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Der Steinbruch von La Terenne

 

 

Das Eiserne Kreuz

 

Der Steinbruch von La Terenne

eine Episode aus den Kämpfen um Verdun

 

Von W. Belka.

 

Das dritte Bataillon des xten Reserve-Regiments hatte vor einem Kreuzwege auf der nach Chalier führenden Chaussee eine kurze Marschpause gemacht. Die Gewehre waren in dem ziemlich tiefen und breiten Chausseegraben zusammengesetzt worden, und die von den Strapazen der letzten drei Tage ermüdeten Leute schliefen auch sofort ein, nachdem sie sich kaum auf den zertretenden Stoppelacker nebenan hingeworfen und den Tornister als etwas hartes Kissen unter den Kopf geschoben hatten.

Der Bataillonskommandeur Major v. Z. hielt mit den Kompagnieführern zu Pferde in einem kleinen Wäldchen, das sich jenseits des die Chaussee an dieser Stelle schneidenden Feldweges etwa fünfhundert Meter weit nach vorn erstreckte und das hier ohnehin schon sehr unübersichtliche Gelände noch schwieriger machte.

„Bitte die Karten vorzunehmen, meine Herren,“ befahl der Major jetzt und entnahm seiner wasserdichten Tasche, die an einem Riemen um den Hals hing, die Generalstabskarte des Abschnittes nördlich Verdun. „Haben die Herren den Punkt, an dem wir gerade halten? – Schön. – Also wir sind in der vorderste Linie und sollen mit dem Bataillon die Strecke Chalier – Varbeuf sichern. Zweite, dritte und vierte Kompanie beziehen Vorpostenstellung bei den Dörfern La Terenne, Balron und Varbeuf. Vierte Kompanie bleibt in Reserve.“

Der Bataillonskommandeur äußerte nun noch sehr eingehend seine besonderen Wünsche hinsichtlich der Anordnung der Feldwachen für jede einzelne Kompanie und fuhr dann fort:

„Ich bitte die Herren, den Mannschaften größte Wachsamkeit einzuschärfen. Wir befinden uns hier in einem außerordentlich ungünstigen Gelände. Der vorgestern geworfene Gegner ist in Richtung Chalier, dessen Kirchturm da drüben über der Buchengruppe noch gerade sichtbar ist, abgezogen. Unser Divisionär nimmt nun an, daß dieses Zurückweichen der Franzosen hier an dieser Stelle absichtlich und zu einem besonderen Zweck geschehen ist. Wahrscheinlich will man uns zu allzu hastigem Nachdrängen verführen, und dann versuchen, Teile der Division durch starke Flankenangriffe abzuschneiden. Unsere Aufklärung, sowohl Kavallerie wie Flieger, haben in diesem verwünschten Terrain mit den zahlreichen bewaldeten Schluchten nicht viel ausrichten können. Wir wissen also nicht, ob der Feind nicht etwa Verstärkungen herangezogen hat, ja nicht einmal darüber sind wir unterrichtet, wo augenblicklich seine Hauptmacht steht. Es muß dabei unsererseits alles geschehen, um möglichst schnell wieder Fühlung mit dem Gegner zu bekommen, das heißt, Sie werden notwendigerweise recht viele Patrouillen vorschicken müssen, meine Herren. Aber die Leute sollen ja vorsichtig sein und nie vergessen, daß die ganze Landbevölkerung hier mehr als anderswo, die französischen Truppenteile durch freiwillige Spionagedienste unterstützt. Suchen Sie also die aufgewecktesten Mannschaften für diese Patrouillen heraus, meine Herren, und geben Sie jeder nach Möglichkeit einen Mann mit, der die Landessprache beherrscht, was mitunter von großem Vorteil sein kann. –

Und dann noch eins, wir werden heute zum ersten Mal, nachdem wir leider bisher stets in der Reserve verwandt worden sind, dem Feind ganz nahe gegenüber. Ich hoffe, meine Herren, daß das Bataillon den alten Traditionen der deutschen Armee getreu in jeder Hinsicht sich bewähren wird. –

So, ich danke. In einer Viertelstunde brechen die drei Vorpostenkompanien auf. Und – Vorsicht bei Marsche, meine Herren! Na – ich kann mich ja wohl auf Sie verlassen!“

Die vier Oberleutnants der Reserve legten die Rechte grüßend an den grüngrau überzogenen Helm, gaben ihren Pferden die Sporen und trabten zu ihren Kompanien zurück, wo ein jeder dann sofort die Zugführer und Unteroffiziere um sich versammelte und an der Hand der Generalstabskarte die allgemeine Lage und die Aufgabe des Bataillons besprach.

Als genau nach der befohlenen Viertelstunde die drei Vorpostenkompanien aufbrachen, gaben die Zugführer und Unteroffiziere während des Marsches, wodurch man viel Zeit sparte, das eben Gehörte an ihre Leute weiter.

Die 1. Kompanie war sofort links in den Feldweg abgebogen und verfolgte diesen etwa zwei Kilometer weit, bis man die an einen Berghang förmlich angeklebten Häuser des Dorfes La Terenne vor sich hatte.

Oberleutnant Müller, im Zivilberuf Amtsrichter, ließ halten. Da kamen auch schon von den zur Sicherung vorgeschickten drei Patrouillen zwei zurück und meldeten, daß das Dorf von den Bewohnern verlassen sei und man vom Feinde nichts bemerkt hätte. So stand denn dem weiteren Vorrücken der 1. Kompanie nichts im Wege.

Inzwischen hatte sich die Sonne immer mehr gen Westen geneigt. Noch ein und eine halbe Stunde hatte man mit einigermaßen hellem Tageslicht zu rechnen. Und daher legte auch Oberleutnant Müller seinen Zugführern recht ans Herz, sich mit der Aufstellung der Wachen und Posten ja sehr zu beeilen.

Die Kompagnie teilte sich nun. Der Führer blieb mit dem 3. Zuge in La Terenne und bezog in den am weitesten westlich gelegenen beiden Gehöften, zu denen geräumige Scheunen gehörten, Ortsunterkunft, während die beiden anderen Züge sich weiter gegen den Feind vorschoben und fächerartig ihre Wachen wie Fühler dem Gegner entgegengestreckten.

Der 2. Zug, den ein junger Reserveoffizier mit von Schmissen vielfach durchfurchter Backe führte, hatte für seine Feldwachen den Rand einer langgestreckten, vor La Terenne liegenden Schlucht angewiesen erhalten und quartierte sich hier an dem Schnittpunkt zweier Feldwege in einem leeren einzeln liegenden Hause ein. Etwa einen Kilometer nach Norden und Süden wurde je ein Unteroffizierposten vorgeschoben, jeder vierzehn Mann stark. –

Nachdem Leutnant Wendland, der junge Oberlehrer mit den zahlreichen Schmissen, die Wachen revidiert und den Patrouillengang innerhalb der Postenkette und gegen den Feind eingeteilt hatte, kehrte er wieder zu seiner Feldwache zurück und nahm nun in einer der beiden Stuben des von den Deutschen belegten Häuschens seine bescheidene Mahlzeit in Gestalt von etwas Wurst, Kommißbock und kaltem Kaffee ein. Feuer anzuzünden, selbst auf der Herdstelle in Gebäuden, war streng verboten.

Den nördlichen Unteroffizierposten der Feldwache des Leutnants Wendland befehligte ein Reserveunteroffizier namens Karling, der im Privatleben dem ehrsamen Beruf eines Möbeltischlers nachging. Karling gehörte fraglos zu den tüchtigsten Chargierten der 1. Kompagnie, hatte schon wiederholt eine große Umsicht bewiesen und war auch bis auf eine recht starke Neigung zu geistigen Getränken als durchaus zuverlässig zu bezeichnen.

Seinen Posten stand am westlichen Ausgang eines schmalen Gehölzes, das zumeist aus Kiefern und Tannen sich zusammensetzte und seinen äußersten östlichen Ausläufer bis dicht an die Schlucht schickte, an deren Rand die Feldwache mit dem Zugführer Unterkunft gefunden hatte. Zwischen vier in einem Quadrat stehenden Bäumen war von dem findigen Karling schnell mit Hilfe von Baumzweigen und Stroh eine Art Hütte errichtet worden, in der die gerade nicht beschäftigten Leute wenigstens etwas von der kalten Nachtluft geschützt waren.

In diesem primitiven Unterschlupf saßen jetzt beim Scheine einer in einem Helm brennenden, dicken Stearinkerze sieben brave Reservisten im Kreise nebeneinander. Der Helm war mit der Spitze in die Erde gedrückt worden und bildete für das brennende Licht einen sicheren Schutz gegen das als Unterlage aufgeschüttete Stroh. Rings an den Wänden der Hütte standen die Tornister der Leute, während die Gewehre vor dem nach Osten, also der vom Feinde abgewandten Seite, gerichteten Ausgang in einer Pyramide aneinander lehnten.

Unteroffizier Karling hatte gerade wieder aus seiner Feldflasche einen langen Zug getan, als draußen Schritte laut wurden und die erste der gegen den Feind vorgeschickten Patrouillen zurückkehrte. Deren Führer, ein Gefreiter, trat jetzt gebückt durch die niedrige Tür ein und meldete sich vorschriftsmäßig.

„Patrouille Nr. 1 zurück. Wir sind etwa zwei Kilometer weit auf dem westwärts verlaufenden Wege vorgedrungen, wobei wir ein kleines, verlassenes Dorf passierten. Dort griffen wir einen Mann auf, der uns leise angerufen hatte und sich als Versprengter vom xten Linienregiment ausgibt. Vom Feinde haben wir nichts bemerkt.“

„Gut, Rosenblume,“ meinte Karling gleichgültig. „Der versprengte Kamerad soll eintreten. Bin neugierig, was er zu erzählen weiß.“

Gefreiter Rosenblüth preßte die Lippen fest aufeinander. Der Unteroffizier meinte es gewiß nicht böse. Aber Moses Rosenblüth ärgerte es doch stets gewaltig, wenn er von seinem Korporalschafftführer mit ‚Rosenblume’ angeredet wurde, besonders, da die anderen Leute schnell diese ‚Namenverbesserung’ sich ebenfalls angewöhnt hatten.

