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Schlafwagengeheimnisse

 

Schlafwagengeheimnisse

von

Paul Leistner

 

Verlag moderner Lektüre
G.m.b.H.
Berlin.S.O.26. Elisabethufer.44.

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO. 26.

 

 

1. Kapitel

Der Seitensprung und die Perlenkette

Frau Klara Gitschiner erhob sich nach ruhigem Schlummer.

Es war zehn Uhr vormittags. Die Sonne schien auf die Fenster des Schlafzimmers und auch die terrakottafarbene Seidenvorhänge. Das gab eine warme, mollige Beleuchtung ab. Frau Klara saß auf dem Bettrand und stellte mit Hilfe des großen Ankleidespiegels, der ihre Gestalt in voller Größe aufnahm, mit Stolz fest, daß sie in dem schwarzseidenen Nachthemd bei diesem Licht wie ‚höchstens‛ dreißig aussah – höchstens! Wenn sie fünfzig Pfund weniger gewogen hätte, würde sie für fünfundzwanzig gelten können – dachte sie.

Aber gerade diese fünfzig Pfund, die sich in Gestalt von Überfülle um die Hüften und die Rückratverlängerung sowie in der Brustgegend abgelagert hatten, ließen sich ja leider nicht hinweghungern. Das war unmöglich.

Maximilian Gitschiner, ihr Gatte, verdiente jetzt seine zwanzigtausend Mark monatlich: manchmal ‚schob‛ er auch noch mehr zusammen. Und deshalb mußte Klara notwendig auf karge, fettlose Kost trotz der enormen Preise für Butter ‚hintenherum‛ verzichten. Es hätte ja schon vor der Bedienung so kläglich ausgesehen, wenn man nicht die Mahlzeiten dem raffinierten Luxus der neuen Achtzimmerwohnung am Kurfürstendamm entsprechend gestaltete. Nein – das ging nicht! Man war genötigt, alles durch die Köchin auf den Tisch bringen zu lassen, was andere sich nicht leisten konnten. Nur so merkten Franz, der Diener, Babette, das Stubenmädchen, Auguste, die Köchin, und Fräulein Seiler, die Erzieherin der beiden Gitschinerschen Liebespfänder, wo sie dienten und wie das Geld hier so gar keine Rolle spielte. –

Gitschiners ernährten sich vollständig von hinten – von hintenherum, und das kostete Anno 1919 eine Monatssumme, die dem Jahresgehalt eines Ministers etwa entsprach, natürlich eines Ministers ‚von früher‛.

Frau Klara war jetzt achtunddreißig Jahre und wie eine überreife – mir fällt nichts Besseres ein! – Pflaume, die sich überall so weich und wabbelig anfaßt, als müßte die Haut bei jeder Berührung platzen. Ach – wie froh wäre der neugebackenen Multimillionärin Erwachen gewesen, wenn das Spiegelbild ihr ein modernes, schlankes Weib von jener scheinbar überzüchteten Art gezeigt hätte, wie sie heute die Maler und Illustratoren stets darzustellen pflegen!

Wenn ja – wenn! Aber – die vermaledeiten fünfzig Pfund, die verdarben alles, die konnte selbst das bis zu den Knien fast herabreichende, nach Maß gearbeitete Korsett nicht wegmogeln, die spotteten allen Bekleidungskünsten der vielgewandten Madam von Romberg, deren Modesalon jetzt gerade in Berlin W in den Kreisen der neuen Geldaristokratie für einzig und allein ‚schick‛ und ‚standesgemäß‛ galt. –

Ach die Marga Seiler, die Erzieherin, – der hatten Mutter Natur und schmale Kost so eine vielbegehrte ‚mondaine‛ Figur beschert; die schwebte dahin in schlanker Grazia und mit schmalem, rassigem Gesichtchen, das stets so einen unaussprechlich müden, melancholischen, leise übersättigten Ausdruck zeigt; die hatte kein Vollmondgesicht und keine Hängebacken, kein Doppelkinn, keine kugelrund hervorragende Wölbung auf der Kehrseite und kein so übermäßiges Vorgebirge auf der oberen Vorderseite.

Frau Klara seufzte. –

Ja, ja – auch Millionärsgattin haben so ihre Sorgen! Und nicht allein des eigenen Leibes wegen! Nein – Maximilian ging es ja so ähnlich. Auch er drohte aus der Haut zu platzen. Er schwitzte jetzt schon im Mai täglich vier Kragen durch und verbrauchte wöchentlich eine ganze Flasche des neuesten Herrenparfüms ‚Aphrodite‛, um nicht den Gesamteindruck seines eitlen Ichs durch den Duft eines schweißdurchtränkten von der Tagesfron heimkehrenden Arbeiters zu verhunzen.

Daß Mäxchen Gitschiner außerdem noch seiner besseren Hälfte viel Anlaß zur Unzufriedenheit gab, ahnte niemand. Zum Glück! Abgesehen davon, daß er jetzt nach zehnjähriger Ehe bereits die gleichzeitig mit den Millionen erworbene Neigung für getrennte Schlafzimmer dazu benutzte, seine Gattin fast vollständig wie eine Heilige zu behandeln und sich ihr kaum noch vertraulicher zu nähern, – also hiervon ganz abgesehen, hatte er da letztens in seiner Smokingtasche ein Briefchen stecken gehabt, dessen Inhalt für eine Ehescheidungsklage durchaus genügt hätte.

In dieser Hinsicht war Frau Klara aber nun eine außerordentlich verständige Dame. Sie hatte Mäxchen keinen Krach gemacht, sondern ihm das Briefchen nur mit einer Stecknadel auf dem Kopfkissen befestigt und unter die zierlichen Zeilen von Mäxchens ‚Pusselchen‛ in ihrer sehr energische Schrift die Worte gesetzt:

Du könntest das auch billiger und bequemer haben!!!

Und die drei Ausrufungszeichen hatte sie etwa halbfingerlang gemacht. Und der Erfolg war – eine Perlenkette, die eine runde Million kostete, – ein Prachtstück, das Frau Klara vollständig versöhnte und das für sie umso mehr Wert hatte, als es eine leibhaftige Fürstin einst getragen und nun infolge der großen Pleite in den Kreisen des hohen Adels hatte veräußern müssen. Jedenfalls wurde Mäxchen dieser Seitensprung mit Pusselchen total verziehen. Er hatte ja feierlich auf das Kruzifix geschworen – mit fünfundzwanzig Jahren war er durch die Taufe in den Schoß der christlichen Kirche aufgenommen worden und gehörte jetzt dem Verein zur Ausbreitung echt deutscher Art an, – daß es wirklich nur zu einem einzigen Seitensprung gekommen sei, – ein Eid von dem sich mit Recht sagen ließ: ‚Dein Eid ist mein Eid‛, und der dennoch Mäxchens Gewissen in keiner Weise belastete, weil er in seinem geschäftlich so viel bewegten Leben schon ganz andere Eide und an weit gefährlicherer Stätte abgelegt hatte, wo es sich nicht lediglich wie hier um das Abstreiten einer Reihe von Sprungübungen zur Seite handelte. Nein: Mäxchen Gitschiner, den man in den Kreisen der Großschieber nur den ‚fetten Aal‛ nannte, weil er eben wirklich fett und wirklich aalglatt, nicht zu fassen war, machte sich den Deubel was aus diesem vor Frau Klara mit bierehrlichstem Gesicht geleistetem Schwur, zumal er ja bereits wußte, wie er das ‚Reuegeld‛ zahlen wollte, um dabei noch ein feines Geschäft zu ‚landen‛.

Die Perlenkette war sogar ein prima-prima Geschäftchen gewesen. Und Maximilian Gitschiner hatte den Kauf bereits als gute Kapitalsanlage abgeschlossen, bevor seine Klara noch das Briefchen von Pusselchen gefunden hatte.

Kurz: Mäxchen lachte sich ins Fäustchen, als sein braves Eheweib über die reiche Spende geradezu gerührt war.

Daß er sehr bald derselben Perlenkette wegen in böseste Schwulitäten geraten sollte, ahnte er nicht.

Acht Tage besaß Frau Klara den neuen Schmuck nun bereits. Und – bisher hatte das Dichterwort, daß Perlen Tränen bedeuten, sich in keiner Weise bewahrheitet. Im Gegenteil: Maximilian war längst wieder Pusselchens eifriger Schüler in gewissen Turnkünsten geworden, und gestern hatte er zu seiner hellen Freude nach dem Dampfbad und der Massage festgestellt, daß sein Leib um ganze zwei Pfund an Gewicht verloren und daß er in den letzten zwei Tagen nur je drei Kragen durchgeschwitzt hatte. –

Doch – mit des Geschickes Mächten ist kein ewiger Bund zu flechten, denn die Untergrundbahn war gerammelt voll, und der ‚Täter‛ hieß ‚von Scholl‛.

Gestern hatte Frau Klara nämlich das brillantenbesetzte Schloß der Perlenkette verdorben; es hielt nicht mehr! Und dieses verdorbene Schloß sollte noch weit mehr verderben, wie wir sehr bald miterleben werden. –

Miterlebt haben wir bereits, daß Frau Gitschiner soeben sich an ihren dicken ‚Fettaal‛ erinnert und dabei notwendig auch an den kostbaren Schmuck gedacht hatte.

Jetzt besann sie sich, daß ‚Fräulein‛ die Kette gleich vormittags zum Hofjuwelier Makuse nach der Leipziger hatte bringen sollen, damit der Schaden schleunigst repariert würde. Abends war ja die große Wohltätigkeitsveranstaltung im Zoo. Und dazu mußte sie die Kette unbedingt anlegen. Was hatte ein Schmuck für einen Wert, der nicht den brennenden Neid lieber Freundinnen hervorrief?! Gar keinen! Nur ein Neid, den man anderen anmerkt, schafft das echte Wohlbehagen!

Frau Klara griff also schleunigst nach dem echt japanischen Seidenkimono mit den fingerdick gestickten Blumen (Preis 2800 M), schlüpfte hinein, zog noch die echten Saffianlederpantöffelchen über (Preis 985,50 M), läutete viermal kurz hintereinander und freute sich dabei, daß sie, die noch vor zwei Jahren in der oberen Friedrichstraße den beruflich nur abends das bestimmte Straßenviereck umkreisenden Damen Hemdchen, Stümpfchen und Ähnliches mit reizendem Lächeln im Laden von M. Gitschiner, Weißwaren en gros, vorgelegt hatte, nun die blonde Tochter des früheren Geheimrat Seiler so herbeizitieren konnte – so durch vier Klingelzeichen.

Und Marga Seiler klopfte denn auch nach wenigen Minuten, trat ein und nahm den Auftrag mit derselben kühlen Höflichkeit entgegen wie alle Anordnungen der ‚gnädigen Frau‛.

Womit das Drama, wie ich verraten will, begonnen hat.

 

 

2. Kapitel

Der Dieb und die Bestohlene.

