Nic Pratt
Amerikas Meisterdetektiv
Heft 8:
Preis 10 Mark.
Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1922
by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Nic Pratt, Amerikas Meisterdetektiv.
Zu beziehen durch alle Buch- und Schreibwarenhandlungen, sowie vom
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 26 Elisabeth-Ufer 44.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin
1. Kapitel.
Doktor Wartons nächtliches Abenteuer.
Doktor Edward Warton hatte sich erst unlängst in der Grimsysstraße in Neuyork als Zahnarzt niedergelassen. Er wohnte in der ersten Etage eines neueren Hauses. Auf der anderen Straßenseite zog sich der Park der Villa des bekannten, vor einem Jahre verstorbenen Forschungsreisenden Abner Alcolm mit seiner hohen, von alten Kastanien überragten Mauer hin. Die Villa selbst lag hinter Baumgrün versteckt, das jetzt im Herbst sich freilich schon verfärbt hatte und zahlreiche Lücken aufwies.
Die Patienten fanden sich bei Warton nur sehr spärlich ein. Der junge Zahnarzt besaß jedoch Vermögen und war außerdem in seinen Ansprüchen sehr bescheiden. —
Am 17. Oktober abends gegen zehn Uhr wollte Warton gerade den Treveller-Klub besuchen, dessen Mitglied er war, als es läutete und seine Wirtschafterin Frau Flupp ihm einen Patienten meldete.
Warton zog den Ulster wieder aus, ging ins Wartezimmer und fand hier einen älteren Herrn vor, der mit heiserer Stimme um Entschuldigung bat, weil er noch so spät störe. Es handele sich aber um einen sehr dringenden Fall. Seine Tochter habe seit heute früh Zahnschmerzen, und diese hätten sich nun bis zur Unerträglichkeit gesteigert.
„Ich bezahle Ihnen, was Sie wünschen, Mr. Warton,“ erklärte er weiter. „Mein Auto steht unten bereit. Wir haben etwa eine Viertelstunde zu fahren. Soweit ich etwas von Zahnkrankheiten verstehe, dürfte der eine Zahn an der Wurzel vereitert sein. Nehmen Sie jedenfalls auch die nötigen Instrumente und Medikamente mit, damit Sie schmerzstillende Mittel anwenden können, wenn der Zahn gezogen werden müßte. Bitte, hier sind hundert Dollar als Anzahlung.“
Warton hatte inzwischen den graubärtigen Herrn, der fuchsrotes, gescheiteltes Haar hatte und eine blaue Brille trug, aus dem Gefühl eines unbestimmten Mißtrauens heraus unauffällig schärfer gemustert.
Dieses Mißtrauen war lediglich durch die heisere Stimme des Fremden hervorgerufen worden, der bei der Nennung seines Namens offenbar absichtlich ganz undeutlich gesprochen hatte und dessen belegtes Organ auf Warton den Eindruck machte, als sei die Heiserkeit erkünstelt.
Jetzt stellte er noch fest, daß der im übrigen gut angezogene Herr, dessen Benehmen den gebildeten Menschen verriet, eine Perücke aufhatte und daß der zu dieser fuchsroten Perücke im merkwürdigen Widerspruch stehende graue Vollbart gleichfalls nicht echt sein könne.
Warton beschlich ein Empfinden, als ob ihn eine innere Stimme davor warnte, dem Manne zu folgen. Aber er war sein Lebtag kein Feigling gewesen, und mit achtundzwanzig Jahren ist der Durchschnittsamerikaner einem Abenteuer irgend welcher Art durchaus nicht abgeneigt.
So fragte er denn zunächst, ohne sein Mißtrauen irgendwie zu verraten:
„Verzeihen Sie. Ich habe Ihren Namen vorhin nicht verstanden. Ich möchte Namen und Adresse sogleich in mein Buch eintragen, wie dies üblich ist.“
„Thomas Smilepp, Kaufmann, Ontariostraße 18,“ krächzte der rätselhafte Mensch mit höflicher Verbeugung.
„Danke. Wollen Sie bitte einen Moment warten. Ich bin sofort wieder da." —
Edward Warton notierte im Operationszimmer Namen und Straße, packte seine Instrumente zusammen und steckte noch für alle Fälle seinen Revolver ein.
Dann verließ er mit Mr. Smilepp das Haus.
Ein paar Häuser weiter stand ein geschlossenes Auto.
„Bitte steigen Sie ein", sagte der Rothaarige, indem er die Tür öffnete.
Kaum hatten sie dann in dem Kraftwagen Platz genommen, als Warton schon rief: „Hier ist’s ja fürchterlich heiß!“
Smilepp erklärte, die elektrische Heizung des Autos sei eingeschaltet, weil er sich so stark erkältet habe.
Der Kraftwagen fuhr davon. Da es draußen schon recht kühl war, während im Innern des Autos wenigstens siebzehn Grad Wärme sein mochten, beschlugen die Fenster so dicht, daß Warton unmöglich feststellen konnte, welche Straßen man passierte.
Der seltsame Mr. Smilepp schien sich außerdem die größte Mühe zu geben, durch eine recht angeregte Unterhaltung Wartons Aufmerksamkeit abzulenken.
Der junge Zahnarzt fühlte sich in der Gesellschaft dieses Menschen recht unbehaglich. Am liebsten hätte er verlangt, daß Smilepp ihn wieder nach Hause brächte. Aber das kam ihm geradezu feige vor. So tat er denn weiter so, als hielte er Smilepp für einen durchaus harmlosen Menschen und suchte nach Möglichkeit den Ahnungslosen zu spielen.
Die Fahrt dauerte vielleicht zwanzig Minuten.
Dann war man am Ziel. Smilepp stieg zuerst aus. Warton schaute sich, um. Das Auto war ganz dicht vor einer großen Haustür vorgefahren, zu der vier Steinstufen emporführten. Von dem Gebäude selbst konnte der Zahnarzt wenig wahrnehmen. Es hatte jedenfalls einen Vorgarten mit zahlreichen Bäumen und Büschen.
„Bitte, treten Sie ein,“ drängte Smilepp ungeduldig.
Warton ging die Stufen empor und befand sich nun in einem matt erleuchteten Hausflur. Smilepp eilte voraus, bog links ab und rief: „So kommen Sie doch!“
Es schien ihm nicht zu gefallen, daß Warton sich hier so genau umblickte.
Mit einem Male hörte Edward Warton irgendwo hier im Hause so seltsame Töne, daß er wie angewurzelt stehenblieb und Smilepp fragte:
„Das klang ja wie — wie das Jaulen eines Raubtieres?! Halten Sie sich hier irgendwelche Bestien?“
„Oh — nur einen jungen zahmen Tiger,“ sagte der Rothaarige hastig. Dann öffnete er eine Tür.
„Bitte, Mr. Warton, das Zimmer meiner Tochter liegt im Keller —“
Die Tür war nämlich der Zugang zur Kellertreppe.
Warton zauderte. Ihm wurde immer unheimlicher zu Mute.
„Im Keller?“ meinte er, nur um Zeit zu gewinnen.
„Ja. Meine Tochter ist nämlich schwachsinnig und schreit zu Zeiten so furchtbar, daß man es kaum mit anhören kann. Im Keller ist dies weniger vernehmbar.“
Warton rührte sich nicht, obwohl Smilepp ihm ungeduldig zuwinkte.
Er fragte sich abermals: „Soll ich es wirklich wagen?! — Anderseits, was soll mir hier zustoßen? Mich wird niemand berauben wollen. So große Werte trage ich nicht mit mir herum.“
Der Gedanke an seinen geladenen und entsicherten Revolver, den er in der rechten Ulstertasche stecken hatte, wirkte außerdem auch noch ermutigend auf ihn.
