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Die drei Gipsköpfe

 

Nic Pratt

Amerikas Meisterdetektiv

 

Band 10:

 

Die drei Gipsköpfe.

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1922

by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.

 

Nic Pratt, Amerikas Meisterdetektiv.

Zu beziehen durch alle Buch- und Schreibwarenhandlungen, sowie vom
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 26 Elisabeth-Ufer 44.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin

 

1. Kapitel.

Ein nächtlicher Transport.

Der berühmteste Neuyorker Privatdetektiv Nic Pratt hatte soeben die Villa des Milliardärs Bombley verlassen, wo er das Geheimnis der Totenuhr1 restlos geklärt hatte, als seine Aufmerksamkeit auf der nächtlich stillen Glarne-Straße durch einen merkwürdigen Transport gefesselt wurde.

Auf einem großen Handwagen standen, mit einem Stück Leinwand bedeckt, drei Gipsbüsten von etwa ein Meter Höhe, die sich auch unter der Leinwand als solche scharf abzeichneten. Außerdem reichte diese Hülle nicht so tief hinab, daß auch die weißen Sockel der Büsten mit bedeckt gewesen wären.

Pratt ging scheinbar teilnahmslos an dem Wagen und den beiden Menschen, die ihn zogen, vorüber.

Scheinbar nur! In Wahrheit achtete er auf alles, was es an diesem Wagen und den beiden Männern noch zu sehen gab.

Nics scharfe Augen hatten mit einem Blick festgestellt, daß die wie Arbeiter gekleideten Leute falsche Bärte trugen. Dann hatte er noch bemerkt, daß ihr elegantes Schuhzeug wenig zu dem sonstigen Kostüm paßte.

Sein Argwohn wurde rege. Er trat in eine Haustürnische, holte aus der Innentasche seines Ulsters einen Bart, eine Brille und eine andere Mütze sowie eine graue Perücke hervor und hatte sich im Moment völlig unkenntlich gemacht.

So folgte er dem Wagen, der sich stets nur durch stille Seitenstraßen weiterbewegte.

Das Benehmen der beiden verkleideten Männer, die den Wagen zogen, deutete auf ein schlechtes Gewissen hin. Sie machten oft halt, schauten sich um und wichen jedem der patrouillierenden Polizisten nach Möglichkeit aus.

Pratt war bereits fest überzeugt, daß es mit diesen Gipsbüsten eine ganz besondere Bewandtnis haben müsste.

So näherte der Wagen sich der „Kleinen 12. Straße“ und den Hafen. Bald zogen die beiden Männer ihre Last den Kai entlang. Als sie nun eine Stelle erreicht hatten, wo kein Schiff am Bollwerk vertäut war, machten sie halt und blickten sich abermals um.

Kein Mensch war in der Nähe. Pratt war rasch hinter einen Stapel Kisten gehuscht.

Da — jetzt schoben die Leute den Wagen noch näher an den Rand des Bollwerks heran.

Dann ein Stoß, und er flog in den Hudson-Fluß. Das Wasser spritzte hoch auf, beruhigte sich wieder, und die braungelben Fluten flossen jetzt über den auf dem schlammigen Grunde liegenden Wagen nebst Ladung dahin.

Pratt hatte nie damit gerechnet, daß die Leute sich der Gipsbüsten auf diese Weise entledigen würden.

Kein Zweifel: hier war er einem sehr dunklen Geheimnis auf der Spur! Nun hieß es, die beiden nicht aus dem Auge zu verlieren!

Sie hatten den Kai sofort verlassen und gingen jetzt schnell dem Zentrum der Stadt zu. Pratt nahm sehr bald eine Droschke und gab dem Kutscher den Befehl, um jeden Preis hinter den beiden zu bleiben.

Er stellte sich in dem offenen Wagen aufrecht hin, duckte sich hinter dem Rücken des Kutschers zusammen und behielt auch seinerseits die Verfolgten beständig unter Beobachtung.

Sie suchten jetzt belebtere Straßen auf. Dann sprangen sie plötzlich in ein leeres Auto, das nun Pratts Droschke entgegenkam und an ihr vorübersauste.

Bevor Nic Pratt noch recht zur Besinnung gelangte, war das Auto im nächtlichen Wagengewühl der Bowery-Straße verschwunden.

Aber Nic war trotzdem nicht schlecht gelaunt. Nein, er hatte sich ja die Autonummer gemerkt:

N Y 131 428,

begab sich nun zur nächste n Polizeiwache, nannte seinen Namen und wurde sofort von den Beamten vom Nachtdienst mit respektvoller Kameradschaftlichkeit begrüßt.

Ich möchte wissen, wem das Taxameterauto Nr. 131 428 gehört, wo es seine gewöhnliche Haltestelle hat und wo der Besitzer wohnt,“ sagte Pratt, indem er seine Verkleidundsstücke entfernte.

Einer der Polizisten telephonierte an die Verkehrsabteilung der Polizeidirektion.

Die Auskunft lautete:

Nr. 131428 zwei Jahre alter Penloov-Wagen, Besitzer Aktiengesellschaft für Fuhrwesen, 112. Straße Nr. 85, Chauffeur Tom Macett, Haltestelle vor der Astor-Bibliothek.

Pratt bedankte sich, bestieg ein Auto und fuhr nach der Astor-Bibliothek, ging hier die Reihe der Taxameterautos entlang und fand auch wirtlich als drittletztes Nr. 131 428.

Aber — nun kam die Enttäuschung: der Chauffeur Macett schwor hoch und heilig, er habe seit anderthalb Stunden keinen Fahrgast gehabt!

Da seine Kollegen dies bestätigten und da Macett einen durchaus glaubwürdigen Eindruck machte, mußte Pratt einsehen, daß das Auto eine falsche Nummer gehabt hatte.

Etwas niedergeschlagen fuhr er nun nach der Privatwohnung seines Freundes, des Inspektors der Detektivpolizei Stuart Grablay.

Grablay, der ebenfalls im Hause des Milliardärs Bombley bis gegen halb zwölf nachts zu tun gehabt hatte, wollte gerade zu Bett gehen. Nachdem Pratt ihm erzählt hatte, wie die drei Gipsbüsten und der Wagen versenkt worden waren, meinte der Inspektor:

Ich wette, die Büsten sind irgendwo gestohlen worden. Die Diebe haben sie aber nicht verwerten können und haben —“

Stopp!“ rief Pratt da. „Lieber Grablay, das stimmt nicht. Hätten die Leute sie nicht loswerden können, so brauchten sie sie nur zu zerschlagen.“

Hm — das ist richtig, Pratt Sie hätten sich dann den Transport erspart. — Aber — was mag es sonst mit den Büsten auf sich haben?“

Das werden wir sofort sehen. Wir werden sie und den Wagen herausholen lassen.“

Gut. Ich mache mich nur wieder zum Ausgehen fertig, lieber Pratt. Entschuldigen Sie mich einen Moment.“

Pratt saß im Sessel und rauchte seine kurze Pfeife, qualmte so stark, daß sein Kopf förmlich in Wolken gehüllt war.

Hier in Grablays behaglichem Arbeitszimmer herrschte eine angenehme Wärme. Man befand sich Ende Oktober, und der nahende Winter meldete sich bereits mit eisigen Stürmen.

Pratt versank in tiefes Grübeln. Die drei Gipsbüsten und die beiden verkleideten Männer kamen ihm nicht aus dem Kopf.

Dann schrillte mit einem Male das Telephon auf Grablays Schreibtisch. Pratt nahm den Hörer ab, hatte ihn kaum am Ohr, als schon eine helle weibliche Stimme ertönte:

Oh — sind Sie da, Mr. Grablay?“ Das klang sehr aufgeregt und sehr ängstlich.

