von
Franz Fränkel
Verlag moderner Lektüre
G.m.b.H.
Berlin.S.O.26. Elisabethufer.44.
Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO. 26.
1. Kapitel
… in dem es noch durchaus anständig zugeht.
Unsere Geschichte spielt in jener märchenhaften Zeit, als man sich Wohnungen noch aussuchen konnte und nicht in die Wohnung ausgesucht unpassende Mitbenutzer ‚amtlich‛ hineingesetzt bekam, – als man noch bei ‚Aschinger‛–Berlin für dreißig Reichspfennige Löffelerbsen mit Speck und in der Elektrischen für zehn Reichspfennige ein Rundreisebillett durch die ganze Reichshauptstadt erhielt.
Man könnte dieses – ‚als man‛ noch ins unangemessene vermehren, so märchenhaft war’s einst in Berlin und anderswo. Man unterläßt’s aber lieber, denn der Leser will schließlich hier in bessere und nicht schlechtere Stimmung geraten. –
Versuchen wir’s, den niederdrückenden Eindruck dieser Einleitung schleunigst durch eine kurze Schilderung der Vormittagserlebnisse des hochgeborenen, achtundzwanzigjährigen Grafen Friederich von Lutz-Lecherheld zu mildern. –
Fritz von Lutz stand zehn Uhr vormittags in großer Uniform vor seinem Oberst und Regimentskommandeur.
„Herr Graf,“ sagte der Oberst mit eisiger Förmlichkeit, „Ihre Schulden übersteigen nunmehr jedes zulässige Maß. Da Sie nicht in der Lage sind, Ihre Hauptgläubiger,“ – er las die Namen von einem Zettel ab – „Veitelbaum, Wolfsbein und Isaaksohn zu befriedigen, – da Sie des wieteren auch keine reiche Partie in Aussicht haben, so sehr ich mich zu meinem Bedauern veranlaßt, Ihnen nahezulegen, sofort Ihr Abschiedsgesuch einzureichen, und Sie hiermit vom Dienst zu dispensieren. Betrachten Sie sich von diesem Augenblick an nicht mehr als Offizier. Sie haben in geradezu unverantwortlich leichtfertiger Weise die eben genannten Geschäftsleute um große Summen geschädigt, und die Folge dürfte sein, daß auch die Gerichte sich mit Ihnen nach befassen werden, weil Sie diesen Herren die Darlehen unter der Vorspiegelung entlockt haben, Sie würden sich demnächst mit einer mehrfachen Millionärin verloben. – Ich danke Ihnen, Herr Graf.“
Worauf Oberleutnant Fritz von Lutz leicht die Hacken zusammenklappte, sich verneigte, kehrtmachte und das Dienstzimmer des Kommandeurs verließ.
Im Kasernenflur stieß er auf seinen Intimus, den Leutnant Peter Erwin Müller, – ganz schlicht ‚Müller‛, nicht ‚von Müller‛. –
Dieser Peter stellte in dem feudalen Garderegiment den ‚Konzessionsbürgerlichen‛ vor, das heißt, er war ein Eindringling in den rein adligen Kreis ‚auf höheren Befehl zur Beruhigung der öffentlichen Meinung‛. Diese Eindringlinge nannte man seiner Zeit ‚Konzessionsschulze‛, und im allgemeinen waren sie nicht auf Rosen gebettet inmitten ihrer Herren gräflichen usw. Kameraden. –
Auch Peter Erwin Müller hatte zunächst sich in dem feudalen Regiment sehr als räudiges Schaf gefühlt, bis er in Lutz-Lecherheld einen Freund und Beschützer gefunden hatte.
Dieser Konzessions-Schulze namens Müller war nämlich ein ganz famoses Kerlchen mit dem Herz auf dem rechten Fleck. Er galt für fabelhaft reich, wurde auch gehörig angepumpt, – nur nicht von Fritz von Lutz! Außerdem war er so eine Art Universalgenie, bildhübsch und schlank wie eine Tanne, bartlos wie die Sitzschwielen eines Pavians und so zart ‚behäutet‛, daß viele ihn nur ‚das Milchgesicht‛ nannten. –
Peter streckte dem Freund die Hand hin. „Mensch, – so in Wichs? Warst wohl beim Oberst?“
Fritz übersah die Hand. „Herr Müller,“ sagte er sehr offiziell, „ich muß in Zukunft mir jede Vertraulichkeit von Ihrer Seite in Ihrem Interesse verbitten. Ich werde gejagt werden – wegen Schulden, und die Staatsanwaltschaft wird sich auch wohl noch mit mir befassen. Ich bin kein Verkehr mehr für Sie. Leben Sie wohl.“
„Du bist verrückt,“ erklärte Peter grob und hielt ihn am Ärmel fest. „Übergeschnappt warst du stets schon. Jetzt bist du total meschugge. Anders kann ich diese blödsinnigen Redensarten –“
Da hatte Fritz von Lutz sich schon losgerissenen und mit unendlichem Hochmut dazwischengerufen: „Unterlassen Sie diesen Ton gefälligst! Ich bedaure die Stunde, wo ich Ihnen daß ‚Du‛ anbot, daß Sie nun dazu benutzen, mir Grobheiten zu sagen. –
Ich habe die Ehre –“
Und er schritt davon.
Peter Erwin Müller schaute ihm wie versteinert nach. Dann – schüttelte er traurig lächelnd den Kopf, murmelte: „Ich weiß Bescheid, Lutzchen! Ich kenne dich und deine Sinnesart! Du willst mich los sein, weil du fürchtest, ich könnte dir meine Hilfe abermals aufdrängen. – Na – auch ich bin nicht auf den Kopf gefallen, bin der Sohn von August Müller, der das neue Patent-Klosett erfand und mal Millionen damit verdient hat, – mal früher.“
In derselben Zeit räumte Fritz von Lutz’ Bursche Emil die beiden Zimmer seines Oberleutnants auf. Dabei fand er in der Brieftasche einen eng beschriebenen Bogen.
Er war nun durchaus nicht neugierig, der brave Emil. Aber – er hatte aus anderen Gründen ein sehr reges Interesse für die Korrespondenz seines Herrn. Er las also hastig das Schreiben, das mit ‚Robert von Schlimm‛ unterzeichnet war. Ganz besonders merkte er sich folgende Sätze:
– Werde Dir nie vergessen, was Du für uns getan. Magdas Zustand ist jetzt in Davos bedeutend günstiger. Leider habe ich mich abermals dazu verführen lassen, im Glücksspiel eine Aufbesserung unserer trostlosen Lage zu versuchen. So sind denn von den letzten fünfzehntausend Mark ein großer Teil dieser unseligen Leidenschaft wiederum geopfert wurden. Ich habe nachher heiße Reuetränen geweint. Du kannst mir das glauben, Fritz! Ich bin ja nur in Gedanken an Magda in den Klub und an den Spieltisch gegangen. Verurteile mich nicht zu hart! Und wenn irgend möglich, suche nochmals von Deinen Wucherern eine größere Summe herauszuschinden. Jetzt kommt es ja doch auf ein paar tausend Mark mehr oder weniger nicht mehr an –
Emil Knopp steckte diesen Brief nach kurzem Überlegen in die Tasche. In demselben Augenblick schlug die Flurglocke an: Lang, kurz, kurz, lang, lang.
‚Ach – das Fräulein!‛ dachte der eingeweihte Emil und ging, um zu öffnen.
Tussi Heid schlüpfte in den Flur. Sie war tief verschleiert wie immer, wenn sie ihren Fritz besuchte.
„Wann kommt ‚er‛ vom Dienst?“ fragte sie schnell. Emil merkte, wie erregt sie war. Er hörte, daß ihre Stimme zitterte, daß sie mit Tränen kämpfte.
„Wohl sehr bald, gnädiges Fräulein,“ erwiderte er traurig. „Herr Oberleutnant sind heute zum Oberst befohlen worden. Ich fürchte, die – die Geschichte ist aus.“
„Was ist aus? – So reden Sie doch, Emil!“
Er seufzte. „Nun – die Offiziersgeschichte! – Gestern abend waren sieben Herren hier. Herr Oberleutnant nannte sie ‚die Gläubigerversammlung‛. Die Namen habe ich vergessen. Aber es waren alles Blumen- und Tiernamen. Und diese – diese Halsabschneider haben gedroht, dem Oberst Meldung zu erstatten, falls –“ –
Er schwieg. Er hatte den Schritt Fritz von Lutz’ auf der Treppe erkannt.