So schritt er denn hinter dem angeblichen Smilepp die sauber gestrichene und mit einem zierlichen Geländer versehene Kellertreppe hinab.
Der Kellergang mit den vielen Türen rechts und links war gleichfalls sehr sauber gehalten. Alles war mit hellgrüner Ölfarbe gestrichen. Die Türen sahen mehr wie Stubentüren aus. Das große Gebäude hatte Zentralheizung. Überall war es angenehm warm.
Smilepp blieb vor der vierten Tür linker Hand stehen.
„Bitte, warten Sie einen Augenblick,“ sagte er. „Ich will meine Tochter nur vorbereiten.“ Seine heisere Stimme zitterte vor Erregung.
Der junge Zahnarzt nickte nur. Smilepp öffnete die Tür, die nach außen schlug. Warton konnte jedoch in das Zimmer nicht hineinschauen. Es hing ein Vorhang innen vor der Tür, und Smilepp schob ihn erst bei Seite, nachdem er die Tür wieder geschlossen hatte.
Warton blickte sich jetzt nochmals um. Das Angstgefühl stellte sich wieder ein.
War es nicht klüger von ihm, wenn er diese Gelegenheit zur Flucht benutzte? Er würde schon irgendwie ins Freie gelangen.
Der Kellergang wurde durch mehrere elektrische Glühlampen erleuchtet. Warton faßte einen raschen Entschluß und eilte der Kellertreppe zu, prallte jedoch plötzlich entsetzt zurück. Ein Zittern überlief ihn.
Dort auf der Kellertreppe, mit den Vorderpranken auf der untersten Stufe, stand ein Tiger, nur halb sichtbar. Die Bestie hatte einen breiten Ledergurt um den Hals, von dem eine Kette lose herabhing.
Die gelben tückischen Augen der Bestie waren starr auf Warton gerichtet, der nun schrittweise wieder zurückwich.
Dann sah er, daß die Kette sich spannte. Eine für Warton unsichtbare Person zog den Tiger mit einem Ruck nach oben. Die Bestie verschwand.
Warton lehnte, die Stirn mit eiskaltem Schweiß bedeckt, an der Wand.
Hinter ihm die krächzende Stimme Smilepps:
„Bitte. kommen Sie, Mr. Warton. Aber haben Sie Nachsicht mit meinem Kinde, das an allerlei Wahnvorstellungen leidet.“
Warton hatte sich wieder gefaßt.
„Mr Smilepp, der Tiger war soeben dort auf der Treppe,“ sagte er und blickte den Verkleideten scharf an.
„Oh, das Tier ist zahm wie ein Hund,“ meinte Smilepp leicht verlegen.
Dann riß er hastig die Tür auf und schlug den Vorhang zurück.
2. Kapitel.
Die erste Nacht.
Nic Pratt, Neuyorks berühmtester Privatdetektiv, saß am selben Abend im Lesezimmer des Treveller-Klubs, dem auch er angehörte, und las die Abendzeitungen.
Er war allein in dem behaglichen, eleganten Raume, und er hatte es sich daher recht gemütlich gemacht, hatte die Füße vor sich auf den schweren Eichentisch gelegt und seine kurze, qualmende Holzpfeife im Munde.
Nic Pratt sah noch recht jung aus. Sein bartloses, schmales Gesicht verriet durch kein äußeres Kennzeichen, welche Fülle von Energie in diesem kaum dreißigjährigen Manne schlummerte, der mit seinem scharfen Geiste selbst die verwickeltesten Kriminalfälle und rätselhaftesten Begebenheiten zu entwirren verstand.
Pratts allzeit wache Aufmerksamkeit hatte soeben einen an sich ganz belanglosen Vorgang wahrgenommen. Ein anderer hätte kaum darauf geachtet, daß die Tür zum Lesezimmer vor einer Minute ganz leise geöffnet und dann sofort wieder geschlossen worden war. Pratt hatte sich umgedreht, aber niemanden mehr bemerkt.
Nun zog er seine Uhr, ließ den Golddeckel aufspringen und dachte:
„Um zehn Uhr dreiundfünfzig Minuten also war jemand an der Tür, der als er mich erkannt hatte, wieder umkehrte. Und dieser Jemand öffnete die Tür so leise, daß der Verdacht begründet erscheint, er habe nur feststellen wollen, ob ich hier anwesend bin, wie ihm einer der Klubdiener gesagt haben mag.“
Pratt langte nach dem elektrischen Druckknopf, der an einer grünseidenen Schnur von einem Kronleuchter herabhing, und gab so einem der Diener das Zeichen sich hier einzufinden. Es erschien denn auch sofort ein älterer Mann, der nach Pratts Wünschen fragte.
Pratt bestellte ein Glas Tee und fügte hinzu:
„Hat jemand nach mir gefragt Austin?“
„Jawohl, Mr. Pratt. Doktor Warton rief vor etwa fünf Minuten telephonisch und wollte wissen, ob Sie hier seien.“
„Und mündlich fragte niemand nach mir, Austin? Es, war nämlich soeben jemand an der Tür, der nur hinein schaute und wieder verschwand. Erkundigen Sie sich doch mal unauffällig bei den anderen Dienern, Austin, ob einer diesen Herrn beobachtet hat. Ich möchte wissen, ich möchte wissen, wer es war, der die Tür so sehr vorsichtig öffnete und schloß. Einer von Ihren Kollegen kann’s nicht gewesen sein. Die haben keinen Grund Türen wie die Einbrecher zu öffnen uns zu schließen. Aber — alles ganz unauffällig, Austin! Da haben Sie einen Dollar. Und — Mund halten!“
„Selbstverständlich, Mr. Pratt.“
In demselben Augenblick trat Warton ein.
„Gott sei Dank, daß Sie da sind, Pratt,“ rief er atemlos und warf sich neben Pratt in die andere Ecke des Ledersofas. „Verschwinden Sie, Austin, ich habe mit Mr. Pratt Wichtiges zu besprechen.“
Der Diener zog sich zurück.
„Waren Sie vor drei Minuten dort an der Tür?“ fragte Pratt schnell.
Der Zahnarzt schaute Pratt verwundert an. „Ich?! Nein, ich bin soeben erst gekommen — mit einem Auto, Pratt, — und zwar von dem seltsamsten Abenteuer, das man sich nur denken kann —“
„Erzählen Sie. Warton. Sie sind ein verständiger Mensch; kein Phantast. Was Sie erleben, wird nicht erst infolge einer stark arbeitenden Phantasie seltsam und rätselhaft. Sie müssen Gefahr gewittert haben, denn da in Ihrer Ulstertasche steckt noch ein Revolver, der sich undeutlich abzeichnet.“
Warton sprang wieder auf, zog den Ulster aus, legte ihn über eine Stuhllehne und sagte:
„Ich hätte den Revolver zu Hause lassen können. Und doch war es ein Erlebnis, das mich geradezu erschüttert hat.“
Er setzte sich wieder und rauchte sich eine Zigarette an. Dann begann er seinen Bericht, den er bald unterbrechen mußte, da Austin mit dem Glase Tee erschien.
Der Diener gab Pratt einen verstohlenen Wink und legte einen Zettel unter das Tablett. Pratt brachte den Zettel nachher an sich, ohne daß Warton etwas merkte.