Dann saß der Versprengte zwischen seinen Landsleuten auf dem weichen Strohboden und vertilgte zunächst mit wahrem Heißhunger das ihm dargereichte Kommißbrot und die dicken Scheiben Räucherspeck.

Der Mann sah recht intelligent aus, nur etwas verwildert. Auf seinem wirren Haar thronte eine viel zu kleinen Feldmütze, während sein hagerer Körper in einer geradezu unglaublich schmutzigen feldgrauen Uniform steckte.

Während des Kauens erstattete der neue Ankömmling in gebrochenem Deutsch – er nannte sich Krawitzki und wollte aus dem Dörfchen Hermheim in der Provinz Rosen stammen – wortreich Bericht über sein Abenteuer in den letzten drei Tagen. Solange irrte er schon zwischen den französischen Vorposten umher, jeden Augenblick der Gefahr ausgesetzt, entdeckt und gefangen genommen zu werden.

Als der Versprengte, der in seiner Rede des öfteren polnische Worte ganz unwillkürlich einmengte, vorhin erwähnt hatte, daß er aus Hermheim gebürtig sei, war Moses Rosenblüth, der sich bereits in einer Ecke der Hütte zum Schlafen hingestreckt hatte, plötzlich wieder munter geworden. Er richtete sich zu sitzender Stellung auf und beschaute den fremden Kameraden, den er bisher nur wenig beachtet hatte, etwas genauer.

Und dann sagte er, als der Pole eben ein gewaltiges Stück Speck zwischen die Zähne schob und daher seine Erzählung notwendig für einige Zeit unterbrechen mußte, mit einer gewissen Neugierde:

„Hör’ mal, Krawitzki, ich bin auch aus der Provinz Posen – aus Bromberg – Hermheim heißt dein Heimatdorf? Das muß aber ein ganz kleines Nest sein. Davon ist mir noch nie etwas zu Ohren gekommen.“

Krawitzki grinste – fast zu einfältig für seine schlauen, stets von den Lidern halb bedeckten Augen.

„Is sich richtig, Gefreiter, ganz kleiner Dorf bloß, sechs Bauern und eine Kneipe – is sich alles von Hermheim,“ erwiderte er, behaglich schmatzend.

Unteroffizier Karling, der seine Feldflasche schon wieder auf ihren Inhalt mit wahrer Andacht prüfte, meinte jetzt halb ärgerlich zu dem Gefreiten:

„Rosenblume, lassen Sie mal erst den polnischen Landsmann seine Geschichte zu Ende erzählen. Über Posen könnt Ihr euch nachher unterhalten, wenn Ihr Lust habt. Uns interessiert das nicht.“

Und Krawitzki wußte wirklich noch alle möglichen Einzelheiten von seinen Irrfahrten zu berichten. Daß er dies in einem oft kaum verständlichen Deutsch tat, erhöhte für die Zuhörer nur den Genuß. Der Pole erhielt sogar nachher noch einen halben Becher aus der Reservekognakflasche, die Karling in seinem Tornister verstaut hatte. Und das war ein deutliches Zeichen dafür, wie sehr der sonst mit seinen geistigen Getränken recht knauserige Unteroffizier den armen Versprengten hoch schätzte. Als der Pole nun endlich gesättigt war, sagte Karling denn auch.

„Krawitzki, du bist ‘n ganzer Kerl! Das muß man dir lassen! ’s war sehr wacker von dir, daß du immer wieder den Rothosen zu entwischen suchtest. – Nun aber was anderes. – Ich denke, du schließ dich der nächsten Patrouille an, die zur Feldwache geht. Hier findest du doch keine Ruhe. Und schlafen mußt du. – Bitte den Leutnant dann, daß er dich weiter zur Kompagnie bringen läßt. Denn hier in der vordersten Vorpostenlinie ist ‘s mit Schlafen oberfaul!“

Der Pole war einverstanden, fragte aber doch zur Sicherheit, ob es auch nicht allzu weit bis zur Kompagnie sei.

„Nee, Bruder Popolski, hab’ man keine Bange,“ meinte der Unteroffizier beruhigend. „Unsere 1. liegt in dem Dorfe La Terenne, und das sind keine drei Kilometer. Die wirst du schon noch schaffen.“ –

Eine Viertelstunde später schickte Karling dann zwei Mann mit dem Versprengten zu Leutnant Wendland, wobei er ihnen noch folgende Mahnung mit auf den Weg gab:

„Ihr geht immer am Rande des Gehölzes entlang, verstanden?! Und beeilt euch etwas. Wenn auch Krawitzki meint, daß jetzt weit und breit keine Franzmänner mehr ihr Unwesen treiben, so muß man doch vorsichtig sein. Ich will meine Leute hier möglichst zusammenhalten.“

Die drei verließen die Hütte. Draußen hängte sich der Pole sein Gewehr um – den Tornister hatte er bei seinen Irrfahrten im Stich lassen müssen – und suchte dann in den Taschen seines Uniformrockes herum.

Er fluchte leise. „Hab’ ich doch noch eine Zigarr gehabt, irgendwo. – Ah – da is. – Hat einer Streichholz von euch?“ fragte er dann. –

Inzwischen hatte sich im Inneren der Hütte zwischen Moses Rosenblüth und dem Unteroffizier folgende leise Unterredung abgespielt, die der Gefreite sofort einleitete, als die drei Soldaten kaum ins Freie getreten waren.

„Herr Unteroffizier, der Krawitzki kommt mir äußerst verdächtig vor. Ich halte ihn für einen Spion, Hermheim, wo er herstammen will, kenne ich ganz genau. Es ist ein Kolonistendorf, mindestens dreißig Gehöfte, und zwar mein Geburtsort. Ich habe auch noch andere Verdachtsmomente. Bitte, lassen Sie mich also mit zur Feldwache gehen, Herr Unteroffizier. Doch werde ich Herrn Leutnant Wendland verständigen. Der soll dem angeblichen Polen mal ordentlich auf den Zahn fühlen.“

Karling, der sich bereits in ziemlich vergnügter Stimmung befand, schaute zunächst den Gefreiten ganz verständnislos an. Dann sagte er aber doch, wohl in dem Bewußtsein, daß der schlaue Rosenblüht ohne schwerwiegende Beweise nie einen solchen Verdacht geäußert haben würde, mit zustimmendem Kopfnicken:

„Gut. Gehen Sie meinetwegen!“ – Einige Minuten später hatte er jedoch die ganze Geschichte schon wieder vergessen. –

Moses Rosenblüth, der vor fünf Jahren seine Dienstzeit als Einjähriger abgemacht hatte und als Gefreiter zur Reserve entlassen worden war, hatte es in seiner Zivilstellung bis zum Einkäufer einer großen Wollwarenfabrik in der Provinz Sachsen gebracht, bereiste alljährlich die amerikanischen Südstaaten und vermochte sich bei diesem halb internationalen Leben Sprachkenntnisse zu erwerben, die er jedenfalls nicht dem Gymnasium in Bromberg verdankte, dessen Klassen der bis Obersekunda besucht hatte. Rosenblüth war ein kleiner, schmächtiger Mensch, der aber doch seine Muskelkräfte durch regelmäßige Leibesübungen gehörig gestählt hatte und dessen körperliche Fähigkeiten daher mit seinen geistigen vollständig gleichen Schritt hielten. Und er wäre auch fraglos mit sich und seinem Leben ganz zufrieden gewesen, wenn nicht in seinem mageren Gesicht mit den großen, klugen Augen eine Nase von derartigen Größenabmessungen gesessen hätte, wie man sie nicht oft findet. Dieses seltene Exemplar von einem Riechorgan bildete Rosenblüths ganzen Kummer. Überall starrte man ihn dieses Gesichtserkers wegen belustigt an, überall hörte er mehr oder minder witzige Bemerkungen über das Prachtstück von Nase, sobald er sich nur öffentlich zeigte. Mit einem Wort, die Nase war’s, die des kleinen, flinken Mannes Leben vergiftete. –

Der Gefreite trat gerade vor die Strohhüte hinaus, als einer der beiden Begleiter des Versprengten diesem eine Schachtel Zündhölzer hinreichte.

Die drei standen am Rande des Gehölzes, dort, wo das Gelände sich ganz allmählich, hie und da von Schluchten und Gebüschstreifen durchschnitten, nach Westen zu senkte und später in eine flache, strichweise bewaldete Ebene überging.

Der Pole rieb das erste Hölzchen an. In der windstillen Nacht brannte es ganz ruhig. Er führte es an die Zigarre, da erlosch es plötzlich.

Rosenblüth, kaum vier Schritte von der kleinen Gruppe entfernt, entging keine Bewegung des angeblichen Krawitzki, der auffallenderweise mit dem Gesicht nach dem Feinde zu dastand und nun ein zweites Hölzchen anzündete.

Wieder ließ der Pole das Streichholz erst fast ganz abrennen, bevor er es an die Zigarre brachte. Und so gering das Flämmchen auch war, auf ein paar hundert Meter mußte es doch bemerkt werden, sagte sich der Gefreite argwöhnisch.

Da erlosch es abermals, wieder scheinbar zufällig. Aber jetzt hatte Rosenblüth genau beobachtet, daß der Pole die Flamme geschickt an der Zigarre ausgedrückt hatte.

Krawitzki wollte ein drittes Hölzchen in Brand setzen. Da – hinter den dreien eine Stimme:

„Mensch, bist du des Teufels!“ fuhr der Gefreite dazwischen. „Hier im offenen Gelände mit Streichhölzern rumhantieren, wo wir so vorsichtig sein sollen!“

Der Pole fuhr erschreckt herum. Es waren keineswegs freundliche Blicke, mit denen er nun den dicht vor ihm stehenden Gefreiten musterte.