Tussi verschwand schnell im Herrenzimmer. Emil aber öffnete die Flurtür, nahm seinem Oberleutnant Helm und Säbel ab und meldete: „Das gnädige Fräulein ist soeben gekommen und wartet im Herrenzimmer.“
‚Auch das noch!‛ dachte Fritz. ‚Und ich hätte diese Sache doch so gern schriftlich abgetan!‛
Um seinen Mund erschienen ein paar harte Falten. Und – hart mußte er ja sein! Das Schwerste kam jetzt ja.“
Tussi hatte inzwischen den leichten Seidenmantel und Hut abgelegt. Als Fritz eintrat, flog sie ihm sofort an die Brust, umklammerte ihn, begann zu weinen.
„Armer Liebling – Liebling!“ stammelte er ganz verwirrt. „Was in aller Welt ist denn vorgefallen, daß du so – so –“
Er kam nicht weiter. Sie hatte ihre Fassung schon zurückgewonnen, hatte ihre roten Lippen schnell auf die seinen gedrückt, schmiegte sich noch enger an ihn.
So standen sie eine Weile regungslos. Und in diesem keuschen Kuß das ganze Übermaß ihrer großen, heimlichen Liebe.
Dann zog er sie nach dem Klubsessel hin, nahm sie auf den Schoß, bettete ihr blondes Köpfchen an seine Brust und bat:
„Erzähle, Liebling. Was ist geschehen?“
Abermals perlten ihre Tränen. Und unter leisem Schluchzen berichtete sie, daß Hermann Pleissinger nun wirklich gestern um ihre Hand angehalten habe und daß ihre Eltern sie bestürmten, diese glänzende Partie nicht auszuschlagen. –
Fritz von Lutz’ Stirn lag in dicken Falten. Seine Augen hatten einen Ausdruck, der deutlich genug verriet, wie nahe ihm dieses Geständnis ging. Aber – er durfte ja nicht schwach sein! Genau so wie er vorhin den besten Freund abgeschüttelt hatte, ebenso mußte er auch Tussi den Abschied für ewig nach Kräften erleichtern.
„So so – Herr Pleissinger, natürlich Herr Pleissinger!“ sagte er nun leichthin. „Na, – die Entscheidung kann dir kaum schwer fallen, Kind. – Sieh mal, wir wollen hier als ganz verständige Menschen miteinander reden. – Als ich dich vor acht Wochen im Admiralspalast auf dem Eisfest kennen lernte, als dann vierzehn Tage später bei dem Ausflug zu zweien nach Werder das Herz mit mir durchging und ich dir meine Liebe gestand, da – da wußten wir beide, daß diese Liebe gänzlich aussichtslos war. Du aber wußtest von mir Verschiedenes damals nicht und weißt es heute ebensowenig. Kind, ich bin – leidenschaftliche Jeuratte, Spieler. Ich habe Unsummen verloren im letzten halben Jahr, insgesamt fünfundachtzigtausend Mark. Ich bin total ruiniert jetzt, werden mit schlichtem Abschied entlassen werden und kann heilfroh sein, wenn die Amanda Pikuhn – der Vater hieß noch vor vier Jahren Pinkus – mich heiratet. – Mehr noch: Ich habe dich stets so ein wenig belogen. Ich hatte den Gedanken an diese Heirat nie aufgegeben. – Mein Gott – du kannst mir das nicht verargen, Kind. Ich – ich bin seit – vorgestern mit Amanda verlobt, und die Geschichte wird übermorgen auch veröffentlicht werden –“
Tussi war mit einem Satz auf den Füßen, trat mit abwehrend vorgestreckten Händen ein paar Schritte zurück und rief leise:
„Das – das – ist nicht wahr, Fritz! Das kann nicht wahr sein! Mit dir hätte ich gern gehungert, mit dir hätte ich das Schwerste ertragen –“
Er zuckte die Achseln. „Es ist wahr, Kind – wir wollen uns hier keine Rührszene vorspielen. Die Sachlage ist eben so, daß wir beide in den sauren Apfel einer Vernunftheirat beißen müssen, weil – wir nischt haben. Und – was du da soeben von ‚Hungern‛ und ‚Schwerste ertragen‛ sagtest, – das sind Redensarten. Von Liebe allein wird man nicht satt, und –“
Tussis dunkle Augen hatten den Geliebten scharf beobachtet. Und Tussi kannte das Leben und die Menschen. Nicht umsonst hatte sie seit dem sechzehnten Jahr sich ihr Brot selbst verdient. In der Schule des Lebens war sie klug und seelenkundig geworden.
Mit schnellem Schritt war sie wieder auf ihren Fritz zugetreten.
„Schweig – schweig!“ sagte sie ernst. „Du – du lügst, Fritz! Du lügst, um – mich fortzuscheuchen! Ich lese in deinen Augen ganz anderes, als dein Mund spricht! Du bist kein Spieler. Wenn du Schulden gemacht hast, müssen dich ganz besondere Umstände dazu gezwungen haben. –
Und – verlobt willst du sein – verlobt mit dem einzigen Kind des Kommerzienrats Pikuhn, der ungezählte Millionen besitzt?! – Fritz, wenn dem so wäre, dann hätte Abraham Pikuhn ohne Zweifel deine Schulden sofort bezahlt. Was macht es ihm aus, wenn er selbst eine halbe Million für sein Kind hingibt, das er geradezu abgöttisch lieben soll! –Fritz – du lügst! Mich täuschest du nicht! Ich sehe es dir ja an den Augen an, was in dir vorgeht! Gut – du magst ruiniert sein, du magst verabschiedet werden, – aber du selbst trägst an alledem keine Schuld – niemals! – Gib mir dein Ehrenwort, daß du mit Amanda Pikuhn verlobt bist, – dann will ich’s dir glauben. – Ah – du senkst den Kopf, schweigst! – Das genügt mir.“
Sie setzte sich ihm wieder auf den Schoß, umschlang ihn.
„Fritz, ich flehe dich an! Sag’ mir in allem die Wahrheit! Was hast du mit dem Geld getan, das du dir von Wucherern liehst?– Du mußt mir die Wahrheit gestehen! Ich habe ein Recht darauf. Aus Liebe zu dir spielte ich fast leichtsinnig mit meinem guten Ruf. Ich habe dich hier so und so oft besucht. Ich habe meine Eltern belogen, habe vieles –“
Fritz von Lutz unterbrach sie mit einem harten „Nein!“, drängte sie sanft von sich, stand auf, stellte sich ans Fenster. Dort war er sicher vor ihr, denn die Fensterflügel waren halb geöffnet und drüben wohnten zwei alte Jungfern, die mit Frau Emilie Held befreundet waren.
„Nein!“ sagte er nochmals. „Ich kann auch dir gegenüber nicht offen sein. Quäle mich nicht! –
Zwischen uns muß alles vorbei sein, Tussi, – alles. – Laß mich ausreden, Kind. Von uns beiden muß ich der Vernünftigere sein. – Ich werde gejagt werden. Ich bin jetzt schon nicht mehr Offizier. Ich bin also nichts, kann nichts, weiß nichts, habe nichts gelernt; eine Anklage wegen Darlehensschwindeleien droht mir; mein Name wird entehrt werden; der letzte Graf Lutz-Lecherheld wird ins Gefängnis wandern.
Das ist meine Zukunft, Kind! Und unter diesen Umständen sollte ich noch die weitere Ehrlosigkeit begehen und dich nicht freigegeben?! Das wäre ja direkt gewissenlos von mir, zumal jetzt, wo du Gelegenheit hast, den reichen Pleissinger zu heiraten. – Nein, Tussi, – und wenn du mich kniefällig bitten würdest, ich würde mich doch von dir lossagen. – Du wirst mich vergessen, glaub’ mir. Und ich werde ebenfalls mit der Zeit über diesen Schmerz hinwegkommen. Solltest du aber etwa meinetwegen Pleissinger einen Korb geben, so – so gebe ich dir mein Wort, daß ich – mich erschießen werde. Meine Kameraden warten ja schon fraglos auf diesen Revolverschuß als die einzig standesgemäße Erledigung derartiger Widerwärtigkeiten. Doch – ich verzichte auf diese Kugel, wenn du mich eben nicht zwingst, dir die Bahn für eine sorglose Zukunft freizumachen. –
Du kennst mich, Tussi. Redensarten hasse ich. Bei mir heißt es ja oder nein, – und deshalb verlange ich jetzt von dir. Also erkläre dich: Willst du mich in den Tod treiben?“
2. Kapitel
… in dem zwei Abschied feiern.