„Weiter nun!“ meinte Pratt. „Die Geschichte ist ganz spannend, Warton. Das Auto war natürlich absichtlich überheizt, damit die Fensterscheiben beschlügen und undurchsichtig würden, und der Tiger sollte Ihre Flucht verhindern. Weiter also —“
„Der angebliche Smilepp ließ mich an sich vorüber in das große, recht elegant eingerichtete Zimmer hinein, das durch eine elektrische Krone hell erleuchtet war. Auf einem halb in das Zimmer gerückten Diwan lag ein bis zum Halse zugedecktes, dunkelblondes junges Weib. Sie sah sehr leidend aus, diese vielleicht fünfundzwanzigjährige Frau. Ihr regelmäßiges Gesicht war völlig farblos. Unter den Augen waren dunkle Schatten bemerkbar; die den Ausdruck dieser seltsam scheuen, verängstigten Augen noch mehr hervorheben. Das junge Weib blickte mich jetzt an. Ich hatte den Hut im Kellergang wieder aufgesetzt, nahm ihn nun wieder ab, verbeugte mich und wollte auf den Diwan zuschreiten. Doch Smilepp hielt mich am Mantelärmel zurück, flüsterte ganz leise: Warten Sie!“
Da richtete die Kranke den Kopf auch schon etwas empor und rief mit schwacher Stimme:
„O Harry, mein Geliebter, bist Du doch gekommen! Harry, ich danke Dir! Ich habe nicht glauben wollen, daß Du Dich —“
Hier fiel Smilepp ihr ins Wort.
„Kind, Kind, rege Dich nicht auf! Ich wußte ja, es würde für Deine Nerven zu viel sein! Harry wird morgen wiederkommen —“
Und mir raunte er zu:
„Schnell — hinaus, Mr. Warton! Sie hat wieder einen Anfall. Sie wird sofort in Schreikrämpfe fallen —“
Er drängte mich zur Tür zurück. Ich wußte kaum, wie mir geschah, hörte nur noch des Weibes klagende Stimme:
„Harry, Harry, Du mußt bestimmt wiederkommen!“ und befand mich schon im Flur.
Smilepp drückte die Tür ins Schloß und lauschte.
„Gott sei Dank, sie schreit nicht,“ sagte er tief aufatmend. Er befand sich in der größten Aufregung. „Bitte, Mr. Warton, folgen Sie mir. Heute ist eine Zahnbehandlung ausgeschlossen. Meine Tochter leidet an der Wahnvorstellung, daß sie jeden fremden Mann für ihren verstorbenen Verlobten hält!“
Ich schritt neben Smilepp wie im Traum dahin. Das, was ich hier erlebt hatte, war ja so widerspruchsvoll, daß ich mich zuweilen fragte, ob ich denn wirklich wach sei.
Als wir den Flur des Gebäudes entlanggingen, glaubte ich hinter uns ein Geräusch zu hören. Ich drehte etwas den Kopf, fuhr zusammen.
Da war wieder der Tiger — der Tiger mit der langen Kette. Die Kette war straff gespannt und verschwand hinter der Biegung des Flurs.
Smilepp beruhigte mich.
„Es ist keine Gefahr dabei,“ sagte er. „Wir sind auch sofort wieder im Auto.“
Ich war froh, als ich wieder in dem überheizten Auto saß. Der Chauffeur fuhr sehr schnell. Smilepp, abermals offenbar in dem Bestreben, meine Aufmerksamkeit abzulenken, redete allerhand von weiten Reisen, die er gemacht haben wollte, und von dem Tiger, den er mit der Flasche aufgezogen hatte. — Sie kennen mich ja einigermaßen, Pratt. Ich bin kein Feigling. Und so allgemach schämte ich mich, daß ich mich all diesen seltsamen Dingen gegenüber so wenig Männlich gezeigt hatte. Längst war mir klar geworden, wie frech dieser angebliche Smilepp mich von A bis Z belogen hatte. Seine Tochter — falls das junge Weib wirklich seine Tochter war! — hatte niemals Zahnschmerzen gehabt, wenigstens heute nicht? Gewiß, krank war sie. Das unterlag keinem Zweifel. Daran zweifle ich auch jetzt nicht. Weshalb also hatte dieser Kerl mit der roten Perücke mich geholt — weshalb nur?!
Das fragte ich mich immer wieder, während das Auto durch unkenntliche Straßen sauste.
„Und gleichzeitig, lieber Pratt, schämte ich mich von Minute zu Minute mehr über meine Unentschlossenheit.
Dann ein Gedanke: ich wollte Smilepp zwingen, mir die Wahrheit zu sagen.
Ich griff unauffällig in die Ulstertasche, um den Revolver herauszunehmen.
Aber — der Revolver war verschwunden!
Da sagte auch schon Smilepp neben mir:
„Mr. Warton, Ihre Waffe habe ich in der Hand. Ich kann so etwas Gedanken lesen. Sie möchten aus mir Antworten herauspressen auf all die Fragen, die Sie jetzt beschäftigen. Wozu sollte ich dulden, daß wir als Feinde auseinandergingen?! Ich hätte Ihnen doch nichts anderes mitteilen können als das, was Sie schon wissen. Manches an diesem Erlebnis mag Sie sehr seltsam berührt haben. Aber es ist wirklich nichts Seltsames dabei.“
Das Auto hielt plötzlich. Smilepp stieß die eine Tür auf.
„Bitte, steigen Sie aus!“ befahl er mit einem Male mit zwar noch immer heiserer, aber sehr energischer Stimme.
Ich tat es. Ich wollte draußen sofort am Hilfe rufen.
Doch ein Blick in die Runde zeigte mir eine ganz einsame Gegend des Zentral-Parks.
„Bitte — hier ist Ihre Waffe, Mr. Warton“, sagte der unheimliche Mensch.
Ich griff zu. Ich schob die Sicherung zurück, zielte auf Smilepp.
Er lachte mir ins Gesicht. Und da blieb mir die beabsichtigte Drohung gleichsam im Halse stecken.
Das Auto ruckte an.
„Gute Nacht!“ rief Smilepp und wollte die Tür zuschlagen.
„Halt!“ brüllte ich.
Ich senkte die Waffe, wollte die Gummireifen durch Schüsse durchlöchern.
Der Revolver versagte. Das Auto raste davon. Und ich stand auf dem einsamen Wege neben der Laterne und sah, daß in der Mündung ein Zettel steckte. Es war eine Hundertdollarnote. Die Patronen aber waren aus der Kammer entfernt worden. Wütend rannte ich hinter dem Auto drein. Das war ebenso sinnlos wie zwecklos. Ich gab die Verfolgung denn auch sehr bald auf und rief von dem nächsten Fernsprechautomaten das 15. Polizeirevier an, zu dem die Ontariostraße gehört. Ich fragte, ob im Hause Nr. 18 ein Kaufmann Thomas Smilepp wohne. Die Antwort lautete, in der ganzen Straße gebe es keinen Smilepp. Dann rief ich Ihre Nummer an, Pratt. Ihre Haushälterin sagte mir, Sie seien im Klub. Ich fragte zur Sicherheit aber erst noch hier an, ob Sie auch wirklich anwesend seien. Da nahm ich ein Auto und fuhr hierher. — Was halten Sie nun von meinem Abenteuer?“
Pratt hatte die Augen fast ganz zugekniffen.
„Sie verlangen etwas viel von mir, lieber Warton,“ weinte er geistesabwesend. „Wie soll ich jetzt schon wissen, was dieser Smilepp mit Ihnen vorhat? Jedenfalls zu irgend einer Schurkerei sollen Sie benutzt werden, das ist klar.“
„Hm — mir ist das nicht klar! Wie sollte mein kurzer Besuch in dem unbekannten Hause wohl Smilepp irgendwie von Vorteil gewesen sein?!“
„Darüber wollen wir später sprechen. — Beschreiben Sie mir bitte das Auto, so gut Sie können.“
„Es war ein eleganter, dunkelblauer Wagen, innen mit rotem Leder gepolstert. Der Motor arbeitete auffallend geräuschlos. Im übrigen kann ich leider nichts angeben.“
„Das rote Leder genügt.“ Pratt erhob sich und gähnte. „Ich will jetzt nach Hause zurückkehren. Gute Nacht, Warton. Erzählen Sie niemandem Ihr Erlebnis. Leben Sie genau so weiter wie bisher.“
Er reichte Warton die Hand und verließ das Lesezimmer. Als er den Flur entlangschritt, kam ihm der Diener Austin entgegen.