Ja — hier ist —“ Weiter kam Nic nicht. Die helle Stimme rief schon dazwischen:

Helfen Sie mir um Gottes willen! Ich bin hier in einem fremden Hause eingesperrt worden! Oh, was soll ich Ihnen nur zuerst erzählen? Man hat in dieser Nacht —“

Ihr Name, Ihre Wohnung?“ meldete sich Pratt. „Zuerst dies, Miß! Dann —“

Er vernahm jetzt einen leisen Schrei.

Dann: „Sie — sie kehren zurück! Ich heiße Jane Smilopp und bin —

Da — ein scharfer Knall —

Dort, wo Jane Smilopp sich befand, mußte geschossen worden sein.

Jetzt alles still.

Nichts mehr — nichts! Kein Geräusch, kein Schrei, kein Ton.

Nic Pratt war ordentlich heiß vor Aufregung geworden: Er entsann sich, daß vor kurzem in ähnlicher Weise ein Telephongespräch unterbrochen worden war. Damals hatte eine Explosion das Telephon des Hilfesuchenden in den Garten geschleudert (vergl. Das Dynamitpaket, Bd. 3)2, und jetzt hatte offenbar jemand mit einer Kugel dieser Jane Smilopp den Hörer aus der Hand gerissen! —

Pratt rief dann das Amt an und fragte in Grablays Namen, wer soeben mit dem Inspektor sich habe verbinden lassen. —

Nr. 181 903, Doktor Ephraim Lesly, 11. Straße 99,“ kam die Antwort.

Da trat Grablay ein.

Inspektor!“ rief Pratt, „fahren Sie zum Hafen. Ich habe Ihnen ja die Stelle beschrieben. Lassen Sie durch einen Taucher Wagen und Büsten bergen. Ich muß zu Doktor Ephraim Lesly. Soeben hat hier eine Miß Jane Smilopp angerufen, und das arme Weib scheint da in der Gewalt von fragwürdigen Leuten zu sein.“

Pratt griff schon nach seiner Mütze und rannte davon, fand einen Wagen und ließ sich nach der 11. Straße bringen.

Kurz vor Nr. 99 stieg er aus. Diese Fahrt von fünfzehn Minuten hatte ihm genügt, im Wageninnern mit Hilfe der Requisiten, die er stets bei sich führte, sein Äußeres abermals zu verändern. Und jetzt hätte niemand so leicht bemerkt, daß Bart und graues Kopfhaar unecht waren; jeder hätte Nic Pratt auf sechzig Jahre geschätzt.

 

 

2. Kapitel.

Die gepolsterte Zelle.

Nic Pratt wanderte nun langsam bis Nr. 99. Das Haus war eine große Mietskaserne eleganterer Art. Zu beiden Seiten der Haustür hingen Porzellanschilder mit Geschäftsfirmen, Anwaltsnamen und ähnlichem. Auch Doktor Leslys Name, war darunter. Da stand:

Doktor Ephraim Lesly,

Arzt für Gemütskrankheiten,

Privatklinik, Röntgenlaboratorium.

o. Stock. Fahrstuhl. Sprechstunden 9-6.

Es war jetzt fast zwei Uhr morgens.

Pratt läutete den Hauswart heraus, gab dem Manne ein Trinkgeld und ließ sich den Fahrstuhl öffnen.

So gelangte er in das höchste Stockwerk. Er schaltete die Nachtbeleuchtung ein und sah sich im Treppenflur um. Er fand nichts Auffälliges.

Halt — hier war doch etwas, — festgeklemmt zwischen der Fußmatte und der Türschwelle.

Er hatte sich rasch gebückt und eine kleine Haarspange aufgehoben, wie Damen sie zum Befestigen der Nackenhaare benutzen. Er steckte sie zu sich und läutete dann.

Er mußte endlos lange warten. Endlich regte sich etwas hinter der Tür. Ein Schlüssel wurde umgedreht.

Vor Pratt stand ein verschlafenes Mädchen mit zerzaustem Haar. Sie kam offenbar aus dem warmen Bett, machte ein sehr ungnädiges Gesicht und fragte brummig, was er wünsche. Sie mußte sehr müde sein. Die Augen fielen ihr immer wieder zu.

Ich möchte Doktor Lesly sprechen,“ sagte Pratt recht liebenswürdig. „Ich — ich bin schwer krank — nicht ganz — richtig im Kopf.“

Er tippte sich dabei mit einem blöden Lächeln an die Stirn.

Das Mädchen lehnte an der Tür. Ihr Kopf war auf die Brust gesunken. Sie — schlief im Stehen.

Pratt wunderte sich. Diese Schlafsucht war unnatürlich.

Er spähte in den Wohnungsflur hinein und sah, daß es ein großer dielenartiger Raum war, in dem weiße Schränke und Korbmöbel standen. Ein starker Geruch „nach Arzt“ erfüllte diesen Flur.

Pratt nahm das Mädchen und führte es langsam zu einem der Korbsessel. Es leistete keinen Widerstand, erwachte kaum, schlief sofort im Sessel wieder ein und begann leise zu schnarchen. Pratt schlich zur Flurtür, schloß sie ab, kehrte zu der Schlafenden zurück und fühlte ihren Puls, der sehr schwach war.

Sie hat irgend ein starkes Schlafmittel genommen,“ dachte Pratt.

Dann schaute er sich hier weiter um. Der Flur verlängerte sich in zwei Biegungen nach rechts und links. Überall gab es weißgestrichene Türen mit Nummern. Dann entdeckte er an der Wand eine Tafel mit einem Verzeichnis der 24 Räume der Etage.

Da stand bei Nr. 8-22:

Pat. Zimmer 1. Klasse,

also Patienten-Zimmer erster Klasse, und bei den meisten noch ein Name dahinter.

Bei 23 aber waren statt des Namens drei Kreuze gemalt — sehr flüchtig, und statt „Pat.“ las man hier „Isolier“, also — Isolierzelle, wie sie wohl jede Nervenheilanstalt für Tobsüchtige besitzt.

Pratt überlegte. Vielleicht hatte man Jane Smilopp in diese Zelle gebracht — vielleicht!

So begann er denn Nr. 23 zu suchen, glitt auf Zehenspitzen den rechten Flur entlang, der nachher wieder nach rechts in den Seitenflügel abbog.

Ah — das letzte Zimmer war Nr. 23.

Und — hier hing im Flur ein Telephon — ein Apparat, bei dem der Hörer abgeschnitten war!

Nic schaltete seine Taschenlampe, die ihm bisher geleuchtet hatte, wieder aus, horchte eine Weile und vernahm auch schwache Geräusche aus den nächsten Zimmer: Stöhnen, Weinen, hastiges Auf und Ab von Schritten und dumpfe Schläge gegen die gepolsterten Innentüren.

Diese Geräusche hatten etwas seltsam Aufreizendes an sich. Pratt stellte sich die ruhelosen Geisteskranken Doktor Leslys vor, wie sie gleich wilden Tieren nach Freiheit lechzten.

Dann schaltete er die Lampe wieder ein und untersuchte den Fußboden und den Läufer unterhalb des an der Wand hängenden Fernsprechers. Er entdeckte auch Fasern der Schnur — des Hörers und kleine Hartgummisplitter.

Dies genügte ihm, hier war wirklich der Hörer durch eine Kugel zerstört worden!

Dann zog er seinen Patentdietrich und führte ihn in das Schloß von Nr. 23 ein. Der Dietrich stellte sich von selbst ein. Noch ein leises Knacken, und die äußere Tür war offen.

