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Das wandernde Skelett

 

Nic Pratt

Amerikas Meisterdetektiv

 

Heft 6:

 

Das wandernde Skelett.

 

Preis 5 Mk.

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1922

by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.

 

Nic Pratt, Amerikas Meisterdetektiv.

Zu beziehen durch alle Buch- und Schreibwarenhandlungen, sowie vom
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 26 Elisabeth-Ufer 44.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin

 

1. Kapitel.

Das Haus Nr. 48.

Der Juni 1921 brachte für Neuyork bereits so starke Hitze, daß viele Neuyorker schon Mitte Juni ihre Sommervillen in der Umgegend aufsuchten.

In einem dreistöckigen Hause der Rulbornstraße, einem schmalen, älteren Gebäude, wo in jeder Etage nur eine Partei wohnte, ging es in der Nacht vom 17. zum 18. Juni recht lebhaft in der ersten Etage zu.

Hier hauste der Beamte der Staatsdruckerei Edward Gemmerton mit seiner etwa gleich alten, vierzigjährigen Gattin. Das Ehepaar war kinderlos und hielt sich keine Bedienung, was in Neuyork auch nur sehr reiche Leute tun, und Gemmertons waren nicht reich.

In der besagten Nacht arbeitete Edward Gemmerton gegen zwölf Uhr noch an seinem Schreibtisch. Seine Gattin war längst zu Bett gegangen. Der fleißige Gemmerton suchte sein Einkommen dadurch aufzubessern, daß er für Kaufleute und andere Gewerbetreibende die Bücher in Ordnung hielt.

Sein Arbeitszimmer lag nach dem Hofe hinaus. Er hatte die beiden Fenster weit geöffnet, um die etwas kühlere Nachtluft hineinzulassen. Sein Schreibtisch stand zwischen den beiden Fenstern und wurde durch eine elektrische Stehlampe beleuchtet.

Gemmerton war ein hagerer, bartloser Mann von stark verknöchertem Wesen, ein Büromensch durch und durch, nebenbei sehr fromm. Er gehörte einer der vielen religiösen Sekten an, von denen es in Amerika weit mehr gibt, als man ahnt.

Gemmerton schrieb und rechnete eifrig. Gestern hatte ihm der Getreidehändler Bounger die Geschäftsbücher gebracht. Die Sache war eilig.

Mit einem Male legte Gemmerton den Federhalter hin und lauschte.

Seltsam — da oben bei Britton im zweiten Stock ging doch jemand auf und ab! Und — Brittons waren vorgestern am 15. verreist. Kein Mensch war oben in der Wohnung zurückgeblieben, und Britton hatte die Schlüssel Gemmerton mit der Bitte übergeben, doch so etwas auf die Wohnung zu achten, damit nicht etwa Einbrecher sie ausräumten, was jetzt in Neuyork an der Tagesordnung war.

Gemmerton lauschte schärfer. Ihm wurde etwas unbehaglich zu Mute. Gewiß, er war kein Feigling, aber Aufregungen irgend welcher Art liebte er nicht.

Ja — da oben ging jemand hin und her, ohne Zweifel!

Ah — und jetzt wurde ein Stuhl gerückt!

Das Zimmer über Gemmertons Arbeitszimmer diente demselben Zwecke: es war Brittons Studierstube, denn Doktor Ephraim Britton war Privatgelehrter, Chemiker, Erfinder, so eine Art Allerweltsgenie.

Gemmerton zog jetzt die Schublade seines Schreibtisches auf und nahm den Revolver heraus. Seiner Überzeugung nach waren Einbrecher da oben, und zwar sehr freche Einbrecher, die sich nicht mal dadurch stören ließen, daß eine Etage tiefer noch Licht brannte und die Fenster offenstanden.

Gemmerton entsicherte den Revolver und fühlte sich nun weit mutiger. Dann ergriff er den Telephonhörer und rief die nächste Polizeiwache an, meldete, daß bei Britton Diebe in der Wohnung seien, und bat, man möge sofort ein paar Beamte schicken, denen er den Hausschlüssel vorn hinabwerfen würde.

Nun war er ganz beruhigt. Er wußte, die Beamten würden in fünf Minuten da sein.

Er erhob sich leise, schaltete seine Schreibtischlampe aus und trat an das eine Fenster, beugte sich hinaus, drehte den Kopf und schaute zu Brittons Studierstube empor.

Ah — diese Frechheit: die Diebe hatten offenbar die Krone eingeschaltet! Da oben war es taghell.

Außen an der Mauer lief zwischen den beiden Fenstern die eiserne Feuerleiter zum Dache empor.

Gemmerton wurde kühn: er kletterte an der Leiter empor und schaute durch eine Spalte der Vorhänge in Brittons erleuchtete Studierstube hinein.

Vor Schreck hätte er beinahe die Leitersprossen losgelassen und wäre abgestürzt: Da drinnen saß an Brittons Schreibtisch das Skelett, das sonst in einer Ecke der Studierstube hinter einem Vorhang seinen Platz hatte.

Und — das Skelett stand gerade jetzt auf, ging zur Tür und — schaltete die elektrische Krone aus.

Nun war es in Brittons Zimmer völlig dunkel.

Gemmerton hing mehr tot als lebendig an den Sprossen der eisernen Feuerleiter.

Er wußte nachher selbst nicht, wie er wieder in sein Zimmer hinabgelangt war, eilte nun ins Vorderzimmer und warf den bereits wartenden beiden Polizisten den Hausschlüssel zu.

Als er den Beamten dann auf der Treppe erzählte, was er beobachtet hatte, wurden sie grob und meinten, er solle erst mal seinen Rausch ausschlafen. Dann gingen sie davon, ohne sich weiter um die Sache zu kümmern.

Der arme Gemmerton, der schon vorher seine Fenster geschlossen hatte, weckte jetzt seine Frau.

Frau Lydia war sofort bereit, aufzustehen, sich notdürftig anzukleiden und in ihres Mannes Arbeitszimmer mit ihm zusammen zu horchen, ob das Skelett etwa nochmals umherwandern würde.

Sie saßen bis ein Uhr nebeneinander auf dem Sofa. Erst mit dem Glockenschlage eins erklang oben wieder das deutliche Tapp, Tapp von Schritten.

Frau Lydia umklammerte ihren Mann. Sie war blaß geworden. Sie war noch abergläubischer als ihr Gatte. Die religiöse Sekte, der das Ehepaar angehörte, war an dieser Neigung zum Aberglauben schuld.

O Gott, Edward,“ flüsterte die Frau, „das bedeutet Schlimmes für uns!“

Gemmerton spielte den Aufgeklärten. „Unsinn, ich muß mich wohl vorhin, als ich auf der Feuerleiter stand, durch ein Trugbild haben täuschen lassen. Es sind doch Einbrecher, behaupte ich! Ich werde sie jetzt anderswie verscheuchen. Ich lasse mich mit Britton telephonisch verbinden. Das Telephon steht bei ihm auf dem Schreibtisch. Wenn es läutet — und ich werde andauernd kurbeln —, werden die Spitzbuben wohl Angst bekommen.“

Frau Gemmerton aber packte ihren Mann noch fester und meinte: „Edward, läute lieber den Detektiv Nic Pratt an. Der wohnt nur zwei Straßen weiter.“

Ah — das ist ein Gedanke, Lydia! Hierfür ist Pratt der rechte Mann!“ —

Nic Pratt schlief in dem Schlafzimmer seines kleinen, behaglichen Häuschens in der Pearlstraße Nr. 111 den Schlaf des Gerechten.