„Sie haben den Zettel, Mr. Pratt?“ flüsterte Austin.
„Ja. Aber noch nicht gelesen. Wie lautet der Name?“
„Ernest Oldenberry. Ich habe bereits nachgesehen. Mr. Oldenberry wohnt Parlanastraße 52.“
„Danke Austin. Hier haben Sie fünf Dollar. Wo ist Mr. Oldenberry jetzt?“
„Er muß das Klubhaus sofort wieder verlassen haben.“
„Gute Nacht, Austin. Mund halten!“
Pratt trat gleich darauf auf die Straße hinaus. Vor dem Klubhause standen stets mehrere Taxameterautos. Pratt bestieg das nächste und nannte dem Chauffeur als Ziel die Wibarnstraße, eine Querstraße der Parlanastraße.
3. Kapitel.
Die tote Frau Oldenberry.
Nic Pratt war überzeugt, daß Ernest Oldenberry zu Doktor Wartons Abenteuer irgendwie in Beziehung stände. Oldenberry konnte vermutet haben, daß Warton den Fall ihm, Pratt, vortragen würde, und hatte daher das Klubhaus aufgesucht, wo Pratt häufig abends weilte. Hier hatte er ja nach Pratt gefragt und hatte dann leise in das Lesezimmer hineingespäht. —
Das Auto hielt. Nic Pratt bezahlte, überschritt die Straße und verschwand in einem Telephonkiosk.
Hier rief er seine Haushälterin an. Diese erklärte, daß vor einer Stunde kurz hintereinander zwei Herren telephonisch angefragt hätten, ob Mr. Pratt zu Hause sei. Der erste habe seinen Namen nicht genannt. Der zweite war Doktor Warton. Beiden hatte sie dieselbe Auskunft erteilt: Pratt sei in Klub anzutreffen.
Nic Pratt wußte jetzt, daß auch Oldenberry sich also telephonisch nach ihm daheim erkundigt hatte. Dies konnte er nur deshalb getan haben, um festzustellen, ob etwa Doktor Warton sich sofort seines Abenteuers wegen an Pratt wenden würde. Pratt zweifelte nicht, daß Oldenberry das Klubbaus dann erst verlassen habe, nachdem Warton das Lesezimmer betreten hatte. —
Pratt begab sich jetzt doch erst nach Hause, da es ihm nicht ratsam schien, das Gebäude Parlanastraße Nr. 52 ohne Verkleidung zu betreten. Denn dies war seine Absicht. Er wollte heimlich dort eindringen und versuchen, diesem merkwürdigen Geheimnis näherzukommen.
Nic Pratt hatte sich in einer Stunde in einen älteren, recht abgerissenen Strolch verwandelt. Seine Maske war bis ins kleinste sorgfältig durchgeführt. Das Pflaster vor dem linken Auge, die schmutzigen Hände, die nicht minder schmutzige Leibwäsche und ein leichter Schnapsduft wirkten durchaus echt.
Es war etwa halb eins morgens, als Pratt die Parlanastraße dann hinabschlenderte. Ein Polizist faßte den verdächtigen Strolch scharf ins Auge. Pratt torkelte jedoch etwas und spielte den leicht Angetrunkenen. So glaubte der Polizist denn, der zerlumpte Kerl sei in diesem Zustande gar nicht fähig, hier in der vornehmen Villenstraße einen Einbruch zu begehen.
Pratt stellte fest, daß das Grundstück Nr. 52 ein weiter Garten war, in dem eine zweistöckige Villa stand.
Er blickte sich erst vorsichtig um, bevor er das Gitter überkletterte. Als er in den Büschen des Gartens sich befand, fühlte er sich fürs erste geborgen.
Er rechnete zwar damit, daß Oldenberry die Villa auch gegen Eindringlinge gesichert haben würde. Aber er hoffte anderseits auch, Oldenberry könne unmöglich ahnen, Pratt sei ihm bereits auf der Spur.
Nic Pratt kroch jetzt erst einmal rund um die Villa herum. Viel war hier nicht zu sehen. Dazu war die Herbstnacht zu dunkel.
Hinter der Villa erhob sich ein Stallgebäude, dessen eine Hälfte eine Autogarage war. Pratt hatte das Schloß der Garagentür sehr bald geöffnet. Er schlüpfte hinein und besichtigte das hier untergebrachte Auto, indem er seine Taschenlampe einschaltete, die Linke aber mit der Hand bedeckte, so daß nur ein dünner Lichtstrahl durch die Finger drang.
Das Auto, ein geschlossener Wagen, war dunkelbraun lackiert. Aber die Polsterung bestand aus rötlichem Leder. Warton hatte sich also, was die Farbe des Autos betraf, getäuscht.
Pratt verließ die Garage. Zehn Minuten später war er am Blitzableiter auf das Dach geklettert und stieg durch einen Bodenklappfenster ein.
Nachdem er die eiserne Vorbodentür mühelos mit dem Patentdietrich geöffnet hatte, blieb er eine geraume Weile oben auf der Treppe stehen und lauschte.
Im Hause war alles totenstill. So wagte er sich denn weiter hinab. Daß der zahme Tiger etwa nachts hier frei im Treppenhause umherlief, nahm er nicht an. Er vermutete vielmehr, die Bestie würde unten im Kellergang sein und dort die Aufgabe haben, die angebliche Tochter des angeblichen Smilepp zu bewachen, damit sie nicht fliehe. Daß dieses dunkelblonde Weib hier gefangen gehalten wurde, stand für ihn bereits fest. Wer weiß, wer die Frau sein mochte und welche Gründe Oldenberry hatte, sie in den Keller einzusperren.
Pratt vermied die Treppenstufen und rutschte auf dem Geländer abwärts. Auf jedem Treppenabsatz; machte er halt und lauschte.
Von draußen hatte er hinter keinem der Fenster der Villa Licht gesehen. Als er jetzt jedoch im ersten Stock angelangt war, gewahrte er rechts im Flur einen schwachen hellen Schein, der fraglos aus einer offenen Zimmertür in den Flur fiel.
Er zauderte erst. Dann schlich er doch auf die Tür zu.
Wirklich — der eine Flügel stand offen.
Und jetzt — jetzt konnte Pratt einen Blick in das Zimmer werfen.
Er regte kein Glied. Was er dort sah, war ganz dazu angetan, jeden Menschen aufs höchste zu überraschen.
Zwischen Palmenkübeln und zwei hohe Leuchtern war da eine Frau in einem Sarge aufgebahrt, eine dunkelblonde, jüngere Frau. Die gefalteten Hände hielten ein paar rote Rosen. An den Fingern glitzerten und sprühten Ringe. Auch im Haar der Toten funkelte ein Brillantdiadem.
Pratt kannte Oldenberry kaum von Ansehen. Der Treveller-Klub zählte ein paar hundert Mitglieder. Da waren es immer nur einzelne, die sich nähertraten und miteinander befreundet wurden. Pratt wußte nur, daß Ernest Oldenberry sehr reich und Ingenieur war.
Wer war diese Tote nun? War’s Oldenberrys Gattin?
Pratt stand unbeweglich und dachte angestrengt nach.
Was war dies hier doch für ein geheimnisvolles Haus mit ebenso geheimnisvollen Bewohnern! Was mochte sich in dieser Villa abgespielt haben oder noch abspielen?! Weshalb mochte Oldenberry den Zahnarzt haben holen lassen?!