Als Pratt jetzt auch die Innentür recht leise aufgetan hatte, als er sie nun aufschob und die Taschenlampe mit der Hand halb bedeckt hatte, so daß nur ein paar Lichtstrahlen zwischen den Fingern hervordrangen, flog ihm plötzlich ein schwerer Gegenstand aus der Isolierzelle an den Kopf und streckte ihn wie vom Blitz gefällt zu Boden.

Es war eine gefüllte Wasserflasche gewesen, die sofort in Scherben ging und leise klirrend auf den gepolsterten Fußboden fiel.

Zwei Hände packten Pratt, zerrten ihn in die Zelle.

Dann riß das blonde Weib den Dietrich aus dem Schlüsselloch, drückte beide Türen zu und entfloh mit Pratts Taschenlampe. —

Nic Pratt kam nach zehn Minuten wieder zu sich, setzte sich aufrecht.

Alles dunkel ringsum.

Sein Kopf schmerzte. In den Ohren sang das Blut.

Und Nic — Nic ärgerte sich über sich selbst.

Sie hat Dich verkannt und Dich deshalb niedergeschlagen,“ dachte er. „Sie ahnte nicht, daß Du als Reiter kamst. Nun sitzt ich fein in der Patsche.“

Er nahm sein Feuerzeug und leuchtete mit dem kleinen Flämmchen umher.

Die Zelle enthielt nur ein Bett, einen Tisch, einen Korbsessel und einen kleinen Schrank. Sie war bis auf die Decke gepolstert und hatte kein Fenster.

Pratt setzte sich in den Sessel und dachte nach. Er hielt den Doktor Lesly jetzt schon für einen ganz gefährlichen Burschen. Der Doktor hatte ja wahrscheinlich dem Mädchen, das nun dort im Flur schlief, ein Mittel heimlich gereicht, damit sie in dieser Nacht nicht erwachte und nicht störte.

Was war hier vorgefallen? — Jane Smilopp war fraglos gewaltsam hierher geschleppt worden. Es geschah ja oft genug, daß man Leute in Sanatorien verschwinden ließ, die ihren Verwandten aus irgend welchen Gründen unbequem geworden waren.

Pratt wußte, daß er sich hier in ernstester Gefahr befand. Doktor Lesly hatte sicherlich Komplicen. Man würde ihn nicht schonen, wenn sich herausstellte, das Jane entwichen war.

Abermals zündete er den Docht seines Feuerzeuges an und öffnete den Schrank.

Ah — da hing ein langer Mantel, ein Damenhut, ein Schleier und zwei Kleider! Unten im Schranke lag Wäsche.

Pratt hatte sehr bald eins der Kleider an, schlüpfte in den Damenmantel und setzte den Hut auf. Der Schleier war schwarz und sehr dicht.

Nic lächelte jetzt triumphierend. Er wollte den Leuten, die hier erschienen, einen recht warmen Empfang bereiten, steckte seinen entsicherten Revolver in die rechte Außentasche des Mantels und nahm wieder im Sessel Platz, den er so gerückt hatte, daß er den Tisch dicht vor sich und die Tür sich gerade gegenüber hatte.

Nun saß er im Dunkeln, wartete und grübelte.

Wenn diese Jane Smilopp nicht den Patentdietrich mitgenommen hätte, wäre er längst mit der Polizei wieder hier im Hause gewesen! So aber war er ein Gefangener! — Ob diese Jane nicht ebenfalls sofort zur Polizei eilen und mit Beamten zurückkehren würde? — Dies war ein Hoffnungsstrahl! Jane mußte doch annehmen, entweder den Doktor oder einen seiner Komplicen hier in der Zelle eingeschlossen zu haben!

Da — ein Geräusch?

Seltsam — es kam nicht von der Tür her.

Pratt lauschte mit angestrengten Sinnen.

Dann erhob er sich. Nun wußte er, woher die Geräusche an sein Ohr drangen: dort von der Wand gegenüber der Tür.

Ein besonderer Gedanke zuckte in seinem Kopfe auf.

Ursprünglich hatte diese Zelle ohne Zweifel Fenster gehabt, die nachträglich entweder zugemauert oder durch Bretter vernagelt worden waren. Wollte etwa jemand durch eines dieser Fenster hier eindringen? Wollte jemand vielleicht Jane Smilopp befreien!

Pratt stand jetzt dicht an der dick gepolsterten Wand und suchte die Art der Geräusche zu ergründen.

Kein Zweifel das war das Arbeiten einer Säge? Da zerschnitt jemand draußen mit einer Stichsäge Bretter! Da schuf jemand gewaltsam einen Zugang in diese Zelle.

Pratt hatte sich also nicht getäuscht. Seine Vermutung war richtig gewesen: es wollte irgend ein Mensch Jane Smilopp befreien?!

Nic setzte sich wieder in seinen Sessel und wartete die weitere Entwicklung der Dinge geduldig ab. Er konnte genau hören, wie weit der Einbrecher mit seiner Arbeit war. Jetzt hatte dieser bereits die Polsterung in Angriff genommen. Pratt vernahm das Reißen von Leinwand und bald auch eine Stimme — eine Männerstimme, die leise in die Zelle hineinrief:

Jane — Jane, mein Liebling, bist Du da?“

Pratt hütete sich zu antworten. Er hätte den Mann ja ohne Zweifel nur verscheucht.

Um den kühnen Eindringling ganz sicher in die Zelle zu locken, ließ er sich jetzt sogar zu Boden fallen und blieb regungslos wie in tiefer Ohnmacht liegen.

Dann blitzte eine breite Lichtbahn auf. Der Mann leuchtete mit einer Laterne in die Zeile hinein.

Pratt blinzelte durch die fast ganz geschlossenen Augen hindurch.

Er sah die Hand mit der Laterne, sah auch die andere Hand, die ein Messer hielt und jetzt die Polsterung noch weiter zerstörte und das Loch erweiterte.

Nun schob der Mann sich hindurch, nun stand er in der Zelle.

Mit einem Satz war der berühmte Detektiv auf den Beinen und rief leise:

Fürchten Sie nichts! Ich bin Nic Pratt! Jane Smilopp hat mich in Verkennung der Sachlage, als ich sie befreien wollte, niedergeschlagen und hier eingesperrt.

Der Eindringling war ein schlanker, junger Mann mit ausdrucksvollem Gesicht, trug einen Sportanzug und eine weiche Mütze und musterte Pratt jetzt mit kühler Gelassenheit. Er mußte gute Nerven haben, denn er war kaum zusammengezuckt, als Pratt sich so jäh erhoben hatte.

Wenn Sie Nic Pratt sind,“ sagte er nun, „und wenn Ihre Angaben stimmen, dann werden Sie mir dankbar sein müssen, weil ich Sie befreit habe.“

Allerdings Ihr Erscheinen hier ist mir nur angenehm. Sie brauchen im übrigen nicht daran zu zweifeln, daß ich Nic Pratt bin —“ — Er nahm Hut, Schleier und Perücke ab und zeigte so dem anderen sein schmales, energisches Gesicht.

Ah — ich erkenne Sie!“ meinte der junge Mann freudig. „Mr. Pratt, nun erst bin ich ganz beruhigt. Gestatten Sie: mein Name ist Jacques Carlifle Ich bin der heimlich Verlobte Janes.“

Mr. Carlifle, ich denke, wir unterhalten uns besser an einem anderen Orte über diese Dinge. Wir können nie wissen, ob Doktor Lesly nicht hier plötzlich eintritt. Das würde zu Weiterungen führen.“

Ja — zu ein paar Vorhieben!“ zischte Jacques in aufflammender Wut. „Gut — machen wir uns aus dem Staube, Mr. Pratt.“

In demselben Moment vernahm Pratts scharfes Ohr das Zurückschnappen eines Schloßriegels.