Neben seinem Bett auf dem Nachttisch stand das Telephon. Als es jetzt anschlug, richtete Pratt sich sofort auf und schaltete das Licht ein, nahm den Hörer und meldete sich.

Gemmerton berichtete ihm, was geschehen.

Pratts schmales Gesicht mit den stahlgrauen Augen wurde immer gespannter.

Dann sagte er:

Mr. Gemmerton, ich werde in einer Stunde bei Ihnen sein. Bis dahin setzen Sie sich wieder an Ihren Schreibtisch und arbeiten Sie. — Also um 2 Uhr morgens bin ich bei Ihnen. Ihre Haustür brauchen Sie mir nicht aufzuschließen. Das besorgt mein Patentdietrich. Auf Wiederehen.“

Kaum hatte er den Hörer weggelegt, als er auch schon in die Kleider fuhr. In fünf Minuten war er fertig und verließ sein Häuschen.

Er hatte die Rulbornstraße sehr bald erreicht. Gemmerton wohnte Nr. 48. Nic Pratt schloß die Haustür von Nr. 47 auf und war abermals fünf Minuten später auf dem Dache von Nr. 47, wollte nun auf das von Nr. 48 übersteigen.

Wollte.

Ein gellender Schrei drang durch die Stille der Nacht, ein Schrei, der anscheinend aus dem kleinen Hofraum von Nr. 48 gekommen war.

Pratt war jetzt mit einem Satz auf dem Nachbardach, lief bis zum Rande und beugte sich weit vor.

Die Juninacht war trotz des bewölkten Himmels recht hell.

Pratt erkannte unten auf den weißgrauen Fliesen des Hofes eine menschliche Gestalt, einen Mann.

Er überlegte. Er zweifelte keinen Augenblick, daß Gemmerton dieser Mann war.

Wenn er jetzt dort die Feuerleiter hinabstieg und Lärm schlug, wurde sofort bekannt, daß er sich hier bereits eingemischt hatte.

Er hielt es für besser, zu warten, ob Gemmertons Schrei nicht jemand anders herbeilocken würde, und zu versuchen, auf seine Art diese merkwürdigen Dinge aufzuklären.

Tatsächlich: jetzt wurden in der dritten Etage von Nr. 48 Fenster hell.

Eins der Fenster wurde geöffnet, und ein Mann im Nachthemd beugte sich weit hinaus, brüllte dann:

Mord — Mord — Polizei! Polizei!“

In den Nachbarhäusern ward es im Nu lebendig.

Pratt überlegte abermals. Er war überzeugt, daß das wandelnde Skelett in Brittons Studierstube nichts als das Requisit, das Hilfsmittel zu irgend einem Schurkenstreich besonderer Art war. Wenn er jetzt sofort in Brittons Wohnung eindrang, konnte er vielleicht noch vor dem Erscheinen der Polizei manches feststellen.

Daher öffnete er die Bodenluke, stieg in den Bodenraum hinab und huschte die dunklen Treppen bis in die zweite Etage abwärts. Auch Brittons Patenttürschloß widerstand dem Dietrich nicht.

Pratt war nun in der Wohnung Doktor Ephraim Brittons, war im Flur und lauschte eine geraume Weile, bevor er weiterhuschte und die Hand auf den Drücker jener Tür legte, die seiner Berechnung nach in Brittons Studierstube führte.

Aber — die Tür war von innen verschlossen, und der Schlüssel steckte. Mithin war der Patentdietrich hier machtlos.

Pratt, die eingeschaltete Taschenlampe in der Linken, ging zur nächsten Tür, beleuchtete das Schloß.

Hier steckte kein Schlüssel; hier arbeitete der Dietrich mit Erfolg. Pratt betrat das Eßzimmer der Wohnung, schloß wieder hinter sich ab und bog nach links auf die Tür zu, die in die Studierstube münden mußte. Sie war unverschlossen.

Nic Pratt wollte sie gerade noch weiter aufstoßen, als im Studierzimmer ein Geräusch erklang — das hastige Rücken eines Stuhles.

Pratt war mit einem Sprung drinnen, ließ den Lichtkegel umhergleiten.

Nichts — nichts! Keine lebende Seele.

Und doch — hier war ein Stuhl hastig weitergeschoben worden, ohne Frage!

Irgend welche Verstecke, wo ein Mensch sich rasch hätte verkriechen können, gab es hier nicht.

Nur dort in der linken Ecke neben der Verbindungstür zum Speisezimmer war ein Eckbrett mit einem grünen Vorhang angebracht.

Pratt ging, lüftete den Vorhang und — stand dem Skelett gegenüber.

Es war ein tadellos präpariertes Skelett, wie er feststellte. Die Gelenkbänder waren überall sauber durch Messinghäckchen ersetzt. Kein Knöchlein fehlte. Aber: der Schädel hatte vorn in der Stirn ein kleines, kreisrundes Loch, das nur von einer Kugel herrühren konnte.

Pratt sah ferner, daß das Skelett an drei in die Wand eingeschlagenen, sehr langen Haken hing, von denen einer den Schädel und die beiden anderen die Schulterknochen hielten, so daß das Gerippe vollständig aufrecht stand.

Der Detektiv wollte sich schon mit diesen Feststellungen begnügen und den Vorhang wieder fallen lassen, als er mit einem letzten prüfenden Blick über das Skelett hin noch etwas wahrnahm: zwischen den Zähnen ragte ein Stückchen weißes Papier hervor!

Man bemerkte es nur, wenn man sehr genau hinschaute, denn es war nur wie ein kurzer Strich mit der Kante sichtbar.

Pratt nahm es heraus. Dabei spürte er, daß der Unterkiefer sehr straffe Federn hatte, welche die Zähne sehr fest zusammenpreßten. Als er den Unterkiefer, den er herabgedrückt hatte, losließ, klappten die Zähne mit unangenehmem Geräusch aneinander.

 

 

2. Kapitel.

Das brennende Flugzeug.

Das Papierstückchen war etwa sechs Zentimeter lang und zwei Zentimeter breit. Pratt besichtigte es genauer. Es war beschrieben und zwar mit einem sehr spitzen Bleistift. Nichts als Zahlen standen darauf, in drei Reiben untereinander:

1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10,

11, 12, 13, 14, 15, 16, 17,

24, 23, 22, 21, 20, 19, 18.

Nic Pratt hörte jetzt unten im Hofe laute Stimmen und den wiederholten Ruf: „Feuer, Feuer!“ Es war Zeit für ihn, von hier zu verschwinden. Er brachte das Stückchen Papier wieder an die alte Stelle zwischen den Vorderzähnen des Gerippes zurück und wollte sich der Tür nach dem Eßzimmer zuwenden.

Es blieb bei der Absicht. Pratt erhielt von hinten einen solchen Schlag gegen den Hinterkopf, daß er wie vom Blitz gefällt umsank. Sein letzter klarer Gedanke, seine letzte Empfindung vor der tiefen Ohnmacht war. daß ihn jemand auffing, bevor er noch auf die Dielen aufschlug.

Nach vielen Stunden erwachte er. Es dauerte gut zehn Minuten, bis er sich darüber klar geworden, wo er sich, eng gefesselt und mit einem Tuche vor den Augen, in ausgestreckter Lage befand.

Ein Motor surrte und puffte. Es konnte nur der Motor einer Flugmaschine sein. Pratt unterschied das Geräusch des Propellers ganz deutlich. Außerdem schwankte die Gondel des Flugzeuges auch recht stark, und in den Verspannungen pfiff und sang die Zugluft.