„Steck deinen Glimmstengel ein, und dann vorwärts,“ befahl Rosenblüth kurz. „Der Unteroffizier will, daß ich euch als Patrouillenführer bis zur Feldwache begleite. – Los – und keine Widerrede!“

Krawitzki schob ärgerlich seine Zigarre in die Tasche, und dann schritten die vier von dannen. Immer durch die dunkle Nacht, einer hinter dem anderen. Der Gefreite war absichtlich ein wenig zurückgeblieben, um den Polen im Auge behalten zu können. Diese Geschichte mit den Streichhölzern eben hatte seinem Verdacht nur noch neue Nahrung gegeben.

Auf dem halben Wege zur Feldwache begann Krawitzki dann mit seinem Vordermann eine leise geführte Unterhaltung.

Rosenblüth spitzte die Ohren und kam näher heran. Es waren hauptsächlich Fragen über die Stärke der rückwärts liegenden deutschen Truppenteile, die der Pole, der ihnen sehr geschickt einen ganz unverfänglichen Anstrich gab, be antwortet wissen wollte.

Doch der ahnungslose Reservist, der selbst von all diesen Dingen keine Ahnung hatte, konnte dem angeblichen Kameraden so gut wie gar keine Auskunft geben. Nur über die Vopostenstellung des Bataillons erzählte er ihm soviel, wie er davon behalten hatte.

Der kleine Gefreite mischte sich nicht ein. ‚Ich werde schon dafür sorgen, mein Junge, daß du uns nicht schaden kannst!’ dachte er ingrimmig. ‚Leutnant Wendland wird für meine Verdachtsmomente sicher mehr Verständnis haben als Karling. Und vielleicht kriegst du bald so sechs blaue Bohnen zu schmecken –’

Als Krawitzki jetzt aber seinen Vordermann auch nach den Namen der Brigadegenerale der Division und nach der Anzahl der in vorderer Linie liegenden Batterien ausforschen wollte, sagte Rosenblüth plötzlich von rückwärts sehr energisch:

„Haltet den Mund, Leute! Ihr vergeßt, daß wir uns in Feindesland befinden.“

Krawitzki brummte irgendetwas vor sich hin. Aber offenen Widerspruch wagte er nicht.

Der Gefreite, das entsicherte Gewehr jetzt schußfertig unter dem Arm, ließ kein Auge mehr von dem Polen, der mit einem Mal sehr unruhig geworden zu sein schien und öfters den Kopf spähend nach rechts wandte, als ob es dort etwas Besonderes für ihn zu sehen gab. Kein Wunder, daß Rosenblüth in gleicher Weise seine Wachsamkeit verdoppelte. Aber es geschah nichts Außergewöhnliches.

So nährte der kleine Trupp sich langsam den östlichen Ausläufern des Gehölzes, die, wie schon erwähnt, bis dicht an die Schlucht heranreichten, an deren Rand die Feldwache des Leutnants Wendland in dem einzelnen stehenden Hause lag.

„Mehr nach rechts hinüber,“ befahl der Gefreite jetzt, da er bereits das Häuschen, in dem die Feldwache lag, als einen dunklen Fleck erkennen konnte.

Der forderste Mann, der halb schlaftrunken dahingeschritten war, änderte die Richtung, so daß die vier nun von dem Gehölz etwas abbogen.

Da – Krawitzki drehte sich plötzlich um. Ein Sprung, und mit seinem vollen Körpergewicht warf er sich auf den Gefreiten, der auch wirklich, auf diesen Angriff in keiner Weise vorbereitet, zu Boden stürzte und das Gewehr verlor. Dann stürmte der angebliche Pole mit langen Sätzen dem Waldstreifen zu, zwischen dessen Bäumen er verschwand, bevor noch einer der beiden anderen Männer sich von der ersten Überraschung erholt hatte.

„Ihm nach, wir müssen ihn haben!“ keuchte Rosenblüth wütend und stand schon auf den Beinen, riß das Gewehr an sich und jagte dem Flüchtling nach.

Doch der war nirgends mehr zu entdecken. Als fünf Minuten in nutzlosem Suchen verstrichen waren, gab der Gefreite vorläufig die Sache auf. Einen seiner Begleiter schickte er nun zu der Feldwache mit dem Befehl, Leutnant Wendland von dem Vorgefallenen zu verständigen, den anderen aber zu Unteroffizier Karling mit gleichem Auftrag.

Die Leute verschwanden im Trab.

Moses Rosenblüth aber blieb am Saume des Gehölzes zurück. Vielleicht gelang es ihm doch noch, den Kerl abzufassen, der ihn so schlau überrumpelt hatte. Der mußte sicherlich bemerkt haben, wie er das Gewehr, das er bis dahin am Riemen über der Schulter getragen hatte, unter den Arm nahm. Das hatte den Halunken offenbar mißtrauisch gemacht und ihm den Gedanken eingegeben, schleunigst in den Wald zu entwischen.

Der Gefreite stand jetzt dicht an einer Kiefer und lauschte. Aber nichts regte sich. Der Mond war leider auch wieder von Wolkenschleiern verhüllt.

Leise, vorsichtig tappte Rosenblüth sich nun vorwärts. Bald hatte er das Gehölz durchschritten. Da war es ihm, als ob er seitwärts auf dem sacht ansteigenden Felde ein Geräusch hörte. Da tauchte auch die Mondscheibe abermals hinter dem Gewölk auf.

Kein Zweifel, gegen den Hintergrund eines helleren, zertretenen Rapsfeldes hob sich eine dunkle Gestalt ab, die tief gebückt dahinschlich. Schon legte der Gefreite das Gewehr an, schon lag der Finger am Abzug. Aber noch im letzten Augenblick ließ Moses Rosenblüth die Schußwaffe wieder sinken. Das Ziel war zu verschwommen, der Erfolg zu unsicher. Und so begann er denn dem Flüchtling, – daß er diesen vor sich hat, bezweifelte er keinen Augenblick – mit aller Behutsamkeit nachzuschleichen. Sechzig Meter war der angebliche Pole jetzt vor ihm und bewegte sich unter Ausnutzung jeder Deckung auf die Schlucht zu, die hier am westlichen Rande, wie der Gefreite beim Aufziehen der Feldwache gesehen hatte, ziemlich steil einige zwanzig Meter abfiel. Zweihundert Meter nach rechts aber lag das Häuschen, in dem Leutnant Wendland mit seinen Leuten untergekommen war.

Jetzt machte der Spion plötzlich halt. Im Nu hatte Rosenblüth sich auch schon lang hingeworfen und dicht an den Boden geschmiegt. Gegen den gerade ziemlich lichten Himmel war die Silhouette des Polen einen Moment deutlich sichtbar.

Der Gefreite hatte schnell sein Fernglas vorgenommen und eingestellt. So vermochte er jede Bewegung des Mannes zu verfolgen, der nun neben einem einzelnen Gestrüpp kniete und seine Mütze seitwärts in die Höhe hielt. –

Und jetzt blinkte im Innern der Mütze ein kleines Flämmchen auf. – ‚Ohne Frage einen Benzinfeuerzeug,’ sagte sich der Lauscher sehr richtig. ‚Und wie schlau der Kerl es anfängt, damit der Lichtschein nur nach Westen zu sichtbar ist.’ – –

Da erlosch das Flämmchen, zuckte aber noch zweimal auf, stets für längere Zeit seine Strahlen in Richtung auf die französischen Linien werfend.

Nun litt es den Gefreiten nicht länger auf seinem Platz. Mit langen Sätzen rannte er auf den Spion zu, der jetzt wie abwartend neben dem Gestrüpp hockte.

‚Verwünschtes Seitengewehr,’ fluchte Rosenblüth innerlich. ‚Wie das Ding klappernd gegen die Feldflasche schlägt!’

Er nahm das Gewehr in die rechte Hand, suchte mit der Linken das Seitengewehr festzuhalten. Zu spät, der Flüchtling mußte etwas Verdächtiges gehört haben, sein Kopf fuhr herum. Keine zwanzig Schritte war der Verfolger mehr entfernt. Er schnellte empor – und verschwand dann so urplötzlich, als ob er sich den Abhang blindlings hinabgestürzt habe.

Als der Gefreite an der Stelle angelangt war, wo er den Spion zuletzt gesehen hatte, hörte er vor sich noch das Poltern abstürzender Steine und Erdmassen. Und wirklich – eben war der angebliche Spion auf dem Grunde der Schlucht angekommen, wohin ihn eine keineswegs ungefährliche Rutschpartie gebracht hatte. Rosenblüth besann sich auch nicht eine Sekunde. Den Kerl mußte er unschädlich machen, um jeden Preis. Der wußte nur allzu viel von der deutschen Vorpostenaufstellung und konnte deshalb überaus gefährlich werden. So wagte der kleine Gefreite denn dasselbe fast tollkühne Hinabgleiten über den schroffen Abhang wie der französische Spion. Harte Stöße erhielt er dabei genügend, aber er kümmerte sich nicht darum. Die Aufregung ließ ihn die Schmerzen vergessen.

Dann lag er unten zwischen den Lehmhügeln, die unregelmäßig hie und da auf dem Boden der Schlucht verschüttet waren. Sich emporrappelnd und in wilden Sprüngen wieder vorwärtsstürmen war eins.

Der Gefreite strauchelte, merkte dann plötzlich, daß die Erde, die von seinen flüchtigen Tritten berührt wurde, einen anderen Charakter annahm. Der Boden bestand jetzt fraglos aus Steingeröll. Bisweilen sah Rosenblüth auch unregelmäßig behauene Granitblöcke, zu Haufen aufgeschichtet, umherliegen. Scheinbar befand sich hier in der Nähe ein Steinbruch.