Pratt fühlte plötzlich, wie sich eine Hand leicht auf seine Schulter legte.
Er fuhr herum schaute in die Mündung eines Revolvers den Ernest Oldenberry auf ihn gerichtet hielt.
Es war Oldenberry. Pratt erkannte ihn jetzt doch. Es war ein frisches, blondbärtiges Männergesicht, das nur durch tiefen Gram verdüstert schien.
„Heben Sie die Hände hoch!“ befahl der Ingenieur mit einer durch Seelenschmerz hervorgerufen müden Gleichgültigkeit in der Stimme.
Pratt tat es. Diese Stimme heuchelte nicht. Oldenberrys Herz war offenbar von Trauer schwer bedrückt.
„Gehen Sie voran die Treppe hinab,“ befahl der Ingenieur weiter. „Wagen Sie aber nicht etwa zu fliehen. Ich schieße sofort. Ein Schurke, der Leichen plündern will, verdient keine Schonung.“
Pratt horchte auf. Heuchelte Oldenberry oder hielt er ihn wirklich für einen Einbrecher?!
Er wollte abwarten, was weiter geschehen würde.
So schritt er denn den Flur entlang der Treppe zu und in das Erdgeschoß hinab.
Hier hing im Flur an der Wand ein Telephon.
„Halt!“ befahl Oldenberry. „Rufen Sie Nr. 1418 an. Das ist das Polizeirevier des Viertels.“
Pratt nahm den Hörer, zauderte, wandte sich um und sagte:
„Mr. Oldenberry, ich bin Nic Pratt!“
Der Ingenieur stutzte. Dann runzelte er die Stirn.
„Das ist eine freche Lüge, Bursche!“ meinte er verächtlich. „Dein Genosse hat Dich verraten und mich auf Deinen Besuch vorbereitet. Ihr wolltet zu zweien heute hier eindringen. Aber Dein Freund hat es mit der Angst bekommen. Du bist ein entflohener Zuchthäusler.“
Pratt merkte, daß hier ein neues Geheimnis, eine neue Verwicklung im Anzuge war.
„Mr. Oldenberry, wann hat der Mann Sie von dem bevorstehenden Einbruch verständigt?“ fragte er höflich „Ich bin nämlich wirklich Nic Pratt, wie ich Ihnen schnell beweisen kann. Ich werde den Bart und das Pflaster vom Auge entfernen. Dann werden Sie mich erkennen.“
Ein paar Griffe, und Pratts wahres Gesicht erschien.
„Ah!“ machte Oldenberry erstaunt. „Wirklich — Mr. Pratt! Entschuldigen Sie. Aber das konnte ich nicht ahnen. Gegen halb zwölf rief mich jemand telephonisch an und teilte mir mit, daß ein Einbrecher die Leiche meiner heute verstorbenen Gattin“ — Oldenberry kämpfte mit Tränen — „berauben wolle. Da habe ich denn auf der Lauer gelegen, bis — bis Sie kamen.“
Pratt hängte den Hörer wieder an.
„Waren Sie heute abend gegen dreiviertel elf Uhr im Klub, Mr. Oldenberry?“
„Nein. Was sollte ich dort?! Meine Frau ist heute mittag an Grippe verschieden. Da hätte ich wohl —“ Er schluchzte leise und konnte nicht weitersprechen.
Pratt reichte ihm die Hand.
„Mein aufrichtiges Beileid, Mr. Oldenberry. Die Grippe fordert in diesem Herbst wieder so viele Opfer.“
Dann verabschiedete er sich bald, nachdem er Bart und Pflaster wieder angebracht hatte. „Ich will über das Dach das Haus verlassen, wie ich eingedrungen bin,“ sagte er noch. „Ich habe meine Gründe dafür. Gute Nacht, Mr. Oldenberry.“ Noch ein Händedruck, und er schlich die Treppen empor.
Als er fünf Minuten später über das Gartengitter kletterte. als er auf den Bürgersteig sprang, tauchten plötzlich hinter den nächsten dicken Linden zwei Polizeibeamte auf.
Pratt versuchte gar nicht, ihnen zu entschlüpfen. Weshalb auch?! Ganz gemütlich sagte er: „Bemühen Sie sich nicht. Lassen Sie die Handschellen nur stecken. Ich bin Nic Pratt.“
Aber die Beamten lachten ihn aus. Die Handschellen schnappten zu. Kein Reden Pratts half. Man glaubte ihm nicht. Sie führten ihn die Straße hinab. Hier hielt ein geschlossenes Auto.
Der eine Polizist öffnete die Tür; der andere gab Pratt einen Stoß, und Pratt flog hinein.
Die Straßenlaterne ließ ihn die Farbe der Polsterung erkennen: rot — rotes Leder!
Da wußte er genug; da wußte er, daß die beiden keine Beamten waren, daß er hier in eine raffinierte Falle geraten war.
Aber — er ließ sich nichts merken. Er setzte sich und sagte halb lachend: „Auf der Polizeiwache wird sich alles aufklären. Tatsächlich, ich bin Nic Pratt.“
Die beiden hatten ihn in die Mitte genommen. Und der eine holte nun etwas Weißes hervor, ein Tuch und ein Fläschchen, während der andere Pratt plötzlich umklammerte.
Pratt ahnte: Chloroform! Er sollte betäubt werden?
Er begann sich scheinbar zu wehren. Man drückte ihm das Tuch auf den Mund. Er hielt den Mund. Er hielt den Atem an, spielte aber weiter den wild sich zur Wehr Setzenden, spielte bald den immer kraftloser Werdenden, rutschte schließlich wie ohne Besinnung vom Sitze herab.
Der Mann presste ihm trotzdem noch das Tuch auf den Mund. Pratt konnte kaum länger das Atmen einstellen.
Da sagte der andere:
„Laß es genug sein. John. Er ist bewußtlos.“
Das Tuch wurde entfernt. Man hob den scheinbar Betäubten auf und legte ihn in eine Ecke.
„Wir werden ihn bald genug erledigt haben“, meinte der mit John Angeredete. „Er muß für immer verschwinden. Es geht nicht anders. Erst dann dürfen wir uns sicher fühlen.“
Der andere schwieg.
Das Auto fuhr dem Hudson-Flusse zu, hielt an einer einsamen Stelle des Hafens.
„John, ich will damit nichts zu tun haben,“ erklärte jetzt der zweite Mann. „Ich morde nicht. Mach’ was Du willst.
John stieg aus und flüsterte mit dem Chauffeur.
Dann lud er sich Pratt auf die Schulter. Bis zum Bollwerk waren es nur wenige Schritte.
Pratt flog in den Fluß, ging unter, ließ sich eine Strecke treiben, trat Wasser und brachte nur gerade Mund und Nasenspitze über die Oberfläche. Er schwamm jetzt ein paar angeketteten Booten zu, packte die Kette des einen mit den Zähnen und hielt sich fest, bis er sich ausgeruht hatte.
Eine Viertelstunde später rief er zwei verdächtige Gestalten, offenbar Hafendiebe, leise an. Sie holten ihn aus dem Wasser heraus, glaubten ihm ohne weiteres, daß er vorhin der Polizei entflohen sei, und brachen die Handschellen auf.
Pratt bedankte sich und kehrte zu Fuß nach seinem Häuschen in der Pearlstraße zurück, das er durch den zweiten geheimen Eingang betrat. Frau Allison, seine Wirtschafterin, weihte er als seine Vertraute in alles ein und verließ morgens gegen vier Uhr als älterer Herr mit einem Reisekoffer abermals sein Heim.
4. Kapitel.
Die zweite Nacht.