Pratt schlief vor Erschöpfung sehr bald wieder ein. Er gab sich auch weiter keine Mühe, munter zu bleiben. Die furchtbaren Schmerzen im ganzen Kopf warnten ihn. Er wußte, daß ihm, wenn er sich nicht völlig ruhig verhielt, infolge des Hiebes gegen den Hinterkopf eine Gehirnentzündung drohte.

Abermals erwachte er dann und zwar durch ein paar starke Erschütterungen des Flugzeuges.

Der Motor arbeitete schwächer. Pratt hörte jetzt auch ein andauerndes Brausen, das er als Brandungsgeräusch deutete. Er reimte sich schnell zusammen, daß er in einem Wasserflugzeug lag und daß dieses irgendwo in der Nähe einer Küste niedergegangen war.

Er fühlte sich jetzt weit kräftiger. Der Schlaf hatte ihm gut getan.

Nun ein neuer Stoß, und Motor und Propeller schwiegen.

Das Flugzeug lag still. Pratt war gespannt, wohin man ihn gebracht haben könnte und was nun weiter mit ihm geschehen würde.

Er hörte, daß der Flugzeugführer sich bewegte. Dann sprach ihn jemand an. Es war eine tiefe, kräftige Stimme.

Mr Pratt, ich werde Sie jetzt ins Wasser werfen. Sehen Sie zu, daß Sie das Land erreichen. Ich gebe Ihnen nebenbei den guten Rat, sich um das Haus Nr. 48 nicht mehr zu kümmern. Tun Sie es trotzdem, ist es Ihr eigener Schade. Wir sind keine Mörder. Wir haben es nicht nötig zu morden. Wir bringen Sie nötigenfalls noch weiter weg.“

Nic Pratt wurde von starken Armen hochgehoben. Dann zerrte etwas an den Stricken, die seine Füße umschlangen. Ein Messer zerschnitt die Stricke, und Pratt fiel ins Wasser, das ihm bis an die Brust reichte.

Er stand still. Seine Hände waren noch gefesselt und das Tuch vor den Augen hinderte ihn am Sehen.

Aber die Nässe machte die Haut der Hände schlüpfrig und die Stricke elastischer. Pratt schonte seine Haut nicht. Mochten auch Fetzen davon verloren gehen! Wenn er nur die Arme frei bekam.

Er hörte dicht neben sich das Knattern des wieder arbeitenden Motors. Eine wilde Energie überkam ihn.

Ah — die eine Hand war aus den Schlingen herausgedreht. Nun auch die andere.

Nun flog das Tuch ins Wasser. Pratt sah, wie das Wasserflugzeug nach der offenen See zu in Fahrt kam.

Fünf Meter trennten ihn von den Schwimmkörpern. Er schoß vorwärts.

Die rasende Anstrengung drohte ihm den schmerzenden Kopf zu sprengen.

Und doch: er war schneller als das durch die Wellen behinderte Flugzeug! Er erreichte den einen der bootsähnlichen Schwimmkörper, klammerte sich an den Aluminiumstreben fest und ließ sich mit fortziehen.

Der Flugzeugführer, der mit dem Gesicht in der Fahrtrichtung saß, merkte zunächst nichts. Er hatte mit dem Motor und dem Doppeldecker genug zu tun.

Immer schneller sauste die Flugmaschine über das Wasser hin. Pratt hatte bereits festgestellt, daß man sich hier inmitten einer Anzahl kahler Sandinseln befand. Nur geradeaus zog sich ein breiter Kanal in das Meer hinaus, Die Sonne stand ziemlich hoch. Es mochte etwa elf Uhr vormittags sein.

Nic Pratt kletterte höher, kletterte mit jener Gewandtheit, die ihm schon so und so oft gute Dienste geleistet hatte. Sein tadellos trainierter Körper schwang sich jetzt von der Seite in die Gondel.

Im selben Moment erhob sich das Flugzeug, verließ die Wasseroberfläche und stieg höher und höher.

Aber jetzt, wo der Führer mehr freie Hand hatte, wo die Maschine in stetigem Fluge emporschwebte, drehte er sich um. Er wollte sehen, ob Pratt bereits nach dem Inselchen hinübergewatet war.

Pratt war mit einem Satz neben dem Flugzeugführer, der durch Brille und Sturzkappe ganz unkenntlich war; Pratt hatte seinen kleinen Revolver aus der Tasche gerissen und rief, selbst den Lärm des Motors und des Propellers übertönend:

Landen Sie — sofort! Oder bei Gott — ich schone Sie nicht!“

Der andere lachte grimmig.

Ein Griff. Das Flugzeug begann abwärts zu schießen.

Pratt mußte sich festhalten.

Die Maschine überschlug sich, sauste nach unten, überschlug sich abermals.

Nic Pratt duckte sich in der Gondel ganz tief zusammen.

Jetzt ein Krach — ein Splittern — eine furchtbare Erschütterung — ein Knall.

Der Doppeldecker bildete nur noch eine formlose Masse im weißen Sande einer der Inseln.

Der Motor war explodiert; der Benzintank flammte auf.

Pratt war unverletzt geblieben und kroch schnell aus den Trümmern heraus, versengte sich trotzdem noch die Hände.

Nun schaute er nach dem andern Manne aus, wollte ihn retten, falls es noch möglich war.

Der Mann war tot. Eine der Metallstreben hatte ihm die Brust durchbohrt, hatte ihn vorn in der eingedrückten Gondel gleichsam festgenagelt.

Pratt wandte sich weg. Der Tote war bereits von Flammen umgeben. Hilfe kam hier zu spät. Der Mann würde nachher nur noch eine gräßlich verkohlte Masse sein.

Aber eins war für Pratt günstig: einer der Schwimmkörper war ein Stück weiter weggeflogen.

Pratt brachte ihn in Sicherheit, erstieg dann den höchsten Punkt der kleinen Insel und schaute sich um.

Dort nach Norden zu bemerkte er eine flache Küste, die seltsamerweise dicht bewaldet war. Die Inselgruppe hier zog sich etwa eine Meile weit von West nach Ost hin. Nicht ein Baum, nicht ein Strauch war auf diesen Sandeilanden zu entdecken.

Pratt konnte sich nicht darüber klar werden, wo er sich befand. Immerhin mußte es wohl eine Stelle der amerikanischen Küste sein. An der Südspitze der großen Halbinsel Florida gab es zahlreiche kahle Inselgruppen. Das wußte er. Doch ob diese Eilande wirklich zu Florida gehörten, vermochte er nicht festzustellen.

Als er dann nach zwei Stunden den verbrannten Resten des Doppeldeckers sich wieder näherte, als er nun den entsetzlich verstümmelten, halb versengten Körper des Flugzeugführers mühsam aus den Trümmern gezogen hatte, erkannte er sofort, daß es zwecklos sei, die verkohlte Leiche näher zu untersuchen.

So grub er denn mit den Händen ein Loch im Sand und legte den unbekannten Toten hinein, häufte Sand darüber und merkte sich die Stelle, wo dieser Fremde ein vorläufiges Grab gefunden.

Pratt brachte dann den Schwimmkörper zu Wasser, stellte sich ein Ruder her und begann in dieser Nußschale von Boot die waghalsige Fahrt nach der bewaldeten Küste, die er gegen vier Uhr nachmittags erreichte.

Hier verbarg er sein winziges Boot und wanderte an der Küste entlang nach Norden zu. Sehr bald traf er auch ein Negerdorf. Es war tatsächlich die Südküste von Florida, und abends langte er in der Stadt Miami, dem Südende der Eisenbahnlinie Jacksonville-Miami an.