Aber so sehr er auch seine Kräfte anstrengte, – der Mann da vor ihm, dem offenbar die Todesangst Flügel verlieh, war schneller. Der anfängliche Zwischenraum zwischen Verfolger und Verfolgtem hatte sich bis auf einige fünfzig Schritt ausgedehnt. Und noch immer wollte die Schlucht, deren Seitenwände hier schon ziemlich zusammenrückten, kein Ende nehmen. Moses Rosenblüth keuchte bereits vor Atemmangel. Dann sah er mit einemmal vor sich etwas wie eine graue, glatte Front aus dem ungewissen Licht herauswachsen – ohne Zweifel die Rückwand des Steinbruchs, die aus glattem Granit bestand. Jetzt stieg auch der Boden, auf dem hier förmliche Gänge zwischen aufgehäuften, fertig bearbeiteten Blöcken hindurchführten, ein wenig an.

Wieder stolperte der kleine Gefreite über irgend ein heimtückisches Hindernis. Halb kam er auf den harten, mit Steintrümmern besäten Boden zu liegen. Nur für einen Augenblick zwar hatte er so sein Opfer aus den Augen verloren. Aber wie er nun glücklich auf den Füßen stand, da huschte der andere bereits in noch größerer Entfernung an der glatten, grauen Wand hin, vielleicht einer in den Granit behauenen Treppe zu, die ihm bekannt war und ihn noch im letzten Moment ein Entweichen ermöglichen würde. Das durfte nicht sein. Moses Rosenblüth war ein leidlicher Schütze. Also riß er das Gewehr an die Schulter, zielte –.

Doch – was war das? Der Flüchtling, der sich eben, ganz plötzlich stehen bleibend, gebückt hatte, wurde zusehends kleiner und kleiner. Er schien geradezu in den Boden hineinzuwachsen. Dann war er vollends verschwunden. – Nein, das ging nicht mit rechten Dingen zu. Da mußte er hin und nachschauen, sagte sich der mutige Gefreite. Trotz des schmerzenden rechten Schienbeins rannte er vorwärts. Donner, er hatte sich das Bein anscheinend recht böse verletzt vorhin bei dem Sturz. Es brannte und stach an der einen Stelle ganz gehörig.

Und nun befand er sich dicht vor der grauen Wand, seines Erachtens genau an dem Fleck, wo der Spion auf so rätselhafte Weise von der Erde verschluckt worden war. Moses Rosenblüths Blicke glitten suchend umher. Nirgends ein Loch im Boden – nichts. Hier, wie überall in der Nähe, traten seine Füße auf herumliegende Steintrümmer, die unter den Nägeln seiner Stiefelsohlen bisweilen knirschten und auch kleine Funken sprühten.

Noch immer stand der Gefreite kopfschüttelnd und ärgerliche Worte ausstoßend an derselben Stelle. Selbst in tief gebückter Haltung oder auch kriechend hätte der angebliche Krawitzki diesen Platz, der etwas höher als die Schlucht lag, nicht unbemerkt verlassen können! Wo aber war er geblieben? Von einer Treppe keine Spur. Und an diesem steilen Abhang würde nicht einmal das geschickteste Mitglied irgendeiner Affenart haben emporklettern können. Also – also?

Moses Rosenblüth stieß vor Enttäuschung und Wut mit dem Gewehrkolben hart auf den Boden auf. Es war das eine rein von seiner Augenblicksstimmung eingegebene Bewegung seines Armes gewesen. Dumpf krachte der eisenbeschlagene Kolben auf. –

Ja, was war das für ein Ton? Der Gefreite fuhr ordentlich zusammen. Blitzschnell überlegte er. – Nie und nimmer hatte der Kolben hier die Erde oder einige der Steintrümmer berührt. So dumm klang nur Holz, so hohl und nachhallend, und zwar Holz, das über einer Öffnung lag.

Schon kniete der kleine Gefreite nieder. Eifrig fuhren seine tastenden Finger zwischen den Granitabfällen umher. Dann lachte er leise auf.

„Schlaue Bande!“ brummte er vor sich hin. „Nun, jedenfalls ist dies ein neuer Beweis dafür, daß der Kerl nicht nur ein Spion, sondern auch hier aus dieser Gegend gewesen sein muß. Denn diese Falltür, die hier so raffiniert angebracht ist und deren starke Bretter auf der Oberseite durch aufgenagelte Granitstückche sehr geschickt vor Späheraugen maskiert sind, kann doch nur einem Einheimischen bekannt sein, eben einem Manne, der den Weg hier durch die Schlucht und den Steinbruch schon unzählige Male bei Nacht und Tag gemacht hat.“

Dann überlegte sich Moses Rosenblüth einen Augenblick das, was zu tun sei. Unter der Falltür, die, wie er schnell festgestellt hatte, in zwei verborgenen Scharnieren sich nach oben hochheben ließ, befand sich ohne Zweifel entweder ein Versteck oder aber der Zutritt zu einem geheimen Gange. Dort unten jetzt sofort einzubringen, wäre überaus gewagt gewesen. Zu leicht konnte der Flüchtling ihn dabei in aller Bequemlichkeit abschießen. Nein, das Richtige blieb, wenn er die Tür ordentlich mit Granitblöcken belastete, so daß der Spion, falls nur ein Versteck ohne zweiten Ausgang vorhanden war, nicht wieder ins Freie konnte.

Sehr bald hatte der Gefreite dann auch diese Arbeit erledigt, was ihn manchen Tropfen Schweiß kostete. Dafür hatte er aber auch die Genugtuung, daß der angebliche Pole jetzt die Brettertür, und wenn er Riesenkräfte besessen hätte, nicht mehr emporzuheben imstande war.

Fünf Minuten später näherte Rosenblüth sich auf dem Rückwege durch die langgestreckte Schlucht deren südlich gelegenem Ausgang, der sich als vielfach von Wagengleisen zerschnittener Grasstreifen langsam in die Höhe wand.

Kaum oben am Rande angelangt, wurde er auch schon angerufen.

„Halt – wer da!“

„Gut Freund!“ rief der Gefreite zurück. „Parole: ‚Wesel – Feldgeschrei: Steinbaukasten’.“

Der Posten der Feldwache, der hier hinter einer verkrüppelten Pappel gestanden hatte, trat vor und meinte lachend:

„Rosenblume, bist du’s?“

„Allerdings. Wo ist unser Leutnant? Ich muß ihn dringend sprechen.“

Die beiden schüttelten sich die Hand.

„Wohl wegen des Spions, der euch entwischt ist,“ meinte der Posten neugierig. „Unser Leutnant hat gleich, nachdem der Marsuwiak,“ das war der Mann, den Rosenblüth zur Feldwache geschickt hatte, „die Geschichte von dem ausgerissenen Polen erzählt hatte, noch drei Patrouillen gegen den Feind geschickt und auch unseren Kompagnieführer von dem Vorgefallenen benachrichtigt. Hast du den Kerl da etwa unten in der Schlucht aufgestöbert, Rosenblume?“

„Hol’ dich der Deibel mit deiner – Rosenblume!“ fuhr der kleine Gefreite auf. „Jetzt ist wahrhaftig nicht Zeit, an derartige fade Scherze zu denken!“

Dann ließ er den Posten stehen und eilte auf das etwa zweihundert Meter entfernte Häuschen zu.

Leutnant Wendland saß in der vorderen Stube beim Scheine einer kleinen Petroleumlampe an dem mit vielfach zerrissener Glanzleinwand überzogen Tische und schrieb mit Bleistifte einen Brief an sein fernes, junges Weib, das er drei Tage nach der Kriegstrauung bereits wieder hatte verlassen müssen.

Als jetzt der kleine Gefreite nach kurzem Klopfen eintrat und sich stramm vor seinem Zugführer aufpflanzte, beugte der Offiziere sich weit vor, um mit seinen kurzsichtigen, mit einer Brille mit runden Gläsern bewaffneten Augen den vor ihm Stehenden besser erkennen zu können.

„Nun, was gibt’s, Rosenblüth?“ sagte er dann, indem er aufstand und den Stuhl zurückschob. „Der Marsuwiak erzählte mir, daß Sie am Rande des Gehölzes zurückgeblieben seien. Haben Sie den verd… Spion noch erwischt?“

Der Gefreite zuckte etwas unmilitärisch die Achseln.

„Genau vermag ich das nicht zu sagen, Herr Leutnant,“ meinte er und berichtete nun ausführlich über den Erfolg seiner wilden Jagd auf den Ausreißer. Nichts vergaß er, jede Kleinigkeit erwähnte er.

Als er dann nichts mehr hinzuzufügen wußte, sagte Leutnant Wendland ärgerlich:

„Schade, daß Sie es nicht verhindern konnten, daß der Halunke die Lichtsignale gab. Möchte nur wissen, was sie bedeuten sollen. Unsere Patrouillen haben doch das Vorgelände bis auf zwei Kilometer durchstreift, wie mir von unseren beiden Unteroffizierposten gemeldet worden ist, und nichts vom Gegner entdeckt. Na, jedenfalls werden wir jetzt sofort mal untersuchen, was unter der Falltür in dem Steinbruch steckt. Das war sehr klug von Ihnen, Rosenblüth, daß Sie die Granitblöcke da als sicheres Schloß vorgelegt haben.“

Der junge, etwa sechsundzwanzigjährige Reserveoffizier hatte bei den letzten Worten den breiten Lederriemen umgeschnallt, an dem außer einem kurzen Infanterie-Seitengewehr noch die Pistolentasche und das Fernglasfutteral befestigt waren.

„Kommen Sie, Rosenblüth,“ meinte dann Leutnant Wendland, indem er noch den Helm aufsetzte. „Sie wollen doch gewiß mit von der Partie sein. Es ist ja auch sozusagen ‚Ihr’ Spion, um den es sich handelt.“

Der Offiziere hatte gerade die in den kleinen Vorflur führende Tür geöffnet, als aus der Ferne der Knall zahlreicher Schüsse herüberschallte.

„Alarm!“

Wie aus einem Munde brüllten es der Leutnant und der kleine Gefreite gleichzeitig.

