllerschen Wohnzimmer und waren ganz ungestört, ganz allein in der Wohnung, denn auch Gustav Pfännchen war vorhin ausgegangen, ohne zu ahnen, daß sein Freund Horst sich bei seinen freundlichen Wirtsleuten ‚in besonderer Mission’ aufhielt.

Augustchen saß eine Weile schweigend da. Dann kam’s! Erst Tränen, Schluchzen; dann die flehende Bitte, ihr doch um Gottes Barmherzigkeit willen zu sagen, was eigentlich mit Erich Köhler ‚los sei’; sie fühle tief im Innern, er habe irgend etwas auf dem Kerbholz, zumal sie vorgestern wieder festgestellt hätte, daß sich unter den Fünfzigmarkscheinen, die er ihr nach dem letzten Börsengeschäft ausgezahlte hätte, nicht weniger als neun falsche befunden hätten.

Helmer sprach gütig auf sie ein; erklärte ihr schonend, was er von Köhler halte, und bat sie, ihm offen mitzuteilen, ob dieser ihr etwa die Ehe versprochen habe oder wie sie sonst zu ihm stehe.

Augustchen fühlte den Mut der Verzweiflung. Es gab noch mehr Tränen. Und dann war sie ganz offen, verheimlichte nichts – nichts, schonte auf sich selbst in keiner Weise, indem sie zugab, sich diesem Menschen wohl so etwas aufgedrängt zu haben. Schließlich fügte sie noch hinzu, sie wisse genau, daß heute Abend bei Köhler angeblich eine geschäftliche Besprechung stattfinde, argwöhne aber, daß er ihr dies wohl nur anvertraut habe, um sie heute nicht bei sich empfangen zu müssen.

Da besann Helmer sich auf den Schrank in Pfännchens Zimmer und auf Tonis damalige Gefangenschaft zwischen Spint und Tür. – „Kommen Sie!“ sagte er bedeutungsvoll zu Augustchen. „Wir werden so etwas die Lauscher spielen. Und ich müsste nicht Horst Helmer heißen, wenn ich nicht jede Gelegenheit am Schopf ergriffe, diesen Köhler in einer Weise zu bestrafen, die Ihnen nur genehm sein kann.“

Gleich darauf standen die beiden zwischen Schrank und Tür. Das Möbel hatte Helmer wieder an die alte Stelle gerückt, nachdem sie das Versteck betreten hatten. – –

Inzwischen war Gustav Pfännchen heute zum dritten Male abends in der ganz bestimmten Absicht nach der Friedrichstraße gebummelt, jetzt unter allen Umständen ernst zu machen und Vorkehrungen zu treffen, daß es ihm nicht ähnlich ergehe wie jenem jungen Ehemann, der erst durch die Drohungen des Schwiegerpapas und durch Bauchgrimmen der Gattin sich auf seine Pflicht besann – er wußte jetzt ja, seine Aussichten bei Toni standen glänzend! Sie hatte ihr Benehmen ihm gegenüber vollständig geändert. Ach – und wie glücklich war er deswegen, geradezu namenlos glücklich! Seine Liebe war bis ins unendliche gestiegen. Aber deshalb hatte er auch – davon war er durch Helmer überzeugt worden! – die heilige Pflicht, nicht etwa durch spätere totale Unkenntnis in der Behandlungsweise eines geliebten Weibes dieses Glück irgendwie zu gefährden. – Es kam ihm sehr, sehr schwer an, sich dergestalt dem Interesse eines befriedigenden Verlaufes der sogenannten Flitterwochen zu opfern – sehr schwer. Und darum war er auch gestern und vorgestern abend ergebnislos wieder in sein Junggesellenstübchen zurückgekehrt. Heute nun mußte ein Erfolg herbeigezwungen werden – mußte. –

Da – abermals streifte eine ‚Dame’ dicht an ihm vorüber und warf ihm Blicke zu, Blicke! – Nein, die war ihm doch zu stark gepudert! Er hatte eine Abscheu vor Puder.

Wieder eine –! Aber auch die hatte geschminkte Lippen und gepuderte Wangen, stank außerdem noch drei Meilen gegen Wind nach Patschuli! Das wirkte auf Gustavs Geruchsnerven etwa wie Kreolin auf Flöhe – abstoßend!