Tussi Heid hatte sich in den Klubsessel fallen lassen, die Hände vor das Gesicht geschlagen und war in ein lautloses, aber desto heftigeres Schluchzen ausgebrochen, das ihren jungen Leib wie im Krampf hin und her schüttelte.
Aber auch jetzt gewann sie schnell die Gewalt über sich zurück. Sie trocknete die Augen; sie saß regungslos mit gesenktem Kopf da und starrte auf den Teppich, der ebenso fadenscheinig wie die gesamte Einrichtung hier fast ärmlich war. All diese Möbel stammten noch von des Oberleutnants Eltern. Nur den Klubsessel hatte er selbst vor Jahren angeschafft.
Tussi hob nun den Kopf. Ihr Entschluß war gefaßt.
„Komm’ zu mir, Fritz,“ sagte sie leise. „Komm’, ich werde nicht versuchen, dich durch Zärtlichkeiten umzustimmen –“ –
Er stellte sich neben den Sessel. Ihre Hände fanden sich. Und Tussi lehnte den Kopf an seine Hüfte, sprach weiter: „Fritz, du sollst nicht sterben. Du wirst dich wieder emporarbeiten. Du wirst vielleicht noch ganz zufrieden und glücklich werden. Und nur – weil ich dies erhoffe, gebe ich – dich frei. Sonst – sonst würde ich gemeinsam mit dir in den Tod gehen oder – dir folgen. Aber ich kenne dich eben: Du bist der Mann dazu, der Welt zu beweisen, was du leisten kannst in einem bürgerlichen Beruf. Um dich wäre es schade –“
Da beugte er sich hinab und küßte ihr die Stirn. „Ich danke dir, Liebling! Du bist tapfer, – tapfer wie ich –“
„Danke mir nicht zu früh. – Ich stelle eine Bedingung, Fritz. – Schick deinen Burschen fort – sogleich. Er darf erst um vier Uhr nachmittags zurückkehren. – Ich – ich will diese fünf Stunden dich ganz für mich alleine haben, – ganz allein will ich mit dir sein. – Und wenn diese fünf Stunden vorüber, dann – dann trennen sich unsere Wege für immer –“
Er verstand sie. Er wußte, weshalb Emil verschwinden sollte, wußte, was diese Stunden ihm geben würden; das, was er bei jedem von Tussis heimlichen Besuchen leicht hätte erobern können und was er doch ihr nie geraubt! –
Sie war ja noch rein! Sie war es geblieben, obwohl sie so manchen Abend bei ihm verlebt hatte, so manche Dämmerstunde, in der ihre Herzen geradezu geschrien hatten in sehnsüchtiger Qual nach der Liebe letzter Erfüllung.
„Tussi – Tussi!“ sagte er gepreßt. „Das – das darf nie sein – nie! Nein, Liebling, – dann würden wir uns in Sehnsucht nacheinander erst recht verzehren. Nein, – das Opfer nehme ich nicht an – niemals!“
„Gut. Dann heirate ich Pleissinger nicht; dann wird er, der meinen Vater verderben kann, meine Eltern ruinieren. Er tut es bestimmt; er liebt mich ja auf seine Weise bis zum Wahnsinn, bis zu verbrecherischer Rücksichtslosigkeit. Dann – wird man Tussi Held tot auf dem Grab des Selbstmörders Fritz von Lutz finden.
Und – all das wird geschehen, weil du – mich liebst, aber nicht auch begehrst mit jeder Faser deines Herzens.“
Minutenlang war es still in dem bescheidenen Gemach. Dann schritt Fritz von Lutz in den Flur der Zweizimmerwohnung hinaus. Gleich darauf hörte Tussi die Flurtür klappen, hörte, wie der Geliebte die Sicherheitskette vorlegte.
Als er zu ihr zurückkehrte, stand sie bereits im Schlafzimmer.
„Warte!“ rief sie ihm zu und schaute zur Seite. „Wartet fünf Minuten –“
Sie war allein. Um ihren Mund lag jetzt ein hingebungsvolles, verträumtes Lächeln. Sie schloß die Fenster, zog die dunkelblauen Vorhänge zu, ließ auch die Stabjalousien herab.
Sie stellte sich vor den Türspiegel des Kleiderschrankes und begann Stück für Stück der neidischen Hüllen zu entfernen, die ihren schlanken und doch in fraulicher Fülle prangenden Leib umschlossen. Sie wollte an nichts denken – nur an die wenigen vor ihr liegenden Stunden des Glücks. Sie war kein Weib, das dem Sinnenrausch unterlag; sie wollte eine große, heilige Erinnerung mit hinübernehmen in die dunkle Zukunft, in der es für sie keinen Sonnenstrahl mehr geben würde, – nur ein Wort, kalt, nüchtern: Pflicht, Pflicht, – die Pflicht als das Weib eines Anderen. –
3. Kapitel
… in dem der Varietéstern auftaucht.
Hermann Pleissinger, Inhaber der Juwelierfirma Ignaz Pleissinger, Berlin, Unter den Linden, stand hinter dem Verkaufstisch und legte höchst eigenhändig einem Käufer Brilliantringe zur Auswahl vor.
Pleissinger war ein schöner Mann. Ohne Frage. Dabei kein Geck. Im Gegenteil: Er war stets einfach, aber mit erlesenstem Geschmack angezogen. Er sah aus wie ein Fürst auf Freiersfüßen aus einem Moserschen Lustspiel. Diese Art Fürsten müssen ja unbedingt schneidig, hübsch, liebenswürdig und geistvoll sein. Sonst fällt so ein Lustspiel durch.
Pleissinger wußte, daß er schön war. Und Männer, die diese Überzeugung stets mit sich herumtragen, sind meist ungeheuer siegesgewiß Frauen gegenüber. Was sie für gewöhnlich trotz ihrer Schönheit zu recht unleidlichen Gesellen macht. Und auch dies traf bei Pleissinger zu. Sein Siegesbewußtsein offenbarte sich schon in seinem Gesichtsausdruck und in dem Blick seiner grauen Augen.
Der Käufer war sehr jung, mittelgroß, blond, farblos mit sehr weißer Stirn; der Anzug tadellos im Schnitt. –
Pleissinger schätzte ihn auf Offizier ein.
Man einigte sich auf einen Damenring mit Perle und zwei Brillanten für zweitausendachthundert Mark. Der Herr bezahlte und fragte, ob der Ring sofort durch einen Boten zu Fräulein Ly Winter, Lützowplatz 5, geschickt werden könne.
Hermann Pleissinger zuckte bei diesem Namen unmerklich zusammen. Er war ein großer Don Juan, aber ein schlechter Schauspieler.
„Ly Winter?“ wiederholte er, als hätte er nicht recht verstanden.
„Gewiß – der neue ‚Wintergarten‛–Star,“ nickte der Käufer gleichmütig. „Der Name kann Ihnen kaum fremd sein –“
„Allerdings nicht,“ dienerte Pleissinger. Aber er war sehr rot geworden und musterte den Sonnengebräunten mit keineswegs liebenswürdigen Blicken.
„Also dann bitte sofort den Ring dorthin – sofort. Eine Begleitkarte von mir erübrigt sich,“ meinte der Käufer kurz, faßte leicht an den weichen, schicken Filzhut und wollte das Geschäft verlassen. Doch der Juwelier hielt ihn zurück.
„Verzeihung, mein Herr,“ sagte er sehr höflich, aber etwas unsicher. „Würden Sie mir vielleicht eine kurze Unterredung unter vier Augen in meinem Privatkontor gewähren.“
„Hm – ich wüßte zwar nicht, was Sie von mir wünschen könnten,“ erwiderte der Käufer etwas von oben herab. „Aber – ich bin schließlich kein Unmensch.“
Er lächelte dabei ein wenig. Und das Lächeln hätte Pleissinger eigentlich warnen sollen.
Dann waren die beiden Herren allein im Allerheiligsten des Chefs der bekannten Firma.
Hermann Pleissinger hatte dem Herrn einen der Klubsessel angeboten. Der hatte jedoch abgelehnt. „Danke. Habe wenig Zeit. Ly Winter erwartet mich,“ hatte er erklärt. „Und solche Berühmtheiten wie die rätselhafte Gesangstänzerin darf man nie warten lassen.“
Pleissinger wurde wiederum sehr rot.