Abends um acht Uhr am 19. Juni war er wieder daheim in seinem behaglichen Häuschen. Er hatte es durch den zweiten geheimen Eingang von der Bloornstraße aus betreten, und das erste, was er seiner Wirtschafterin Frau Allison befahl, war folgendes:

Mutter Allison,“ sagte er ernst, „niemand darf erfahren. daß ich jenen Schurken, die mich auf den Inseln aussetzen und verhungern lassen wollten, entronnen bin. Richten Sie sich danach, Mutter Allison. — Ist inzwischen jemand hier gewesen?“

Nur Mr. Grablay und dann eine Dame, Mr. Pratt. Sie hat einen Brief hinterlassen.“

Bringen Sie mir den Brief, das Abendessen und die Zeitungen in das Kellergemach.“

Pratt stieg in den Keller hinab, wo er für ähnliche Fälle einen behaglichen Raum bereit hatte.

Er setzte sich in die Sofaecke, legte die Füße auf den Tisch, stopfte sich seine kurze Holzpfeife und nahm dann die neuesten Zeitungen vor.

Bald hatte er entdeckt, was ihn jetzt am meisten interessierte. Da war ein Artikel mit der Überschrift:

Das Rätsel der Rutbornstraße Nr. 48.

Einzelne Stellen überflog Pratt Zweimal so zum Beispiel:

Im Erdgeschoß von Nr. 48 befindet sich also der Laden nebst Wohnung des Friseurs Beelam. Im ersten Stock wohnt das kinderlose Ehepaar Gemmerton, im zweiten das gleichfalls kinderlose Ehepaar Doktor Britton, im dritten der ehemalige Schiffskapitän Parling, ein Junggeselle. Beelam und Gemmertons sind die ältesten Mieter, wohnen dort bereits fünf Jahre; Brittons und Parling erst ein halbes Jahr.“

Dann:

Es unterliegt keinem Zweifel, daß Edward Gemmerton. Beamter der Staatsdruckerei, plötzlich den Verstand verloren hat. Das, was er seiner Frau und den Polizeibeamten, ferner auch dem jetzt spurlos verschwundenen Privatdetektiv Nic Pratt über das wandelnde Skelett mitgeteilt hat, bevor er zum Fenster hinausstürzte und sich die schwere Gehirnerschütterung zuzog, trägt so unverkennbar den Stempel phantastischer, durch Geistesstörung hervorgerufener Truggebilde, daß auf diese sogenannten Beobachtungen Gemmertons nichts zu geben ist. Wenn seine Gattin nun behauptete auch sie hätte in Doktor Brittons Studierstube Schritte gehört, so darf man diesen Angaben schon deshalb keinerlei Wert beimessen, weil Frau Lydia Gemmerton stets krankhaft nervös gewesen ist und weil sie sich daher sehr leicht eingebildet haben kann, das gehört zu haben, worauf ihr Mann sie aufmerksam machte: auf die Schritte in Brittons Studierstube.

Gemmerton liegt noch immer in schweren Fieberdelirien im Krankenhause. Seine Frau ist aus dem ihr unheimlich gewordenen Hause geflüchtet und vorläufig zu ihrer Schwester gezogen.

Was den berühmten Nic Pratt angeht, so hat man bisher nicht feststellen können, wo er geblieben ist. Detektivinspektor Stuart Grablay, sein Freund, war wiederholt in seinem Häuschen in der Pearlstraße, ohne ihn anzutreffen. Pratts Haushälterin Frau Allison weiß nur, daß Pratt sich nachts kurz nach ein Uhr damals entfernt hat, also nachdem Gemmerton ihn telephonish angerufen hatte Pratts alter Diener Baptiste —“

Als Nic so weit gelesen hatte, lächelte er etwas ironisch, denn dieser Baptiste war ja nur eine Persönlichkeit, die Pratt stets selbst darstellte, was nicht einmal Inspektor Grablay wußte.

Pratt las weiter:

„— alter Diener Baptiste ist bereits am Tage vorher unbekannt wohin verreist, so daß Mr. Grablay annimmt, Pratt und Baptiste hätten vielleicht außerhalb Neuyorks etwas zu erledigen. Jedenfalls dürfte es überflüssig sein, sich um Pratts Sicherheit irgendwie Sorgen zu machen oder sein verschwinden gar mit dem Rätsel des Hauses Nr. 48 in Zusammenhang zu bringen.

Wenn wir auch jede sensationelle Aufmachung unserer Berichte tunlichst vermeiden, so müssen wir doch betonen, daß die Vorgänge jener Nacht insofern recht ungeklärt sind, als ja durch drei Zeugen beobachtet wurde, daß sich kurz nach Gemmertons Sturz in die Tiefe ein Mann zu demselben Fenster hinausschwang und durch die Nachbarhöfe entfloh. Dieser selbe Mann muß auch in Gemmertons Arbeitszimmer durch unvorsichtiges Fortwerfen eines brennenden Zündholzes jenen kurzen Brand entfacht haben, der leider den Schreibtisch so arg beschädigte.

Wer war nun dieser Unbekannte, von dem die Zeugen bekunden, er habe eine Maske vor dem Gesicht getragen?! Was wollte er bei Gemmerton? Hat er etwa Gemmerton aus dem Fenster gestürzt?!

Der Leser sieht, daß es hier wirklich ein Rätsel der Rulbornstraße 48 gibt —“ —

So weit der Zeitungsbericht.

 

 

3. Kapitel.

Der Buchhalter Lowelly.

Pratt legte die Zeitung weg. Inzwischen hatte Frau Allison das Abendessen gebracht und leistete Pratt nun Gesellschaft. Sie war seit langem seine Vertraute. Sie besaß jene natürliche Schlauheit, die sich Frauen im harten Daseinskampf mit der Zeit erwerben. Und Frau Allison hatte solche bösen Jahre des Darbens und der Kümmernisse genügsam durchgemacht.

Lesen Sie mir jetzt den Brief vor, Mutter Allison,“ sagte Nic, indem er zu essen begann.

Und sie las:

Sehr geehrter Mr. Pratt!

Lydia Gemmerton ist’s, die sich hilfeflehend an Sie wendet. Meinen Mann hält man für geistesgestört. Mich beurteilt man nicht viel besser. — Mr. Pratt, ich schreibe in großer Aufregung. Glauben Sie mir: ich habe in Doktor Brittons Zimmer Schritte gehört! Es ist so! Da mögen die Herrn von der Polizei sagen was sie wollen: ich weiß, daß ich nicht so nervös bin, daß ich also wirklich jemand oben hin und her tappen hörte! — Nachdem Edward Sie angerufen und Sie ihm geraten hatten, sich wieder an den Schreibtisch zu setzen und zu arbeiten, ging ich wieder zu Bett. Aber die Unruhe trieb mich sehr bald heraus. Ich zog mich zum zweiten Male notdürftig an und schlich bis zur Tür des Hinterzimmers und schaute durchs Schlüsselloch. Edward saß am Schreibtisch, stand dann jedoch auf, beugte sich zum Fenster hinaus, warf plötzlich die Arme in die Luft, schrie gellend auf und fiel in den Hof hinab. Vor Schreck sank ich in die Knie, richtete mich jedoch hinter der Tür wieder auf und wollte in Edwards Arbeitszimmer stürzen. Als ich die Tür halb geöffnet hatte, taumelte ich abermals zurück, da der Schreibtisch und die Gardinen brannten und ein Mann mit einer Maske vor dem Gesicht sich gerade zum Fenster hinausschwang. Dann kamen auch schon ein paar Nachbarn und Mr. Parling aus dem dritten Stock, erstickten die Flammen, trugen mich auf mein Bett und holten die Polizei. — So hat sich das zugetragen, Mr. Pratt, was nach dem Telephongespräch zwischen Ihnen und Edward geschah. Ich bitte Sie inständigst, zu beweisen, daß weder mein Mann noch ich nicht zurechnungsfähig sind. Edward würde ja seine Stellung bei der Staatsdruckerei verlieren, wenn nicht der Beweis erbracht wird, daß er geistig normal ist. Ich bin überzeugt, er hat in Brittons Studierstube das wandelnde Skelett gesehen, genau so wie ich die Schritte gehört habe. Ihnen wird es doch ein leichtes sein, diese Dinge aufzuklären. Wir sind arm, und wenn Edward nicht mehr von den Kaufleuten die Bücher zur Revision erhält, fällt für uns der einzige Nebenverdienst weg. Sie werden begreifen, daß ich dies in höchster Erregung schreibe. Der Getreidehändler Bounger war soeben bei mir. Seine Geschäftsbücher brachte Edward damals gerade in Ordnung. Sie sind nun größtenteils vernichtet, und er hat mir deshalb eine häßliche Szene gemacht. Als ob wir etwas dafür können, daß der Mensch mit der Maske so leichtfertig mit Streichhölzern umging! — Helfen Sie Ihrer verzweifelten — Lydia Gemmerton.“ —