Guido von Scholl war 1917 in Kriegsgefangenschaft geraten, mit bösem Lungenknacks dann von den weichherzigen Vertretern der ersten Kulturnation – also den Franzosen – nach der Schweiz abgeschoben, hier in Davos leidlich ausgeheilt und Februar 1919 nach Deutschland entlassen worden, wo er von Verwandten nur noch eine verwitwete Schwester besaß, deren Mann gefallen und deren Einkünfte zum Verhungern zu groß und zum Sattwerden für sie und drei Kinder zu klein waren.

Guido hatte nun drei Monate bei dieser Schwester gewohnt, hatte jeden Tag bei den zuständigen Stellen beharrlich seine Ansprüche auf Pension gelten und bei anderen Stellen ebenso geduldig den Versuch gemacht, irgend eine Beschäftigung zu finden.

Gestern hatte er ganz deutlich gemerkt, daß seine Schwester in ihm nur mehr einen lästigen ‚Mitesser‛ sah. Nein, er konnte ihr das nicht verargen. Mitesser entfernt man durch Ausdrücken. Und so beschloß Guido denn, ebenfalls durch Ausrücken sich zu entfernen.

Zu derselben Zeit, als Frau Klara Gitschiner ihr Spiegelbild beschaute, verabschiedete Guido von Scholl sich von seiner Schwester, dankte für gewesene freundliche Aufnahme, ergriff seinen Koffer, in dem seine gesamten irdischen Besitztümer verstaut waren, und wanderte von Charlottenburg zu Fuß nach der Augsburger Straße 111, Berlin W, wo sein letzter Bursche Karl Schmielich jetzt Hauswart und frischgebackener Ehemann war.

Schmielich und Guido hatten vor sechs Wochen zufällig in einem Kino ein erstes Wiedersehen gefeiert, war dann häufig zusammen gewesen, und der Hauswart hatte seinem ehemaligen Oberleutnant dabei wiederholt gesagt: ‚Ich würd’s Herrn Oberleutnant sehr krumm nehmen, wenn Herr Oberleutnant bei Eintritt jewisser Umstände nicht an den Karl Schmielich als an den Besitzer eines leerstehenden, freundlichen Kellerstübchens denken würde –‛

Guido hatte an seinen braven Karl gedacht, hatte nun die Kellerstube neben der Heizanlage bezogen, hatte mit dem jungen Ehepaar zusammen gefrühstückt und dabei erklärt, er wolle nun jede – aber auch jede Arbeit annehmen, die sich ihm böte. Worauf Karl eine sehr trübe Miene aufgesetzt und darauf hingewiesen hatte, daß es zur Zeit in Groß-Berlin genau zweihundertdreiundvierzigtausendeinhundertachtzehn Arbeitslose nach der heutigen Morgenzeitung gäbe. Trotzdem tat Guido sehr zuversichtlich. Er tat aber nur so. Und als er gegen halb elf nach dem Wittenbergplatz zur Untergrundbahnstation pilgerte, um nach dem Alexanderplatz zu fahren, wo Karl Schmielichs Freund, der Budiker Schafranke ‚vielleicht‛ eine freie Stelle ‚ausknobeln‛ würde, da befand sich der blasse, schlanke, mit recht fadenscheiniger Eleganz gekleidete Oberleutnant a.D. in einer Stimmung, in der man zu jeder Dummheit fähig ist.

Wenn die Autos mit wohlgenährten Kriegsgewinnler an ihm vorüberrollten, wenn Dämchen und Kavaliere in Kleidern und Schuhwerk ‚erster‛ Güte vorbeikamen, dann packte ihn eine ungeheure Wut, daß er nun hier in so trauriger Körper- und Gemütsverfassung zu August Schafranke unterwegs war, um vielleicht als Gläserspüler irgendwo unterzuschlüpfen. Gerade er, der doch weiß Gott nicht auf den Kopf gefallen war; der eigentlich alles konnte, dessen Vielseitigkeit und praktischer Sinn im Felde der Truppe so gute Dienste geleistet hatte; der ebenso gut – wenn er körperlich kräftiger gewesen wäre! – Müllkutscher oder Tunnelarbeiter, Kohlenschlepper oder Heizer hätte spielen können. –

Und dieser bis obenan mit Bitterkeit und Sorgen angefüllte Guido stand nun am Fahrkartenschalter des Untergrundbahnhofes Wittenbergplatz und hatte dich vor sich eine junge, blonde Dame, die einfach aber schlicht gekleidet und deren Profil geradezu reizend war.

Die Dame öffnete jetzt ihr ledernes Handtäschchen und nahm die kleine Börse heraus. Dabei zerriß sie die Umhüllung eines in der Tasche gleichfalls befindlichen Päckchens. Das Loch in dem Seidenpapier enthüllte Teile einer Perlenkette mit einem brillantenbesetzten Schloß. –

Guido hatte das Loch und den Inhalt des Päckchens mit einem rein zufälligen Blick erspäht. Er sagte sich sofort: die Perlen müssen echt sein, denn für eine Imitation verwendet man als Schloß nicht Platin und außerdem Brillanten mit solcher Reinheit und Größe.

Wie ein Blitz schoß ihm das durch den Kopf. –

Und – da kam der zweite Zufall, da nahte sich ihm die Versuchung: Er stand in dem gepfropft vollen Untergrundbahnwagen abermals hinter der Dame mit der schwarzen Lackledertasche. Er stand eng an sie gepreßt; er spürte den Duft ihres Frauennackens; er spürte seit langem zum ersten Mal wieder, daß er noch Mann war, daß die fettlose, zwangsweise Hungerkur der letzten Monate doch noch nicht jenen Guido in ihm zu totalem Absterben gebracht hatte, der einst stets die nettesten Mädels zu Freundinnen gehabt, obwohl er ihnen doch wahrhaftig nicht mal ein paar seidene Schlüpfer verehren konnte. –

Aber diese aufflackernde Flamme heißer Maigefühle sank je wieder zusammen. Denn – Guidos Linke hatte bei dem Versuch, seinen kurzen Sportüberzieher aufzuknöpfen, die Glanzledertasche berührt.

Und – die Tasche war offen! Der Schloß mußte wohl im Gedränge aufgesprungen sein. –

Offen! Und – in dem Seidenpapier befand sich eine Perlenkette! Und wenn man diese Kette verkaufte, würde man fraglos ein paar tausend Mark dafür erhalten. Und dann konnte man sich den sehnlichsten Wunsch erfüllen: Auswandern und drüben in Südamerika, in Chile, wo die Deutschen so gut aufgenommen wurden, eine neue Existenz gründen.

Guido traten Schweißtropfen auf die Stirn. Heiß war’s hier. Aber noch heißer war’s plötzlich in des blassen Mannes Innern. –

Die Gedanken an die Perlenkette ließen sich nicht mehr verscheuchen. Guido spielte jetzt ein gefährlicher Spiel, indem er überlegte, ob er wohl auch zum Taschendieb gewandt genug sei.

Ihm wurde fast übel vor Aufregung. Die Versuchung wurde immer mächtiger. Er kämpfte dagegen an.

Aber – er unterlag.

Seine Linke griff mit Zeige- und Mittelfinger in das Glanzledertäschchen hinein. Ganz sacht zog er die Perlenschnur heraus, schob sie nun in die Brusttasche des Überziehers. Ebenso sacht wurde das Schloß des Täschchens zugedrückt.

Da – und Guido von Scholl erbleichte! –

Von hinten hatte ihm jemand auf die Schulter geklopft. –

„Na, da hab ich Sie ja endlich!“ sagte eine tiefe Stimme.

Umdrehen konnte Guido sich nicht. Nur sein Kopf fuhr herum.

Und – er erkannte nun in dem stark ländlich gekleideten Herrn sofort den ‚Reserveonkel‛, den er bei seiner Kompanie zuletzt gehabt hatte, – richtig, Werneke hatte er geheißen und Gutsbesitzer war er gewesen.

Hermann Werneke und Guido von Scholl saßen eine halbe Stunde später in einer gemütlichen Weinstube.

„Keine Widerrede!“ erklärte der Gutsbesitzer. „Sie füllen jeden Posten aus! Ich kenne Sie doch. –

Also – Hand her und abgemacht! Sie werden mein Rechnungsführer. Und gleich heute fahren Sie nach Ostpreußen an meine Klitsche – gleich heute. –

Ich habe hier noch ein paar Tage zu tun –“ –

Und – zu derselben Zeit saß Marga Seiler leichenblaß in einem Sessel vor dem Verkaufstisch des eleganten Juwelierladens und stierte in die Glanzledertasche hinein, aus der die Perlenkette verschwunden – gestohlen war.

Herr David Makuse und die drei Verkäuferinnen umstanden die halb Ohnmächtige.

„Gnädigste, die Perlen dürften vielleicht noch daheim liegen,“ dienerte der Juwelier. „Oder – soll ich vielleicht gleich einen Kriminalbeamten telephonisch herbeirufen, damit –“

Marga Seiler hatte sich jetzt gefaßt. Sie war durch den harten Daseinskampf des letzten halben Jahres sehr selbstständig und sehr energisch geworden; sie hatte das Unheil nun in seiner ganzen Tragweite überschaut und auch bereits einen bestimmten Entschluß gefaßt.

Sie erhob sich. „Sie werden recht haben, Herr Makuse,“ sagte sie. „Ich werde die Perlenschnur gar nicht mitgenommen haben. Ich hatte es sehr eilig, und ich bin überhaupt etwas zerstreut –“ –

Frau Klara Gitschiner war außer sich – war wütend – auf Mäxchen! Der hatte soeben angeklingelt und ihr mitgeteilt, an den Besuch des Wohltätigkeitsfestes am Abend könne nichts werden; er müsse verreisen; er habe soeben die bewußte Depesche aus Königsberg erhalten; die Ladung Zucker sei dort angelangt.

„Du verstehst, Klärchen! Ich muß das weitere nun selbst erledigen; es handelt sich um zweihunderttausend Mark rund.“

Klärchen verstand. Der Zucker war ‚verschoben‛ worden. Trotzdem kochte es in ihr vor Wut. Allein ohne Mäxchen getraute sie sich nicht auf den Ball. Nur in Gegenwart des mit so gottbegnadeter Frechheit und Aufdringlichkeit ausgestatteten Maximilian war sie in der Öffentlichkeit einigermaßen gesellschaftlich sicher und gewandt, wobei ihr vielleicht eine ererbte Begabung für öffentliches Auftreten half, da ihr Großvater in Filehne Rabbiner gewesen war. Sie konnte und wollte die Perlenkette nicht ohne Mäxchen zum ersten Mal an die Luft führen, wenigstens nicht in die eines Ballsaales; im Theater hatte sie sich damit schon gezeigt.