„Entschuldigen Sie, – kennen Sie die Dame näher?“ fragte er schnell.
Da lachte der Herr harmlos auf. „Ah – da fällt mir ja gerade ein! Sie sind’s ja, Herr Pleissinger, der mit drei anderen Mitgliedern des ‚Union-Klubs‛ gewettet hat, Ly Winters Persönlichkeit zu ergründen und zwar binnen acht Tagen, von vorgestern ab gerechnet. Stimmt doch, nicht wahr? – Wünsche Ihnen Hals- und Beinbruch zu dem Wagnis! Sie scheinen sehr mutig zu sein. Was bisher die findigsten Reporter unserer Zeitungen nicht fertig gebracht haben, das wollen Sie erreichen – allerhand Achtung! Tatsache! Sie imponieren mir.“
Pleissinger merkte die versteckte Ironie nicht heraus, lächelte sehr geschmeichelt und entgegnete mit dem ganzen Selbstbewußtsein des anerkannten Herzensknickers: „Ist ja doch alles nur Reklametrick, dieses Geheimnisvolle! Nur – ! –
Man weiß doch mit dergleichen Bescheid. Wette jederzeit, daß das Gerücht Unsinn ist, daß diese Ly Winter eine Dame der besten Gesellschaft sein soll. Na – ich komme schon dahinter. – Verzeihung, Sie kennen Ly Winter also näher?“
„Sogar sehr nahe,“ näselte der Herr gleichmütig. „Trotzdem bin ich aber nicht in der Lage; Ihnen irgend welche Auskunft über die Dame zu geben. –
Nicht wahr – der Ring wird nun also wohl ohne Zögern dorthin geschickt? – Habe die Ehre, Herr Pleissinger.“ –
Er verbeugte sich knapp und ging.
Pleissinger schaute ihm gedankenvoll nach. Dann leuchtete es freudig auf seinem Gesicht auf. –
„Ein glänzender Gedanke!“ murmelte er. „Wird gemacht! Herrenbesuche empfängt sie bekanntlich nicht. Mich wird sie empfangen.“ –
Ly Winter trat seit zwei Wochen im ‚Wintergarten‛ auf. Sie sang leichte Sächelchen, – witzig, aber nicht zweideutig. Dazu tanzte sie die neuesten Tänze in parodistischer Art. –
Sie war mit einem Schlage ein neuer Varietéstern geworden. Aber – wer sich eigentlich hinter dieser stets dicht verschleierten, blonden und äußersten temperamentvollen, tadellos gewachsenen und stimmlich vorzüglich begabten Ly Winter verbarg, wußte eigentlich nur der Direktor des ‚Wintergarten‛. Alles, was mit diesem reizend schelmischen, geschmeidigen und graziösen Weib zusammenhing, war und blieb geheimnisvoll. Sie wohnte Lützowplatz 5 in der Pension der Frau von Lerchner, hatte dort drei Zimmer für sich und ihre Zofe belegt und mußte auch bei der Polizei einflußreiche Gönner haben, da diese sich über sie genau so hartnäckig ausschwieg wie die sonstigen Eingeweihten.
Es war nachmittags gegen halb sechs, als der Herr, der bei Pleissinger den Ring gekauft hatte, Lützowplatz 5 mit dem Schnepper den Eingang zu den im ersten Stock gelegenen Lerchnerschen Pensionat öffnete und dann sehr leise über den dicken Läufer bis zur dritten Tür linker Hand huschte, hinter der er blitzschnell verschwand – ohne vorher anzuklopfen.
Zehn Minuten drauf läutete es an derselben Flurtür. Eines der Lerchnerschen Stubenmädchen öffnete. Draußen stand ein Geschäftsbote in einer Art Uniform. Ein auffallend hübscher Kerl war’s, und die schwarze Anna machte ihm denn auch sofort ein Paar verliebte Augen, die jeden Stein erweicht hätten, zum mindesten aber jeden nicht gerade allzu stupiden männlichen Vertreter veranlaßt hätten, Anna ein wenig in die Backen, Arme oder sonstwohin zu kneifen. Doch der Bote schien eben total stupide zu sein.
„Ich habe Fräulein Ly Winter ein Schmuckstück abzugeben,“ erklärte er sehr kühl. „Bitte melden Sie mich an. Ich bin der Geschäftsbote der Juwelierfirma Pleissinger, Unter den Linden.“
Anna war empört. Noch nie hatte ihren dunklen Augen ein Mann widerstanden, – das heißt, wenn sie mit diesen Augen jemand so anblitzte wie eben diesen hübschen Menschen.
„Warten Sie,“ sagte sie eisig. –
Sehr bald war sie wieder da.
„Fräulein Winter läßt bitten,“ erklärte sie noch eisiger. Denn sie ärgerte sich, daß der Bote von dieser wirklich angenommen wurde. War es doch der erste Mann, den Ly Winter bei sich empfing. Das wußte die schwarze Anna nur zu gut.
Dann stand der Bote – daß es Hermann Pleissinger selbst war, wird der Leser fraglos schon erraten haben – im Salon des Varietésterns sehr bescheiden neben der Tür und zitterte förmlich vor Ungeduld – bildlich gesprochen. Denn so leicht zitterte ein Mann wie Hermann Pleissinger nicht, – oh nein, – nur wenn er an Tussi Heid dachte, dann ging’s stets wie ein Vibrieren durch seine Nerven. Und – er dachte nur zu oft an sie. Auch jetzt, obwohl er doch eigentlich mehr an den geheimnisvollen Star hätte denken sollen. Aber – das war doch insofern nicht weiter verwunderlich, als Hermann Pleissinger eben hinsichtlich Ly Winter einen ganz bestimmten Argwohn hatte.
Diese Vermutung war ihm vorgestern abend gekommen, als Frau Heid ihm gesagt hatte, Tussi sei im Nollendorf-Theater, und als er dann festgestellt hatte, daß sie dort – nicht war, – eine Feststellung, die ihn übrigens nicht weiter überraschte, da er schon häufiger in letzter Zeit Tussi nachspioniert und so entdeckt hatte, wie schamlos sie die ihrigen daheim über Zweck und Ziel ihrer Ausgänge belog. –
Ja – vorgestern abend war dieser Verdacht in ihm aufgestiegen, Tussi könnte, um schnell und mühelos Geld zu verdienen, jetzt die Rolle der Ly Winter spielen. Er traute ihr das sehr wohl zu. Bei Heids war das Geld ja stets so knapp, woran sowohl Frau Emilie als auch ihr Herr Gemahl Ottomar die Schuld trug. –
Und seltsam: An demselben Abend hatte man ihn dann im Klub auf die rätselhafte Ly Winter gehetzt und ihm nahegelegt, die Schleier zu lüften, die ihre Person umgaben. Er hätte nun nicht der siegesgewisse ‚schöne Hermann‛ sein müssen, wenn er nicht sofort auch auf die Wette angebissene hätte, die die drei einzigen Zweifler an seiner Unwiderstehlichkeit ihm vorschlugen. Zehntausend Mark Einsatz galt’s. Für ihn ein Nichts. An dem Geld lag ihm sehr wenig. Aber – siegen wollte er, um zu beweisen, was er alles erreichen könnte.
Und nun stand er hier als angeblicher Geschäftsbote und harrte der Dinge, die da kommen sollten. Kein Wunder, wenn er etwas erregt war! Vielleicht traf seine Vermutung zu – vielleicht! Und – entlarvte er heute hier Tussi Heid, dann – dann konnte sie ihm keinen Korb geben, – dann hatte er ja noch ein zweites Mittel in der Hand, sie zu zwingen, die seine zu werden.
Tussi Heid! –
Unwillkürlich preßte er die Lippen fester zusammen. Damals an jenem zauberhaft schönen Eisfest im Admiralspalast, der glänzendsten Wohltätigkeitsveranstaltung des verflossenen Winters, hatte er sie kennen gelernt. Und – er, er, der schöne Hermann, – er hatte es damals erleben müssen, daß dieses blonde Tippfräulein ihn glatt abfallen ließ und ihm so einen halb verkrachten Leutnant vorzog.