Mit einem langen Sprung war er an der Tür und stemmte sich mit den Händen dagegen, flüsterte gleichzeitig:

Den Tisch her, Carlifle, — rasch!“

Der junge Mann hatte sofort begriffen.

Der Tisch wurde schräg gegen die Tür gedrückt, wo ihn eine Leiste festhielt. Nun war der Zugang versperrt.

Weg von hier!“ flüsterte Pratt wieder.

Man hörte bereits, wie der Schlüssel an der Innentür ins Schloß geführt wurde.

Jacques Carlifle kroch durch das Loch hinaus.

Pratt folgte. Draußen vor dem vernagelten Fenster hing eine Leine vom Dache herab.

Carlifle kletterte empor. Als Nic dann den Rand des Daches erreicht hatte, half ihm der andere völlig hinauf, zog nun die Leine ein und raunte dem Detektiv zu:

Wir müssen über die Nachbardächer weiter!“

Dieses Dach hier war völlig flach, mit einem eisernen Geländer umgeben und zum Teil als Dachgarten eingerichtet. Wenige Schritt weiter erhob sich eine Laube aus wildem Wein. Aus dieser Laube sprengen jetzt urplötzlich drei stämmige Kerle in hellen Leinenkitteln hervor. Zwei warfen sich auf Pratt, der dritte auf Carlifle.

Pratt, der noch den Damenmantel anhatte und auch den Frauenhut fest auf den Kopf gedrückt trug, hatte blitzschnell einen Satz nach rückwärts getan und den Revolver aus der Tasche herausgerissen.

Ich schieße sofort! Ich bin Nic Pratt!“ rief er drohend. „Hände hoch — oder es knallt!“

Die Kerle, offenbar Wärter der Klinik Doktor Leslys, stutzten und wichen zurück.

Schert Euch wieder in die Laube!“ befahl Pratt kurz. „Und —haltet Eurem Herrn gegenüber das Maul! Das rate ich Euch! Wenn Ihr ausplaudert, wer hier auf dem Dache war, werde ich Euch Inspektor Grablay auf den Hals schicken!“

Die drei gehorchten, und Carlifle und Pratt setzten ihre Flucht schleunigst, aber unbehelligt fort.

 

 

3. Kapitel.

Was Jacques erzählte.

Jacques Carlifle, der Pratts Ulster und Mütze ganz von selbst aus der Zelle mitgenommen und schon dadurch seine Fähigkeit, eine Sachlage rasch zu überschauen und schnell einen Einfluß zu fassen, bewiesen hätte, spielte jetzt den Führer bei dieser abenteuerlichen nächtlichen Wanderung über die Dächer.

Dieser Carlifle gefiel Nic Pratt außerordentlich. Das war so Nics eigener Schlag: mutig, rasch entschlossen und keine Spur von Nerven!

Wohin geht die Reise, Mr. Carlifle?“ fragte er nun den jungen Mann.

Durch das Haus, in dem ein Freund von mir wohnt, auf die Straße und dann zu mir, Mr. Pratt.“

Nic, der hinter Carlifle dreinschritt, bemerkte jetzt an dessen rechtem Ärmel einen großen weißen Fleck. Ihm wäre dieser Fleck wohl kaum aufgefallen, wenn nicht ein Reklameluftschiff gerade über das nächtliche Neuyork hinweggeflogen wäre und mit Riesenscheinwerfern auf die dunklen Wolken Lichtreklamen geworfen hätte, deren Lichtfülle das Dunkel hier auf dem Dache in eine ungewisse Dämmerung verwandelte.

Sie haben sich an der Hauswand den Ärmel weiß gemacht, Mr. Carlifle,“ meinte Pratt ohne jede tiefere Absicht „Warten Sie, ich klopfe Ihnen den Kalk ab. —“

Carlifle blieb stehen. „Sehr liebenswürdig, Mr. Pratt. Es dürfte nur Gipsstaub sein, kein Kalk.“

Nic stutzte.

Gips — Gips?! — Die drei Gipsbüsten —!

Sollte dies ein Zufall sein?!

So fragte er denn gleichgültig tuend „Sind Sie Bildhauer, Mr. Carlifle?“

Ich?! — Keine Spur! Ich bin Bankbeamter! — Ach so — Bildhauer des Gipses wegen! Nein, Mr. Pratt, das hat eine andere — hm ja — eine andere Bewandtnis.“ Er sprach immer zögernder. „Ich — habe daheim eine Gipsfigur, und an diesem Ding werde ich mir den Ärmel beschmutzt haben.“

Pratt dachte: „Jetzt hat er gelogen! — Sollte er etwa einer der beiden verkleideten Männer gewesen sein, die den Handwagen zogen!“

Er reinigte den Ärmel. Dann gingen sie weiter — von Dach zu Dach, bis zur Brocwellerstaße Nr. 48, wo Carlifle durch eine Bodenluke des Gartenhauses, in das Gebäude einstieg.

Pratt sagte jetzt unvermittelt: „Ob wir Ihren Freund wohl daheim antreffen? Ich möchte mich etwas ausruhen.“

Gewiß. Tom ist zu Hause. Eigentlich erwartet er mich und Jane sogar!“

Sie kamen unbemerkt bis in die erste Ebene des Gartenhauses. Hier wohnte Tom Router, Carlifles Freund, in einem großen möblierten Zimmer mit Flureingang.

Tom war ein stattlicher, breitschultriger junger Mann von bescheidenem Auftreten. Er begrüßte Pratt mit gewisser Ehrerbietung.

Nic hatte nur Interesse für Toms Stiefel, denn er besann sich, daß einer der beiden, Wagenzieher ein Paar Knopfstiefel mit hellbraunem Einsatz getragen hatte. Gerade das elegante Schuhzeug der beiden war ihm ja aufgefallen.

Dieses Interesse, natürlich ganz insgeheim bekundet, hatte hier volle Berechtigung gehabt. Tom Routers Stiefel glichen denen aufs Haar, die Pratt bei einem der Wagenzieher gesehen hatte! —

Tom hatte seinen Freund Jacques sofort leise gefragt, wo sich denn Jane befinde und wie die ganze Geschichte ausgelaufen sei.

Sprich nur ruhig laut,“ meinte Carlifle, da. „Mr. Pratt war ja zum Teil mit von der Partie. Jane ist entflohen. Ich hoffe, daß sie zu mir geilt ist. Deshalb möchte ich mich hier bei Dir auch nur so lange aufhalten, bis ich Mr. Pratt Janes Leidensgeschichte erzählt habe.“

Die drei hatten sich um den Sofatisch herumgesetzt.

Nic mußte seine Gedanken, die nun völlig den Gipsbüsten und der Tatsache galten, daß Carlifle und Router die geheimnisvollen Transporteure der später versenkten Büsten gewesen waren, wieder gewaltsam in die allerjüngste Vergangenheit zurückleiten und den Schicksalen der Jane Smilopp zuwenden.