Aber – ein Wohltätigkeitsfest – das war ganz was anderes. Da stand man den Neidern so Auge in Auge gegenüber; da mußte man schlagfertig sein, um die ‚lieben‛ Bemerkungen der ‚lieben‛ Bekannten abzuwehren. Und schlagfertig war Klärchen nun mal gar nicht. Wenn sie’s versuchte, verfiel sie stets sofort in einen Ton, der allzu sehr an die obere Friedrichstraße und an die Damen mit dem beruflichen Häuserquadrat erinnerte. So hatte sie zum Beispiel letztens einem leibhaftigen Grafen, den Max ihr im Foyer der Staatsoper vorgestellt hatte, auf eine Schmeichelei über ihr blühendes Aussehen erwidert:

„Ach – ich word leider auch von ‛n Heringenschwanz dick. Ich bin ja so anfällig.“ – was Max nachher als eine Entgleisung bezeichnet hatte, dieweil eine Multimillionärin weder eine Heringschwanz noch sonst etwas so unfeines in den Mund nehmen und auch nicht von anfällig sprechen dürfe, wenn sie nur zwei Kinder habe. –

Also: Frau Klara war wütend. Und das kam dem ‚Fräulein‛ zugute. Marga erklärte, bei ihrer Rückkehr, die Firma Makuse könne die Perlenkette erst übermorgen abend fertigstellen, weil zu viele dringende Reparaturen vorlägen. –

Frau Klara hätte nun andernfalls Makuse fraglos angeläutet und gefleht, den Schmuck doch noch bis heute abend ausnahmsweise ihr zuzustellen. Und dann wäre natürlich der große Kladderadatsch sofort da gewesen; dann hätte Marga sofort schleunigst verschwinden und das ausführen müssen, was sie sich vorgenommen hatte. –

So aber blieb ihr Zeit genug, ihre Flucht in Ruhe vorzubereiten.

Denn – sie wollte fliehen! Sie kannte Gitschiners. Er war ihr nicht gewogen, weil sie ihm gleich am dritten Tag ihrer Anwesenheit in der Feudalwohnung in ihrem Zimmer sehr handgreiflich klargemacht hatte, daß er einer jungen Dame gegenüberstehe, die für Mäxchens Seitensprungesneigungen nicht das geeignete Objekt sei.

Mäxchen hatte seit reichlich zwanzig Jahren nicht mehr Ohrfeigen kennen gelernt. Als er sie nun aber wieder kennen lernte, zeigte er sich geradezu groß und erhaben, lächelte und meinte: ‚Nu, –‛s bleibt unter uns, Fräulein Seiler, denk ich. Sie haben mich nämlich mißverstanden. Ich wollte nur sehen, ob Sie zuverlässig sind –‛ –

Trotz dieser schlauen Sätze war Marga überzeugt, daß Maximilian sich bei guter Gelegenheit zu rächen versuchen würde. Und – dasselbe nahm sie – aus anderen Gründen – von der ‚gnädigen Frau‛ an, der sie oft genug eben zu verstehen gegeben, daß sie sie wohl so titulierte, aber nicht auch so einschätzte. Das war keine Überhebung, keine Anmaßung von ihr, – nein, es war lediglich die notwendige Folge all der vielen Taktlosigkeiten, die die Gnädige sich in dem Bestreben leistete, ja auch als solche von den ‚Dienstboten‛ respektiert zu werden. Hinzu kam bei Frau Klara noch der böse Neid auf Margas äußere Erscheinung, der dadurch sich offenbart hatte, daß sie wiederholt dem ‚Fräulein‛ zu stärkerem Essen riet und deren Figur ‚krankhaft schlank‛ fand.

Nein – bei dieser geheimen Feindseligkeit durfte Marga nicht auf Milde rechnen. Gitschiners würden es ihr nie glauben, daß ihr die Perlenschnur gestohlen sei, würden sie vielleicht verhaften lassen oder sonst wie gegen sie in einer Weise vorgehen, die sie an den Rand der Verzweiflung brächte. –

Sie war ja überhaupt durch dieses halbe Jahr als Erzieherin der beiden bis zur Unerträglichkeit verhätschelten Rangen mit ihren Nerven so weit heruntergekommen, daß sie nur einen Wunsch hatte: Einmal still in der Einsamkeit ganz für sich leben zu können! –

Und diese Sehnsucht nach dem Frieden einer ländlichen Umgebung hatte sich jetzt noch mehr gesteigert, hatte bei Marga auch die letzten Bedenken beseitigt, die sie bisher davon abgehalten hatten, der Einladung ihrer langjährigen Freundin Folge zu leisten. Als vor nunmehr sieben Monaten der Haushalt ihres Vaters, der an einem kleinen thüringischen Fürstenhof eine Vertrauensstellung bekleidet hatte, nach dem Selbstmord des seit langem als Witwer nur mit seinem einzigen Kind zusammenlebenden Geheimrats aufgegeben werden mußte und als sich herausstellte, daß Margas Erbe nur aus Schulden bestand, da hatte sie kurz entschlossen alle bisherigen Beziehungen abgebrochen und war nach Berlin gegangen, um hier ihr Brot zu verdienen.

Doch das Schicksal hatte es nicht gut mit ihr gemeint, als es sie zu Gitschiners führte. Aber das junge Mädchen war froh gewesen, überhaupt einen Unterschlupf gefunden zu haben, ertrugen mit kühler Gelassenheit all die kleinen und großen Demütigungen und Widerwärtigkeiten und hoffte ganz im stillen auf eins: daß ihr das gütige Walten der Vorsehung jenes Glück bescheren würde, nach dem sie sich seit den Backfischjahren gesehen.

Ein Glück sollte das sein, so ganz anders, als Mädchen es sich sonst erträumen. Eine Leidenschaft, die wie die Sturmflut kam und die sie einem Mann halb besinnungslos in die Arme trieb. –

Ach – niemand ahnte ja, welcher Vulkan im Herzen der scheinbar so ruhigen Marga Seiler schlummerte; niemand traute ihr Temperament zu: ihre Bekannten von früher hatten sie stets nur die kühle Marga genannt. Sie – lächelte darüber. Sie kannte sich besser. Sie verlangte mehr vom Leben als nur etwa eine Schwärmerei, die zu einem schnell erkaltenden Eherausch führte. Ihre Seele war ein seltsames Gemisch von reifem Weibestum und romantischem Zukunftshoffen. Aber gerade diese Gegensätze in ihrem Charakterbild verliehen ihr auch einen besonderen Reiz, brachten jenen tiefgründigen, melancholischen Zug in ihr feines, schmales Gesichtchen, der jedem wirklichen Frauenkenner sofort eine besondere Art von Charakter verriet. –

*

Marga tat heute wie immer bis zum Abend ihre Pflicht. Dann bat sie Frau Klara, ihr bis zum nächsten Mittag Urlaub zu geben; Bekannte von ihr seien besuchsweise in Berlin und hätten sie eingeladen, mit ihnen zusammen zu sein.

Frau Klara, die gerade im Schlafzimmer eine neue Krokodillederreisetasche höchst eigenhändig packte, fragte weshalb Marga denn auch die Nacht über ausbleiben wolle, und warf dem ‚Fräulein‛ dabei einen Blick zu, der allein schon eine Beleidigung war.

„Weil meine Bekannten morgen früh mit mir noch einen Ausflug machen wollen,“ erklärte Marga kühl.

Dann konnte sie gehen. –

In ihrem Zimmer hatte sie bereits die wertvollste Habe in einen schmalen Koffer gepackt, das andere alles in einen zweiten größeren. Unbemerkt entfernte sie sich dann aus der Wohnung, nahm nur den kleineren Koffer mit. Es war jetzt halb acht, und sie durfte hoffen, bis zur Abfahrt des Königsberger D-Zuges noch mit ihren sonstigen Vorbereitungen fertig zu werden. Bis zuletzt hatte sie noch immer gefürchtet, daß irgend ein tückischer Zufall die Wahrheit – den Verlust der Perlenkette – ans Licht bringen könnte.

Nun atmete sie wie befreit auf. Sie handelte dann weiter mit größter Planmäßigkeit, mietete in Charlottenburg in der Nähe des Bahnhofs ein Zimmer für acht Tage, das einen besonderen Ausgang hatte, und begann sich in einen sehr schlanken, hübschen Jüngling mit Hilfe eines Anzugs zu verwandeln, den sie einst bei einer Theateraufführung getragen und den sie sich zum Andenken aufbewahrt hatte. Da sie außerdem einen kurzen Mantel mit Sportpaletotschnitt besaß, ebenso noch eine weiche Reisemütze, brauchte sie lediglich noch ihr schönes, blondes Haar zu opfern, um jede Spur hinter sich so gründlich zu verwischen, daß ihres Erachtens niemand sie finden könnte.

Dann schrieb sie noch an Frau Kaufmann Klara Gitschiner. –

Geehrte Frau Gitschiner !

Es tut mir aufrichtig leid, daß ich heute gezwungen war, sie zu belügen –

Dann folgte die Schilderung des Hauptereignisses des Tages. Zum Schluß hieß es in dem Brief:

Ich werde mich bemühen, Ihnen den Verlust zu ersetzen. Ob es mir je gelingen wird, eine halbe Million zu ersparen, bezweifle ich. Immerhin soll jeder Pfennig, den ich erübrigen kann, Ihnen gehören. –

Daß ich den Schmuck nicht etwa gestohlen habe, wird Ihnen der Juwelier Makuse wohl bestätigen, der mir meine Verstörtheit beim Anblick des leeren Handtäschchens angemerkt hat. –

Sie im Vertrauen auf vielleicht auch bei Ihnen vorhandene Großmut zu bitten, mich nicht als Diebin verfolgen zu lassen, verbietet mir ein Rest von Stolz. –

Ich habe Ihr Haus vorhin mit einem Gefühl der Erleichterung trotz der besonderen Umstände verlassen, die die plötzliche Trennung herbeiführten. Dank schulde ich Ihnen nicht.

Ich habe mich stets bemüht, auch Ihnen Lehrerin auf dem Gebiet zu sein, das ich aus natürlicher Anlage heraus am besten mit beherrsche, – nämlich mich so zu benehmen, wie es der sogenannte Herzenstakt erfordert. –

Marga Seiler

Diesen Brief warf sie dann am Bahnhof Charlottenburg in den Kasten, bevor sie eine Fahrkarte 2. nach Königsberg löste. –

Sie fragte am Schalter, ob es noch Schlafwagenplätze gäbe. Die Fahrkartenverkäuferin lächelte gönnerhaft.

„Schlafwagenplätze? – Jetzt noch?!“

Da flüsterte hinter Marga eine Stimme:

„Junger Herr, ich könnt’ Ihnen noch eene besorjen –“

Marga, die sich in ihren Kostümen ganz sicher fühlte, trat mit einem einfach gekleideten Mann abseits. Sie wollte um jeden Preis sich einen Bettplatz im Schlafwagen sichern. Sie gehörte zu jenen Bedauernswerten, die auf jeder Eisenbahnfahrt die Seekrankheit in ihren unangenehmsten Erscheinungen kennen lernen. Nur lang ausgestreckt vertrug sie eine solche Reise. Sie mußte also notwendig das Geld opfern, daß der Schlafwagenkartenschieber verlangte. Viel war es ja – sehr viel. Und Marga bezahlte auch erst, als der Schieber ihr den Beweis erbracht hatte, daß er wirklich über den Bettplatz verfügen könne.