Mehr noch: Er hatte damals in einer Weise Feuer gefangen, wie nie zuvor. Und dieses Feuer war kein Flugfeuer gewesen – leider nein! Es war ein sehr, sehr ernster Brand geworden. –
Was hatte er, der Frauenbezwinger, seitdem alles gelitten, durchgemacht, angestellt, versucht, intrigiert und geheuchelt, nur um Tussi Heid endgültig zu erobern! Gestern hatte er sogar bei ihren Eltern um sie angehalten, obwohl sie ihn stets mit verletzender Kälte behandelt hatte. Aber gerade das hatte ihn ja so namenlos gereizt, hatte seine Liebe bis zur Tollheit aufgestachelt. Zuweilen kam er sich jetzt kaum mehr ganz zurechnungsfähig vor. –
Ah – da erschien der Varietéstern ja.
Und – wie erschien sie! –
Pleissinger traute seinen Augen nicht. Donnerwetter – das war ja ein ähnliches Kostüm wie das, in dem sie stets auf der Bühne auftrat.
4. Kapitel
… in dem noch ein Rosenstrauch eine Rolle spielt.
Ly Winters Füßchen steckten in goldenen Halbschuhen, deren hellblaue Schnürbänder sich nach oben zu in zierlich geschlungenem Muster anstelle von Stümpfchen bis weit über die Knie fortsetzen.
Das konnte man sehr genau erkennen, denn das kurze, nur aus schwarzen Spitzen bestehende lose Tanzkleid war als Schlitzrock gearbeitet und gab die Beine bei jedem Schritt völlig frei, zeigte auch die lächerlich kurzen Spitzenhöschen und gestattete, den tadellosen Wuchs dieser beiden offenbar stark rosig gepuderten Gehwerkzeuge ungehindert bewundern zu können.
Gepudert! Ganz ohne Zweifel! Die blauen Bänder ließen ja in ihrem weitmaschigen Muster übergenug von der Haut frei – übergenug! Und – der schöne Hermann wußte gepuderte und ungepflegte Frauenbeine voneinander sehr gut zu unterscheiden – auf Grund einer gewissen Sachkenntnis. –
Das war also Ly Winters untere Hälfte. Die obere entsprach, was Hauptfreigabe anbetraf, ersterer vollkommen. Arme, Brust und Nacken wurden durch die dünnen schwarzen Spitzen mehr ent- als verhüllt. Nur über dem Busen wölbten sich zwei aus Perlen und blitzenden Steinen zusammengesetzte runde Schilder, die durch goldene Ketten befestigt waren.
Das ganze Kostüm wirkte eigenartig, wirkte aufreizend und doch wieder dezent.
Und dann der Kopf Ly Winters! –
Na – davon war nicht viel zu sehen, denn die Rückseite verdeckte das lose blonde, leicht gewellte Haar, während das Gesicht nach Art der Mohammedanerin durch einen schwarzen Schleier bis zum Kinn verhüllt war, der nur die Augen ein wenig freiließ, aber auch nicht vollständig. Zwei Schichten des Schleierstoffs lagen auch über diesen großen, dunklen Rätselaugen und verliehen ihnen so einen ganz besonderen Reiz.
Pleissinger schaute und schaute. Und dachte: ‚Ist’s nun Tussi, ist sie’s nicht? Die Haarfarbe, Größe und wuchs stimmen. Auch die Bewegungen. –
Na – sie wird ja nun sprechen, – und dann weiß ich bestimmt Bescheid, ganz bestimmt.‛ –
Ly Winter war sehr langsam näher gekommen, machte erst ganz dicht vor ihm halt, musterte ihn von oben bis unten und zwar so durchdringend, daß es Pleissinger recht ungemütlich zumute wurde. Er errötete gegen seinen Willen. Und gerade dieses Zeichen von Verlegenheit ärgerte ihn. Er wollte die Situation mit einem Schlag klären.
Er beugte sich vor, flüsterte:
„Sie sind Tussi Heid! Versuchen Sie nicht, dies –“
Ein girrendes Lachen kam hinter dem Schleier hervor und schnitt ihm das Wort ab. Dann fragte Ly Winter in recht gezierter Sprechweise:
„Tussi Heid? Wer ist das? – Was bringen Sie? Und – wer sind Sie?“
Wieder dasselbe Lachen. Und darauf:
„Wie ich sehe, ein sehr hübscher Bursche. Ihre Firma kann stolz sein, einen solchen Adonis als Austräger zu besitzen. – Wissen Sie, was ein Adonis ist, mein Lieber?“
Gleichzeitig hatte Ly Winter des völlig Überraschten rechter Hand mit ihren beiden Händen fest gepackt und zog ihn rückwärts schreitend nach der Ottomane hin, über der sich ein Baldachin von indischen Seidenstoffen wölbte.
„Setzen Sie sich!“ sagte sie nun und deutete auf das Fußende des mit einem Eisbärenfell bedeckten Lagers, auf das sie dann selbst zwischen den zahlreichen buntgestickten Kissen des Kopfendes sich nach Art der Orientalinnen mit untergeschlagenen Beinen niederließ.
Hermann Pleissinger wurde aus alledem nicht klug. Und – er verwünschte bereits den verrückten Gedanken, hier als sein eigener Geschäftsbote eingedrungen zu sein. Vorher hatte er diesen Gedanken noch sehr genial gefunden. Jetzt verfluchte er seine Erfindungsgabe. Denn – ihm wurde plötzlich noch schwüler zumute, als die seltsame Ly Winter nun abermals das übermütig, girrende Lachen hören ließ und dieses dann in die leise geflüsterten Worte ausklang:
„Sie gefallen mir. Wenn Sie verschwiegen sind, würde ich Ihnen – manches erlauben, was ich hier entbehre –“
Sie lehnte sich weiter zurück und änderte ihre Stellung, streckte das linke Bein weit aus und zog das rechte ganz hoch.
„Ja – Sie gefallen mir,“ fuhr sie fort. „Aber – weshalb fragten Sie vorhin, ob ich Tussi – Tussi – wie war doch der Vatername?“
„Heid – Tussi Heid!“ stammelte Pleissinger und mußte ruhig dulden, daß Ly Winter mit der linken Fußspitze ihn leicht in die Hüfte stieß.
‚Ein ganz verteufelter Kobold!‛ dachte er. ‚Jedenfalls: Tussi ist’s niemals! Dies ist eine ganz Geriebene, eine siebenmal Gesiebte –!‛
„So so – also Heid – Tussi Heid! – Und weshalb glauben Sie, in mir diese Tussi wiederzuerkennen?“ sagte sie nun wieder in demselben halben Flüsterton, der ebenso geziert wie vielverheißend klang.
„Oh – das – das war nur so eine Eingebung des Augenblicks,“ stotterte der schöne Hermann. „Ich – ich begreife selbst nicht, wie – wie ich diese Freundin – Freundin meiner Schwester mit Ihnen verwechseln konnte. Nee – ich begreif’s auch nicht ein bißchen, Fräulein Winter. Entschuldigen Sie man.“ –
Er suchte jetzt seine Rolle als Geschäftsbote möglichst getreu zu spielen. „Ich sollte hier nur diesen Ring abgeben –“
Er zog das kleine Päckchen aus der Tasche. „Bitte, Fräulein Winter. Der Herr hat seinen Namen im Geschäft nicht genannt –“
Er wollte noch hinzufügen: ‚Sie dürften ihn aber wohl kennen,‛ – mußte aber auf diesen Zusatz verzichten, da Ly Winter schon wieder wie ein allerliebstes Teufelchen zu kichern begann und dann flüsterte: „Oh – was gilt mir ein Ring! – Ich habe nicht geglaubt, daß es in Berlin so hübsche Männer gibt. Wir Rheinländer sind so verwöhnt. Unser Menschenschlag ist edel-liniger in den Zügen.“
Rheinländer! –
Das wirkte wie ein Zauberwort. Pleissinger hatte bisher gefürchtet, dieser fesche ‚Wintergarten‛–Stern treibe mit ihm nur ein übermütiges Spiel. Jetzt aber kam er doch zu einer ihm weit günstigeren Überzeugung. –
Rheinländerin also! Das war schon so gut, als ob er die Wette zu ein Viertel gewonnen hatte. Das übrige wurde er auch schon erfahren, wenn er eben – recht entgegenkommend sich benahm!