Frau Allison legte den Brief bei Seite und meinte:

Mr. Pratt, das arme Weib tut mir leid —“

Nic Pratt schob den Teller weg. „Mit Recht, Mutter Allison,“ sagte er. „Deshalb sollen Sie auch morgen früh zu ihr gehen und ihr dringend raten, dadurch etwas Geld zu verdienen daß sie ein Zimmer jetzt sofort möbliert vermietet! — Sie verstehen, Mutter Allison: Sie sollen Frau Gemmerton einweihen, daß ich wieder da bin und daß ich als Dame ihre Mieterin werden will.

Frau Allison nickte. „Gut, wird besorgt. Sie wird dann morgen schon in ihre Wohnung zurückkehren. — Was halten Sie nun eigentlich von dem wandelnden Skelett, Mr. Pratt?“

Sehr viel, Mutter Allison. Ich behaupte, daß es tatsächlich wandelte.“

Oho! Dann — dann sind auch Sie abergläubisch geworden!“

Vielleicht! — Nun bringen Sie mir mal alles Nötige für eine Verkleidung als Neuyorker Straßenpolizist. Ich habe in dieser Nacht noch viel vor. Auch das Adreßbuch muß ich einsehen. Der Getreidehändler Bounger scheint mir etwas fragwürdig zu sein.“

Aha!“ rief Mutter Allison. „Auch ich habe schon daran gedacht, daß Bounger vielleicht seine Geschäftsbücher vernichten wollte.“

Mutter Allison, der Gedanke ist mir sofort gekommen! Ein Maskierter, der ein Streichholz in den Papierkorb wirft, ist ein Brandstifter — wenigstens in diesem Falle!“ —

Der Getreidehändler Bounger bewohnte in der 19. Straße dicht am Hafen ein altes, speicherähnliches Gebäude. Unten im Erdgeschoße lagen die Kontorräume und Boungers drei Privatzimmer. Die oberen Stockwerke waren zur Aufnahme der Getreidevorräte bestimmt.

Gegen halb elf pochte ein bärtiger Polizist an das erleuchtete Fenster des Boungerschen Kontors.

Sofort wurde der Vorhang zurückgeschlagen, und Daniel Boungers breite, massige Gestalt mit dem ungeheuren Bauch erschien am Fenster, öffnete es und fragte den Beamten noch seinem Begehr.

Nur ein paar Fragen im Auftrage Inspektor Grablays,“ erklärte der Polizist. „Bitte lassen Sie mich ein.“

Bounger sagte darauf, er würde die Tür öffnen.

Nic Pratt hatte Bounger bis dahin nie gesehen. Als er so des Getreidehändlers kolossalen Körperumfang zum ersten Mal mustern konnte, dachte er sogleich, daß dieser dicke Mann niemals derselbe sein könnte, der den Brand in Gemmertons Arbeitszimmer angelegt hatte. Nein, das war ausgeschlossen. Ein so dicker Mensch vermag derartige dunkle Geschäfte, zu denen körperliche Gewandtheit nötig war, nicht zu erledigen. —

Daniel Bounger bot dem angeblichen Polizeibeamten einen Stuhl an.

Nic Pratt setzte sich und fragte, wieviel Kontorangestellte Bounger habe.

Vier. Einen Buchhalter und drei Lehrlinge,“ erklärte der Dicke.

Weshalb hatten Sie Mr. Gemmerton Ihre Geschäftsbücher übergeben?“ wollte der Polizeibeamte weiter wissen.

Weil ich mich seit langem wunderte, daß das Geschäft zurückging. Die Einnahmen wurden geringer und geringer. Ich selbst verstehe vom Rechnen und Buchführen nichts. Ich bin mal Hafenarbeiter gewesen und habe mich langsam vorwärtsgebracht.“

Danke. Wie heißt Ihr Buchhalter?“

John Lowelly —“

Fürchten Sie, daß er Sie betrügt?“

Hm — das will ich nicht gerade behaupten. Aber — na, so etwas Mißtrauen, hege ich ja gegen ihn.“

Wo wohnt John Lowelly?“

Gleich im Nebenhause.“

Sind die Geschäftsbücher durch den Brand bei Gemmerton so stark beschädigt, daß eine Nachprüfung der Eintragungen unmöglich ist?“

Ganz unmöglich, Master! Und das ist ja gerade mein Ärger!“

Nic Pratt erhob sich. „Das wäre alles, Mr. Bounger. Verschweigen Sie meinen Besuch gegenüber Ihrem Personal. Gute Nacht!“ —

Pratt schritt die Straße entlang, machte aber sehr bald kehrt und öffnete das Schloß der Haustür neben dem Boungerschen Geschäft mit seinem Patentdietrich.

John Lowelly wohnte in der zweiten Etage rechts.

Pratt läutete. Nach einer Weile fragte jemand hinter der Tür, wer denn noch so spät Einlaß begehre.

Polizei!“ rief Pratt leise.

Hinter der Tür eine Weile Totenstille. Dann wurde eine Sicherheitskette losgehakt. Die Tür ging auf. Vor Pratt stand ein junger, blasser Mensch.

Sie wünschen?“ fragte John Lowelly zögernd.

Nur eine kurze Unterredung —“

Lowellys verängstigte Augen und sein scheues Benehmen deuteten auf ein sehr schlechtes Gewissen hin.

Bitte,“ sagte er dumpf und öffnete eine Tür. „Treten Sie ein. Seien Sie aber recht leise. Meine Frau ist seit Monaten schwer krank —“

Nic Pratt wußte, daß er hier den Mann vor sich hatte, der den Papierkorb in Brand gesteckt hatte.

Das Wohnzimmer, in dem die beiden Männer dann Platz nahmen, war mehr als bescheiden eingerichtet. Es befanden sich nur ein Schrank, ein Tisch, ein paar Stühle und ein Schreibtisch aus Fichtenholz darin.

Lowellys vorhin so bleiches Gesicht war jetzt auffallend rot. Auf der Stirn standen ihm dicke Schweißtropfen. Die elektrische Hängelampe beleuchtete grell seine vergrämten, verbitterten Züge.

Womit kann ich dienen?“ fragte er, indem er die bebenden Hände von der Tischkante, wo das nervöse Flattern zu sehr auffiel, in den Schoß legte.