„Junger Herr,“ meinte der im übrigen ganz gemütliche Mann vertraulich, „Sie haben angenehme Reisebegleitung. Über Ihnen im Bett schläft ein sehr patenter, liebenswürdiger Herr. Ich schätze so etwa auf früheren Leutnant. Aber keiner mit dem Näselton. Nee – so einer von der anderen Sorte. – Na – jedenfalls jlückliche Reise. Ich muß zusehn, daß ich meine vier anderen Bettplätze ooch noch unterbringe. Da muß man sehr auf ‛n Posten sind. Wat jlauben Sie woll, wat ick for die Dinger anlejen muß! Frische Butter zu besorjen, det is ‛n Dreck jejen Schlafwagenplätze. Vier Beamte muß ich erst satt futtern, bevor ick wat dran vadienen kann. – Na – also nochmals, – jlückliche Reise!“

Marga war doch etwas rot geworden, als der Oberschieber, der ein ganz Gerissener sein mußte, von dem Reisegefährten über ihr im Bett sprach. –

Na – Angst hatte sie nicht! Ihr sah niemand die verkleidete junge Dame an. Niemand! Dazu war sie viel zu sicher im Auftreten und viel zu jünglingsmäßig schwach gewölbt in der Brustgegend.

 

 

3. Kapitel

Der Verdienst und der Zigarrenladen.

Pusselchen hatte wundervoll rotblond gefärbtes Haar, war jetzt zwanzig Jahre alt, raffiniert wie vierzig und alles in allem ein ganz nettes Mädel, das einem so anspruchslosen Menschen wie Mäxchen Gitschiner unschwer einen neuen illegitimen Liebesfrühling vortäuschen konnte.

Maximilian, der fette Aal, war nämlich wirklich anspruchslos. Das lag an seinem Exterieur. Er wußte, daß er mit einem Adonis auch nicht die entfernteste Ähnlichkeit hatte. Seine Versuche, sich nach Zusammenschiebung der ersten Million so ein süßes, jungfräuliches Mäuschen zuzulegen, waren sämtlich an seinem Gesicht alias ‚Ponim‛ gescheitert. Die Anwärterinnen für diese Vertrauensstellung hatten stets nach der dritten Flasche Sekt erklärt:

‚Ne, du, – laß man. Was nich jeht, das jeht nich. Ich könnte mich zu schwer an deine charakteristischen Züge gewöhnen –‛

Mäxchen nahm das nicht weiter übel.

‚Ich kriege doch eine,‛ dachte er. Und – er behielt recht. Was lange dauert, wird gut. Und Paula Bickberg, genannt Pusselchen war was Gutes. –

Maximilian übernahm sie von einem leibhaftigen Grafen, der mit in die große Adelspleite hineingezogen worden war. Wenigstens glaubte er, daß er der unmittelbare Nachfolger des Herrn Egon von Scheelbein-Bürgersdorf geworden. Er ahnte nichts von dem ‚Verbindungsmann‛, der sich zwischen den Grafen und ihn noch in Pusselchens für braunen Lappen so empfängliches Herz eingeschoben hatte. Dieses Mittelglied hieß Alwin Schmulzer, hatte in ein paar Tagen eine geradezu unheimliche Gewalt über Pusselchen erlangt und ihr dann gnädig gestattet, – ‚diesen an Herzverfettung leidenden menschlichen Pavian‛ – damit war Max Gitschiner gemeint – nach Kräften vermittels der süßen Liebe ‚auszuflohen‛, worunter gewisse weltstädtische Kreise dasselbe wie ‚ausziehen‛, ‚neppen‛ oder ‚auszunutzen‛ verstehen.

Pusselchen teilte nun also seit acht Monaten ihr einstmals jungfräuliches Herz sehr gewissenhaft zwischen dem ‚zahlende Fettherz-Pavian‛ und dem süßen wirkliche Wonnen spendenden Alwin, von dem sie längst wußte, daß er viel zu ehrlich war, um etwa Erwerbslosenunterstützung zu beziehen, und daß er sehr wacker an einer Idee arbeitete, wie er recht schnell mühelos reich werden könnte. Nebenbei beschäftigte er sich häufig nachts mit Ausflügen in die Vororte Berlins, von denen er stets mit einer wohlgefüllten, eleganten Reisetasche zurückkehrte. Seine Spezialität war Edelmetall in jeder Form. Zumeist brachte er Silberzeug mit heim. Aber der vafluchte Hehler Isaak Rosinenhering aus der Grenadierstraße zahlte für für silberne Löffel so wenig, daß die Sache kaum lohnte, zumal Alwin Schmulzers Bedürfnisse die eines vielfachen Millionärs waren: seidene Socken, seidene Nachthemden, Lackstiefel usw.

Pusselchen saß jetzt gerade ihrem süßen Alwin in dessen feudaler Junggesellenbude auf dem Schoß. Es war sieben Uhr abends.

„Also, du, – hör’ zu!“ sagte sie und lehnte ihren Kopf an seine erprobte Männerbrust. „Der Pavian fährt heute abend nach Königsberg. Das liegt da irgendwo oben bei Rußland –“

„Jeogravieh schwach,“ meinte der süße Alwin. „Es liegt in Ostpreußen an der Ostsee, die dort Haff heißt.“

„Na wenn schon!“ schnurrte Pusselchen. „Also der Pavian muß in Königsberg wieder ganz was Feines befingern wollen, du. Er meint, er wird so runde zweihundert Mille verdienen. Schecks oder sonst so unsichere Papierklamotten nimmt er nie. Er wird alles in Baribus mit zurück nach Berlin schleppen. Und da – da –“

„Hm – ich versteh’ schon,“ nickte Herr Schmulzer. „Wird jemacht! Auf der Heimreise soll der Pavian ‚erleichtert‛ werden. Bon! Ich komme also auch mit nach Ostpreußen –“

Damit war der geschäftliche Teil der Zusammenkunft erledigt.

Alwin befand sich in Geberlaune und ließ daher Pusselchen wieder mal fühlen, wie lieb er sie hatte.

„Du,“ sagte er nachher, als Pusselchen sich das Haar in Ordnung brachte und sich das glühende Gesich frisch puderte, „du, wenn wir die zweihunderttausend Märker glücklich ‚landen‛, dann heiratete ich dich regulär mit Standesamt und Trauzeugen und Ehering. So wahr ich ‛n anständiger Kerl bin. – Ich habe das Geschäft lange satt. ‛s is zu gefährlich auf die Dauer. ‛ne Weile blühte unser Weizen nach dem jroßen Kladderadatsch. Aber jetzt regt sich die Polente wieder mächtig. Und – det schlimmste: die Brieder knallen jetzt immer gleich los, wenn unsereiner nich sofort lammfromm is. – Wir werden ‛n janz ehrliches Jeschäft jründen, Pusselchen, wir beede. Zigarren und Zigaretten angroh – vastehst de! Die Ware besorgt mir der Willem, der sich nu janz auf Rauchware jeschmissen hat –“

Pusselchen war selig! Herr Gott – wär’ das schön, wenn sie wirklich ‛ne richtiggehende, getraute Ehefrau werden würde! –

Sie half mit, in Zukunftsplänen zu schwelgen, und erst um halb neun verabschiedete sie sich, um noch schnell in ihrem eigenen, von dem Fettherz-Pavian bezahlten Heim zur Reise sich umzukleiden. –

Genau zu derselben Stunde, als über Mäxchens bevorstehenden Geschäftsverdienst von Alwin Schmulzer ein wenig vorverfügt wurde, saß das Ehepaar Gitschiner nebst den beiden Liebespfändern im Speisezimmer beim ‚Souper‛ – Frau Klara sagte stets ‚Zupäh‛ – und Maximilian schwelgte wortreich in Vorfreude über den Gewinn auf dem Wagen Zucker, der glücklich wieder als harmloser ‚Kunstdünger‛ verschoben worden war.

Aber – welchen Schreck bekam er dann, als seine Frau plötzlich erklärte, sie sei doch in ihrem ganzen Leben noch niemals Schlafwagen gefahren, und daher könnte sie ja eigentlich die Reise mitmachen – und so weiter.

Mäxchen hatte sich schnell gefaßt.

„Ausgeschlossen – leider!“ sagte er bedauernden Tones. „Ich habe gerade noch den letzten Bettplatz für den Abendzug bekommen. Nein, Klara, diesmal geht das wirklich nicht. Aber wenn ich nächsten Monat nach Köln reise, wo schon zwei Waggons Kakao bereitstehen, dann –“

„Heut’ ist der ganze Tag rein behext,“ brummte Klärchen. „Das schöne Wohltätigkeitsfest muß ich schießen lassen, und –“

Mäxchen war mit seinen Gedanken bei Pusselchen gewesen, hatte nur das Wort ‚schießen‛ verstanden, war zusammengezuckt und knurrte:

„Was redest du da bloß von schießen! Du weißt, Kind, ich bin geworden nervös durch den Krieg.“

Der Diener reichte gerade den Nachtisch.

„Sehr nervös!“ betonte der fette Aal, damit der Diener auch aufmerkte. „Als wir 1917 bei Arbigieres die schweren Kämpfe hatten, da wär’ ich beinah’ in einer Nacht –“ und nun folgte eine Geschichte, die Mäxchen nie erlebt haben konnte, da er ganz – ganz hinten beim Korpskommando nur zwei Wochen als ‚k. v. für zweite Linie‛ Schreiber gewesen, bevor er endgültig in der Kriegsgesellschaft für Öle und Fette untertauchte.

Frau Klara hörte gar nicht hin. Sie konnte den ‚Quatsch‛ auswendig. Und als der Diener wieder hinaus war, unterbrach sie ihren phantasiereichen Herrn Gemahl mit der Bemerkung:

„Du, ich werd’ dich begleiten zur Bahn. Ich muß das sehen, wie du bist untergebracht in deinem Schlafwagenabteil –“

‚Gott der Gerechte!‛ dachte Mäxchen. ‚Das fehlte grad’ noch! Begleiten! Und Pusselchen und ich haben doch ein Abteil mit zwei Betten – als Ehepaar! Hat die Frau manchmal ausgefallene Ideen! Unglaublich!‛

Aber – Maximilian war schlau. Er lehnte jetzt diese Begleitung nicht etwa sofort ab, sondern meinte nur, Frau Klara dürfte den neuen Bestimmungen nach den Zug doch nicht betreten. Nur Reisende mit Fahrkarten könnten – und so weiter.

Aber – er hatte Pech. Der schlaue Max! Großes Pech! Denn ausgerechnet gestern hatte Frau Klaras Intimste, die Frau Ministerialdirektor Pinkussohn, ihr erzählt, daß sie ihren Gatten bis zur Abfahrt des Zuges in dessen Schlafwagenkabine Gesellschaft geleistet habe.