Jacques, ihr Verlobter, berichtete nun folgendes:

Janes Vater Morris Smilopp, von Beruf Kapitän eines Neuyorker Hafenschleppers, war seit Jahren Witwer und wohnte mit seinem einzigen Kinde Jane in der Dirckwallstraße 122 dicht am Hafen in einem eigenen kleinen Häuschen. Jacques hatte Jane vor acht Wochen etwa kennen gelernt. Sie hatte dann, als er bei gemeinsamen Spaziergängen um sie zu werben begann, ihm gleich erklärt, daß er sie nie daheim besuchen dürfe. Ihr Vater wünsche nicht, daß sie sich bereits mit ihren erst zwanzig Jahren verlobe. Vorgestern war Jane dann sehr aufgeregt gewesen und hatte ihm erzählt, daß der Bruder ihres Vaters, der Advokat Benjamin Smilopp, in letzter Zeit täglich bei ihnen gewesen sei und hinter verschlossenen Türen mit ihrem Vater sehr laute Auseinandersetzungen gehabt habe, deren Grund sie nicht kenne. Sie habe nur einmal ein paar Sätze verstanden, aus denen ihr hervorzugehen schien, daß ihr Vater von ihrem Onkel Benjamin aufgefordert worden sei, sich in ein Sanatorium zu begeben, andernfalls er — der Advokat — mit anderen Mitteln vorgehen würde. — Was diese Sätze bedeuteten, wußte Jane nicht. Gestern nun fand sie, die als Tippfräulein in einem Getreidegeschäft tagsüber zu tun hatte, bei ihrer Heimkehr um sechs Uhr nachmittags einen Brief ihres Vaters vor, der ihr darin mitteilte, er habe auf Anraten seines Bruders Ben für einige Monate ein Sanatorium aufgesucht. Jane sollte sich seinetwegen keine Gedanken machen. Seine nervöse Reizbarkeit würde sich dort bessern. Er wollte ihr absichtlich den Namen des Sanatoriums nicht nennen, da die Ärzte ihm geraten hätten, ganz für sich zu leben. — Dieses Schreiben kam Jane so merkwürdig vor, daß sie sofort an Jacques Carlifle telephonierte und ihn um seinen Besuch bat. Jacques erschien dann auch um halb sieben in dem Häuschen Kapitän Smilopps, fand Jane in Tränen vor und konnte sie nur schwer beruhigen. Schluchzend erklärte sie ihm, ihr Vater sei seit einiger Zeit allerdings sehr verstimmt und sehr ruhelos gewesen. Aber diese Erscheinungen einer seelischen Niedergeschlagenheit hätten doch den Aufenthalt in einem Sanatorium noch lange nicht notwendig gemacht. Sie vermutet daher, daß ihr Onkel Ben, der schon stets ein schlimmer Intrigant und Ränkeschmied gewesen, hier wieder dunkle Machenschaften angezettelt habe. — Jacques versprach ihr, insgeheim Nachforschungen anzustellen, wo Kapitän Smilopp sich befinde, und verließ das Häuschen gegen halb neun Uhr. Als er sich noch der Innenstadt zuerst etwa hundert Meter entfernt hatte, sah er auf der anderen Straßenseite den ihm von Ansehen bekannten Advokaten Smilopp in Begleitung zweier Männer, während daneben ein geschlossener Wagen auf dem Fahrdamm in gleicher Richtung dem Smiloppschen Grundstück zustrebte.

Jacques machte kehrt und beobachtete, wie der Anwalt und die beiden Männer in dem Häuschen verschwanden, während der Wagen draußen hielt.

Nach einer Viertelstunde kamen die drei mit der weinenden Jane heraus und fuhren in dem Wagen davon.

Jacques Carlifle nahm ein Auto, blieb hinter ihnen und stellte fest, daß die drei Herren mit Jane das Haus Doktor Ephraim Leslys betraten. Er vermutete sofort, daß in Leslys Nervenklinik Kapitän Smilopp sich aufhalten würde.

Der Advokat verließ noch einer halben Stunde das Haus, stieg in den Wagen und entfernte sich so.

Jacques war unschlüssig, was er tun solle. Schließlich begab er sich nach oben in den sechsten Stock, läutete und sagte dem ihm öffnenden Mädchen, er möchte Doktor Lesly zu sprechen.

Lesly, ein kleiner hagerer Mensch mit rötlichem Spitzbart und aalglattem Wesen, erklärte dann, daß Jane auf Veranlassung ihres Vormundes Benjamin Smilopp wegen momentaner Geistesstörung hier bei ihm vorläufig untergebracht sei.

Kein Wunder, daß Carlifle zunächst vor Schreck und Staunen. kein Wort über die Lippen bekam. Dann aber packte ihn die Wut. Er merkte, daß der Advokat hier tatsächlich irgendwelche Ränke geschmiedet hatte. Er drohte Lesly mit der Polizei, falls Jane nicht sofort freigelassen würde. Er tobte förmlich, bis plötzlich zwei Polizisten das Zimmer betraten und ihm klar machten, daß er das Haus sofort zu verlassen hätte.

Er folgte den Beamten, die von Leslys Frau telephonisch herbeigerufen worden waren. Unten auf der Straße erzählte er ihnen nun alles, was sich ereignet hatte, mit großer Ruhe und erreichte so, daß von der nächsten Revierwache an Benjamin Smilopp telephoniert wurde. Dieser erwiderte dem Polizeiinspektor, daß sein Bruder geisteskrank sei und ihn schon vor seiner Erkrankung zu Janes Vormund bestellt habe. Jane sei gleichfalls, was in der Familie leider erblich, von periodischem Wahnsinn befallen, was zwei Ärzte festgestellt hätten.

Kurz: der Polizeiinspektor fand keinen Grund zum Einschreiten, und Jacques Carlifle mußte unverrichteter Dinge die Revierwache verlassen.

Er eilte zu seinem Freunde Tom Router, der sich nun erbot, seinerseits herauszubringen, wo Jane bei Doktor Lesly gefangen gehalten würde.

Tom Router gelang es, eins der Mädchen der Klinik vor Leslys Hause abzufassen und zu bestechen. Das Mädchen teilte ihm mit, daß Jane in der Isolierzelle im Ostflügel, letztes Zimmer nach dem Hofe zu sich befinde, da sie einen Tobsuchtsanfall gehabt hätte.

Tom, der eilig zu Jacques zurückkehrte, war entschieden dagegen, daß Carlifle Jane gewaltsam befreie. Aber Jacques ließ sich von seinem Vorhaben nicht abbringen und traf so mit Nic Pratt in der gepolsterten Zelle zusammen. —

Nic hatte diesen Bericht durch keine Frage unterbrochen. Er war überzeugt, daß Jacques vieles verschwiegen und geändert hatte.

Ein reiner Kriminalroman!“ meinte Pratt jetzt und rauchte die Wolken aus seiner kurzen Pfeife. „Ein ganzes Knäuel von Rätseln! Für mich ein hochinteressanter Fall, meine Herren. — Jetzt wollen wir aber erst einmal zu Ihnen fahren, Mr. Carlifle, und sehen, ob Miß Jane dort ist.“

Tom kam mit. Man benutzte ein Auto. Während der Fahrt schilderte Pratt seine Erlebnisse, verschwieg natürlich den Handwagen und die Gipsbüsten vollständig und meinte zum Schluß:

Ich werde mich gleich nachher mit meinem Freund Grablay in Verbindung setzen. Wir werden diese Rätsel schon lösen!“

Ich fürchte, Sie werden wenig Erfolg haben, Mr. Pratt,“ sagte Jacques zögernd. „Ich muß Ihnen auch gleich erklären, daß ich nicht die Mittel besitze, Ihnen ein Honorar zu zahlen.“

Oh — das macht nichts, Mr. Carlifle,“ äußerte Pratt gähnend. „Ich werde mich ja auch erst mal ausschlafen müssen. Dann sehen wir zu, was sich für Miß Jane tun läßt.“

Im stillen aber dachte er: „Mein Junge, Du wünscht gar nicht, daß ich diesen Fall untersuche! Du fürchtest mich, weil Du selbst irgendwie dabei die Hände im Spiele hast!“ —

Bei Jacques Carlifle war Jane nicht, ebensowenig daheim in des Kapitäns Häuschen.