Pratt saß ihm durch den Tisch getrennt gegenüber. Er hatte sich bereits ein vollständiges Bild von dem Unglück dieses Mannes zusammengefügt, dessen kranke Frau ohne Zweifel Ausgaben erforderte, die über Lowellys pekuniäre Leistungsfähigkeit weit hinausgingen. Ihm tat Lowelly leid. Er war Menschenkenner genug, um aus diesem gramerfüllten, verzweifelten Gesicht auf den Charakter dieses vom Schicksal hart Betroffenen schließen zu können.

Mr. Lowelly,“ sagte er daher gütig, „auch unter uns Polizisten gibt es Menschen mit mitfühlendem Herzen. Ich rate Ihnen, mir gegenüber alles einzugestehen. Sie waren am 18. Juni morgens gegen halb zwei in Gemmertons Arbeitszimmer!“

John Lowellys Antlitz überflog fahle Blässe. Seine Lippen preßten sich so fest zusammen, daß der Mund nur wie ein schmaler Strich erschien.

Sie — Sie sind kein Polizeibeamter!“ stieß er dann hervor. „Sie sind Nic Pratt, der — Menschenfänger! Die Polizei ist viel zu dumm, als daß sie der Wahrheit auf die Spur gekommen wäre!“

Sein rechter Arm flog aus dem Schoße hoch.

Seine Hand hielt eine jener amerikanischen Luftpistolen, deren Durchschlagskraft der einer gewöhnlichen Pistole völlig gleichkommt.

Rühren Sie sich nicht!“ zischte er, während er auf Pratt zielte und ihm der Schweiß über das Gesicht lief. „Oder — bei Gott! — ich drücke ab!“

 

 

4. Kapitel.

Was Lowelly wußte.

Nic Pratt schüttelte nur wie mißbilligend den Kopf. „Mr. Lowelly,“ meinte er, „ich bin kein Menschenfänger, sondern ein Verbrecherfänger. Sie halte ich nicht für einen Verbrecher!“

Redensarten — nichts als Redensarten!“ rief John Lowelly leise. „Nichts als teuflische List Ihrerseits, mich zu verderben! Wenn Sie nicht hier sofort schwören, daß Sie nie wieder sich mit den Vorgängen jener Nacht beschäftigen und mich nicht verraten werden, knalle ich Sie nieder! Vor Ihnen habe ich die meiste Angst gehabt!“

Deshalb ließen Sie mich auch durch die Flugmaschine fortschaffen!“ sagte Pratt, obwohl er bereits wußte, daß Lowelly hiermit nichts zu tun hatte und daß zwei verschiedene Vorgänge oder verbrecherische Handlungen in jener Nacht sich abgespielt hatten.

John Lowelly starrte Pratt jetzt überrascht an. „Flugmaschine?! Fortschaffen — ich?! Nein, da sind Sie im Irrtum, Mr. Pratt!“ erklärte er rasch.

Pratt rückte näher an den Tisch heran. Es war nur ein schmaler Tisch, und wenn er jetzt den Fuß hob, mußte er Lowellys Beine berühren können.

Lowelly zielte fortgesetzt auf ihn. „Keine verdächtige Bewegung!“ warnte er nochmals. „Wollen Sie schwören? Ja oder nein?!“

Seien Sie doch verständig, Lowelly,“ meinte Pratt freundlich. „Ich will Sie nicht verderben. Ihrer kranken Frau wegen haben Sie die Unterschlagungen bei Bounger verübt und die Bücher gefälscht. Ich will —“

Satan — Satan!“ keuchte Lowelly da. „Aushorchen willst Du mich — nichts weiter! Marry und ich werden freiwillig in den Tod gehen! Aber — Du gehst mit!“

Nic Pratt merkte, daß die Nerven dieses armen Menschen durch all die Sorgen und durch die Gewissenspein völlig verbraucht waren. Mit diesem Manne ließ sich in vernünftiger Weise nicht mehr verhandeln; dieser Mann war nicht mehr geistig normal. Hier mußten List und Gewalt helfen.

Pratt zog den rechten Fuß an, stieß nun mit aller Kraft unter dem Tische Lowelly gegen das Schienbein.

Mit heiserem Schmerzensschrei fuhr der Buchhalter hoch.

Pratts Faust traf schon sein Handgelenk. Die Pistole flog auf den Teppich.

Lowelly stierte jetzt in die Mündung des kleinen blanken Revolvers des berühmten Detektivs, sank mit einem verzweifelten Aufschluchzen auf den Stuhl zurück und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen.

Lowelly,“ sagte Pratt eindringlich, „ich werde Sie nicht verraten. Mehr noch: ich werde Ihnen das Geld leihen, damit Sie Ihre Unterschlagungen wieder ungeschehen machen und Ihrer Gattin alle nötige Pflege angedeihen lassen können. Ich bin reich. Ich verdiene weit mehr, als ich ausgeben kann. Mein Wort darauf, Lowelly: ich meine es ehrlich! — Aber eins müssen Sie: erzählen Sie mir, was in jener Nacht sich im Hause Rulbornstraße 48 abspielte. Hier — ich werde Ihnen einen Scheck auf meine Bank geben. Genügen zwanzigtausend Dollar?“

Lowelly ließ die Hände sinken. Mit glanzlosen Augen stierte er Pratt an. Er konnte es gar nicht fassen, daß Nic Pratt wirklich als Retter und Helfer zu ihm gekommen war. —

Dann berichtete er folgendes. Er hatte sich damals nachts in den Hof des Hauses Nr. 48 geschlichen und auf eine günstige Gelegenheit gewartet, in Gemmertons Arbeitszimmer einsteigen zu können. Vom Dache des Stallgebäudes aus hatte er, hinter dem Schornstein verborgen, Gemmerton beobachtet, hatte gesehen, wie oben bei Doktor Britton die Fenster hell wurden und wie Gemmerton an der eisernen Fensterleiter emporkletterte — Als dieser dann die Polizeibeamten einließ und das Zimmer leer war, hatte er rasch mit Hilfe der Leiter das Fenster erreicht, war eingestiegen und wollte gerade sein Vernichtungswerk beginnen, als Gemmerton nach dem Telephongespräch mit Pratt sich wieder einmal zum Fenster hinausbeugte und dann mit gellendem Schrei in den Hof hinabstürzte. Da hatte er das ihn am meisten belastende Geschäftsbuch an den Rand des Schreibtisches gelegt, so daß die Flammen des brennenden Papierkorbes das Buch erfassen mußten. Er floh nun mit der Maske vor dem Gesicht zum Fenster hinaus, wurde noch von ein paar Leuten verfolgt, entkam aber glücklich.

Pratt hatte Lowelly durch keine Zwischenfrage unterbrochen. Erst jetzt sagte er, immer in demselben freundlichen Tone: „Haben Sie vom Stalldache aus etwas von dem wandelnden Skelett oder sonst etwas Auffälliges bemerkt?“

Lowelly nickte. „Der Schatten des Skeletts zeichnete sich auf den Fenstervorhängen des Studierzimmers Brittons deutlich für ein paar Sekunden ab.“

Besinnen Sie sich einmal recht genau, Lowelly. Bewegte das Skelett die Beine? Ich will sagen: „ging es so, wie ein Mensch geht, oder schwebte es, während die Beine dieselbe Stellung behielten.“

Es schwebte, Mr. Pratt. Die Beine bewegten sich nicht. Nur die Arme schlenkerten.“

Beobachteten Sie sonst noch etwas, das Ihnen auffiel?“

Ja, Mr. Pratt. Auch in dem Zimmer der dritten Etage über Brittons Studierstube leuchtete zuweilen ein Lichtschein auf. Es sah so aus, als ob dort jemand mit einer Laterne herumhantierte.“

Pratt lächelte fein. „Etwas Ähnliches erwartete ich von Ihnen zu hören, Lowelly.“

Was ist’s denn eigentlich mit dem Skelett. Mr. Pratt?“ fragte Lowelly zögernd und bescheiden.