Er näherte sich nun bereits der Leipziger Straße, wo bekanntlich das lasterhafte Stück der Friedrichstraße beginnt. Die ‚Damen’ mehrten sich. Plötzlich stutzte Pfännchen. Ah – da war sie ja wieder, die Verschleierte, die schon gestern und vorgestern so häufig an ihm vorbei gestrichen war. Von dem Gesicht war nicht zu erkennen. Und ein sehr weiter leichter Mantel hüllte die übrige Gestalt so völlig ein, daß man nur an den geschmeidigen Bewegungen und der lieblichen Fülle in der Brustgegend auf ein noch jugendliches Alter schließen konnte.

Pfännchen gefiel gerade diese Schlichtheit der äußeren Aufmachung. Er faßte sich also nun ein Herz, schlenderte hinter der halb Vermummten drein und sprach sie mit so starkem Herzklopfen wie ein Sekundaner vor dem ersten Kuß und leicht stotternd an.

Sie schien nicht abgeneigt, sich von ihm begleiten zu lassen. Sie flüsterte ihre Antwort jedoch so leise, daß er sie kaum verstand. Auf seine Frage, wo sie denn wohne, erwiderte sie: „Ich – ich bin ohne Obdach. Könnten wir nicht bei Ihnen ein wenig plaudern?“

Ach – sie war so reizend verlegen! Man merkte es, obwohl sie die Worte nur hervorhauchte. Sie konnte noch nicht ganz verdorben sein. Das war ihm ein Trost. Aber – bei ihm?! Bei ihm, der doch durchaus nicht – – sturmfrei wohnte?! – Er überlegte, Möllers waren zum Skatabend bei Bekannten und kehrten erst gegen zwölf heim; Tonichen war bei einer Freundin, mit der sie eine Bluse schneiderte. – Hm – eine Tollkühnheit blieb’s ja immer. Aber – es gab jetzt kein Zurück mehr.

So wies er die Verschleierte denn an, zwanzig Schritt hinter ihm zu bleiben, ihm in das Haus zu folgen und dann schnell in seinem Zimmer zu verschwinden.

Er schwitzte Angst, ob er auch nicht von einem der Hausbewohner beobachtet werden würde. – Aber – er hatte Glück. Nun befand er sich in seinem Zimmer, – nun erschien auch das Mädchen! Er atmete auf, schloß ab und – war mit seinem Latein zu Ende. Was er jetzt mit seinem weiblichen Gast beginnen sollte, davon hatte er keine Ahnung. Aber – nur nicht merken lassen, daß er ein Neuling auf galantem Gebiet war! Nur nicht! Also ganz so tun, als treibe er derlei Geschichten seit Jahren.

Im Zimmer war’s ziemlich dunkel. –

„Nehmen Sie Platz,“ flüsterte er und wischte sich heimlich den Angstschweiß von der Stirn. „So. Und nun eine Frage. Was – was bekommen Sie?“

Schweigen. –

„So antworten Sie doch,“ meinte er unsicher. „Ich muß doch wissen, ob – ob Sie mir nicht zu hohe Ansprüche stellen –“

„Wie – wie soll ich das verstehen?“ hauchte da die Verschleierte, und er hörte, daß sie mit Tränen kämpfte.

Er war jetzt vollständig kopflos; er begriff nicht, daß – sie nicht begreifen wollte! Oder – hatte er hier etwa eine erwischt, die in diesem Gewerbe bisher noch Lehrling war?!

Nochmals fragte er: „Aber – aber Sie – müssen mir doch sagen können, was ich Ihnen – für Ihre Begleitung schenken soll?“

Da – und die Antwort hatte er nie erwartet, da klang’s ganz leise zurück:

„Liebe – Liebe!“

Sie hatte sich inzwischen auf den einen Plüschsessel gesetzt; sie tastete nun nach der Hand des vor ihr Stehenden; er fühlte, wie sie seinen Finger zärtlich drückte.

Sie saß eine Weile regungslos; ihre Hand zitterte jetzt in der seinen. Dann – dann erhob sie sich, verschwand hinter dem Vorhang.