In dem Häuschen wurde es wie durch Zauberschlag lebendig. Schlaftrunkene Gestalten, die sich noch die Tornisterriemen festhakten oder den Helm zurechtrückten, stürmten ins Freie.

Lauschend stand der Offizier neben dem Gefreiten Rosenblüth vor dem kleinen Vorgarten.

Noch immer von vorwärts, aus der Richtung der Wache des Unteroffizieres Karling das harte, kurze Knallen. Und es wurde immer lebhafter da vorn. Die Schüsse folgten einander so schnell, daß es jetzt außer Frage stand, die Vorposten wurden von einer starken feindlichen Abteilungen angegriffen.

Und dann – Leutnant Wendland fuhr ordentlich herum – auch rückwärts urplötzlich wütendes Schnellfeuer.

„Himmel, der Feind muß sich irgendwo durchgeschlichen haben,“ schrie der junge Offizier. „Da hinter uns liegt unsere Kompagnie in dem Dorfe La Terenne. Die Schüsse fallen dort – ohne Zweifel! Wir scheinen umzingelt zu sein.“

Der Mond, der jetzt von einem ziemlich wolkenlosen Himmel herabstrahlte, beschienen eine wildbewegte Szene hier am Rande der weiten Schlucht.

Die Mannschaften der Feldwache – einige dreißig an der Zahl – standen angetreten vor dem kleinen Häuschen. Schnell hatte Wendland daraus zwei gleich starke Abteilungen gebildet, von denen er die eine unter dem Sergeanten Wanning nun zur Unterstützung Karlings vorschickte, während er die anderen um das Haus herum verteilte.

Moses Rosenblüth schloß sich dem Trupp des Sergeanten an, der jetzt sofort, in weiter Schützenlinie auseinandergezogen, abrückte.

„Das wird eine böse Nacht,“ brummte Sergeant Wanning, der etwa zehn Schritt vor den Seinen im halben Trab dahineilte.

Der kleine Gefreite, der sich dicht neben ihm hielt, wollte gerade etwas antworten, als über das Feld zwei Leute in wilder Hast gerannt kamen.

„Zurück!“ schrie der eine schon von weitem. „Wir sind überfallen worden. Von unseren letzten Patrouillen ist nicht eine entkommen. Unteroffizier Karling ist verwundet, drei von uns tot. Eine ganze feindliche Kompagnie ist keine zweihundert Meter hinter uns.“

Eine halbe Stunde später.

Leutnant Wendland war soeben zu dem Sergeanten Wanning auf allen vieren hingekrochen, um sich mit ihm zu beraten. Der Sergeant hatte den Befehl der Leute übernommen, die den auch von Osten nunmehr andrängenden Gegner aufhalten sollten, und lag hinter einem schnell aufgeworfenen Erdhügel, von wo aus er immer wieder den heranschleichenden feindlichen Schützen seine sicheren Kugeln entgegenschickte.

„Wanning, ich bin’s!“ Jener hatte nämlich bei dem Geräusch, das der Offizier auf dem hier gerade von trockenen Rapsstauden bedeckten Boden bei dem Näherkommen verursachte, argwöhnisch den Kopf gedreht und anscheinend seinen Zugführer nicht sofort erkannt.

Der Sergeant stützte sich auf den rechten Arm und deutete mit dem linken nach Norden hin. „Wir sitzen eklig in der Patsche, Herr Leutnant. Von da drüben nähert sich das Maschinengewehrfeuer immer mehr. Ich habe vorhin einen meiner Leute am Westrande der Schlucht entlang geschickt, damit er mal zusieht, was da eigentlich los ist. Ich glaube kaum, daß wir uns hier noch werden durchschlagen können. Der Feind hat uns ganz eingekreist, nur in der Schlucht scheinen sie noch nicht zu stecken. Wie wär’s, wenn wir –“

Diesen Satz sollte der Sergeant nie mehr beenden. Wendland hatte deutlich einen Geschoßaufschlag, ein dumpfes Patsch, in seiner nächsten Nähe gehört. Da sank der Sergeant auch schon vornüber und blieb regungslos liegen. Eine Kugel war ihm von der rechten Schläfe mitten durch den Kopf gefahren.

Der junge Reserveoffizier biß die Zähne fest aufeinander. Wieder einer seiner Bravsten dahin! Und blitzschnell schossen ihm wirre Gedanken durch das arme Hirn, das er sich schon so sehr zermartert hatte, um einen Ausweg aus dieser verzweifelten Lage zu finden. Wieder wog er alle Möglichkeiten gegen einander ab. Sollte er hier weiter ausharren, wo er bereits ziemlich böse Verluste hatte, die sich von Minute zu Minute mehrten? Hatte dies einen Zweck? Wohl kaum. Er merkte ja aus dem Schall der Schüsse, daß die Franzosen, die mit gewaltiger Übermacht angriffen, überall Terrain gewannen. Hilfe würde man seiner kleinen Schar also nicht bringen können. Und sich durchschlagen mit seinen wenigen, ihm verbliebenen Leuten? Nicht einer würde mit dem Leben davonkommen, nicht einer. Das war sicher. Und konnte, durfte er die Seinen so unnütz opfern?

Eine Stimme, die von dem Häuschen herüberkam, weckte ihn aus diesem trüben Sinnen.

„Wo ist Herr Leutnant? Herr Leutnant Wendland!“

„Hier vorne. Was gibt’s?“

Ein Mann rannte jetzt gebückt auf den Offizier zu und warf sich neben ihm nieder.

„Gefreiter Rosenblüth läßt melden, daß die Franzosen mit starken Schützenlinien am Ostrande der Schlucht vorgehen. Wir sind nur noch sieben Leute dort. Vier tot – alles Kopfschüsse. Der Gefreite zieht sich auf das Haus zurück.“

Wendland nickte ganz geistesabwesend. Nur noch sieben Mann! Der Tod hatte reiche Ernte gehalten in seinem Zuge. Und unaufhörlich knatterte es weiter von allen Seiten, unaufhörlich pfiffen die Kugeln durch die Luft oder schlugen, Erde hochwerfend, in den Boden ein.

Dann dachte der Offizier plötzlich an den kleinen Gefreiten, dessen Namen der Überbringer der Meldung soeben erwähnt hatte – Rosenblüth – das war ein kluger gewitzter Kopf. Vielleicht hatte der irgend einen rettenden Gedanken. Also auf und zurück nach dem Häuschen im Marsch Marsch.

Drei Sprünge, ein unterdrückter Schrei, und Leutnant Wendland schlug schwer zu Boden. Schon war der Mann, der sich neben seinem Offizier gehalten hatte, niedergekniet und untersuchte den anscheinend Bewußtlosen. Ein Streifschuß oben am Kopf. Die Kugel hatte die hintere Helmschiene glatt durchschlagen und vorne dann auch den Adler durchbohrt.

Der Reservist Marsuwiak, derselbe, der mit der Nachricht von dem Entweichen des Spions nach der Feldwache geschickt worden war, hatte dem Leutnant schnell einen kunstlosen Verband auf die stark blutende Wunde gelegt und beeilte sich nun zu dem Gefreiten zurückzukehren, der jetzt als der einzige überlebende Unteroffizierdiensttuer das Kommando der kleinen Schar übernehmen mußte.

Moses Rosenblüth war bereits mit dem Rest seiner Abteilung bis dicht an das Häuschen gelangt. Als Marsuwiak ihm den Tod des Sergeanten und die Verwunderung des Zugführers mitgeteilt hatte, befahl er sofort:

„Kriech’ nach vorn. Alles soll sich hier hinter dem Hause sammeln. Die Verwundeten werden mitgenommen. Vorher aber noch raus aus den Gewehren, was nur heraus will! Der Gegner darf nicht merken, daß wir das Gefecht abbrechen wollen. Wir ziehen uns in die Schlucht zurück. Das weitere später. Und nun etwas schleunig, Marsuwiak!“

Zehn Minuten später – inzwischen war auch die Mitternachtsstunde längst vorüber und der neue Tag herangekommen – hatte der Gefreite den Rest des Zuges, einundzwanzig Mann und fünf Verwundete, abmarschbereit beieinander. Die Verwundeten lagen auf Brettern, die man aus der Wand eines neben dem Häuschen angelegten Stalles herausgerissen hatte. Der Weg zur Schlucht lag zum Glück etwas tiefer als die benachbarten Äcker. Ging man gebückt, so war man bei dem ungewissen Mondlicht ganz gut in Deckung.

Bald im Trab, bald im schnellen Schritt durcheilte die kleinen Schar die zweihundert Meter. Der Gefreite, ganz voran, spielte den Führer. Jetzt, um diese Stunde lag die westliche Seite der langgestreckten Schlucht im Schatten da. Auch dieser Umstand war den Deutschen günstig. So vermochte der am östlichen Rande vordringende Gegner von dem Rückzug nichts zu bemerken. Deutlich konnten sie drüben die im Sprung vorgehende feindliche Schützenlinie hin und wieder auftauchen sehen. Auch Kommandoworte schallten bis hierher. Und von fern kam das Knattern des Gewehrfeuers wie ein ununterbrochenes Rollen herüber.

Endlich war man auch bis zu jener Stelle des Steinbruchs gelang, an der der Gefreite vorher die seltsame Entdeckung bei der Verfolgung des angeblichen Polen gemacht hatte. Hier zwischen den hoch ansteigenden, ziemlich engen Granitwänden herrschte tiefe Dunkelheit. Der Mond stand schon zu niedrig, um mit seinen weißbläulichen Strahlen in diesen Felsenkessel hineinleuchten zu können. Schnell wurden jetzt die Steinblöcke von der Falltür weggewälzt. Dann hoben kräftige Arme die so geschickt verdeckten, dicken Bretter empor. Ein finsteres Loch gähnte darunter.

Der Gefreite tastete mit dem Fuße umher. Wirklich, da war eine in den Fels ausgehauene Stufe, – noch eine, – also eine richtige Treppe.