Er rückte plötzlich weit näher an das übermütige, reizende Weib heran, ergriff sehr keck ihre beiden Hände, drückte diese samt den Armen fest in die Kissen und beugte sich über die dergestalt halb wehrlos Gemachte. Und – sie schien’s nicht ungern zu sehen, daß sie wehrlos war; sie hielt still, ganz still; lachte nur wieder ihr girrendes, lockendes Lachen, das wie das Kichern einer Schar von Backfischen sich anhörte, die sich über Liebe und Ehe unterhalten und sich ausmalen, wie – alles wohl sein mag.
Pleissinger beugte sich noch tiefer. Dann wollte er blitzschnell mit der Linken den Schleier entfernen, um endlich auch etwas von dem doch fraglos ebenfalls sehenswerten Antlitz dieser süßen Erzkokette erspähen zu können. Aber ebenso schnell hatte sie auch schon die freigewordene Hand über die Augen gedrückt, so daß er nur gerade die neidische Hülle bis zur halben Nase hochschieben konnte.
Dort, wo die Ottomane links neben dem breiten Fenster stand, war es so hell, daß der schöne Hermann nun einen reizenden, leuchtend roten Mund in aller Schönheit vor sich sah. Die Lippen schienen jedoch ihre Röte einem Lippenstift zu verdanken. Und um diesen üppigen, begehrlichen Mund herum lag wieder eine Schicht eines rosigen, zart duftenden Puders, – genau so stark aufgetragen, wie auch auf dem Hals, den Schultern und der Brust.
Pleissinger fühlte sich schon wieder als Sieger. –
Alte Geschichte: Welches Weib konnte ihm widerstehen?! Keine, keine, – Tussi Heid ausgenommen! –
Aber auch die würde schließlich kapitulieren müssen.
Mit schnell erwachter Gier preßte er seinen Mund auf diese leuchtend roten Lippen.
Aber – er war enttäuscht. Die Lippen waren wie tot, wie leblos. Und – so kalt, so – so ohne jede Weichheit waren sie. Noch nie hatte er im Rausch der Sinne einen Kuß geraubt, der so vollständig wie eine kühle Dusche wirkte.
Trotzdem: Er traute es sich schon zu, diesen Lippen Leben einzuhauchen. Oh – er verstand es, selbst aus einem Stein schließlich ganze Funkengarben hervorzulocken.
Da – bevor er noch zu ernsterem Angriff übergehen konnte, drängte das verführerische Weib ihn schon mit einer Kraft, die er ihr nie zugetraut hätte, von sich und war mit einem gewandten Satz auf den Füßen, huschte zur Tür des Nebenzimmers, öffnete diese und – machte eine einladende Handbewegung, wobei sie tief knixte und abermals wie ein Täubchen gurrte.
Blessinger zögerte etwas. Aber nur den Bruchteil einer Sekunde war in ihm eine warnende Stimme laut geworden. Ebenso schnell sagte er sich aber auch schon: ‚Unsinn, was sollte dir hier wohl passieren?!‛
Er trat ein. Und er sah sich nun in einem raffiniert eleganten Damenschlafgemach. Mitten im Zimmer stand ein sehr breites, französisches Bett. An der Decke brannte eine Lampe mit gelbrotem Seidenschirm. Die dunklen Fenstervorhänge waren dicht geschlossen.
Ly Winter flüsterte: „Mach es dir bequem, Liebster –“
Dann zog sie die Tür zu. –
Pleissinger war allein. Er lächelte verständnisinnig. Er kannte solche Szenen. Er würde nicht lange allein sein.
Donnerwetter – das war wirklich mal ein lohnendes Abenteuer! Diese Ly war bezaubernd! Und dieses Schlafgemach war geradezu ein Gedicht! Ein Gedicht von Liebe und Verheißungen. –
Er machte es sich bequem. Er war ja stets bis auf die seidene Unterwäsche so tipp top angezogen, daß er sich überall ohne Scheu auch – ausziehen konnte. – –
Wir müssen jetzt notwendig den Ort der Handlung nach dem Privatkontor des Inhabers des Kommissionsgeschäftes von Siegfried Rosenstrauch, Berlin, Skalitzer Straße 106, Parterre, verlegen, sehen hier etwa zwei Stunden vor den soeben geschilderten Ereignissen Herrn Rosenstrauch vor seinem Schreibtisch sitzen und hören ihn in den Hörer des Tischtelephons hinein sprechen:
„Hier Siegfried Rosenstrauch, Kommissionsgeschäft, Skalitzer Straße – ganz recht, es gibt vier Firmen des gleichen Namens. Anerkannt zuverlässig ist nur die meine. –
Mit wem hab’ ich die Ehre?
Wie? – Ah – Fräulein Ly Winter. –
Natürlich – natürlich kenne ich Sie. Ich gehöre zu Ihren glühendsten Bewunderern, Fräulein Winter –“
Er schmunzelte selbstgefällig.
Ja – der Siegfried Rosenstrauch war ein Lebemann! –
Kunststück – bei den Einnahmen! Und – hm ja – bei der Frau! Seine Rebekka wog jetzt genau zweihundertundzehn Pfund und – zerfloß förmlich, wenn sie das Korsett ablegte. Frauen von über zwei Zentner Gewicht werden anspruchslos, Rebekka verlangte nichts mehr – nichts, – nur jeden Tag drei Tafeln Schokolade und ein Pfund Konfekt. Bekam sie stets! Warum auch nicht?! Ihr Verzicht auf Süßigkeiten anderer Art war doch die tägliche Ausgabe wert.
„Herr Rosenstrauch,“ flötete Ly Winters Stimme jetzt, „Sie sind doch sozusagen der Vorstand des Gläubigervereins ‚Fritz von Lutz‛, nicht wahr?“
Siegfried stutzte. –
„Jawohl, bin ich! Übrigens ganz netter Witz, dies –‚Gläubigerverein‛ –!“
„Lutz ist ein – entfernter Verwandter von mir, Herr Rosenstrauch. Ich möchte daher mit Ihnen eine Einigung über die Tilgung dessen Wechselverbindlichkeiten herbeiführen –“
Rosenstrauch tat beinahe vor Freude einen Luftsprung. –
Gott der Gerechte, – das war ‛n Dusel! Die Winter wollte bezahlen!
„Also eine Einigung, Herr Rosenstrauch. Besuchen Sie mich doch um sechs Uhr heute. Aber recht pünktlich. Und bringen Sie die sämtlichen Wechsel mit. Die Gesamtsumme beträgt – jawohl fünfundachtzigtausend Mark!“
„Stimmt – stimmt!“ –
Daß Fritz von Lutz von diesen fünfundachtzigtausend Mark nur achtundvierzigtausend Mark in bar, den Rest aber in ‚Waren‛ erhalten hatte, brauchte Siegfried niemandem auf die Nase zu binden.
„Haben Sie schon bei der Staatsanwaltschaft Anzeige gegen Lutz erstattet?“ fragte Ly Winter wieder.
„Nichts zu machen! Denke gar nicht dran! Nur beim Regiment gestern abend. – Das mit der Staatsanwaltschaft war nur son kleiner Schreckschuß –“
„So so. – Dann also um sechs, Herr Rosenstrauch.“
„Wird mir eine Wonne sein, Fräulein Winter.“
„Wiedersehen. Schluß.“ –
Siegfried legte den Hörer auf die Stützen, lehnte sich im Schreibtischsessel zurück und überlegte.
Li Winter! Die Geheimnisvolle, die Verschleierte, die starken Festung! Ah – und er würde sie nun kennen lernen, diese keusche Susanne, die nicht mal Rosen als Geschenk annahm!
Siegfried machte spitze Lippen. – Vielleicht – vielleicht ließ sich bei diesem Besuch was anderes noch erzielen. Wer konnte wissen?! So ‛ne Künstlerinnen sind so unberechenbar! Und er, Siegfried Rosenstrauch, war doch ‛n Mann, der sich sehen lassen konnte. Manchmal hielt man ihn, da er blond war, sogar für ‛n Christen! Tatsache – war schon wiederholt vorgekommen!