Und – auf ihre Art war Frau Klara mitunter gar nicht so sehr auf den Kopf gefallen. Sie schöpfte plötzlich Verdacht. Und deshalb traf dann Marga Seiler die ‚gnädige Frau‛ beim Packen der Krokodillederreisetasche an; deshalb tat Frau Klara so, als ob sie auf die Begleitung zum Bahnhof nunmehr verzichte. Deshalb kleidete sie sich nach Mäxchens zärtlichem Abschied schleunigst so an, daß auch er in der tiefverschleierten Dame niemals seine Frau wiedererkennen konnte.

Der Bettkarten-Oberschieber auf dem Bahnhof Charlottenburg ver–handelte gerade mit einem sehr eleganten Herren über die Hergabe eines Bettplatzes, als eine Dame, die in der Nähe gestanden und ein paar Worte der Unterredung aufgefangen hatte, hinzutrat und für denselben Bettplatz zwanzig Mark mehr bot.

Die drei setzten nun das Gespräch fort, erzielten auch eine Einigung, indem der sehr elegante Herr sich der tief verschleierten Dame als Baron von Mulzer vorstellte und auf Ehrenwort versicherte, die Gnädige könnte getrost mit ihm das noch freie Abteil mit zwei Betten benutzen; von seiner Seite hätte die Gnädige keinerlei Belästigungen zu befürchten.

So kam es, daß Frau Klara als angebliche Baronin Mulzer den D-Zug bestieg und im Schlafwagen Abteil Nr. 5 betrat. –

Nebenbei Nr. 4 war die Tür bereits zugeschoben. Dort saßen Mäxchen und Pusselchen auf dem Rand des unteren Bettes und lachten Frau Klara aus, die auf den Schwindel mit dem Zugbesteigeverbot hereingefallen war.

Und links von Nr. 5, also in Nr. 6, stellte sich gerade Guido von Scholl seinem noch recht jugendlichen Reisegefährten vor, dessen Gesicht ihm so merkwürdig bekannt vorkam.

Der schlanke Jüngling nannte sich Martin Singer, setzte sich sofort wieder auf das ihm gehörige untere Bett dicht ans Fenster, rauchte seine Zigarette weiter und las Zeitung. –

Und dann – begann die Reise für die drei in Nr. 4, 5 und 6 untergebrachten Paare, von denen zunächst nur eines sich voreinander nicht weiter scheute, es sich recht bequem zu machen. Und dieses eine Paar waren natürlich der Fettherz-Pavian und das rotblonde Pusselchen.

Das Drama näherte sich nun mit richtiger D-Zuggeschwindigkeit der oder besser den Katastrophen. Denn der hochverehrte Leser wird sich leicht selbst sagen, daß dieser Schlafwagen des Nachtzuges Berlin-Königsberg alle Vorbedingungen für mehrere unliebsame Zwischenfälle mit sich führte.

 

 

4. Kapitel

Der Student Martin und der Gutsbeamte Guido.

Guido Scholl befand sich in jener Stimmung, in der unsere Seele einem Gefäß gleicht, dessen Inhalt zunächst Heringslake war, der ein neckisch Scherz des Schicksals dann köstliche Schlagsahne hinzufügte. –

Heringslake ist nicht nur salzig, sondern als berüchtigter Duft an den Fingern beständiger als die ebenso berüchtigte Brotpreiserhöhung. –

Salz erzeugt Durst. Und Guido dürstete denn auch geradezu peinvoll danach, seinen dummen Streich von der Untergrundbahn her ungeschehen zu machen.

Die Perlenkette hatte er noch immer in der rechten Hosentasche stecken, als wäre sie ein ‚echter‛ Korallenschmuck aus Ziegellack. Und diese Perlenkette stellte sozusagen den Salzlackenduft dar, der Guido immerfort an seine erste Bravourleistung als Taschendieb erinnerte. –

In diese scheußliche Katzenjammerbedrücktheit war dann des braven, ostpreußischen Stoppelhopsers süße Schlagsahne in Gestalt der alle Zukunftssorgen beseitigenden Anstellung in Form des Rechnungsführers als neue Seelenfüllung hinzugekommen. –

Ach wie quietschvergnügt hätte Guido nun sein können, wenn die verdammte Perlenkette alias Salzlake nicht gewesen wäre! Gewiß: er wollte den Schmuck sofort der Eigentümerin zurücksenden. Aber dazu mußte er doch mal erst deren Namen kennen. Er rechnete nun mit aller Bestimmtheit darauf, die Zeitungen würden die Bestohlene schon mit erwähnen unter ‚Allerneuestes‛. Aber – das konnte noch Tage dauern, bevor er auf Hermann Wernekes Besitzung eine Zeitung zu Gesicht bekam. Und gerade weil er bis dahin die Perlen mit sich herumschleppen mußte, konnte er ja auch den verdammten ‚Moralischen‛ nicht eher loswerden.

Kurz: Als der Jüngling Martin Singer die Bekanntschaft Guidos machte, war dieser infolge des soeben beschriebenen Seelenzustandes zu allem anderen nur nicht zu einer neuen Riesendummheit alias Lumperei fähig. Nein – man hätte Guido heutige getrost mit der fleischgewordenen Frau Venus in ein dunkles Gelaß mit nur einem Bett volle zehn Stunden einsperren können, und doch wäre das nicht passiert, was dem Ritter Tannhäuser bekanntlich im Venusberg passierte und was so üble Folgen hatte, daß des edlen Ritters dürrer Stab eben zu spät wieder Frühlingstriebe zeigte. –

Nein – Guido ließ heute alles – alles kalt! Wenigstens glaubte er dies, als er vorhin im Gang des Schlafwagens im Gedränge sich an einer tiefverschleierten Dame vorbeiquetschen mußte und dabei allerlei fühlte, was sehr weich und mollige war.

Er brachte jetzt seinen Handkoffer oben im Gepäcknetz unter und trat dann wieder in den Gang hinaus. Der Zug verließ gerade den Bahnhof Friedrichstraße, und Guido nahm vom Fenster aus nochmals Abschied von seinem geliebten Berlin, das in dem Menschengewimmel der Bahnsteige sich so kennzeichnend widerspiegelte. –

Müde war er bis jetzt auch nicht die Spur. Es hatte also wenig Zweck, sich schon niederzulegen. Vielleicht konnte man mit dem jungen Reisegefährten noch etwas plaudern.

Hm – dieser Jüngling! Wo – wo nur hatte er bereits dieses Gesicht gesehen?! Es mußte bei einer keineswegs gleichgültigen Gelegenheit gewesen sein!

Aber – wo, wann? –

Nun, vielleicht fiel ihm das Richtige ein, wenn er sich mit dem jungen Menschen unterhielt.

Er schob die Kabinentür von Nr. 6 also wieder auf und fragte den Reisegefährten dann, ob dieser ihm gestatte, noch eine halbe Stunde das untere Bett als Sofa zu benutzen.

„Bitte sehr,“ war die nicht gerade unfreundliche, aber recht zurückhaltende Antwort.

Guido setzte sich. Der Jüngling studierte seine Zeitung und kümmerte sich nicht um den anderen.

‚Hm,‛ dachte Scholl, „Das scheint ja ein sehr reserviertes Herrchen zu sein! Na – mit der Zeit wird er schon auftauen.‛ –

Er steckte sich eine Zigarette an und holte gleichfalls ein Abendblatt hervor. Aber unwillkürlich musterte er doch immer wieder den jungen Herrn Singer, der ihm halb den Rücken zugekehrt hatte. Von dem Profil sah er jetzt nichts. Nur den Hinterkopf, den das Licht der Deckenlampe hell beschien.

‚Merkwürdig,‛ dachte Guido weiter, ‚das Haar hat Herr Singer sich aber von einem Oberpfuscher von Friseur schneiden lassen. Donnerwetter, das ist ja kein Treppen –, sondern schon mehr ein Terrassenschnitt!‛

Etwas wie Argwohn überkam ihn plötzlich. Ob dieser Jüngling etwa eine schlecht gearbeitete Perücke trug? Ob’s vielleicht einer jener jugendlichen Defraudanten[1] war, die jetzt leider Gottes immer zahlreicher wurden und die mit sechzehn Jahren stets schon ‚ihr Verhängnis‛ mit auf die Reise nahmen, bis dann die grausame Kriminalpolizei dem Glückstraum ein Ende bereitete?

Jedenfalls stieg Guido von Schotts Interesse für den schlanken Reisegefährten jetzt ins ungemessene, und zwar hauptsächlich deswegen, weil er in ihm so eine Art Kollegen vermutete, einen ebenfalls zum ersten Mal Gestrauchelten, wie er’s war.

„Verzeihen Sie,“ sagte er daher, indem er sich fest vornahm, den Jüngling aus seiner Reserve herauszubringen, „ich denke, wir müssen uns kennen. Ich besitze ein so vorzügliches Personengedächtnis, daß ein Irrtum ausgeschlossen ist.“ –

Der ‚Fragwürdige‛ wandte sich sehr widerstrebend seinem Kabinengenossen zu. Und Guido fuhr nun fort, wobei er absichtlich einen etwas pikanten Ton anschlug, weil er aus Erfahrung wußte, daß gerade grüne Jüngling sich durch ein zweideutiges Gespräch sehr geehrt fühlen, da sie dann glauben, von dem anderen Teil ganz für voll angesehen zu werden.

„Ja – mein Personengedächtnis ist so fabelhaft, daß ich’s mal fertig bekam, mir sechs Verhältnisse auf einem einzigen Maskenball zu ‚chartern‛, ohne die Mädels den Namen nach am nächsten Tag durcheinander zu werfen, als ich mich mit ihren in Zwischenräumen von je anderthalb Stunden verabredet hatte. Mir genügt nämlich eine Stunde, herauszubringen, ob die Fortsetzung der angeknüpften zarten Beziehung lohnend ist oder nicht. Was ich unter lohnend verstehe? Herr Singer, wird Ihnen wohl klar sein. – Hm – Sie senken ja so schämig den Kopf. Ich fürchte, ich bin da mit meinen Dekameron-Erinnerungen an einen noch unverdorbenen Zuhörer gekommen. – Entschuldigen Sie, ich will das Tönchen sofort ändern –“

*

So sagte Guido. Aber seine Gedanken waren anderer Art.

‚Donnerwetter – ich müßte ja geradezu ein patentamtlich gesiegelter Obereunuch sein, wenn ich dies – dies Odeur nicht kennen sollte, das mir da von meinem Nachbar her so diskret zuweht.

Das ist der typische Duft einer nervös erregten Frau! Ganz ohne Zweifel!

Mithin ist dieser junge Herr Singer überhaupt kein männliches Individuum, sondern an Weib, – vielleicht eine weibliche Defraudantin! Daher auch das miserabel geschnittene Haar, daher dieses Erröten und Kopfsenken, daher jetzt dieses verlegene Schweigen!