„Zwei Mann mitkommen,“ befahl er. „Und nehmt eins von den Brettern mit, die Verwundeten legt so lange auf die Erde. Wir müssen zusehen, daß wir Stücke von dem Holz losschlagen und als Fackeln anbrennen können.“

Zunächst ging’s nun einige zwanzig Stufen im Dunkeln abwärts. Dann blieb Rosenblüth stehen und lauschte. Nichts war zu hören, nichts. Nur eine eisige Kälte machte sich schon jetzt bemerkbar. Ein Zündholz flammte in des Gefreiten Fingern auf. Ein schneller Blick ringsum. Die drei befanden sich in einem etwa zwanzig Meter breiten und ebenso hohen gewölbten Gange, der mit verwitterten Ziegeln ausgemauert war. Das Hölzchen erlosch.

„Vorwärts!“ flüsterte Rosenblüth. „Und laßt das Brett nur hier. Wir können uns, glaube ich, auf unser Tastgefühl verlassen. Der Gang verläuft ganz gerade.“

Dreißig Meter mochten sie so zurückgelegt haben, als der vorangehende Gefreite auf ein Hindernis stieß. Seine vorgestreckten Hände hatten plötzlich die kühle Steinwand berührt. Wieder wurde ein Streichholz zu Hilfe genommen, bei dessen schwacher Beleuchtung man schnell erkannte, daß der Gang hier in einem rechten Winkel nach Ost abbog. Gleichzeitig erschien es Rosenblüth so, als ob er aus der Ferne Stimmen vernahm. Auch die Luft war hier eine andere, wärmer und nicht mehr so muffig. Noch vorsichtiger setzten die drei Deutschen nun ihren Weg fort. Die Stimmen wurden deutlicher. Jetzt unterschied man schon einzelne Worte. Aber noch immer war keine Spur eines Lichtscheins zu bemerken.

Wieder eine Biegung des Ganges, diesmal nach Nord. Und jetzt sah Rosenblüth an der gegenüberliegenden Wand auch schon so etwas wie den Widerschein einer fernen Lichtquelle. Behutsam kroch er auf den Knien weiter. Nun war er um die Ecke herum. Keine drei Meter vor ihm öffnete sich der Gang zu einer geräumigen, wenn auch niedrigen Halle. Und in dieser brannte auf einem Fasse, das in einer Ecke neben einem Haufen von allerhand Hausrat – Möbelstücken, Kisten, Säcken und Fässern verschiedener Größe – stand, eine Petroleumlampe, bei deren Licht zwei Männer, auf Kisten sitzend, sich unterhielten. Der eine, der die Tracht der französischen Abbes trug, war ein weißhaariger Greis, der andere – der entflohene Spion. Im Hintergrunde bemerkte der Gefreite noch eine große Lagerstätte, auf der eine ganze Anzahl von Personen zu schlafen schien. Außerdem waren inmitten dieses unterirdischen Schlupfwinkels noch zwei mittelgroße Petroleumöfen aufgestellt, die offenbar zur Durchwärmung der feuchtkalten Luft benutzt wurden und die auch jetzt angezündet waren.

Moses Rosenblüth hatte genug gesehen. Schleunigst kehrte er zu seinen zwei Begleitern zurück und erteilte dem einen von ihnen dann verschiedene Befehle, worauf der Mann nach der Ausgangstreppe hin verschwand. –

Gerade als der angebliche Pole in tadellosem Französisch zu dem Geistlichen sagte: „Ich denke, Herr Abbe, auch wir versuchen jetzt etwas zu schlafen,“ wurde ihm eine Antwort von einer Seite zuteil, von der er es nie vermutet hätte.

„Pardon, meine Herren,“ erklang eine barsche Stimme von der Einmündung des Ganges her, „zunächst möchte ich doch noch einige Fragen an Sie richten.“

Die beiden fuhren entsetzt empor. Da drüben standen jetzt ein gutes Dutzend graue Gestalten, die Gewehre schußfertig in der Hand.

Und weiter sprach die barsche Stimme, auch jetzt wieder sich des Französischen bedienend: „Ein Widerstand ist nutzlos! Bei der geringsten verdächtigen Bewegung feuern meine Leute!“

Inzwischen waren auf der Lagerstätte einige Leute munter geworden. Ängstliche Stimmen kreischten, Kinder weinten, – kurz, es war ein fürchterlicher Tumult.

Moses Rosenblüth stand jetzt dicht vor dem Geistlichen.

„Monsieur Abbe, sorgen Sie dafür, daß der Lärm augenblicklich aufhört! Wir sind keine Mörder, den Leuten da wird nichts geschehen. Nur ruhig müssen sie sich verhalten.“ Die strenge Sprache verfehlte nicht ihre Wirkung. Und dem Geistlichen gelang es dann auch wirklich in guter Zeit, die Angst der Seinen zu beschwichtigen. Das Geschrei verstummte, und Männer, Weiber und Kinder verkrochen sich wieder unter die Decken ihres Strohlagers.

Nun erst ließ der Gefreite die Verwundeten in die Halle tragen und, so gut es ging, möglichst weich betten. Nachdem so die Hauptsache besorgt war, wandte Rosenblüth sich wieder dem Geistlichen zu.

„Ich verlange jetzt von Ihnen ehrliche Antwort auf verschiedene Fragen, Monsieur Abbe, ehrliche Antwort. Sollte sich später herausstellen, daß Sie mich in irgendeinem Punkte belogen haben, so –!! Sie wissen wohl, was ich meine!“

Und der Geistliche, der sich schon wieder die Füße mit einem dicken Mantel umhüllt hatte und ganz gebrochen dasaß, gab willig jede gewünschte Auskunft.

Die Flüchtlinge hier in dieser Halle, die noch aus der Römerzeit stammte und früher wohl als Lageraum für den Proviant der Legionen eines Cäsar gedient hatte, waren sämtlich Bewohner des Dorfes La Terenne, zu dem auch der Steinbruch gehörte. Beim anrücken der Deutschen hatte sich der Geistliche mit den mutigsten der Einwohner in dieses gleich bei Ausbruch des Krieges vorbereitete Versteck begeben, um den weiteren Verlauf der Ereignisse abzuwarten.

Soweit war also der weißhaariger Abbe ganz zugänglich gewesen. Als der kleine Gefreite, der trotz seiner schmächtigen Gestalt und der Riesennase sich sehr gut Achtung zu verschaffen wußte, nun aber über die Person des angeblichen Polen Aufschluß verlangte, da streckte der Geistliche abwehrend seinen gutgepflegten, runzligen Hände aus und schüttelte den Kopf, wobei ein Seufzer tiefen Schmerzes seinen Lippen entfuhr. Und Moses Rosenblüth drank dann auch nicht weiter in den alten Herrn, sondern richtete das Wort nun direkt an den Spion, der sich längst ebenfalls wieder auf seinem primitiven Sitz niedergelassen hatte und offenbar mit größter Gemütsruhe das weitere abwartete.

„Wer sind Sie in Wahrheit?“ fragte Rosenblüth streng. „Denn das Märchen von dem Polen Krawitzki werden sie ja wohl nicht mehr aufrechterhalten wollen.“ Er hatte sich, da der Franzose ja das Deutsche beherrschte, wie er gezeigt hatte, nicht mehr wie bei der Unterredung mit dem Abbe der französischen Sprache bedient.

Der Spion, der sein Haar jetzt sauber gescheitelt trug und auch die Hände und das Gesicht gewaschen hatte, – den unsauberen Uniformrock hatte er allerdings noch an –, schaute den deutschen Gefreiten mit hochfahrendem Blick von unten nach oben an und erwiderte kurz auf Französisch: „Ich verstehe Sie nicht. Wiederholen Sie Ihre Worte in meiner Muttersprache, falls Sie wünschen, daß ich Ihnen antworte.“

Dabei hatte sich der hochmütige Zug in seinem feingeschnittenen intelligenten Antlitz nur noch verstärkt.

Moses Rosenblüth fühlte sich so sehr Herr der Situation, daß er unwillkürlich über diese herausfordernde Frechheit lächeln mußte. Und so sagte er denn nur ironisch:

„Gut, wenn Sie plötzlich deutsch verlernt haben, kann ich Ihnen nicht helfen. Aber mich machen Sie nicht dumm. Sie sind ohne Zweifel ein französischer Offizier, was wir sofort feststellen werden.“

Ein Wink und zwei der Reservisten packten den Spion und schleppten ihn hinter den Möbelhaufen, wo sie ihn völlig entkleideten und durchsuchten. Bleich, mit zusammengebissen Zähnen ließ der Mann alles mit sich geschehen. Kein Wort kam über seine Lippen.

Nachdem die Durchsuchung – die im übrigen ergebnislos blieb, vorüber war, wollte Rosenblüth den Mann vorsichtshalber fesseln lassen. Da aber – endlich – trat der Spion aus seiner bisherigen verächtlichen Ruhe heraus. Mit blitzenden Augen herrschte er den kleinen Gefreiten in gutem Deutsch an: „Sparen Sie sich die Mühe! Gut denn – ich bin der französische Dragonerleutnant Hektor Baron von Balafres, und der Herr Abbe dort ist mein Onkel, bei dem ich oft zu Gast weilte. Daher war mir auch dieses Versteck hier bekannt.“

Moses Rosenblüth imponierte weder der Leutnant noch der Baron. „Gut, nehmen wir an, daß Sie die Wahrheit sprechen. Das ändert aber an der Sachlage gar nichts. Sie sind als Spion abgefaßt worden und werden als solcher behandelt werden. – Bindet ihn, Leute! Und dann hinein mit ihm in jene Ecke, wo wir ihn leicht im Auge behalten können.“

Der greise Abbe wollte Einspruch erheben. Aber ein ernstes: „Wir sind im Kriege – vergessen Sie das nicht!“ ließ ihn schnell wieder schweigen.