Jacques wurde jetzt äußerst besorgt. „Womöglich hat Jane des Arztes Haus doch nicht verlassen können und ist wieder eingefangen worden,“ meinte er.

Pratt tröstete ihn. „Wenn ich ausgeschlafen habe, werde ich Jane suchen. — Gute Nacht, meine Herren. Ich fahre nach Hause.“

Er fuhr nicht nach Hause, sondern zur Hafenpolizeiwache, wo er Grablay anzutreffen hoffte.

 

 

4. Kapitel.

Die Gipsköpfe.

Pratt, der jetzt wieder die Bekleidung abgelegt hatte, war selbst jetzt, obwohl müde und abgespannt, vorsichtig und mißtrauisch genug, häufiger durch das kleine Fenster in der Rückwand des geschlossenen Kraftwagens rückwärts nach einem Verfolger auszuspähen, mit dem er bei dieser verworrenen und offenbar auf irgend ein geplantes Verbrechen hindeutenden Sachlage rechnen zu müssen glaubte.

Und wirklich: ein anderes Auto folgte den seinen.

Pratt lächelte ironisch. Jede Spur von Müdigkeit war verflogen.

Als sein Kraftwagen um eine Ecke bog, schwang er sich rasch zur Tür hinaus und neben den Chauffeur auf den Außensitz, reichte dem Manne zehn Dollar, nannte seinen Namen und bat ihn, zurück nach dem Central-Park zu fahren. Er selbst würde an der nächsten Ecke, wo der Verfolger dies dann nicht beobachten könne, abspringen.

So geschah es denn auch. Pratt hatte er noch schnell abermals Maske gemacht, was dem Chauffeur ein Schmunzeln entlockte.

Als das verfolgende Auto jetzt um die Ecke der Glarnysstraße bog, taumelte ihm ein bärtiger, betrunkener Mann mit der Mütze schief im Genick vor die Räder und wäre beinahe überfahren worden.

Dieser Betrunkene, der so einen Blick in das Auto hatte werfen können, war kein anderer als Nic Pratt.

Nic war zufrieden. Jacques Carlifle hatte ihm den Advokaten Benjamin Smilopp genau beschrieben. Und — dieser Smilopp hatte in dem Auto gesessen!

Zehn Minuten drauf war Pratt auf der Hafenwache.

In dem großen Dienstraum standen auf dem Mitteltisch die drei nassen Gipsbüsten, die man soeben von dem anhaftenden Schlamm gereinigt hatte. Daneben stand der Handwagen, und auf diesem lag die Leinwand, mit der die Gipsbüsten verhüllt gewesen waren.

In einem alten Lehnsessel aber saß Inspektor Stuart Grablay und empfing seinen Freund Pratt mit den Worten:

Da haben wir die drei Dinger, Pratt! Sie sehen, es sind Büsten unserer berühmtesten Männer: des Präsidenten Lincoln, des Politikers Washington und des Generals Grant. Aber der Henker mag wissen, weshalb die beiden Kerle die Büsten ersäuft haben. Ich habe sie genau untersucht. Man könnte ja denken, daß in dem hohlen Innern etwas verborgen ist! Doch — keine Spur davon. Man kann durch den unten offenen Sockel hineinleuchten. Die Büsten sind leer.“

Pratt trat an den Tisch heran und kippte den General Grant um, schaute in die Büste hinein, ließ seine Taschenlampe aufflammen und beleuchtete den Hohlraum.

Allerdings — leer!“ nickte er.

Dann nahm er die Büste mit beiden Händen hoch und schüttelte sie kräftig, stellte sie wieder hin und sagte zu den Beamten, die den Tisch neugierig umstanden:

Treten Sie zur Seite. So — danke!“

Mit einem Male hatte er seinen Revolver in der Hand.

Drei Schüsse knallten.

Und die drei Köpfe der Büsten flogen als Scherben auf den Fußboden.

Doch — noch etwas anderes flog auf die Dielen; drei runde, vielfach umschnürte Päckchen!

Verdammt!“ rief Grablay. „Gute Idee, Pratt! Die Köpfe schienen nicht hohl zu sein!“

Sie waren am Halse abgeschlagen und sauber wieder aufgeleimt worden,“ lächelte Nic und öffnete eines der Päckchen.

Alles umdrängte ihn; alle stießen jetzt einen Ruf der Überraschung aus.

In der Papierhülle lagen goldene Ringe, Armspangen, Uhrketten, Broschen — alles beste gediegene Arbeit, teilweise mit Brillanten versehen!

Donnerwetter!“ meinte Grablay. „Nun ist die Geschichte schon klarer. Die beiden Kerle, die den Wagen schoben, sind Spitzbuben, die ihre Beute sicher unterbringen wollten.“

Nic ließ nur ein zweifelndes „Hm!“ hören und fügte hinzu, indem er noch lauter als bisher gähnte:

Sorgen Sie dafür, Grablay, daß dieser Fund in den Gipsköpfen geheim bleibt. Ich muß mich erst ausschlafen. Gute Nacht!“

Halt — halt, lieber Pratt,“ rief der Inspektor. „Was haben Sie denn hinsichtlich des durch einen Schuß unterbrochenen Telephonoesprächs ermittelt?“

Nichts!“ log Pratt kaltblütig, gähnte wieder und begab sich heim nach der Pearlstraße 111.

Er fühlte jetzt doch, daß ihm der Nachtschlaf sehr fehlte. Jetzt war er wirklich müde. Er hatte abermals ein Auto genommen, stieg aber nach alter Gewohnheit weit vor seinem Hause aus und ging das letzte Stück zu Fuß.

Zu seiner Abspannung gesellten sich noch allerlei Gedanken, die ihn unaufmerksam und unvorsichtig machten.

Er legte sich immer wieder die Fragen vor:

Weshalb haben Carlifle und Router diese Büsten versenkt? Sind die beiden wirklich Diebe?

Er konnte nicht daran glauben. Nein — Carlifle und Router, da täuschte ihn seine Menschenkenntnis sicher nicht, waren anständige Kerle, achtbare junge Leute.

Er grübelte und grübelte. Er hörte nicht, daß hinter ihm ein Auto jetzt auftauchte und dicht an dem Bürgersteig entlangfuhr; er sah nicht, daß vor ihm in einer Haustürnische ein Mensch mit tief ins Gesicht gezogenem Hute stand.

Da — Pratt schreckte jäh aus tiefem Sinnen empor.

Vorsicht!“ gellte eine helle weibliche Stimme. „Man will Sie ermorden!“

Nic hatte nicht einen Moment seine Geistesgegenwart verloren.

Jetzt erblickte er das Auto, erblickte den Revolver mit dem, jemand aus dem Kraftwagen auf ihn zielte.

Ein Sprung zur Seite.

Ein Schuß noch einer.

Pratt rollte schon wie ein Gummiball weiter.

Aus dem Auto ein wilder Fluch. Dann raste der Kraftwagen davon. Das Attentat war im letzten Moment vereitelt worden.

Nic erhob sich, stäubte sich gelassen den Ulster ab und schaute dem langsam sich nähernden Manne entgegen, der ihn durch den gellenden Zuruf gewarnt hatte.