Na warte, Kindchen, dir will ich in kurzem die Maske vom Gesicht nehmen. Du sollst dich wundern. –

Jedenfalls ein recht nettes kleines Abenteuer! Denn hübsch und jung ist dieses Weib. Sehr jung sogar! Na – ihre Verlegenheit ist sicher nur Tuerei! Hochstaplerin und Damen ähnlichen Genres sind nicht gerade zart besaiteten –’ –

So dachte er. Laut aber hatte er hinzugefügt:

„Also nochmals, Herr Singer, entschuldigen Sie. Ich konnte mir nicht recht vorstellen, daß heutzutage noch ein Herr von sechzehn bis achtzehn Jahren etwa überhaupt noch rot zu werden vermag. Wirklich nicht! Übrigens – die Geschichte von dem halben Dutzend Liebschaften beim Maskenball ist glatt erfunden. Ich war nie ein Wüstling, Herr Singer. Nein, richtig geliebt habe ich noch nie. – Tatsache! Ich habe sogar eigentlich in punkto Venusdienst mich recht geschont – sehr sogar! Ich kann fast sagen, ich bin noch keusch, fast, denn ich –“

Er schwieg plötzlich. Er hatte gesehen, daß aus den Augen des angeblichen Martin Singer zwei dicke Tränen über die brennen roten Wangen gerollt waren. Und in demselben Moment hätte er sich am liebsten selbst ein paar Maulschellen zur Strafe für seine Rüdigkeit verabfolgt.

‚Pfui Deubel!‛ dachte er nun. ‚Schäm dich, Guido. Wie konntest du nur! Dieses süße Mädel da, dessen Leib vor angstvoller, schamhafter Erregung den typischen Duft immer stärker ausströmt, – dieses Mädel hast du wie eine Halbweltdame behandelt!‛

Er war wütend auf sich und gleichzeitig etwas verlegen. Die Tränen sagten ja genug. Wer bei diesem seine Redensarten die salzigen Perlen nicht zurückhalten konnte, war nie und nimmer ein ‚ausgekochtes‛ Dämchen mit allerlei Fragezeichen! Nein – nie und nimmer!

Unwillkürlich rückte er näher an das liebreizende wie mit Blut übergossene Geschöpfe heran, langte sacht nach ihren im Schoß verschlungene Händen und sagte leise:

„Verzeihen Sie mir. Ich weiß jetzt, mit wem ich es zu tun habe. – Weinen Sie nicht. Sie haben einen Mann als Reisegefährten – zu ihrem Glück! – gefunden, der jedes Weib achtet – jedes, selbst jene ganz tief Gesunkenen, die das Heiligste, die Liebe, zum Geschäft machen. Fürchten Sie nichts. Vor mir sind Sie sicher. Ich würde diese Situation nie ausnutzen. Ich gebe Ihnen zu Ihrer Beruhigung mein Wort darauf –“

Kaum hatte er dies ausgesprochen, als ihm einfiel, daß er kein Recht mehr hätte, eine derartige Beteuerungsformel anzuwenden. Er war ja jetzt – ehrlos geworden, ehrlos durch eine einzige Minute der Schwäche, ehrlos vor sich selbst.

Ein bitteres Auflachen ließ er diesem letzten Satz folgen.

„Nein – nein!“ meinte er gepreßt. „Mögen Sie auch sein, wer Sie wollen, – betrügen, täuschen will ich Sie nicht. Mein Wort darf ich nicht mehr verpfänden. Das war einmal. Jedenfalls aber: Ich bin kein Schuft, der ein schutzloses Weib nicht genau so achtet wie etwa seine eigene Mutter!“

Er drückte sanft ihre Hände, die sie ihm in ihrer völligen Verstörtheit widerstandslos überlassen hatte. „Vielleicht haben sich hier in diesem engen Gemach heute zwei Unglückliche gefunden, die im Leben gestrauchelt sind. Ich habe Ihnen vorhin meinen Namen genannt. Es ist der, den ich zu führen berechtigt bin. Den Ihrigen will ich nicht wissen. Martin nannten Sie sich. So werde ich Sie denn mit Martina anreden. – Haben Sie noch immer Angst vor mir, Martina? – Bitte, schauen Sie mich doch an. Stellen Sie sich vor, neben Ihnen säße Ihr bester Kamerad, vor dem Sie keine Geheimnisse zu haben brauchen. Sehen Sie, – ich habe gerade heute den ersten Schritt getan, der vielleicht zur Hölle hinab hätte führen können. Ich fühle das Bedürfnis, irgend jemandem zu beichten. Vielleicht geht es Ihnen ebenso. Wollen wir uns gegenseitig versprechen, ganz offen zueinander zu sein? – Oh – nicht daß ich mich in Ihr Vertrauen eindrängen will. Nein, – ich kann mir nur nicht recht denken, ein so junges, holdes Wesen wie Sie könnte wirklich so Schlimmes begangen haben, um gezwungen zu sein, in einer Verkleidung zu flüchten. Ja – ich vermute sehr stark, daß Sie sich auf der Flucht befinden. Sie haben doch fraglos Ihr Haar selbst abgeschnitten. Handelte es sich bei Ihrer Maskierung etwa nur um einen Scherz, so hätten sie ohne Zweifel Ihr Haar geschont oder doch wenigstens sachgemäß kürzen lassen. – Nein, Martina, ich fordere Ihr Vertrauen nicht. Ich bin auch nicht neugierig. Ich sehe in Ihnen lediglich eine Schicksalsgenossin, die der Zufall mir in den Weg gesandt hat – zu unserer beider Besten vielleicht –“

Er drückte wieder ihre Hände.

Und sie – ja, sie hatte längst jede Furcht vor ihm verloren. Sie fühlte, das war kein schlechter Mensch, der all dieses sprach! Das, was er sagte, kam aus einem ehrlichen Herzen. –

Und in ihrer so widerspruchsvollen Seele, in der die Reife der Daseinskämpferin neben der romantischen Sehnsucht eines halben Kindes wohnte, fanden ganz besonders Guidos letzte Worte einen starken Widerhall: Zu unserer beider besten.

Sie dachte: ‚Wie, wenn das Schicksal hier vielleicht den Mann dir zeigt, der für dich bestimmt ist, – den, auf den du längst heimlich gewartet hast?! –

Sei klug, Marga, – prüfe und weise jedenfalls diese seltsame Kameradschaft nicht ohne weiteres zurück. Höre erst, was er zu beichten hat –‛

Und so erwiderte sie denn, indem sie den Kopf gleichzeitig hob und Guido voll anschaute:

„Gut – es sei! Vertrauen gegen Vertrauen! Auch ich habe heute etwas getan, das auf meinem Daseinspfad wie ein Wegweiser nunmehr steht –“ –

Sie löste ihre Hände aus den seinen. Aber sie blieb dicht neben ihm sitzen.

Er stützte den linken Arm auf das erhöhte Knie der übereinandergeschlagenen Füße, legte den Kopf in die flach Hand und begann in dieser halb gebückten Stellung zu erzählen. Begann mit seiner Jugend, ging zu den Kriegsjahren über, kam schließlich auf den heutigen Tag zu sprechen. –

Schon als er den Untergrundbahnhof Wittenbergplatz erwähnte, wurde Marga stutzig.

Nun kam’s.

„– Und am Fahrkartenschalter stand vor mir in der Reihe eine junge Dame, deren geradezu klassisch schönes Profil mir sofort auffiel –“

Er stoppte. Sein Oberkörper flog plötzlich hoch. Seine Augen fraßen sich förmlich fest in ihrem Antlitz.

Dann packte er ihre Hände wieder.

„Mein Gott,“ stammelte er, „sollte es möglich sein?! Sind Sie etwa –“

Sie nickte schon.

„Ja – ich bin’s. – Aber – erzählen Sie weiter!“

Guido von Scholl stand auf. „Nein, nein!“ flüsterte er. „Es hätte keinen Zweck mehr, Ihnen – gerade Ihnen zu beichten. Sie würden ja nur zu leicht jetzt auf den Gedanken kommen, ich wollte meine Tat Ihnen gegenüber in ein milderes, versöhnlicheres Licht rücken.“

„Da kennen Sie mich nicht!“ meinte sie schnell. „Ich würde sofort merken, wenn Sie lügen. Bitte – sprechen Sie weiter –“

Er setzte sich wieder. Und nun war’s Marga, die wie eine gute Freundin ihre Linke ihm auf den Arm legte, als er betonte, daß er seine Ehre durch den Diebstahl für immer verloren habe.

„Nein,“ erklärte sie, „Sie haben ja sofort nach der Tat diese bereut. Wie sollte es wohl möglich sein, daß ein Mensch durch eine einzige Unüberlegtheit ehrlos werden könnte für alle Zeit?! – Niemals ist das der Fall. Es wäre ja eine geradezu verknöcherte Moral, die solche Dogmen aufstellen wollte! –Hören Sie mich nun an,“ fuhr sie in einem Atem fort. „Sie sind’s, dem ich jetzt endlich meine Freiheit verdanke. Wäre nicht dieses Ereignis heute eingetreten, hätte ich mich nie dazu aufgerafft, diese elenden Sklavenketten bei Gitschiners abzuschütteln – niemals! Und weiter danke ich Ihnen einen Entschluß, der längst in mir hätte ausgereift sein müssen: die Einladung meiner besten Freundin anzunehmen, die an einen sehr reichen Herrn in Ostpreußen verheiratet ist und bei der ich längst eine neue Heimat hätte finden können. – Sie sehen also: Das, was Ihnen Ihrer Ansicht nach die Ehre raube, schuf nur Gutes! –

Dann schließlich noch eins. Sie möchten die Kette gern der Eigentümerin wieder zustellen. Das können Sie ohne weiteres und sofort – sofort! – Herr Gitschiner befindet sich im Schlafwagenabteilen Nr. 4 neben uns. Sie sind mithin in der Lage, den Schmuck ganz unbemerkt zurück–zugeben –“ –

Sie sprach weiter. Und Guido hatte ihre Hände bereits wieder in den seinen. Noch dichter waren die beiden Reisegefährten aneinander gerückt; flüsterten, beratschlagten, wie’s am besten zu bewerkstelligen sei, die Kette in Maximilian Gitschiners Abteil hineinzuschmuggeln.

Marga war jetzt fest überzeugt, daß in dieser Nacht der Stern einer gütigen Vorsehung über ihr und Guido von Scholl leuchtete. Ebenso glaubte sie nun mit aller Bestimmtheit, Guido sei wirklich der Mann, den das Schicksal für sie und für ein großes, seltenes Glück bereitgehalten habe.

Und Guido selbst? –

Er spürte in seinem Herzen etwas, das er noch nie für ein Weib empfunden. Martina dünkte ihm eine Heilige, dann wieder die begehrenswerteste aller Frauen zu sein. Seit langem – seit Jahren hatte er das Gefühl nicht mehr durchkostet, daß ein Weib seiner sich in selbstloser Weise annahm und ihn mit milder Hand stützte und leitete. Er merkt: Dieses Mädchen, das so vertrauensvoll neben ihm saß und ihm die Hände wie einen treuen Bruder zu harmloser Zärtlichkeit überließ, war genau so arm und einsam wie er, – war eine Glückssucherin, die ihre reiche Seele bisher für den einen aufgespart hatte, auf den sie in gläubigem Sehnen gewartet.