Er streichelte sich das Kinn. –
Hm – rasieren lassen mußte er sich noch. Und – nach für alle Fälle konnte ein Bad und ein paar frische Strümpfe nichts schaden. Und ‛ne reine weiße Weste. –
Ja – und Rosen würde er mitnehmen, dunkelrote Rosen –
Er schmunzelte – ‚vielleicht – vielleicht, – wer konnte wissen! Beine hatte die Winter ja, Bine! Einfach ideal gebaut! Und geschmeidig war sie! – Nu, – er würd’ auch noch Konfekt spendieren, – vom teuersten. Später konnte man ja zu Brillanten übergehen – später! Zuerst mußte man vorsichtig sein.‛ –
Dann ließ er sich mit Zentrum 5978 verbinden. –
„Du Löwenstein, – halt’ dich fest! Der Lutz hat gefunden ’ne Freundin, wo for ihn bezahlt. – Löwenstein, kauf’ du nu von den anderen schleunigst die faulen Wechsel auf, daß wir beide sie haben alle in unserer Hand. Es wird werden ein gutes Geschäft. – Du weißt natürlich von nischt. Ich hab’ nich Zeit. Muß noch baden gehen. – Schluß!“
5. Kapitel
… in dem das Schlafzimmer einen zweiten Gast erhält.
Die Stutzuhr im Salon Ly Winters schlug sechs.
Und gerade im selben Moment, als der letzte Schlag verhallt war, hatte Ly Winter hinter dem liebeglühenden schönen Hermann die Schlafzimmertür zugedrückt, ganz leise den Riegel herumgedreht und auch noch den schweren Vorhang über die Tür herabfallen lassen.
Sie stand nun ein paar Sekunden regungslos und atmete tief auf.
„Den ersten hätten wir!“ flüsterte sie. „Den anderen fangen wir hoffentlich auch noch! Und der dritte wird ebenfalls nicht widerstehen können –“
Sie ging dann hinüber in das dritte Zimmer links neben dem Salon. Dort hauste ihre Zofe Putzi, eigentlich Paula, mit Vatersnamen W… –, doch nein, die Enthüllung kommt erst später.
Putzi war jedoch nicht anwesend. Ly Winter nahm nun den Gesichtsschleier ab, puderte Gesicht, Hals und Brust nochmals leicht über, beschaute sich im hohen Eckspiegel sehr genau, ordnete ihrer blonde Haarpracht noch gefälliger und kehrte in den Salon zurück, nachdem sie das Gesicht wieder verhüllt hatte.
Im Salon stand zwischen den Fenstern ein rundes Rokokotischchen mit einer bis auf den Teppich herabreichenden Decke. Zahllose Photographien waren darauf zwanglos gruppiert. Es sah ganz harmlos aus, dieses Tischchen.
Ly Winter bückte sich, hob die Tischdecke an und – schaute in das lächelnde Gesicht Putzis, die in diesem Versteck recht unbequem saß, trotzdem aber sehr heiter gestimmt zu sein schien. Auf ihrem Schoß hielt sie einen kleinen, viereckigen Kasten mit blanken Nickelbeschlägen.
„Vier Aufnahmen habe ich gemacht,“ flüsterte sie. „Sie werden genügend –“
Ly Winter kniete nieder. Und Putzi, ein reizendes, dunkelblondes Kammerkätzchen, reckte den Kopf vor und – ließ sich einen langen Kuß geben.
Da – draußen die Flurglocke!
„Rosenstrauch!“ hauchte der Varietéstern.
Und – Siegfried trat gleich darauf ein, küßte Ly Winter die schlanke, parfümduftende Hand, bekam vor Staunen ob des merkwürdigen Empfangskleides einen hochroten Kopf und stark hervortretende Glotzaugen, stotterte ein paar Begrüßungsworte hervor, überreichte Rosen und eine kostbare Bonbonniere und dachte:
‚Ich will kriegen zwei linke Füß’, wenn hier nicht ist was zu machen!‛
Die Winter schritt zur Ottomane, nahm wieder die orientalische Stellung zwischen den vielen Kissen ein und winkte Siegfried neben sich.
‚Hast de gesehn!‛ dachte Rosenstrauch. ‚Die Geschichte läßt sich gut an. Und, Beine hat sie, Bine! Wenn man nur mal das Ponim sehen könnte!‛
Er setzte sich also mit halber Linksdrehung. So hatte er Ly Winter ganz dicht vor sich. Er verschlang sie mit Blicken, – Blicken –! Seine Augen schienen Stiele zu bekommen; seine Lippen spitzten sich.
„Herr Rosenstrauch,“ flüsterte Ly Winter, „lieber Herr Rosenstrauch, haben Sie die Wechsel mit?“
„Nu – ob ich sie hab’! Nadirlich!“ Er sprach ganz heiser; er kochte innerlich; die Ottomane war wie ein feuriger Ofen –
„Lieber Herr Rosenstrauch, ich möchte Ihnen die Wechsel abkaufen,“ begann der verführerische Varietéstern wieder. „Aber, ich habe nicht so viel Geld flüssig. Wären sie mit einer Schuldurkunde zufrieden? Ich würde mich verpflichten, die Summe in einem Jahr zu bezahlen.“
Siegfrieds Gesicht änderte sich blitzschnell. Hm, die Geschichte fing an brenzlich zu riechen! Vorsicht, Rosenstrauch! Die glaubt, ‛n Dummen neben sich zu haben. Falsch spekuliert!
Ly Winter änderte die Stellung, streckte die blaubebänderten Beine lang und – legte die Füße übereinandergeschlagen Siegfried auf den Schoß.
Und Siegfried? – Oh – die Ottomane war zum Eisblock geworden! – Schuldschein –, ein Jahr, – schon faul!
„Lieber Herr Rosenstrauch, ich beziehe jetzt im ‚Wintergarten‛ all abendlich eine Gage von fünfhundert Mark und bin ab 1. Juni nach Frankfurt am Main mit derselben Gage engagiert. Meine Jahreseinnahme beträgt mithin ganz schlecht gerechnet einhundertachtzigtausend Mark. Ich lebe sehr sparsam. Ich bin also durchaus kreditwürdig.“
Siegfried sah das ein. Die Ottomane wurde wieder etwas wärmer. Er streichelte sinnend den einen Fuß der holden Nachbarin. Und er überlegte: Von dem Lutz ist vorläufig nischt so bekommen. Und die Winter is noch ‛ne ganze Weile fraglos ‛ne Attraktion. Also:
Er streichelte etwas höher, meinte:
„Nu – über ‛n Schuldschein ließ sich reden.“
„Und – was sollen die Wechsel kosten?“
„Sie wissen doch: fünfundachtzigtausend Mark und fünf Prozent Zinsen für ein Vierteljahr.“
„Gut – ich gebe fünfundsechzigtausend.“
Siegfried fuhr halb empor. „Fünfundsechzigtausend?! Wie heißt fünfundsechzigtausend?! Wollen Sie mich ruinieren?“–
Er unterließ das Streicheln.
„Die Wechsel sind ja eigentlich gar nichts wert, lieber Herr Rosenstrauch. Lutz ist heute vormittag vom Dienst bereits dispensiert worden, wird geschwenkt und kaum je zahlungsfähig werden. Sind Sie also mit sechzigtausend zufrieden?“
Siegfried erstarrte zur Bildsäule. „Fräulein Winter, sind Sie ‛n Wucherer, daß Sie mich wollen –“
Sie unterbrach ihn. Es war ihr harmloses Kichern, das doch so seltsam verwirrend wirkte.
„Wucherer runden nach oben ab, ich langsam nach unten, je länger Sie zögern,“ sagte sie dann und rutschte urplötzlich dicht neben ihn. „Ein Kavalier hätte längst Ja und Amen gesagt – längst!“ Sie lehnte sich an ihn und kniff ihm in den Arm.
„Au!“ machte er. „Sie sind mir ‛n ganz geriebenes kleines Satanchen, Fräulein Winter –“
„Vielleicht. – Also sechzigtausend zum ersten, zum zweiten. – Gleich sind’s nur noch fünfundfünfzigtausend – zum –“
„Nu – meinetwegen!“ rief er schnell. Also sechzigtausend! Schreiben Sie den Schuldschein aus.“
„Ist schon geschehen. Nur die Summe muß sich noch ausfüllen.“ –
Sie stand auf und setzte sich an den zierlichen Damenschreibtisch. –
„So – bitte!“ Sie brachte ihm das Papier. Darunter stand – alles in einer sehr energischen, steilen Schrift:
Ly Winter – Varietékünstl.
„So – nun die Wechsel her, lieber Herr Rosenstrauch,“ meinte sie und setzte sich wieder neben ihn. „Sie sind übrigens ein ganz nettes Kerlchen – wirklich.“
Ritsch – ratsch, – die Wechsel waren zerrissen.