Dem Menschen mit dem tief in die Stirn gedrückten Filzhut schlotterten die Kleider förmlich um den schlanken Leib, waren ihm viel zu weit.

Nic lächelte jetzt, sagte dann:

Miß Jane. ich danke Ihnen.“

Wie — Sie wissen, wer ich bin?“ rief die Verkleidete staunend.

Ja, Miß Smilopp sind Sie, die mir die Wasserkaraffe an den Kopf warf. — Kommen Sie, Miß. Diese Straße ist heute gefährlich.“

Sie betraten den Vorgarten des Prattschen Hauses und saßen gleich darauf in des Detektivs behaglich warmen Arbeitszimmer.

Jane erzählte jetzt ihre Erlebnisse in dieser Nacht und deren Vorgeschichte.

Pratt war sehr verwundert, als er nun vernahm, daß Jacques Carlifles Schilderung sich mit der Janes durchaus deckte.

Über das, was Jacques nicht wissen konnte, berichtete das junge Mädchen folgendes:

Mein Onkel Ben, der Advokat und zwei Ärzte betraten gegen halb neun Uhr gestern abend unser Wohnzimmer, nachdem mein Verlobter sich soeben erst entfernt hatte. Mein Onkel tat sehr herzlich, obwohl er mich und ich ihn nicht leiden kann. Ich war wegen meines Vaters Verschwinden noch recht aufgeregt und rief Onkel Ben zu, er sei daran schuld; daß mein Vater diesen unsinnigen Entschluß gefaßt hätte, eine Privatheilanstalt aufzusuchen. Meines Onkels süßliche, verlogene Liebenswürdigkeit reizte mich immer mehr. Ich schrie ihm zu: „Du bist stets schon ein hinterlistiger Schleicher gewesen. Du hast den Vater auf dem Gewissen! Wenn sein Verstand getrübt ist, so hast Du dies irgendwie bewirkt!“ — Onkel Ben sagte darauf, er würde mich zu meinem Vater bringen, wobei er mit den Ärzten besondere Blicke austauschte. Ich ahnte noch immer nicht, daß er auch mich für unzurechnungsfähig erklären lassen wollte und daß alles nur wohlberechnete Komödie war. Ich hatte nur den einen Wunsch, meinen Vater wiederzusehen. So begleitete ich die drei Herren denn, wurde in ein mir unbekanntes Haus geführt und bei Lesly sofort in die Isolierzelle eingesperrt. Ich tobte und schrie. Aber das verschlimmerte mir meine Lage. Als ich etwas ruhiger geworden, trat einer der beiden Ärzte, die Onkel Ben begleitet hatten, in die Zelle und begann mit mir ein Gespräch, redete mir freundlich zu und sagte, ich sei wirklich krank. Mein Vater habe in seiner Jugend bereits Anfälle von Irrsinn gehabt und während dieser Anfälle tolle Streiche und auch recht gefährliche Dinge verübt. Ich solle nur getrost ein paar Wochen hier bleiben, bis ich wieder gesund sei. Als er dann die Zelle verlassen wollte, riß ich ihn zurück, schlüpfte hinaus, warf die Tür zu, die ja von innen keinen Drücker hat, sah im Flur das Telephon und suchte rasch Mr. Grablays Nummer aus dem Fernsprechteilnehmerverzeichnis heraus. Kaum hatte ich dann Anschluß erhalten, kaum hatte ich ein paar Sätze mit Grablay —“„Nein, mit mir!“ schaltete Pratt ein.

„— also mit Ihnen gewechselt, als hinten im Flur Doktor Lesly auftauchte und — auf mich mit einem Revolver schoß. Die Kugel traf den Hörer, riß ihn mir aus der Hand. Dann stürzten schon zwei Wärter herbei und schleppten mich in die Zelle, wo —“

„— wo Sie dann mich nachher mit der Wasserkaraffe niederschlugen, Miß Jane.“

Leider — leider, Mr. Pratt. Ich glaubte aber, Sie wären einer dieser Schurken, die gesunde Menschen als Irrsinnige behandeln. Jedenfalls gelang es mir dann aber, aus dem Hause zu fliehen. Ich eilte zu Jacques. Er war jedoch nicht daheim. Ich begab mich daher nach Hause und wollte hier im Stalle in einem Kämmerchen übernachten, das mein Vater aus Spielerei mit einer Geheimtür versehen hatte. Hier hoffte ich, würde mich niemand finden. Als ich das Kämmerchen betreten hatte, in dem ein altes Ruhebett steht, sah ich sofort, daß von einem Wandbrett drei Gipsbüsten verschwunden waren, die —“

Pratt war aufgesprungen, rief:

Wie — die Gipsbüsten gehörten Ihrem Vater?“

Ja! — Was wissen Sie jedoch von diesen Büsten. Mr. Pratt?“

Weiter, weiter, Miß Jane!“ drängte Pratt. „Also die Büsten waren verschwunden?“

Ja. Sie müssen gestohlen worden sein. — Ich möchte noch bemerkten, Mr. Pratt, daß mein Vater eine seltsame Abneigung gegen diese Heldenbüsten hatte. Er hatte sie deshalb auch in die geheime Kammer verbannt. Onkel Ben fragte mich in letzter Zeit wiederholt, ob ich nicht wüßte, wo die Büsten geblieben seien. Aber mein Vater hatte mir mehrmals eingeschärft, Onkel Ben zu erklären, falls er sich nach den Büsten erkundigte, ich wüßte nicht, wo sie seien.“

Aha!“ rief Pratt und rieb sich die Hände. „Aha — mir geht ein Licht auf! Ich begreife alles! Der Fall liegt jetzt klar. — Noch eine Frage, Miß Jane: Hat Jacques, Ihr Verlobter, sich mal auf den Hof Ihres Grundstücks geschlichen, und — hat das Kämmerchen ein Fenster?“

Ja, Jacques wollte mich mal abends sprechen und war daher auf den Hof gekommen. Ich hörte jedoch seinen leisen Pfiff nicht. Das Kämmerchen besitzt ein kleines Fenster, das aber von wildem Wein völlig verdeckt ist.“

Danke. Das genügt mir. — Sie fühlten sich dann selbst in dem Kämmerchen nicht mehr sicher und wollten mich aufsuchen —“

Ja — der Gipsbüsten wegen, denn mein Vater haßte sie zwar, hatte aber anderseits eine merkwürdige Angst, daß sie gestohlen werden könnten und sagte gelegentlich zu mir, daß er — sterben müsse wenn die Büsten in fremde Hände gerieten.“

 

 

5. Kapitel.

Advokat Smilopp.

Pratt griff wieder nach Ulster und Mütze. „Sie haben dann einen Anzug Ihres Vaters angezogen, um sich unkenntlich zu machen. Sehr schlau war das, Miß Jane. — Wenn Sie nicht zu müde sind, begleiten Sie mich bitte. „Ich will nur noch schnell an Grablay telephonieren.“

Der Inspektor war bereits daheim.

Hier Nic Pratt,“ meldete der Detektiv sich. „Grablay, kommen Sie doch sofort nach der Dirckwallstraße 122 und erwarten Sie mich in der Nähe des Grundstücks Kapitän Smilopps. — Oh verkleidet? Natürlich! Bringen Sie auch Handschellen mit und ihren Achtschüssigen. Auch ich komme als alter Mann mit Brille — Schluß. Wiedersehen.“

Pratt hatte sich dann in wenigen Minuten einen Bart vorgeklebt und auch Jane durch einen Schnurrbart noch unkenntlicher gemacht.

Beide fuhren in einem Auto nach der Dirckwallstraße. Es war jetzt halb vier Uhr morgens.