Mittlerweile hatten einige der Deutschen die Halle durchsucht und tatsächlich in einer der Kisten einige Gewehre und Revolver nebst der zugehörigen Munition entdeckt. Die Waffen wurden sofort zerschlagen und die Patronen unbrauchbar gemacht.

Dann teilte der Gefreite die Wache ein. Zwei Mann mußten die Aufsicht in der Halle übernähmen, und zwei weitere sich an der Treppe nach dem Steinbruch postieren. Der Rest machte sich schnell ein Lager zurecht, wickelte sich in die reichlich vorhandenen Decken und schnarchte bald darauf, daß es nur so dröhnte in dem geräumigen, gewölbten unterirdischen Gemach.

Auch der Abbe hatte sich schlafen gelegt, nachdem er Rosenblüth noch gezeigt hatte, wo sich ein paar weitere Lampen und das Petroleumfaß befanden. Bald hatte der Gefreite den Raum durch zwei neue Flammen besser erhellt. Eine dritte Lampe nebst ein paar Decken und einem Heubündel trug er nun durch den Gang zu den beiden Posten an der Falltür hin, damit diese unter der feuchten Kälte nicht zu sehr zu leiden hätten. Obwohl er hundemüde war, gönnte er sich noch keine Ruhe. Das Pflichtgefühl hielt ihn munter. Das fernere Geschick von sechsundzwanzig braven Burschen hing ja jetzt von seiner Umsicht und Wachsamkeit ab. In die Halle zurückgekehrt, sah er nach dem fünf Verwundeten, reichte diesem Trinkwasser, jenem eine Zigarette oder etwas Eßbares. Zum Glück hatten die Franzosen ja alles mögliche an Vorräten hier aufgestapelt.

Leutnant Wendland, der inzwischen das Bewußtsein wiedererlangt hatte, sich aber infolge des starken Blutverlustes sehr schwach fühlte, bat um eine frische Kompresse für seine schmerzende Kopfwunde. Ihm ging es eigentlich am schlechtesten. Die anderen vier Blessierten waren sogar ganz vergnügt, da sie sämtlich nur ungefährliche Armschüsse hatten.

Rosenblüth legte die Kompresse vorsichtig auf die blutige Rinne, die die Kugel in die Kopfhaut des Offiziers gerissen hatte, und sagte dann:

„Kann ich Herrn Leutnant noch mit etwas dienen?“

„Nein, danke! Sie sind ein tüchtiger Kamerad, Rosenblüth, ein selten tüchtiger!“ flüsterte er und reichte dem Gefreiten matt die Hand. Und dann fügte er hinzu: „Was wird aus uns werden? Wenn wir nur nicht in Gefangenschaft geraten!“

„Da brauchen Herrn Leutnant keine Sorge zu haben! Hier halten wir es wochenlang aus.“ Und er berichtete nun seinem Zugführer ganz eingehen, welch’ trefflichen Unterschlupf sie gefunden hatten.

Wendland versuchte zu lächeln. „Hoffen wir das Beste.“

Moses Rosenblüth schlich davon. Einen halb sehnsüchtigen Blick warf er nach der Ecke hin, wo die ihm nunmehr anvertraute kleine Schar den tiefen Schlaf der Erschöpfung schlief. Wie gerne hätte er sich auch dort hingestreckt, so recht bequem in das weiche Heu, sich gedehnt und gereckt und die Lider ganz fest geschlossen. Aber es ging nicht.

Und so eilte er denn abermals tastend den Gang entlang der Treppe zu. Er wollte feststellen, wie es draußen mit dem Gefecht stand. Lange konnte es ja nicht dauern, bis die Deutschen genügende Verstärkungen herangezogen hatten, um den Franzmann wieder in seine früheren Positionen zurückzuwerfen.

Die beiden Posten hatten sich die Decken wie Umhänge umgenommen und die Füße in das wärmende Heu eingewühlt. So standen sie gegen die Mauer gelehnt da und zogen an ihren Zigaretten, die ihnen Rosenblüth absichtlich aus dem französischen Vorräten mitgebracht hatte, damit der Reiz des Tabaks sie wach halten sollte. Im Hintergrunde, etwa fünf Meter von den beiden Leuten entfernt, brannte die Lampe, die nach dem Ausgang durch starkes Papier abgeblendet war.

„Nun – habt Ihr was Verdächtiges gehört?“ fragte der Gefreite leise.

Die Antwort lautete verneinend. Aber Moses Rosenblüth gab sich damit nicht zufrieden. Behutsam schlich er die Steinstufen empor, bis seine Helmspitze die Bretter der Falltür berührte. Er horchte. –

Das Gewehrfeuer war hier nur ganz undeutlich zu vernehmen. Aber jetzt – das war Artillerie, die zu feuern begann. Offenbar eine ganze Salve.

Schließlich wagte der Gefreite es dann sogar, die Tür etwas zu lüften. Leicht war das nicht. Die flachen, großen Granitsplitter, die die schlauen Bauern von La Terenne auf dem Holz oben befestigt hatten, wogen recht schwer. Außerdem mußte er ja auch überaus vorsichtig sein. Denn mit der Möglichkeit war sicher zu rechnen, daß die Franzosen alles versuchen würden, um die kleine deutsche Abteilung, die sie schon umzingelt zu haben glaubten, wieder aufzuspüren. Nur zentimeterweise lüftete er daher diesen schweren Deckel, der ein so wertvolles Geheimnis verschloß. Den Helm hatte er abgelegt. Und nun vermochte er den Kopf über den Rand des Eingangs etwas hinauszustrecken.

Er schaute sich um. Noch immer lag das bleiche Mondlicht am oberen Rande der westlichen Seite der Schlucht wie ein schmaler, heller Strich. Jetzt hörte er auch von dort, wo die Schlucht in dem Steinbruch überging, laute Stimmen, französische Stimmen. Man suchte also tatsächlich nach der so spurlos verschwundenen Feldwache. –

In der Ferne hatte das Gewehrfeuer und der Geschützdonner wieder zugenommen. Aber es schien dem Gefreiten so, als klinge der Lärm der Schlacht viel, viel schwächer als vorhin. Sollten die Deutschen noch mehr zurückgehen?! Wollte der Gegner etwa gerade hier an dieser Stelle den eisernen Wall der feindlichen Linien mit Einsetzung aller Kräfte durchbrechen?! –

Da – in nächster Nähe ein paar französische Worte: ‚Diable, ou sontlis[1]!’

Schleunigst ließ der Gefreite die kleine Tür wieder herab. Draußen Schritte. Wieder ein ärgerliches ‚Ces cochons – il sontt suits[2]!’ Dann wurde es still. Die Rothosen schienen die weitere Nachsuche aufzugeben. Trotzdem wartete der Lauscher noch gute zehn Minuten. Dann erst begab er sich in die Halle zurück, wo ihn das friedliche Schnarchkonzert der Seinen empfing. Nochmals hin zu den Verwundeten, nochmals hie und da eine Handreichung. Und nun durfte Moses Rosenblüth endlich auch an sich selbst denken.

Aus dem kleinen Rotweinfläschchen goß er sich den Trinkbecher voll, suchte sich aus den Vorräten Wurst und Schinken hervor und hielt dann, vor der Tonne auf dem Platz des Abbe sitzend, eine reichhaltige Mahlzeit. Während des Essens schaute er nach der Uhr. Gleich vier! Und heute war der 6. September, der Geburtstag seines alten Vaters, der da in dem Posenschen Kolonistendorfe Hermheim den bescheidenen Kramladen besaß. –

Moses Rosenblüths Gedanken eilten unwillkürlich der fernen Heimat zu. ‚Halte dich brav, mein Sohn,’ hatte der Vater im letzt Feldpostbrief seinem Ältesten geschrieben. ‚Vergiss auch nicht einen Augenblick, daß Deutschland dieses Mal um seine Existenz kämpft, daß jeder Einzelne verpflichtet ist, sein Letztes, sein Bestes zu geben. Der Gott unserer Väter wird seine schützende Hand über den Tapferen halten. Sei auch du tapfer! Keine größere Freude würde es für mich geben, als wenn du dich irgendwie auszeichnen könntest.’

Der kleine Gefreite nickte lächelnd vor sich hin. Er konnte mit sich zufrieden sein. Wie stolz war er schon darauf, daß sein Leutnant ihn vorhin so herzlich belobt und ebenso dankbar die Hand gedrückt hatte. –

Ein Geräusch von der Seite her lenkte sein Denken wieder in die Wirklichkeit zurück. Der Reservist Marsuwiak, ein stiller, ernster Mann, war’s, der sich von dem Lager erhoben hatte und nun auf ihn zukam.

„Gefreiter, leg’ dich jetzt schlafen. Ich werde wachen. Du mußt hundemüde sein,“ meinte er einfach.

Marsuwiak, ein litauischer Bauernsohn, war zuverlässig. Das wußte Rosenblüth. Und daher nahm er nun dessen Platz auf dem Heulager ein, nachdem er ihm noch Bescheid gesagt hatte, wann die Wachen abgelöst werden sollten. Im Augenblick war er eingeschlafen und erwachte auch erst nach vielen Stunden, als eine derbe Hand ihn rüttelte.

„Was gibt’s?“ Schlaftrunken fuhr er empor, schaute sich wirr in dem spärlich erleuchteten, weiten Raume um. –

Reservist Marsuwiak stand vor ihm. Und als er dessen Gesicht, den dicken, struppigen Schnurrbart und die gutmütigen blauen Augen erkannte, fand er sich schnell in die Wirklichkeit zurück. Seine Träume hatten ihn wieder in das Vaterhaus geführt.

„Gefreiter, das Gefecht nähert sich der Schlucht. Wir hören’s am Gewehrfeuer. Auch ein paar Granaten sind schon in den Steinbruch eingeschlagen,“ sagte der Reservist aufgeregt.

Da war Moses Rosenblüth ganz munter. Er sprang auf. „Ist die Nacht schon vorüber?“ fragte er, sich reckend.