Oh, das dürfte mit Geld zusammenhängen. Sie werden bald mehr darüber hören. — Nun muß ich mich verabschieden. Leben Sie wohl, und vergessen Sie diese Stunde vollständig. Kein Mensch darf ahnen, daß Nic Pratt in Neunyork ist.“

Der Buchhalter preßte Nics Hand vor Rührung. „Wie soll ich Ihnen nur danken!“ stammelte er. „Oh — wie habe ich Sie doch verkannt!“ —

Pratt kehrte nach Hause zurück und schlief auf dem Diwan seines Kellergemachs bis in den hellen Vormittag hinein. —

Als Frau Allison mittags von dem Besuch bei Lydia Gemmerton zurückkehrte, konnte sie Pratt mitteilen, daß Frau Gemmerton ihre Wohnung in dem Hause Nr. 48 bereits wieder bezogen und auch ein Schild an die Haustür gehängt habe:

Möbl. Zimmer nur an eine Dame zu vermieten“.

Pratt war zufrieden. Nachdem er Mittag gegessen hatte, begab er sich nach oben in sein Ankleidezimmer. Er wollte jetzt mit aller Sorgfalt sich in eine ältere, würdige, kneiferbewaffnete Dame verwandeln.

Schon während der Eisenbahnfahrt nach Neuyork hatte er stets wieder an jenen kleinen Zettel denken müssen, den das Skelett zwischen den Zähnen festgeklemmt gehabt hatte. Er hatte sich die Zahlenreihen jetzt genau so auf ein Blatt Papier geschrieben, wie sie auf dem Zettel gestanden hatten. Während er sich ankleidete, schaute er immer wieder auf das Blatt Papier und fragte sich, wie diese Chiffreschrift wohl zu lösen sein könne. Doch auch sein scharfer Geist versagte hier. Allerdings: er hatte bereits eine andere Deutung für diese Geheimschrift gefunden, und zwar eine Deutung, die mit dem betrügerischen Spuk, zu dem das Skelett verwendet worden war, in einer sehr engen Beziehung stand. Diese Vermutung über den wahren Sinn und Zweck des kleinen Zettels konnte falsch sein. Aber gerade weil Pratt die Geheimschrift nicht hatte enträtseln können, nahm er doch an, daß seine Deutung, die eigentlich gar keine Deutung war, sehr wohl zutreffend sein könnte. —

Um drei Uhr nachmittags verließ die alte, würdige Dame das kleine Häuschen durch den zweiten Ausgang nach der Bloornstraße mit einem Koffer, nahm ein Auto und hatte um fünf Uhr als Miß Doris Young, Schriftstellerin aus St. Louis, das Arbeitszimmer Edward Gemmertons vorläufig für acht Tage gemietet.

 

 

5. Kapitel.

Das Skelett wandelt wieder.

Es ist für jeden Detektiv, der seine Stimme anders zu färben vermag, weit leichter, eine Frau als irgend einen anderen Mann zu spielen. Pratt war denn auch überzeugt, daß niemand ihn als Miß Young, deren Pausbacken und Knollennase genau so künstlich hergerichtet waren wie der blasse Teint und die scheinbar winzigen Schweinzäuglein hinter den Kneifergläsern, wiedererkennen würde.

Lydia Gemmerton freilich wußte, wer diese Schriftstellerin war, wenn sie auch bei der ersten Unterredung des Zimmers wegen zunächst in keiner Weise geahnt hatte, Nic Pratt vor sich zu haben. Deshalb war sie auch Miß Young gegenüber sehr ablehnend gewesen, weil sie ja auf den verkleideten Pratt gewartet hatte, und als dieser dann ganz leise flüsterte: „Ich bin Nic Pratt!“ hatte sie ihrem Erstaunen in echt weiblicher Art Ausdruck verleihen wollen, was Nic jedoch durch eine sofortige, sehr eindringliche Warnung verhinderte, indem er sagte:

Frau Gemmerton, bitte niemals zu vergessen, daß wir hier von Spionen umgeben sind!“ — Dann fügte er hinzu, ohne sich auf nähere Erklärungen einzulassen: „Ist Doktor Britton von seinem Landhause auf die Nachricht über das wandelnde Skelett nach der Stadt zurückgekehrt?“ Er sprach so leise, daß auch Frau Gemmerton die Stimme dämpfte, als sie erwidere:

Nur Frau Doktor Britton war gestern für ein paar Stunden hier. Ihr Mann macht einen wissenschaftlichen Ausflug nach dem Süden.“

Pratt blickte ernst vor sich hin. „Ja, nach Florida ging dieser Ausflug,“ flüsterte er sinnend. „Britton wird, so fürchte ich, dort verunglückt sein. — Wo liegt sein Landhaus?“

Frau Gemmerton war ganz verwirrt. „Im Norden, bei dem Dorfe Villemoux,“ entgegnete sie. „Weshalb aber soll Britton dort verunglückt sein? Oh — das würde mir sehr leid tun, sehr. Brittons sind so reizende Menschen, Mr. Pratt, und Frau Britton riet mir gestern so dringend, doch ja zu versuchen, ob ich Sie nicht irgendwie auffinden könnte, damit Sie mir helfen sollten.“

Wie äußerte sie sich denn über das Skelett?“ fragte Pratt zerstreut.

Sie meinte, Edward sei natürlich das Opfer einer Sinnestäuschung geworden. Trotzdem aber, sagte sie weiter, finde sie es von mir sehr richtig, daß ich zu meiner Schwester gezogen und nicht so allein hier in der Wohnung geblieben sei.“

Pratt lächelte verstohlen. „Wie stehen Sie eigentlich mit Kapitän Parling, dem Bewohner der dritten Etage?“ wollte er dann wissen.

Wir kennen uns kaum, Mr. Pratt. Parling ist ein menschenscheuer Sonderling.“

Wissen Sie, ob Brittons in ihrem Landhause Telephon haben? — Wenn ja, dann rufen Sie Frau Britton nachher doch einmal an und teilen Sie ihr mit, Sie seien nun doch in Ihre Wohnung zurückgekehrt, da Sie durch Zimmer-Vermieten etwas Geld verdienen wollten. — Noch eine Frage, Frau Gemmerton. Hat Doktor Britton einmal Ihrem Manne irgend ein Geschäft vorgeschlagen?“

Sie wurde sehr verlegen, die hagere, nervöse Frau Lydia, so daß Pratt sich sofort sagte: „Auch dieser Punkt stimmt also!“

Dann erwiderte Frau Gemmerton unsicher: „Ich möchte darüber nicht sprechen, Mr. Pratt. Mein Mann wollte Doktor Britton erst den Gefallen tun, um den dieser ihn gebeten hatte. Nachher überlegte er sich’s jedoch. Ein Geschäft war es nicht.“

Hm — die Gefälligkeit hing wohl mit der Stellung Ihres Mannes in der Staatsdruckerei zusammen, nicht wahr? Ihr Mann hat dort die Aufsicht des Papierlagers, wie ich in einem Zeitungsbericht las.“

Frau Gemmerton nickte nur. —

Pratt ging dann in „Miß Youngs“ Zimmer hinüber und packte seinen Koffer aus. Nachher besuchte er ein nahes Restaurant, aß Abendbrot und stellte fest, daß ein älterer, graubärtiger Herr, der dicht hinter ihm das Lokal betreten hatte, für „Miß Young“ ein vorsichtiges, aber recht reges Interesse bezeigte.