So saßen sie Hand in Hand. Und das, was in ihren Herzen dann lebendig wurde, tat sich kund wie stets, wenn die Allmacht Liebe ihren Siegeszug beginnt. Heißer und heißer wurden Hände und Herzen. Wünsche keimten ganz verstohlen auf. Und immer länger wurden die beredten Pausen, die in ihren Gespräch eintraten.

 

 

5. Kapitel

Werderkirschen und Laufkundschaft.

Der geneigte Leser wird über diese Kapitelüberschrift ganz sicher gehörig mit den Ohren schlackern.

Werderkirschen und Laufkundschaft?! Deutet das etwa an, daß die Handlung in einen Obstladen verlegt wird? wird er sich fragen. –

Nur Geduld! –

Also zunächst Werderkirschen. Der Berliner weiß Bescheid. Für den Uneingeweihten bemerkte ich, daß Werder die Obstkammer Berlins ist, – nämlich ein reizende Städtchen in reizender Lage an einem großen See. –

So, das wäre erledigt. Nun Laufkundschaft. Darunter versteht man im allgemeinen Gelegenheitskäufer, im Gegensatz zu einem festen Kundenkreis. Man kann aber auch was anderes damit meinen. Und dieses ‚andere‛ habe ich hier im Sinn. Dieses Andere ergibt sich von selbst, wenn man Kirschen und etwa Bier oder ein ähnliches Getränk leichtsinnigerweise im Magen vermengt. –

So, und nun begeben wir uns nach Schlafwagenabteil Nr. 4 zu Mäxchen und Pusselchen. Ich warne jedoch zartbesaitete Moraltheoretiker vor dem Mitkommen dorthin, – denn der fette Pavian und das rotblonde Unschuldslämmlein befinden sich bereits in recht mangelhafter Kostümierung bei den Vorstadien zu dem Nachstadium, das heißt, Pusselchen sitzt in einem Taghemdchen, das eigentlich mehr aus Nichts als auf Stoff besteht, auf Mäxchens Schoß, der auch nur noch sehr schwach bekleidet ist, das heißt Mäxchen, nicht der Schoß. Aber das bleibt sich gleich, da Mäxchens Schoß von Mäxchen ja untrennbar ist.

Pusselchen futterte aus einer Riesentüte Werderkirschen, die noch etwas unreif waren, dafür aber auch als die ‚ersten Kirschen‛ nur neun Mark wo Pfund gekostet hatten. Der Pavian wieder trank Rotwein und rauchte Zigaretten, aber nur dann, wenn er gerade Zeit dazu hatte. Zumeist bewunderte er die Stoffknappheit von Pusselchens Taghemdchen und zog daraus als tüchtiger Geschäftsmann so viel Nutzen, als nur eben zu ziehen war.

Daß das rotblonde Unschuldslämmlein ebenfalls ihren Anteil an der Pulle Rotspon verlangte, ist bei der Trinkfreudigkeit dieser Damen selbstverständlich.

Pusselchen knipste die Steine der Kirschen mit großer Gewandtheit erst gegen des fetten Pavians Glatze, von wo die Geschosse, rötliche Flecken hinterlassend, abprallten und auf das obere schneeig weiße Bett flogen.

Nun aber hatte Pusselchen genug genascht, legte die Tüte beiseite und stöhnte leise:

„Du – ich hab’ wahrhaftig schon Leibschmerzen –“

„Da tut Wärme gut,“ säuselte Mäxchen verliebt. „Bitte, mach’s dir nur bequem –“

Er bettete Pusselchen auf das untere Lager und notgedrungen sich selbst dazu, da ja das obere infolge der Kirschsteine nicht recht gebrauchsfähig war.

Doch: Das Nachstadium blieb aus! Denn Pusselchen schlüpfte plötzlich aus dem Bett und riß ihren seidenen Reisemantel vom Haken, zog ihn blitzschnell über und fuhr ebenso blitzschnell in die Pantöffelchen, wobei sie gar kläglich wimmerte und die linke Hand auf den Leib preßte.

„Ich bin gleich wieder da!“ rief sie dem fetten enttäuschten Pavian zu und verschwand eilends in Richtung nach jenem verschwiegenen Ort an einem Ende des Schlafwagens, wo ein schmales Schild

‚Für Frauen‛

sich über der Tür befindet.

Mäxchen sandte ihr einen langen Fluch nach, verfluchte die Werderkirschen und den Rotwein und sich selbst, der so dämlich gewesen, Pusselchen die zwei Pfund Kirschen gekauft zu haben. Er ahnte, was diese Nacht bringen würde: Laufkundschaft nach ‚Für Frauen‛, aber keine Liebesseligkeit –

*

Er lag nun auf dem einsamen Lager und schwor aus alter Gewohnheit trotz der inzwischen erfolgten Taufe bei Moses und den Propheten, nie wieder Kirschen zu spendieren, wenn –! und so weiter.

Er lag, fluchte und schwor abwechselnd.

Die Zeit verstrich. –

Maximilian Gitschiner wurde unruhig. Pusselchen war seiner Schätzung nach bereits eine halbe Stunde auf ‚Für Frauen‛. –

Reichlich lange. Ob sie etwa krank geworden, ohnmächtig oder dergleichen? Bei starken Leibschmerzen konnte sich vielleicht wirklich Bewußtseinsstörung einstellen.

Er wurde noch unruhiger, als abermals zehn Minuten verstrichen, ohne daß die Patientin zurückkehrte.

Der fette Pavian hatte nun seine Uhr in der Hand, er wollte noch drei Minuten warten.

Als diese vorüber, zog er sich ebenfalls den Mantel an und bedeckte die obere Billardkugel mit der schicken, gemusterten Reisemütze, tat die Ledermorgenschuhe über die Plattfüße und – ging ahnungslos ins Verderben.

Wir armen Menschenkinder sind hier auf Erden Spielbälle des blinden Zufalls. Wer dies bisher bestritten hat, wird in sich gehen und anderer Meinung werden, sobald er den Ausgang dieses intimen Lebensdramas kennt.

Ist es nicht zum Beispiel wirklich ein eigenartiger Zufall, daß auch Frau Klara Gitschiner für Kirschen schwärmte und sich ebenfalls mit zwei Pfund für die Reise versehen hatte!

Und – wie soll man’s anders als Zufall nennen, wenn diese Kirschen noch unreifer als die Pusselchens waren und wenn Frau Klärchen eleganter Kabinengenosse, der Herr Baron von Mulzer, gleichfalls eine Flasche Wein in der vornehmen Handtasche mit sich führte – allerdings Moselwein zum Preis von zwölf Mark, woraus jeder Kundige schon ersieht, daß dieser Wein niemals an der Mosel, sondern mehr in einer Spritfabrik das Licht der Welt erblickt haben müsse. –

*

Frau Klara fand den Baron ‚himmlisch‛. Noch nie war ihr ein Adliger begegnet, der sich so zwanglos und originell benahm und dabei doch stets in ihr die Dame respektierte.

Auch dieses Paar benutzte das untere Bett als Sofa und plauderte noch über dieses und jenes. Klärchen futterte Kirschen und nippte zuweilen an dem Pseudowein, der ihr nur deshalb ‚entzückend‛ schmeckte, weil der Herr Baron ihn aus seinem eigenen Weinkeller mitgebracht hatte, – was nicht mal so ganz gelogen war, da der ‚Surius‛ tatsächlich in einem Bouillonkeller, Schmulzers Stammkneipe, gekauft war.

Die Unterhaltung drehte sich unter anderem auch um Frau Klärchen überflüssigen Fettansatz, den der Baron allerdings durchaus angemessen fand. –

„Dürre Frauen sind mir ein Greuel,“ behauptete er. „Ein Knochengestell könnte in mir nie wärmere Gefühle auslösen. Wenn Sie jedoch, meine verehrteste gnädige Frau, ein wenig an Gewicht verlieren wollen, so gibt es eine sehr einfache Kur: Essen Sie vormittags lediglich Obst und trinken Sie dazu lauwarmes Wasser, etwa drei Glas. Das hilft prompt.“ –

Als die beiden dann ans Zubettgehen dachten, küßte der Baron Frau Gitschiner so feurig die Hand, daß der seit vielen Monaten auf Viertelration gesetzten Liebsten des fetten Pavians ganz seltsam zu Mute wurde. Hierauf schwang der zwanglose Aristokrat sich gewandt auf sein oberes Bett und klappte die Stoffblenden der Lampe herunter.

Dunkel war’s nun in dem engen Gemach, so dunkel, daß Klärchen es wagen durfte, es sich etwas bequem zu machen. Ganz ausziehen wollte sie sich nicht. Man konnte ja nie wissen! Männer sind so unberechenbar.

Immerhin legte sie das nach Maß gefertigte Korsett und verschiedenes andere ab, zog eine spitzenbesetzte Matinee über und streckte sich dann auf ihrem Lager behaglich aus.

Sie fand Schlafwagenfahren geradezu überirdisch schön, zumal in solcher Begleitung. Nun lag sie da und ließ ihre Gedanken hin und her eilen. Aber – immer wieder mußte sie an die Handküsse des Barons und dessen unheimlich flackernde Augen denken.

Hm – eigentlich war er doch für einen Mann etwas zu – schüchtern! Und – eigentlich war’s für eine Frau beinahe verletzend, wenn so ein Mann eine solche Gelegenheit auch nicht im geringsten auszunutzen suchte – wirklich beinahe demütigend.

Ob sie, Klara Gitschiner, geborene Schleimitzer – denn so gar nichts Verführerisches an sich hatte?! Freilich – nach Maximilians ehelicher Genügsamkeit zu urteilen, konnte sie kaum mehr sehr reizvoll sein. Aber in diesem Punkte war Max nicht maßgebend. Ehemänner ahnen meist nicht, welche Perle sie besitzen.

Und – so waren Klärchens Gedanken plötzlich bei Maximilian und den Perlen angelangt. –

Wo er wohl steckte, dieser elende Schwindler? In diesem Schlafwagen ja fraglos! Aber – die Kabinennummer kannte Frau Klara nicht. Sie hatte sich doch gehütet, sich von ihm sehen zu lassen, war recht spät in ihre Kabine geschlüpft. –

Ja – wo mochte er sich nun wohl finden? Und – ob er allein reiste? –

Klärchen bezweifelte dies sehr, sehr stark. Nun – morgen vormittag vor der Einfahrt in Königsberg wollte sie im Gang Posten stehen und genau aufpassen, wie die Dinge hier –

Und da ward ihre Gedankenreihe plötzlich durch ein furchtbars Stechen in den Eingeweiden jäh unterbrochen. Das Bauchgrimmen nahm zu. Frau Klara stöhnte leise. Noch nie hatte sie derartige Schmerzen durchgemacht. Denn ihre beiden Sprößlinge hatten in der Narkose das Licht der Welt erblickt, – das heißt, die Mutter war, weil Gitschiners sich’s damals schon leisten konnten, chloroformiert worden, um das Wort Jehovas ‚mit Schmerzen sollst du Kinder gebären!‛ illusorisch zu machen.