Und Gustav Pfännchen sank nun seelisch und körperlich völlig erschöpft in denselben Sessel. Nur langsam erholte er sich; schlich zum Likörschränkchen, wo er noch eine halbe Flasche Kognak stehen hatte, die ihm bereits seit zwei Jahren treu und sparsam als Herzstärkung diente. Er trank zwei – drei Gläschen. Und – sein total gesunkener Mut stieg wieder. – Was half’s?! ‚Nein, nein!’ schrie es in seinem Innern, „ich werde schon den Mut finden, mein Tonichen nicht zu enttäu–schen! – Das Weib muß schleunigst wieder auf die Straße, wo sie hingehört!’

So schlich er denn an den dunklen Vorhang heran, bückte sich. Sehen konnte er nichts, denn hier war’s stockdunkel. – Bückte sich und – wurde von zwei Armen umschlungen, spürte ein heißes Lippenpaar auf seinem Mund, vernahm dann ein paar gehauchte Worte:

„Gustav – ich liebe dich! Du sollst nun mir gehören, deiner kleinen Toni!“

– Vernahm diese Worte, begriff langsam deren Sinn. Und – sein Herz loderte plötzlich in Riesenflammen auf; seine Arme umschlangen die, die er liebte; seine Lippen suchten die ihren. –

Helmer und Augustchen Schacklist aber brauchten sich über Langeweile in ihrem Versteck nicht zu beklagen. Oh nein! Sie genossen doppelt. In des bildschöne Erichs Zimmer gab’s ein vergnügtes Sektgelage zu sehen und allerlei zu hören – in Pfännchens Stube gab’s nur etwas zu hören. – Wer die Wahl hat, hat die Qual! Nun – man konnte ja seine Aufmerksamkeit teilen! Mal durch das Loch in der Stoffdraperie schauen, mal wieder lauschen, was Armor dort in der Ecke zu flüstern hatte. Jedenfalls war es gut, daß hinter dem Schrank gleichfalls ägyptische Finsternis herrschte, denn sonst hätte Augustchen sich vor Helmer die Augen aus dem Kopf schämen müssen.

Augustchen tat jetzt so, als ob sie lediglich noch für Sekt und die drei Insassen des Köhlerschen Zimmers Interesse hätte; sie beobachtete durch das Löchlein diesen verruchten Erich, der soeben mit höhnischen Redensarten über die Verliebtheit seiner Schülerinnen herzog; sie sah, wie die böse Frau Thea Humbert in der Sektvertilgung Erkleckliches leistete und wie der vornehme Baron mit der Hornbrille nun ganze Mengen von Papiergeld hinzählte.

Da – da fiel ihr Name! Da hatte dieser rüde Patron von Erich gerade gesagt: „Dieser kleine Kanonenstöpsel von Auguste ist die schlimmste, verehrteste Frau Professor!“

Kanonenstöpsel! – Augustchen verlor vor heller Wut alle Überlegung.

Mit einem Ruck stieß sie die Tür noch weiter auf. Die Draperie samt Stange polterte herab. Und mit einem Satz war Augustchen dich vor dem Tisch der drei vergnügten Zecher.

Und – drüben eilte jemand mit einem Satz in wilder Flucht vor den verdächtigen Geräuschen hinüber in ihr Mädchenstübchen.

So daß Gustav Pfännchen urplötzlich sich allein sah und mit klappernden Zähnen nun auf die erregten Stimmen lauschte, die hinter dem Schrank hervordrangen.

Augustchen war jedoch gar nicht viel zu Wort gekommen. Nein – Helmer hatte mit ebenso kühnem Satz sich neben sie geschnellt, drängte sie zur Seite und sagte sehr ruhig zu den drei Ölgötzen, die ganz bleich dasaßen und erst allmählich wieder Leben gewannen:

„Meine Herrschaften, wir wollen die Sache kurz machen. Sie beide, Köhler und Fötztöni, sind Falschmünzer. Die angebliche Frau Humbert aber, die Ihnen heute hier für eine Million rumänische Petroleumaktien verkaufen wollte, ist eine bekannte Hochstaplerin, die einige Dutzend Namen führt. Die Petroleumaktien dürften genauso viel wert sein wie die Haufen von Fünfzigmarkscheinen dort – nämlich gar nichts! Die beiden Parteien hier wollten sich also gegenseitig betrügen. – Ich könnte Sie drei nun verhaften lassen. Dann würden aber eine Anzahl von jungen Mädchen, die Sie, Erich Köhler, stets durch die ‚Börsengeschäfte’ mit falschen Scheinen angeschmiert haben, indem Sie für echte Banknoten nachher falsche ihnen wieder ausgehändigten, schwer bloßgestellt werden. Das darf nicht sein! – Sie werden daher hier sofort ein Schriftstück unterzeichnen, in dem Sie Ihre Schuld einräumen. Ebenso wird Köhler sich schriftlich verpflichten, Fräulein Auguste Schacklist umgehend zu heiraten und fortan als anständiger Sprachlehrer weiterzuleben. – Fötztöni und die Humbert aber müssen Europa schleunigst auf Nimmerwiedersehen verlassen. – So, das wäre alles. Jedes Wort der Weigerung Ihrerseits hat sofortige Verhaftung zur Folge.“

Helmer war ganz der Mann dazu, sich Respekt zu verschaffen. Die ‚Herrschaften’ gehorchten. Dann durften Fötztöni und die Humbert gehen. Und dann hielt Helmer dem entgleisten Studenten eine lange Moralpredigt, warnte ihn vor jedem Fluchtversuch und überließ ihn zur weiteren Behandlung Augustchen Schacklist, die ihrem geliebten Erich den ‚Kanonenstöpsel’ bereits wieder verziehen hatte.

Er kehrte nun in Pfännchens Zimmer zurück, schloß die Tür und fand den Freund ganz verstört am Tisch unter der brennenden Hängelampe sitzen.

„Sag’ mal, Gustav,“ begann er kopfschüttelnd, „wen – wen hattest du leichtsinniges Huhn dir denn heute hier in das anständige Haus des braven Rechnungsrates mitgebracht?! Mensch – wie konntest du nur! Bist du denn rein des Deubels! Wenn Toni etwas davon erfährt, ist’s mit der Verlobung für alle Zeit Essigsprit!“

„Quatsch!“ meinte Pfännchen. „Ich will zunächst mal wissen, was – was da drüben los war.“

Helmer berichtete in kurzen Sätzen das Nötige, fragte dann abermals: „Mensch, – Quatsch nennst du meine wohlberechtigten Vorwürfe? Ja – begreifst du denn gar nicht, daß –“

Pfännchen lächelte jetzt, winkte dem Freund mit großartiger Geste zu und sagte:

„Ich muß dir ganz offen eingestehen, daß mir Männer geradezu ein Rätsel sind, die erst mit der Nase auf ihre Ehegattenpflichten gestoßen werden müssen. Mehr als ein Rätsel! Es müssen dann komplette Idioten gewesen sein! Denn – die ganze Sache wickelt sich doch so spielend leicht bei einigem Talent ab, daß –“

Er beendete den Satz nicht, zuckte nur sehr selbstherrlich die Achseln.

Und Helmer? Der war sprachlos, baff, wie vor den Kopf gedonnert! – Aber als dann der Stammhalter bei Pfännchen angeblich als Siebenmonatskind mit neun Pfund Gewicht sich einstellte, da – da dämmerte es bei Horst Helmer so etwas, da ahnte er, wen Freund Gustav sich damals von der Straße mit heimgebracht hatte –! –

Gleichzeitig mit dieser Geburtsanzeige erhielt Helmer einen Brief von Erich Köhler:

‚– durch Sie bin ich ein anderer Mensch geworden, und auch meine Ehe hat hierzu viel beigetragen. Meine Auguste ist das beste Weib, das man sich nur wünschen kann. Demnächst erwarten wir Familienzuwachs.“ –

‚Also auch so was Ähnliches wie ‘n Siebenmonatskind!’ dachte Helmer. ‚Schadet nichts! Besser so, als wenn er Vielbeflammte jetzt im Zuchthaus säße!

Wer viel geliebet, dem wird viel vergeben! Amen!’

 

 

Fußnoten:

1 veraltet für Behang

2 landsch. für Fußknöchel