Unterwegs fragte Pratt Miß Jane, ob sich auf dem Hofe ein vierräderiger Handwagen befunden habe.

Der stand im Stalle,“ erklärte Jane und fügte hastig hinzu: „Ach mir fällt jetzt ein: der Handwagen ist ja auch verschwunden!“

Nein,“ saate Pratt leise, „er ist wieder aus dem Hudson herausgeholt worden. Nur die Nationalhelden aus Gips haben die Köpfe verloren. — Fragen Sie jetzt nichts, Miß Jane. Sie werden ja die Lösung des Rätsels miterleben.“ —

Grablay war bereits zur Stelle.

Pratt, was gibt’s denn eigentlich?“ meinte der Inspektor.

Was es gibt? — Einbrecher im Hause Kapitän Smilopps gibt’s! — Kommen Sie. Vielleicht fangen wir die Kerle.“

Die beiden Freunde und Jane näherten sich dem Hause.

Ah — die Parterrefenster sind erleuchtet!“ flüsterte Pratt. „Schleichen wir dicht an die Hauswand heran!“

Nun standen sie vor den recht tief gehenden beiden Fenstern. Die Vorhänge standen etwas offen.

Das — das ist ja Onkel Ben!“ hauchte Jane.

Ja — Onkel Ben, der die Gipsbüsten sucht,“ nickte Pratt. „Da — er beklopft die Wände und den Fußboden. — Halt, ein Gedanke: Miß Jane, läuten Sie an der Haustür und sagen dann Ihrem Onkel folgendes, aber kein Wort mehr oder weniger, wenn Sie mit ihm in diesem Zimmer sind:

Onkel Ben, die drei Gipsköpfe hat Nic Pratt im Scherben geschossen! Sollte er dann mit Fragen in Sie dringen, so setzen Sie sich dort auf das Sofa und bleiben stumm.“

Jane war einverstanden und huschte davon.

Als sie an der Haustür läutete, tat der dürre Advokat drinnen im Zimmer einen förmlichen Luftsprung vor Schreck.

Dann zog er einen Revolver hervor und schlich aus dem Zimmer in den Flur.

Pratt hatte schon sein Messer in der Hand, stieß mit der großen Klinge ein Loch dicht am Rande der rechten unteren Scheibe in das Glas hinein, faßte hindurch und öffnete den Riegel.

Gleich darauf lagen Grablay und Pratt unter dem Sofa.

Inzwischen hatte Benjamin Smilopp an der Haustür ängstlich gefragt, wer draußen sei.

Jane ist’s Onkel“, rief das junge Mädchen tapfer.

Schweigen.

Dann: „Bist Du allein, liebes Kind?“

Ja, Onkel!“

Er öffnete jetzt.

Jane prallte zurück, als sie den Revolver sah.

Auch der dürre Anwalt erschrak vor der Männergestalt, lachte dann gezwungen und meinte:

So — so! Du hast Dich verkleidet, liebe Jane? Wo warst Du denn eigentlich, nachdem Du törichterweise von Doktor Lesly entflohen warst?“

Jane schritt wortlos an ihm vorüber und ging in das erleuchtete Wohnzimmer.

Hier setzte sie sich sofort in die Sofaecke.

Ben Smilopp folgte ihr auf dem Fuße.

Wo warst Du?“ fragte er jetzt nochmals in ganz anderem Tone. „Sprich! Oder — bei Gott, ich werde Dir eine Kugel durch Dein verliebtes Köpfchen jagen! Du bist ja für wahnsinnig erklärt, und wenn ich später behaupte, Du hättest mich überfallen und ich hätte aus Notwehr geschossen, kann mir keiner das Gegenteil beweisen.“

Jane blickte den Schurken fest an und sagte dann langsam:

Onkel Ben, die drei Gipsköpfe hat Nic Pratt in Scherben geschossen!“

Ben Smilopp stierte seiner Nichte wie entgeistert ins Gesicht

Dann kreischte er:

Was — was redest Du da?! Pratt — Pratt soll — Ah — Du lügst, elendes Weib! Du lügst! Du kennst das Geheimnis der Gipsköpfe! Wo sind die drei Büsten — wo?!“

Er hielt ihr den Revolver fast auf die Stirn, hatte sich weit über den vor dem Sofa stehenden Tisch gebeugt.

Pratt war etwas unter dem Sofa hervorgekrochen, packte den einen Tischfuß und — hob den Tisch mit einem Ruck in die Höhe, stieß ihn dann nach vorwärts.

Der dürre Advokat brüllte vor Schreck auf und verlor das Gleichgewicht, stürzte über den umsinkenden Tisch, fühlte schon kräftige Fäuste, fühlte das kalte Eisen von Handschellen, die um seine Handgelenke zuschnappten.

Pratt riß ihn hoch.

So,“ sagte er kühl, „nun wollen wir die Sache klären Mr. Benjamin Smilopp!“

Der Anwalt taumelte in einen Sessel.

Grablay nahm den falschen Bart ab und meinte:

Ich bin Detektivinspektor Grablay. Ich verhafte Sie hiermit.“

Pratt begann nun, als trüge er eine Kathederrede vor:

Miß Janes Vater hat einst als junger Mann Schmuckstücke gestohlen. Er wagte es nicht, sie dem Bestohlenen zurückzugeben. Sein Bruder Ben wußte davon, wusste auch, daß diese Diebesbeute in den Gipsbüsten verborgen war.“

Der Advokat grinste frech. „So ist’s! Nur weiter!“

Kapitän Smilopp hat diese Jugendverfehlung schwer bereut. Jetzt nach vielen Jahren kam sein Bruder Ben in mißliche Vermögensumstände und wollte daher diese Diebesbeute sich aneignen. Er setzte den Kapitän in Angst, indem er ihm vorlog, die Polizei sei ihm nun doch auf der Spur, und er solle daher in ein Sanatorium gehen und Irrsinn vortäuschen, damit die Jugendverfehlung als die Tat eines Unzurechnungsfähigen gelte. Gestern hatte er den Kapitän endlich so weit. Aber er wollte auch Jane für längere Zeit aus dem Hause entfernen; um die Büsten ungestört suchen zu können. Er versprach Lesly einen Teil der Beute und bestach auch zwei andere Ärzte. Aber Jacques, der Verlobte Janes, kannte das Geheimnis der Gipsköpfe gleichfalls. Er hatte den Kapitän eines Abends in dem Kämmerchen des Stalles von außen beobachtet, wie dieser wahrscheinlich im Selbstgespräch vor den Köpfen stand und so alles verriet. Jacques und sein Freund ließen nun die Büsten verschwinden, damit der Kapitän nicht durch einen Zufall bloßgestellt würde. Die Schmucksachen hat die Polizei jetzt in Verwahrung. Des Kapitäns Straftat ist längst verjährt. Sie aber, Ben Smilopp, haben sich der Freiheitsberaubung und eines Mordanschlags auf mich schuldig gemacht. Sie werden ins Zuchthaus wandern.“

Der Advokat saß regungslos und leichenblaß da.

Er sah ein, daß er verloren war. —

Jane und Jacques sind heute ein glückliches Paar, und Kapitän Smilopp kann sich Tag für Tag an diesem Glück seiner Kinder erfreuen.

Benjamin Smilopp klebt im Zuchthaus von Sing-Sing Tüten.

Die Gerechtigkeit hatte wieder gesiegt — durch Nic Pratts Hilfe! —

 

 

Nächster Band:

Der Posträuber von Andreas Range.

 

 

Fußnoten:

1 Siehe Heft 9.

2 Siehe Heft 3.