Klärchen glaubte, ihre letzte Stunde sei gekommen. Sie stöhnte noch lauter.

Dann meldete sich auch schon der Baron von oben:

„Ist Ihnen nicht gut, gnädige Frau?“

„Nein. Oh Gott – ich sterbe –“

„Gestatten Sie, daß ich Ihnen beistehe?“

„Ja – ja –“

Dann saß er auf dem Bettrand und flößte ihr, jetzt bei nur halb verhüllter Lampe, aus seiner Reiseflasche Kognak ein.

Ihr wurde besser. Und – ihm wurde weniger gut! Denn er war, was Gerüche anbetraf, sehr empfindlich. Und Frau Klaras Körperausdünstung bewies aufs eindringlichste, daß ihre Ahnen einst in Jerusalem oder da herum heimisch gewesen und zu den Orientalen gehörten, die bekanntlich zumeist für den reinrassigen Europäer weniger scharf duften dürften.

Ach – Frau Klara ging’s sogar bald zu gut. –

Sie tat nur noch so, als ob der Bauch selbst dem besänftigenden Einfluß des Kognaks trotzte.

Aber leider – leider: Der Baron schien nichts davon zu wissen, daß leichte Massage in solchen Fällen wunderbar hilft. Überhaupt: Er hätte getrost etwas kecker sein können!

Klärchen begann jetzt ein gefährliches Spiel. Der zwanglose Aristokrat merkte, was die Glocke hier schlagen wollte.

Gott – er war kein Unmensch! –

Aber – zunächst mußte der Körperodeur durch Kunstodeur betäubt werden. –

So nahm er denn seinen Zerstäuber aus der Reisetasche und hüllte Klärchen in förmliche Wolken eines süß duftenden Sprühregens.

Dann – dann wollte er die Vorstadien beginnen lassen. Aber – inzwischen hatten die Kirschen und der ‚Suriu‛, den Krieg über den Kognak davongetragen und wirkten abermals wie ein die Eingeweide zerfleischendes Gift. Gerade als der feudale Baron sich über Klärchen beugte und deren etwas wulstigen üppige Lippen sengend küßte, wobei er sich auf ihrem wallenden Vorgebirge abstützte, kehrte das Bauchgrimmen als warnende Stimme der Vorsehung mit aller Kraft zurück.

Frau Klara drängte den Baron gewaltsam von sich, wimmerte und – war plötzlich mit einem Satz aus dem Bett.

„Ich – ich muß – muß mal hinaus,“ stammelte sie, sich qualvoll zusammenkrümmend.

Sie raste den Gang entlang. Aber sie hatte das falsche Ende des Schlafwagens erwischt. Hier gab es nur

‚Für Männer‛.

Also wieder zurück. Und Klärchen betete still zu dem Gott ihrer Väter: ‚Laß mich noch glücklich den stillen Hafen erreichen, bevor – und so weiter.‛

Nun bog sie um die Ecke.

Da – vor der Tür ‚Für Frauen‛ stand ein Mann.

Sie prallte entsetzt zurück – und erstarrte zur Bildsäule, als sie nun eine Stimme sagen hörte:

„Pusselchen – öffne, ich bin’s, dein Mäxchen. Ich bringe Magentropfen. So öffnet doch. Du kannst doch unmöglich hier noch immer sitzen müssen. So – so viel gibt ja der Körper gar nicht her, um volle achtundvierzig Minuten ‚für Frauen‛ mit Beschlag zu belegen –“

*

Frau Klaras Eingeweide hatten sich mit einem Schlage beruhigt. Dagegen flammte nun ihr Herz in maßloser Empörung auf. Sie trat vor, packte ihren schändlichen Maximilian bei der Schulter und riß ihn zurück.

„Betrüger!“ keifte sie. „Schwindler, Heuchler, Ehebrecher, Wüstling. Ich will dich lehren, hier deinem Pusselchen Magentropfen zu reichen! Her mit den Tropfen!“

Mäxchen war förmlich vor Schreck in die Knie geknickt. Willenlos ließ er sich das Fläschchen entwinden.

„Führ mich in dein Abteil!“ befahl Klärchen nun, ohne ihn freizugeben. „Vorwärts. Ich will feststellen, ob – ob –“

Und Mäxchen gehorchte. Verloren war ja doch alles! Lügen hatten keinen Zweck. Er würde aber in Königsberg sofort ein paar Brillantohrringe kaufen, die größten, die es gab. Das war das einzige Mittel, den ehelichen Frieden wieder herzustellen.

Frau Klara betrat dicht hinter dem teuren Gatten die Kabine Nr. 4. Dort genügte ihr ein Blick! Sie sah, daß das obere Bett nie hatte benutzt werden sollen. Es lag ja voller Kirschensteine.

Aber – ein zweiter Blick hatte etwas anderes erspäht, das ganz offen auf dem Bettvorleger ihr matt entgegenblinkte: Ihre Perlenkette!

Wie ein Stoßvogel schoß sie vorwärts, nachdem sie ihren Mäxchen rücksichtslos geschubst hatte. Nun hielt sie die Perlenkette hoch.

„Schuft – wie – wie bist du zu dem Schmuck gekommen?“ keifte sie. „Ach – ich kann mir schon denken! Dein Pusselchen soll ihn tragen, und für mich hast du vielleicht eine Imitation bestellt –“

Mäxchen machte ein Gesicht, als erblicke er den Stammvater Abraham plötzlich leibhaftig vor sich. Er brachte kein Wort heraus.

„Glotz’ mich nicht so dämlich an!“ giftete Frau Klara. „Ich lasse mich von dir scheiden! Also deswegen bin ich jetzt so eine arme, vernachlässigte Frau, weil du das, was mir gebührt, anderen –“

In diesem Augenblick meldete sich hinter dem sich ‚innig liebenden‛ Paar der Schaffner des Schlafwagens.

„Ruhe, meine Herrschaften, Ruhe in drei Deibels Namen! Det kennen sie allens morjen früh erledigen, nich jetzt!“

Klärchen wurde sehr rot, rauschte hinaus, schob die Tür zu, winkte dem Schaffner.

„Sie bekommen zwanzig Mark, wenn sie die Person, die jetzt noch immer auf ‚Für Frauen‛ sitzt, anderswo unterbringen. Das da ist nämlich mein Mann!“

Der Beamte nickte. „Wird jemacht! Jeh’n Se man jetrost wieder in die Klappe –“

Frau Klara verschwand in Nr. 5. Und der Schaffner öffnete Nr. 4 und flüsterte dem total vertatterten Maximilian zu: „Sie – ich weeß von janischt!“

Maximilian verstand den zarten Wink, opferte zwanzig Mark und war wieder allein. Bis dann Pusselchen, wie eine wandelnde Leiche anzuschaun, auftauchte und matt ins Bett kroch – ins untere. Und Mäxchen mußte nach oben, mußte dort erst die Kirschkerne aufsammeln und fluchte dann auf die Obststadt Werber wie ein Berserker, aber nur im stillen. –

*

Derweil teilte Frau Klara dem Baron die große Überraschung mit, zeigte ihm auch die Perlenkette, Wert eine halbe Million, und hatte alle – alle Liebesgedanken vergessen.

Der elegante Aristokrat riet ihr dann, von den Opiumtropfen gleich einhundertfünfzig zu nehmen.

Sie tat’s, und der Erfolg war ein bleierner Schlaf. –

Alwin Schmulzer hatte hiermit gerechnet, zog sich leise an, während Klärchen sehr unmelodisch schnarchte, klopfte dann an die Tür von Nr. 4, markierte den Schaffner und befahl durch die enge Spalte hindurch Pusselchen, sofort mit all ihren Sachen in den Gang zu kommen.

Als der Zug in Schneidemühl eingelaufen war, stiegen ein Herr und eine Dame aus, die scheinbar nicht zueinander gehörten, die dann aber doch gemeinsam in einem Mietauto sofort Schneidemühl wieder verließen und ihren Raub in Sicherheit brachten. –

*

In Nr. 6 hatte Marga vorhin in banger Erwartung am offenen Fenster gestanden und in die Nacht hinausgestarrt. Nun schwang sich Guido wieder hinein.

„Geglückt!“ lachte er froh. „Ich habe die Kette von oben durch die eine Luftklappe auf den Bettvorleger fallen lassen.“

Marga seufzte erleichtert auf.

„Oh – ich hatte solche Angst um Sie –“

Da hatte Guido schon ihre Hände genommen.

„Martina,“ flüsterte er, „liebe Martina, – vielleicht ist’s Leichtsinn. Aber: Ich liebe Sie! Martina, – Martina werden Sie mein Weib! Ich habe jetzt ja eine gesicherte Stellung!“

Sie lächelte selig. „Liebe auf den ersten Blick! Das habe ich stets mir erträumt –“

Er zog sie an sich. Und ihre Küsse waren so süß, so heiß, daß all seine guten Vorsätze schwanden.

Der Zug raste gen Osten.

Und in Kabine Nr. 6 hockte Gott Armor auf dem oberen, unbenutzten Bett und lauschte zufrieden nickend auf das zärtliche Geflüster unter ihm. –

Der fette Pavian war lange vor Königsberg fix und fertig angezogen und hatte auch bereits von dem Schaffner erfahren, daß sein Klärchen in Nr. 5 mit einem fremden Herrn zusammen gewesen.

Nun – ihm war das nur lieb! Jetzt standen ja die beiden Schuldkonten gleich! Und als Frau Klara dann im Hotel in Königsberg feststellte, daß aus ihrer Handtasche die Perlenkette verschwunden war, als Mäxchen hohngrinsen meinte: ‚Aha – der feine Herr Baron!‛ da schwieg sie tief gedemütigt. –

Gitschiners haben den Diebstahl nie zur Meldung gebracht. Das ging ja auch nicht recht. Es wären dabei eben zu viele Schlafwagengeheimnisse mit an den Tag gekommen. Ebenso wurde natürlich auch aus der Scheidung nichts, und ebenso konnte Mäxchen sich die Brillantohrringe sparen. –

Er wurde nun ein wirklich treuer, eifriger Ehemann; er hatte eingesehen, daß nur sein Klärchen sich restlos mit seinem Ponim abfand. –

Marga und Guido wurden bei Wernekes umso herzlicher aufgenommen, als Frau Werneke ja gerade Margas ‚Intimste‛ war, zu der sie hatte reisen wollen.

Sie heirateten schleunigst – allerschleunigst! Denn – es durfte ja nicht offenbar werden, daß der mit Sicherheit zu erwartende Stammhalter ebenfalls – ein Schlafwagengeheimnis war.

 

 

Fußnote:

[1] veraltet für Betrüger