Doktor Warton hatte am Tage nach seinem Abenteuer Pratt dreimal antelephoniert, hatte aber stets von Frau Allison dieselbe Auskunft erhalten: Mr. Pratt sei seit dem 17. abends nicht wieder zu Hause gewesen.
Warton wurde unruhig. Ob Pratt etwas zugestoßen war? — Er begriff es nicht, daß der Detektiv sich nicht meldete
Abends gegen halb zehn ließ er sich ein viertes Mal mit Pratts Nummer verbinden. Wieder dieselbe Auskunft!
Er überlegte. Ob er nicht besser zu Detektivinspektor Grablay fuhr und die Sache meldete? Grablay war mit Pratt befreundet und würde sofort alles tun, um Pratts Verschwinden aufzuklären.
Warton machte sich zum Ausgehen fertig. Als er dann gerade seine Haustür abgeschlossen hatte, kam ein Auto die Straße entlang. Es war ein hellgrauer geschlossener Wagen, der vor dem Hause halt machte.
Eine verschleierte Dame stieg schnell aus. Warton war erst wenige Schritte gegangen.
Die Dame rief ihm nach: „Verzeihung, hier soll doch ein Zahnarzt wohnen, sagte man mir drüben im Restaurant am Anfang der Straße. Nun habe ich doch die Nummer in der Aufregung vergessen —“
Warton kehrte um.
„Ich bin der Zahnarzt Doktor Warton, Miß“, stellte er sich vor.
„Ah — welch ein Glück, Mr Warton! Mein Mann leidet entsetzlich. Er hat sich erkältet, und die rechte Backe ist dick geschwollen. Ich wollte Sie bitten, ihm doch ein Morphiumpulver zu verschreiben. Ich wohne ganz in der Nähe, Esparystraße 6. Kommen Sie doch bitte mit. Ich war bereits bei drei Ärzten, traf aber keinen daheim an.“
Warton verbeugte sich. „Gern, Mistreß —“
„Holftor heiße ich. Mein Mann ist der Advokat Holftor.“
Sie machte eine einladende Handbewegung nach dem Auto bin. Warton kannte Holftor dem Namen nach. Durch den berühmten Anwalt konnte er vielleicht Patienten zugeführt bekommen. So stieg er denn ein, nachdem er Frau Holftor den Vortritt gelassen. Ein flüchtiger Blick zeigte ihm, daß die Sitze mit einem grauen Ripsstoff überzogen waren.
Das Auto setzte sich in Bewegung.
Frau Holftor atmete erleichtert auf. „Ich bin ganz erschöpft.“ sagte sie. „Mein Mann ist ein so ungeduldiger Patient. Er hat —“ — Sie begann leise zu weinen. Dann rief sie plötzlich:
„Oh — mir wird so furchtbar übel, Mr. Warton!?“
Sie lehnte sich an ihn.
Warton fand keine Zeit, auch nur einen einzigen Blick durch das Fenster zu werfen.
Auto stand jetzt still. Warton öffnete die Tür, stützte Frau Holftor und brachte sie schnell durch die Seitentür einer Villa, die der Chauffeur aufgeklingt hatte, in den erleuchteten Flur.
Hier standen ein paar Korbsessel. Frau Holftor sank in den nächsten Sessel und flüsterte: „Mir wird schon besser. Ich leide an Herzkrämpfen und nervöser Magenreizung —“
Warton ahnte noch immer nichts. Dieses Weib spielte ihre nicht gerade leichte Rolle vorzüglich.
Jetzt erhob sie sich. „Bitte — dort hinein, Mr. Warton,“ meinte sie. „Es ist das Zimmer meiner Schwester. Sie wird Ihnen Gesellschaft leisten, bis ich meinen Mann verständigt habe, daß endlich ein Arzt gefunden ist.“
Sie stieß die Tür auf und schlug den Vorhang zurück, drängte Warton rasch ins Zimmer.
Warton prallte zurück.
Ein Blick hatte ihm genau dasselbe Bild gezeigt, wie in der vergangenen Nacht.
Es waren genau dieselben Möbel, genau derselbe Diwan, genau dasselbe bis zum Halse zugedeckte junge Weib.
Er stand jetzt wie gelähmt da und starrte die dunkelblonde Kranke an, die wieder nur den Kopf hob und mit schwacher klagender Stimme rief:
„Harry, Geliebter, — oh, wie sehnsüchtig habe ich auf Dich gewartet! Harry — so komm’ doch! Sei lieb zu mir, Deiner unglücklichen Ellen! Ich werde ja wieder gesund werden, und dann —“
Sie hatte noch mehr hinzufügen wollen, aber Warton, der all dies für ein albernes Possenspiel hielt, packte plötzlich die Wut.
„Ich bin weder Ihr Harry noch Ihr Geliebter!“ rief er grob. „Ich lasse mich nicht länger zum Narren halten. Ich —“
Da war mit einem Male neben ihm der rothaarige Smilepp aufgetaucht, kreischte förmlich:
„Elender, willst Du sie durch Deine Grobheiten töten! Hinaus mit Dir!“
Warton fühlte sich von hinten gepackt, wurde in den Flur gezerrt.
Die Zimmertür schlug zu. Er hörte noch das Schluchzen des dunkelblonden Weibes. Dann fiel ihm eine Decke über den Kopf. Smilepp und der Chauffeur packten ihn.
„Wenn Sie auch nur einen Ton von sich geben, stoße ich zu!“ drohte der Rothaarige.
Warton wurde den Flur entlang ins Auto geschoben, wurde nach zehn Minuten Fahrt zur Tür hinaus auf die Straße geworfen, blieb mit zerschundenen Gliedern ohne Hut eine Weile liegen, raffte sich auf und rief eine leere Droschke an, die ihn dann heimbrachte.
Als er in seinem Arbeitszimmer das Licht eingeschaltet hatte, sah er in einem Klubsessel einen bärtigen Herrn sitzen, der sofort leise sagte:
„Nic Pratt — kein anderer!“
Edward Warton stierte Pratt entgeistert an.
„Wie sind Sie denn —“
„Mit Nachschlüsseln,“ fiel Pratt ihm gemütlich ins Wort. „Ich glaube, lieber Warton, Sie haben abermals etwas erlebt.“ —
Warton saß neben Pratt und erzählte.
Pratt rauchte seine kurze Pfeife und streute dann und wann eine Frage ein.