Das dürfte der angebliche Kapitän Parling sein,“ dachte Pratt. „Er mißtraut der neuen Mieterin Miß Young!?“

Als er gespeist und bezahlt hatte, benutzte er noch die Telephonzelle des Restaurants und ließ sich mit der Polizeidirektion verbinden. Sein Freund Stuart Grablay war noch anwesend. Pratt meldete sich als Niceforus Prasto. Das war der zwischen beiden vereinbarte besondere Name für Pratt. — „Lassen Sie sofort das Landhaus Doktor Brittons umstellen und scharf beobachten,“ sagte er nur. „Halten Sie sich auch mit zwei Leuten in der kommenden und den folgenden Nächten bereit, sofort in Nr. 48 einzudringen. Wiedersehen. Kein Wort, daß ich wieder aufgetaucht bin!“

Dann kehrte Miß Young heim, setzte sich bei offenen Fenstern an den Tisch und begann zu schreiben.

Frau Gemmerton kam nach einer Weile und fragte, ob Miß Young noch irgendwelche Wünsche habe. Die Miß dankte, und man sagte sich höflich gute Nacht.

Pratt schaltete gegen zehn Uhr das Licht aus und wartete im Dunkeln bis halb elf. Diese Zwischenzeit benutzte er dazu, sich wieder in den alten Nic Pratt zu verwandeln. Der Koffer enthielt alles Nötige.

Nun verließ er die Wohnung lautlos durch die Flurtür und schlich ebenso lautlos die Treppe hinan, lauschte wiederholt und verschwand schließlich in Doktor Brittons Etage, wo er in der Studierstube in einem großen Schrank, der zur Hälfte mit physikalischen Apparaten gefüllt war, ein gutes Versteck fand. Er hatte seine Taschenlampe nicht ein einziges Mal eingeschaltet, hatte sich in der Dunkelheit nur vorwärtsgetastet und jede Tür so achtsam geöffnet und geschlossen, daß auch nicht das geringste Geräusch entstanden war.

Im ganzen Hause herrschte völlige Stille. Der Straßenlärm drang nur ganz gedämpft bis hierher.

Pratt hatte die Schranktür etwa eine Handbreit offen gelassen, hielt den Kopf dicht an die Öffnung und lauschte. Er wußte nicht genau, ob sich etwas ereignen würde. Immerhin — er hoffte darauf!

Eine Uhr schlug oben in des Kapitäns Wohnung elf.

Dann wieder endloses Warten. Wieder schlug die Uhr: Mitternacht, Geisterstunde!

Und — jetzt wirklich ein schwaches Geräusch von der Zimmerdecke her. Die elektrische Krone, die über Brittons Schreibtisch hing, klirrte.

Nun der keuchende Atem eines Mannes, der offenbar an der Krone herabkletterte.

Pratt dachte: „Auch das stimmt also! Die Stuckrosette der Decke ist beweglich! Dort ist die Verbindung nach Parlings Wohnung!“

Jetzt huschende Schritte — ein schwacher Lichtschein in der Ecke, wo das Skelett hinter dem Vorhang stand.

Dann kehrte Parling auf demselben Wege in seine Wohnung zurück. Wieder klirrten die Glocken der Krone leise. Nun aber endlich auch der so ungeheuer alberne Trick: das Skelett an Drähten hängend, die Parling oben dirigierte, begann zu wandern.

Tapp — tapp — so klapperte der weiße Knochenmann über die Dielen hin. Plötzlich flammte die Krone auf. — „Sie hat natürlich oben bei Parling noch einen Kontakt,“ dachte Nic mit geringschätzigem Lächeln.

Das Skelett setzte sich an den Schreibtisch, legte die Arme auf die Platte.

Nic schaute zur Stuckrosette empor. Er hielt den Revolver bereit.

Dann ein Sprung aus dem Schranke hervor.

Oben ein Fluch. Ein Schuß blitzte herab.

Pratt war schon an der Zimmertür, war im Flur, riß das Flurfenster auf, feuerte zwei Alarmschüsse ab. —

Inspektor Grablay hatte sich auf dem Dache des Stallgebäudes im Hofe postiert gehabt. Als Parling an der Feuerleiter hinabkletterte und fliehen wollte, lief er Grablay gerade in die Arme. Der kleine Grablay rief dreimal halt. Parling drehte sich um, zielte.

Grablays Kugel war schneller. Parling sank mit schwerem Brustschuß zu Boden.

Polizeibeamte erschienen, trugen den Verwundeten ins Haus. Pratt beugte sich über ihn und nahm ihm den falschen Bart und die Perücke ab.

Das ist ja Tom Bally, der entflohene Zuchthäusler, der berüchtigte Banknotenfälscher!“ rief Grablay sofort.

Ja,“ nickte Pratt, „und das Ehepaar Britton sind die nicht minder berüchtigten Fälscher Ben und Daisy Hoobler. Ben Hoobler war ursprünglich Mechaniker und Flugzeugführer. Als man mich im Flugzeug damals nachts weggeschafft hatte, als ich mich befreite und der andere den Tod fand, fiel mir noch nicht sofort Ben Hoobler ein. Erst daheim erinnerte ich mich an Hooblers verwegene Flucht vor sieben Monaten und kam so auf die Vermutung, die Brittons und Parlings könnten jene Banknotenfälscher sein, die schon einmal auf raffinierteste Art zusammengearbeitet hatten. — Das wandelnde Skelett hatte nur den Zweck, das Ehepaar Gemmerton aus der Wohnung zu verscheuchen. Die Gemmertons neigten zum Aberglauben, und darauf bauten die Verbrecher ihren Plan auf. Sie wollten eben Gelegenheit haben, die Wohnung Gemmertons in aller Ruhe zu durchsuchen und zwar nach jenen Banknotenpapier, welches Edward Gemmerton als Beamter der Staatsdruckerei für Britton besorgt, also heimlich entwendet, ihm dann aber nicht abgeliefert hatte, weil ihm Bedenken aufstiegen, ob Britton das Papier wirklich zu einem harmlosen Zweck benutzen wollte, wie dieser es Gemmerton fraglos vorgelogen hat. Gemmertons Sturz in den Hof hinab dürfte Parling irgendwie verschuldet haben. Wahrscheinlich hat Parling ihm von oben mit einer Stange einen Schlag über den Kopf versetzt. Das Flugzeug, mit dem ich weggebracht wurde, wird auf dem Flugplatz Godlory nach einer Zeitungsnotiz vermißt. Von dort hat Britton-Hoobler es entführt.“

Und der Mann, der durch das Fenster floh, — der Mann mit der Maske?“ fragte Grablay gespannt.

Darüber kann ich leider nichts angeben,“ meinte Pratt achselzuckend. „Was den Zettel zwischen den Zähnen des Skeletts betrifft, so glaube ich, daß er gar nichts zu bedeuten hat. Britton mag gewollt haben, daß Gemmerton ihn fände und daß das Geheimnis des wandelnden Knochenmannes dadurch noch dunkler erschiene.“

Der verwunderte Tom Bally bestätigte all diese Kombinationen Pratts. Gemmerton wurde in kurzem völlig wiederhergestellt, und der Buchhalter John Lowelly erlebte gleichfalls die Freude, daß seine Frau wieder genas. Frau Britton und Tom Bally wanderten für endlose Jahre ins Zuchthaus.

 

 

Nächster Band:

Die Hafenpiraten.