„Die Nacht? Zwei Uhr nachmittags ist’s!“ lachte der Litauer.

Wieder hockte der kleine Gefreite sich unter der Falltür auf die Treppe. Das, was er hier hörte, dieses andauernde Knattern der Gewehre, dieses unausgesetzte taktmäßige Feuern der Maschinengewehre, in das sich immer aufs neue das Bumm Bumm der Geschütze, wie tiefe Baßstimmen mischte, war der Lärm einer heftigen Schlacht.

Moses Rosenblüth wagte es. Gewiß, wenn er bemerkt wurde, dann war’s aus mit ihm. Aber er mußte sich überzeugen, wie es draußen stand. –

Ganz, ganz langsam lüftete er den Deckel. Aber die aufgeschichteten Granitblöcke, die überall umherlagen, versperrten die Aussicht. Und den ganzen Oberkörper herauszustecken – das wollte er doch nicht riskieren. Und im letzten Moment dachte er an seine sechsundzwanzig Kameraden. Freventlicher Leichtsinn wär’s gewesen, sich in seiner Uniform in den Steinbruch zu wagen. Nur zu schnell würde die französische Meute ihm dann auf der Spur sein. Da – ein neuer Gedanke. So ging’s! Und in knappen fünf Minuten war die Verwandlung in einen französischen Bauern fertig. Der, der jetzt nach prüfendem Rundblick aus dem Versteck hervorschlüpfte und zwischen den Granithaufen sich niederwarf, war ein echter welscher Pisang[3] mit blauer, grober Wollbluse und breiten, braunen Beinkleidern. Sogar Mütze und Schnallenschuhe waren echt. Zu alledem noch das Rosenblüthsche Familiengesicht mit den schwarzen, leicht gekräuselten Haaren, den dunklen, schlauen Äuglein und der Riesennase, das war ein Südländer, wie er im Buche stand! –

Schritt für Schritt schob sich der Gefreite nun vorwärts, bis er an die erste Grasnarbe kam, die den Übergang des Steinbruch in die Schlucht anzeigte. Jede Deckung nutzte er aus, jeden Stein, jedes magere Gestrüpp. Etwa zwölf Meter vor ihm, dicht an der östlichen Wand, bemerkte er jetzt eine dunkle Masse. Auch Stimmen hörte er, französische Zurufe, ebenso das Wiehern, Schnauben und Stampfen von Pferden. Ohne Zweifel waren die Gäule der feindlichen Batterien hier im Schutze des steilen Abhanges untergebracht worden.

Moses Rosenblüth preßte mit einem Mal die dünnen, roten Lippen fest aufeinander. Ein neuer Gedanke war in ihm aufgeblitzt. Wenn es ihm gelänge –! Und – warum sollte es nicht! Der Steinbruch war ja nur von Süden her durch die Schlucht zugänglich. Von seinen Rändern aus war bei dem heutigen Wetter außerdem nach der Tiefe hin kaum zu sehen, was hier unten vorging. Der Feind konnte ihn also nur von einer Seite fassen, falls er noch Zeit dazu fand. Denn das Gewehrfeuer nährte sich jetzt immer mehr der Talsenkung. Die Franzosen verloren mithin Terrain.

Der Gefreite glitt den Weg, den er gekommen war, zurück. Vom Rande des Steinbruchs vernahm er plötzlich auch den dröhnenden Schritt größerer, geschlossener Abteilungen, französische Kommandos und das Rattern von Rädern. Das bestärkte ihn nur noch in seinem Entschluß. Ohne Zweifel schickte der Gegner sich zum Rückzug an. Da galt’s denn, sich möglichst zu beeilen. Jede Minute war kostbar. –

Moses Rosenblüth verschwand die Treppe hinab, rannte zu der unterirdischen Halle zu. Nur die beiden Wachen ließ er dort, schärfte ihnen aber größte Aufmerksamkeit ein. Mit den übrigen neunzehn Mann, von denen jeder noch über einige Patronen verfügte, schlich er dann wieder hinaus und den Steinbruch entlang auf die feindliche Batterie zu, er selbst in seinem Bauernanzug, jetzt mit umgeschnallten Patronentaschen und dem Gewehr in der Hand, allen voraus.

Vor den in Linien mit weiten Zwischenräumen vordringenden Deutschen lautes, erregtes Geschrei. Soeben jagte ein französischer Artillerist mit den letzten zwei Pferden seiner Batterie zu. Die übrigen waren bereits ein Stück entfernt.

„Marsch – Marsch!“ befahl Rosenblüth. Die Batterie wollte abfahren. Sie sollte ihm dennoch nicht entgehen.

Jetzt war man keine zehn Meter vor dem ersten Geschütz, das bereits bespannt war.

„Feuer!“ Der Schall der Schüsse weckte in dem Tal ein furchtbares Echo. Hinein in die französischen Batterien prasselten die deutschen Kugeln.

„Weiter vor – und nur auf die Pferde schießen!“

Wild umsichschlagende Gäule wälzten sich am Boden, völlig kopflos gewordene Artilleristen rannten dem Ausgang der Schlucht zu. Und immer noch der erbarmungslose Geschoßhagel, der die Bedienungsmannschaft und die Pferde niederstreckte.

Nur das Geschütz am weitesten rechts schien entkommen zu wollen. Der Gefreite und der Reservist Marsuwiak, der an der östlichen Wand entlanggerannt waren, um die Batterie auch von seitwärts unter Feuer zu nehmen, sahen die Leute wie toll auf die Pferde einschlagen. Im blinden Eifer stürmten die beiden Deutschen weiter. Das Geschütz, das in der Eile nur mit zwei Pferden bespannt worden war, blieb in einem Loch des lehmigen Bodens stecken.

Marsuwiak feuerte, lud, feuerte. Der rechte Gaul sank in die Knie. Da war auch schon Rosenblüth ganz nahe heran. Seine Kugel erledigte auch das andere Pferd. Neben ihm plötzlich ein Reiter mit geschwungenem Säbel, einer der Offiziere der Batterie. Der Gefreite sprang zurück. Und doch schien er verloren. Schon schwebte der Säbel über seinem bloßen Kopf – die Mütze hatte er längst verloren, schon glaubte er den Streich der blanken Waffe zu fühlen, als der Offizier urplötzlich matt vom Pferde sank. Der Litauer hatte ihn noch im letzten Moment mit gutgezieltem Schuß unschädlich gemacht.

Draußen, hinter der Schlucht laute Hurras. Dann einen Moment Stille. Die vordringenden Deutschen hatten den Rand des Talkessels erreicht.

„Mir nach!“ Eine helle Stimme rief’s oben.

„Unser Kompagnieführer,“ schrie Marsuwiak dem Gefreiten zu. Der stürmte schon wieder vorwärts dem Ausgang der Schlucht entgegen. –

Eine Stunde später war das Gefecht zu Ende. Den fliehenden Feind noch weiter zu verfolgen, lag nicht in der Absicht des Divisionsgenerals.

Dieser hielt jetzt zu Pferde neben dem kleinen, von Kugeln arg mitgenommenen Häuschen, in dem die Feldwache des Leutnants Wendland gelegen hatte.

Die Sonne, die endlich siegreich den Nebel zum Weichen gebracht hatte, beschienen eine Szene, wie sie nur der Krieg zu schaffen vermag. –

Vor dem Divisionsgeneral stand inmitten eines Kreises von Offizieren und Mannschaften aller Waffengattungen Moses Rosenblüth.

„Der Bataillonskommandeur hat mir soeben angemeldet, daß durch Ihr umsichtiges Verhalten der Überfall der Franzosen in der verflossenen Nacht noch rechtzeitig erkannt und vereitelt wurde, Gefreiter,“ begann Exzellenz freundlich. „Außerdem haben Sie auch in nicht minder umsichtiger Weise die Reste der Feldwache in Sicherheit gebracht und auch mit Ihren wenigen Leuten die feindliche Batterie dort genommen. Ich danke Ihnen, Vizefeldwebel!“

Und Exzellenz beugte sich herab und streckte Moses Rosenblüth die Hand hin. Der war ganz blaß vor innerer Erregung geworden. –

Hatte er recht gehört: Vizefeldwebel – Vizefeldwebel! Er konnte sein Glück noch immer nicht begreifen.

Erst als dann auch der Herr Oberst und der Bataillonskommandeur ihm die Hand schüttelten, als jeder ihn lobte und herzliche Worte für ihn hatte, wurde er ruhiger.

Am Abend aber schrieb er dann einen langen Brief an die alten Eltern daheim, in dem auch die Sätze standen:

‚Ich denke, lieber Vater, daß ich dir kaum ein besseres Geburtstagsgeschenk darbringen kann als dieses. Und bei dem Vizefeldwebel soll’s nicht einmal sein Bewenden haben. Der Herr Oberst hat mich für das Eiserne Kreuz eingegeben, ebenso unseren Leutnant und den Reservisten Marsuwiak. Du wirst verstehen, wie glücklich ich bin. Denn ehrlich gesagt, das Kreuz ist mir noch mehr wert als die Beförderung. Das bleibt mir doch die höchste, schönste Auszeichnung, die man nur vor dem Feinde verdienen kann. –

Noch etwas zum Schluß. Soeben erfahre ich, daß der Spion, der französische Dragonerleutnant, sich in einem unbewachten Augenblick erschossen hat. Näheres darüber weiß ich nicht.

Lebt wohl, liebe Eltern! Und wenn ich erst das Kreuz habe, lasse ich mich – sobald sich die Gelegenheit dazu bietet – photografieren. –

in herzlicher Liebe

euer Moses Rosenblüth Vizefeldwebel d.R.’

 

 

Anmerkungen:

  1. Zum Teufel, wo stecken sie denn!
  2. Dies Hunde – sind sie entflohen!
  3. so wurden die ländlichen franz. Zivilisten genannt, in Anlehnung an das prazösische Wort ‚paysan – Bauer’