Nachher sagte er: „Also das Rätsel der zweiten Nacht! Ein Lichtschein ist jetzt in das Dunkel gefallen, das diese Ihre Erlebnisse umgibt. Die Schurken haben es doch nicht schlau genug angefangen.“
Er berichtete, was ihm selbst in der verflossenen Nacht zugestoßen war. „Jetzt wohne ich im Nebenhause als Mr. Smith, lieber Warton, in einem möblierten Zimmer im zweiten Stock. Ich hatte im Fenster gelegen, als das graue Auto kam und die angebliche Mistreß Holftor Sie mitzukommen bat. Leider konnte ich dem Auto nicht folgen, da ich so schnell keinen Kraftwagen fand. Aber — das tut nichts. Wir werden das Haus schon aufstöbern, wo diese Schurken wohnen. Es sind keine gewerbsmäßigen Verbrecher. Nein, wir haben es hier fraglos mit gebildeten Leuten zu tun, die jenes dunkelblonde Mädchen, jene Ellen, irgendwie betrügen wollen. Die Ellen ist vielleicht mit einem Manne mit Vornamen Harry verlobt gewesen, dem Sie fraglos sehr ähnlich sehen, Warton. Jedenfalls stimmt Ihre Annahme nicht, daß hier ein Possenspiel vorliegt, durch das Sie nur genarrt und geärgert werden sollen.“
Warton zuckte die Achseln. „Ich bitte Sie, Pratt, — was bezwecken die Leute denn sonst?!“ meinte er zweifelnd. „Wie soll meine Person wohl zu einem Betrug benutzt werden?! Das begreife ich nicht!“
„Es wird sich sogar um einen Betrug sehr einträglicher Art handeln, lieber Warton. Sie werden bald einsehen, daß ich recht habe. Ich will jetzt versuchen, die Wohnung dieser Gelegenheitsverbrecher zu ermitteln, von denen ich bisher nur folgendes weiß. Erstens, daß es mindestens vier Personen sind, ein Weib und drei Männer vermute ich, von denen einer John heißt. Dieser John ist der Anführer. Zweitens, daß ihnen ein Automobil zur Verfügung steht, vielleicht auch zwei, eins, mit roten Lederpolstern, ein anderes mit grauen Ripspolstern. Drittens: sie wohnen in einer Villa mit größerem Vorgarten und mehreren Eingängen, vor denen ein Auto vorfahren kann, mit mindestens zwei Eingängen. Viertens: in der Villa wird ein Tiger gehalten. — Das wäre alles.“
„Ja, es ist nicht gerade viel,“ meinte Warton. „Mit diesen Einzelheiten läßt sich kaum etwas anfangen.“
„Glauben Sie?! — Ich schlage jetzt folgendes vor. Sie begeben sich in den Treveller-Klub. „Ich komme nach. Sie erwarten mich in der Vorhalle und führen mich in den Klub als Gast ein, als Ihren Onkel James Warton. Ob Sie einen Onkel haben, ist sehr gleichgültig.“ Pratt gab dem Zahnarzt noch genaue Verhaltungsmaßregeln. Dann brach Warton als erster auf.
Gegen halb zwölf betrat auch Pratt die Vorhalle des Klubhauses und bat den Pförtner, Doktor Warton herauszurufen.
Alles ging nach Wunsch. Der Klub war heute wenig besucht. Sie setzten sich in das stets wenig benutzte Schreibzimmer. Sie waren hier allein. Warton mußte dann unauffällig die Mitgliederliste holen.
„Es ist den ganzen Umständen nach sehr wahrscheinlich,“ erklärte Pratt nun, „daß sich jemand gestern abend, als ich im Lesezimmer saß und die Tür so behutsam geöffnet und wieder geschlossen wurde, als Ingenieur Oldenberry maskiert hatte. Oldenberry trägt blonden Spitzbart und Hornbrille. Der Diener, den dieser Jemand fragte, ob ich im Klubhause sei, hat ihn jedenfalls für Oldenberry gehalten. Der Mann wird also Oldenberrys Figur haben, bartlos sein und Oldenberry, was den Gesichtsschnitt betrifft, ähnlich sehen. Ein blonder Bart ist leicht vorzukleben. Der Mann muß aber auch hier im Klub Bescheid gewußt und die Mitglieder, besonders Oldenberry, gekannt haben. Seine Absicht, als er als Oldenberry nach mir fragte, war die, mich in Oldenberrys Villa zu locken, damit ich beim Verlassen der Villa von den angeblichen Polizisten verhaftet werden könnte. Ich vermute nun, daß der Mann ebenfalls Mitglied des Klubs ist. Suchen wir also die Mitglieder mit dem Vornamen John heraus, denn dieser „John“ dürfte sowohl den Mr. Smilepp als auch Oldenberry gespielt haben.“
„Ah, nun verstehe ich, wie Sie die Fährte finden wollen. lieber Pratt.“ nickte Warton.
Die Mitglieder waren dem Alphabet nach geordnet. Gleich Nr 2 war ein John — John Acerbloom. — „Der scheidet aus,“ meinte Pratt. „Acerbloom ist klein und sehr dick.“
Er sah die Reihe weiter durch. „Aha — hier ein zweiter John — John Alcolm, der Bruder des verstorbenen berühmten Forschungsreisenden Abner Alcolm „
Warton legte plötzlich Pratt die Hand auf den Arm.
„Mir fällt da eben ein, daß die Villa Alcolms meinem Hause gegenüberliegt, Pratt,“ sagte er hastig. „Und John Alcolm ist bartlos.“
Pratt blickte Warton an. „Und der Tiger —!“ rief er leise. „Die Bestie könnte von dem verstorbenen Abner nach Neuyork gebracht worden sein. Er hat ja Indien jahrelang bereist. — Warton, das ist eine Spur! John Alcolm oder einer seiner Spießgesellen mag auf Ihre Ähnlichkeit mit jenem Harry, dem Verlobten Ellens, aufmerksam geworden sein. Und — Abner Alcolm hat eine Tochter hinterlassen! Das weiß ich. Rufen Sie mal den alten Diener Austin. Der kennt die Familienverhältnisse der einzelnen Mitglieder ganz genau.“
Austin kam und erklärte: „Ja, Mr. Pratt, Abner Alcolm hat eine Tochter. Er war seit Jahren Witwer. Die Tochter heißt Ellen und hat Mr. Abners Reichtümer geerbt. Ihr Vormund ist ihr Onkel John Alcolm. Die arme junge Dame ist jedoch schwachsinnig oder etwas geistesgestört.“
„Danke, Austin. Hier sind zehn Dollar, alter Freund. Aber — Mund halten, bitte!“ — Austin verschwand.
„So,“ meinte Pratt, „nun haben wir die Bande! Ich werde jetzt sofort zu Stewart Grablay meinem Bekannten, fahren. Grablay als Detektivinspektor muß mir helfen, das Rätsel völlig zu lösen.“
5. Kapitel.
Die dritte Nacht.
Stuart Grablay war daheim. Als Pratt ihm den ganzen Fall vorgetragen hatte, sagte Grablay kopfschüttelnd: „Gut, daß Warton der Kranken als „Harry“ gezeigt werden sollte, leuchtet mir zwar ein. Was dies aber für einen Zweck haben soll, verstehe ich nicht.“
Pratt war ans Fenster getreten. „Sie werden alles verstehen, Grablay. Diese Nacht ist nicht günstig. Der Himmel hat sich aufgeklärt es ist zu hell.“ Er kam an den Tisch zurück und blätterte in den Abendzeitungen. „Ah — für die nächsten Tage ist Regen und Sturm von der Wetterwarte angesagt. Falls es morgen nacht regnet, werden wir zugreifen. Sie lassen die Villa dann in aller Stille umstellen, Grablay, und ich werde dort eindringen. Vielleicht kann ich für John Alcolms schurkischen Pläne noch einige schwerwiegende Beweise finden.“
„Und diese Pläne sind welche?“ fragte Grablay gespannt.
„Erbschleicherei — Erbschaftsbetrug, vielleicht mit Hilfe eines Mordes, der nicht so leicht als Mord erkennbar ist!“
„Herr Gott!“ entfuhr es Grablay. „Pratt, mir geht ein Licht auf! Ellen Alcolm soll sterben, damit John, ihr Onkel und Vormund, die Hinterlassenschaft seines Bruders erhält“
„Ja — mit gewissen Einschränkungen ist das richtig. Doch, jetzt will ich nicht weiter stören, Grablay. Gute Nacht. Ich kehre in mein möbliertes Zimmer zurück.“
Pratt fuhr nach der Grimsysstraße. Er ging dann jedoch noch um den einen Grundstückblock herum und stellte fest, daß der Garten der Alcolmschen Villa sich bis zur nächsten Parallelstraße hinzog und auch hier eine Einfahrt hatte. Ohne Zweifel hatte das Auto mit Warton beide Male diese Einfahrt benutzt. —
Am folgenden Tage gegen Mittag begann es zu regnen. Es war ein Wetter, wie Neuyork es nicht oft erlebte. Der Sturm pfiff um die Hausgiebel, warf Ziegel herab, drückte Telephonmasten um. Abends wurde es noch schlimmer. Es goß in Strömen. Die Straßen waren wie leer gefegt.
Trotz dieses Unwetters stand ein in einen langen Gummimantel gehüllter Mann, der die Ölkappe tief über das Gesicht gezogen hatte, von neun Uhr abends an unheimlich hinter einem Baume vor dem Haupteingang der Alcolmschen Villa und beobachtete die erleuchteten Fenster des Erdgeschosses. Um halb zehn wurden die Fensterladen von einem kleineren Manne vorgelegt. Die Laden waren neu. Man sah es an den Flecken in der Mauer, wo die Haken eingelassen worden waren.
Der Mann im Gummimantel war Nic Pratt. Jetzt huschte ein anderer auf ihn zu, flüsterte: „Alles erledigt, Pratt. Keine Menschenseele kommt mehr heraus!“
„Gut, Grablay. Ich habe nur darauf gewartet, daß die Fensterladen geschlossen werden. Nun werde ich beginnen!“
Inspektor Grablay zog sich wieder in die Büsche zurück. —
Pratt erkletterte das Dach. Auch hier gab es einen Blitzableiter, der ihm diesen Weg sehr erleichterte; auch hier fand er ein Bodenfenster, von dem er nur eine Scheibe einzudrücken brauchte, um die Krampe von innen öffnen zu können.
Auf dem Boden legte er den Gummimantel, Perücke und Bart ab. Dann stand er oben auf der Treppe und horchte in das matt erleuchtete Treppenhaus hinab. Nichts regte sich. Er stieg die beläuferten Treppen abwärts, gelangte bis ins Erdgeschoß. Hier vernahm er Stimmen. Er orientierte sich rasch, eilte den Flur entlang, stand nun neben den Korbsesseln, die Warton erwähnt hatte.
Dort die zweite Tür links war die, hinter der sich Ellen Alcolm gestern nacht befunden hatte.
Ob Ellen etwa wieder in das Kellergemach geschafft worden war?!
Pratt wagte sehr viel, als er jetzt die Tür öffnete. Er tat es so leise, daß auch nicht das geringste Geräusch entstand. Schloß und Angeln waren offenbar sehr gut geölt.
Er schlug den Vorhang ein wenig zurück.
Da brannte auf einem Tischchen eine elektrische Lampe mit grünem Schirm. Ihr mattes Licht beleuchtete den Diwan und eine weibliche Gestalt in türkischer Frauentracht.
Es war Ellen Alcolm. Sie schlief.
Pratt schloß die Tür, trat näher, staunte.
Ellen Alcolm war mit dünnen Ketten, die von Hand- und Fußgelenken zu einem Eisenringe im Fußboden liefen, gefesselt, hatte nur so viel Bewegungsfreiheit, wie die Länge der Ketten es zuließ.
Pratt blickte sich um, suchte ein Versteck. Da war rechts neben der Tür ein großer Schrank, ein Kleiderschrank. Er hatte bequem darin Platz, hielt die Tür von innen zu und wartete.
Den Tiger brauchte er nicht mehr zu fürchten. Grablay hatte am Tage bereits festgestellt, daß die Bestie vor drei Monaten eingegangen war. Ein Tierarzt hatte den toten Tiger gesehen. Aber — John Alcolm besaß eine riesige Dogge! Pratt zweifelte nicht, daß die Dogge hier als Tiger, eben in das Tigerfell eingenäht, ebenfalls ihre besondere Rolle spielte.
Eine Stunde verging. Dann ein leises Geräusch. Im Zimmer flammte die elektrische Krone auf.
Pratt konnte einen Mann erkennen, den Rothaarigen, der jetzt den Tiger eben die Dogge, auf die Schläferin hetzte, die soeben erwachte.
Der Mann aber huschte hinaus. Die Zimmertür schnappte ins Schloß.
Pratt faßte den Revolver fester, schob die Sicherung herum.
Ellen Alcolm saß jetzt aufrecht da, hatte die Hände abwehrend vorgestreckt, stieß einen gellenden Angstschrei aus.
Der riesige Hund, den die Schurken vorzüglich als Tiger herausstaffiert hatten, stand zum Sprunge zusammengeduckt da, zögerte noch.
Nic Pratt schlüpfte aus dem Schranke, war hinter der Bestie, hob die Waffe.
Drei, vier Schüsse. Ein Aufheulen des Hundes, ein neuer Schrei des armen Weibes.
Ellen Alcolm war ohnmächtig geworden. Der Hund lag in den letzten Zuckungen am Boden.
Draußen splitterte eine Tür. Grablay mit acht Beamten war im Nu zur Stelle. Pratt, der sofort in den Flur geeilt war, hielt den Rothaarigen mit dem Revolver in Schach.
Drei Männer und ein Weib wurden durch Stahlfesseln unschädlich gemacht. Es waren John Alcolm, sein Chauffeur, der Hausmeister und dessen Tochter, — es waren die vier Bewohner der Villa, die Peiniger Ellen Alcolms.
Als der Chauffeur, ein noch junger Mensch, sah, daß alles verloren war, legte er ein Geständnis ab.
Ellen Alcolm war mit einem gewissen Harry Westrell verlobt gewesen. Nach Abner Alcolms Tode hatte John Alcolm es durch allerlei Ränke fertiggebracht, Harry so gegen Ellen einzunehmen, daß dieser die Verlobung löste. Ellen wurde darüber schwer krank, verfiel in ein Nervenfieber und erholte sich nie mehr vollständig, litt zuweilen an Wahnvorstellungen und wurde von da ab aufs strengste bewacht. Sie hatte ein Testament aufgesetzt und Harry Westrell zu ihrem Haupterben bestimmt. Dieses Testament wollte sie auch dann nicht umstoßen, als Westrell die Verlobung aufhob. Sie hoffte eben, daß noch eine Aussöhnung stattfinden würde. John Alcolm hatte in der Verkleidung als Smilepp den Arzt gespielt, der Ellen behandeln sollte. Dieser angebliche Smilepp versprach ihr, Harry an ihr Krankenlager zu rufen, denn Ellen war plötzlich an Grippe erkrankt, erholte sich jedoch schnell. Alcolm ersann den Plan, Ellen zu überzeugen, daß Westrell nicht mehr daran dächte, Ellen zu seinem Weibe zu machen. So wurde denn Doktor Warton, der Doppelgänger Westrells, am 17. Oktober abends in die Villa gelockt, wo die Dinge jedoch nicht den von John erhofften Verlauf nahmen. Erst am zweiten Abend tat Warton dann vor Ellen jene Äußerungen, die Johns Vorhaben begünstigten. Ellen glaubte jetzt, daß Harry Westrell unversöhnlich wäre, und vernichtete das Testament. Sie wußte nicht, daß der Tiger, vor dem sie sich stets schon gefürchtet hatte, längst eingegangen war. So sollte denn jetzt durch die Angst vor der Bestie eine neue Nervenkrise bei ihr hervorgerufen werden, die bei ihrem geschwächten Körper tödlich enden mußte. Dann erbte ihr Onkel John das riesige Vermögen. —
Pratt fand so genau das bestätigt, was er über John Alcolms teuflische Absichten bereits vermutet hatte. — Ellen Alcolm genas sehr bald. Harry Westrell pflegte sie mit hingebender Liebe. Aus beiden wurde dann ein glückliches Paar, das in der Alcolmschen Villa sehr oft Ellens Retter Nic Pratt als Gast bei sich sah. —
John Alcolm starb im Zuchthaus. Seine Helfershelfer kamen mit geringeren Strafen davon. Edward Warton ist jetzt einer der gesuchtesten Zahnärzte Neuyorks. Das Rätsel der drei Nächte war für ihn eine glänzende Reklame geworden.
Nächster Band:
Die Totenuhr.