„Ein sehr nettes Kerlchen. – Nun bin ich ihr Schuldner. Ich bin’s gern –“ Sie kicherte ihn lustig an. „Sie sollen ihre Belohnung haben, weil sie so – großmütig gewesen sind –“
Siegfried war nicht begriffsstutzig. Im Moment hatte er sie umschlungen, preßte sie an sich. Und sie legte ihren blonden Kopf so willfährig an seine weiße Weste.
Dann versuchte er dasselbe, wie’s schon Pleissinger versucht hatte, – nämlich den Schleier zu lüften. Aber auch hier kam’s nur bis zu einem Kuß.
Ly Winter schob Siegfried sehr schnell wieder von sich, sprang auf, eilte nach der Schlafzimmertür.
„Sie dürfen es sich nachher da drinnen – etwas bequem machen!“ rief sie gurrend wie ein Täubchen.
„Nachher –! Ich bin sofort wieder da –!“
Sie verschwand im Schlafzimmer.
Im dunklen Schlafzimmer! Denn der schöne Hermann hatte die Deckenbeleuchtung ausgeschaltet, bevor er in das breite französische Bett geschlüpft war. Und dann hatte er gewartet. Es hatte für ihn beinahe Weltepochen gedauert, bevor die Holde erschien.
Nun war sie da! Undeutlich sah er sie auf das Bett zuschweben. Sehnsüchtig setzte er sich aufrecht, streckte die Arme ihr entgegen.
„Mein Süßes!“ rief er mit dem ganzen Wonnelaut seiner situationserprobten Stimme.
Da – ein Eimer Wasser, eiskalt rann ihm über den Leib.
Natürlich nur wirklich –! Denn Ly, die süße Ly hatte angstvoll überhastet geflüstert:
„Geliebter, mein Freund, der Athlet aus dem Zirkus Busch, ist unerwartet gekommen. Schnell – schlüpft unter das Bett. Er bleibt nicht lange. Deine Kleider verberge ich schon. –
Schnell, nur schnell! Franz hat seinen Rhinozeroshautspazierstock mit –! Nur schnell!“
Das Rhinozeros wirkte am meisten. Der schöne Hermann hatte von der fingerdicken Haut dieser ekelhaften Viecher schon manches gehört – von ‚schlagenden‛ – Beweisen größter Dauerhaftigkeit.
Er bekam Flügel, das heißt, – wie ein verängstigter Sperling schoß er unters Bett, stieß dabei ein ganz bestimmtes, dreiviertelvolles Gefäß um, lag nun inmitten des entstandenen großen Sees auf dem Fußboden, hatte die Hände gefaltet und betete: ‚Lieber Gott, bewahre mich vor dem Busch-Athleten und dem Rhinozeros! Ich will auch ein neues Kirchenfenster stiften, ohne dabei nach dem Titel Hoflieferant zu spielen.‛
Inzwischen hatte Ly seine Kleider schnell in eine Ecke gepackt und nahm dieses Bündel mit hinüber in den Salon, wo sie es auf den Teppich warf, kicherte und zu Siegfried sagte:
„Die Wäsche muß in die Waschanstalt. – Bitte – der Weg ist frei –“
Sie öffnete die Tür wieder. Und Rosenstrauch schaute in das dunkle Paradies hinein, zauderte. Da gab ihm Ly einen Stoß. Und schon war er drinnen.
6. Kapitel
… in dem zwei Angst schwitzen.
Siegfried Rosenstrauch gehörte nicht gerade zu den Mutigen. Dafür gehörte er aber zu den überaus Mißtrauischen. Und da Mißtrauen mit Vorsicht nahe verwandt und Vorsicht wieder der bessere Teil der Tapferkeit ist, so müßte Siegfried eigentlich den Tapferen zugerechnet werden aber auch das ist nicht gut möglich, wenn man sein Benehmen in Ly Winters Schlafzimmer berücksichtigt.
Der leichte Stoß, der ihn gegen seinen Willen hinein befördert hatte, war gleichzeitig auch die Veranlassung gewesen, sein stets so reges Mißtrauen wachzurufen.
Er hörte hinter sich die Tür zuklappen, hörte aber auch, wie der Riegel vorgeschoben wurde.
Der Riegel! Er war also eingesperrt. Richtiggehend ein Gefangener! Ihm wurde sehr unbehaglich zumute. Sehr!
Er stand da, als sei er gelähmt. Nur seine Gedanken waren sehr rege. Er erinnerte sich an Morde an Geldbriefträgern und galanten Herren in Hotels, Pensionen und Absteigequartieren; erinnerte sich an die ganze Chronik der Verbrechen des letzten Jahres.
Der Schweiß trat im auf die dicke, fleischige Nase. Denn wenn andere Leute Schweißperlen auf der Stirn hatten, hatte Siegfried sie stets auf seinem Riechorgan. Das war eine seiner Eigentümlichkeiten. Die zweite hing auch mit Riechen zusammen; die Organe aber waren die Rosenstrauchschen Plattfüße.
Die dritte – Doch nein, das würde zu weit führen.
Er schwitzte also. Und er dachte: ‚Vielleicht hat der Lutz mit der Ly Winter alles verabredet. Die beiden werden dir wohl die Schuldurkunde gewaltsam wieder abknöpfen. Am besten ist, du öffnest das Fenster und rufst um Hilfe –‛
Hier wurde seine Gedankenreihe jäh durch ein Geräusch unterbrochen, das wie ein Niesen klang, – ein Niesen, das jemand dadurch unterdrücken will, daß er die Nase sich zuhält.
Siegfried nickte vor Angst in die Kniebeuge.
Himmel – es war noch jemand hier im Zimmer! Ganz ohne Zweifel –! Aber wo – wo?!
Siegfrieds Augen hatten jetzt vor Angst wieder Stiele bekommen und suchten blitzschnell das Zimmer ab. Doch bei diesem Dreivierteldunkel war ja leider so gar nichts sehen.
Er regte sich nicht. Er wagte es nicht. Nur seine Blicke schickte er hierhin und dorthin; das machte ja keinen Lärm. Und – seine Nase troff von Schweiß – troff!
Er horchte. Er hörte nur den Straßenlärm und – das Klopfen seines eigenen Herzens. –
Je länger er horchte, desto aufgeregter wurde er.
Endlich – endlich ein erlösender Einfall! Er wandte den Kopf. Dort neben dem Türrahmen war der Lichtschalter. Er streckte den Arm aus –
Und Hermann Pleissinger?
Wenn er all die Eide, die er in dieser Stunde schwor, gehalten hätte, dann wären die Weiber der ganzen Welt bis an sein Lebensende vor ihm sicher gewesen.
Daß er platt wie ein Frosch in der Nässe lag, das tat ihm zunächst wenig. Zunächst –! –
Alles ändert sich! Auch das Körperwärme erzeugende Furchtgefühl ändert seine Heizkraft, wenn die Furcht einen bestimmten Grad erreicht. Dann – kommt das Kältegefühl! Dann spürt man mit jeder Sekunde deutlicher, daß man in nassen Unterkleidern auf den Dielen – den kalten Dielen! – zum still liegen verurteilt ist! Dann beginnt der Unterkiefer zu zittern; dann will das Zähneklappern beginnen, – will! Aber man läßt’s nicht dazu kommen, wenn man es mit einem Rhinozeros und einem Busch-Athleten zu tun hat –!
Gerade als dieser Kampf gegen den schlotternden Unterkiefer anhub, – gerade da wurde der Andere sanft in das Liebesgemach befördert – der andere, Siegfried mit der weißen Weste –!
Hermann Pleissinger hörte die Tür zufallen. Und er sah noch als letztes, bevor das durch die Tür eindringende Tageslicht wieder schwand, ein paar Herrenlackschuhe und den Anfang zweier O-Beine darüber. Und diese Bestandteile eines männlichen Individuums befanden sich hier im Zimmer! Also auch das Individuum selbst; der Athlet mit dem Rhinozerosstock!
Der schöne Hermann schwor abermals, nie mehr auf Jagd zu gehen und für die holden Frauen Dauerschonzeit festzusetzen, wenn er heute hier nur lebend davonkam.
Komisch eigentlich: Der Athlet regte sich nicht! Der stand wie angeleimt auf demselben Fleck.
Was – was nur bedeutete das? –
Ob der Kerl etwa Verdacht geschöpft hatte und horchte? Ob er argwöhnte, daß jemand unter dem Bett mitten in einem Riesensee lag?
Hermann Pleissinger wurde bei diesem Gedanken ganz übel.
Dann aber – dann kam’s noch furchtbarer!
Herr im Himmel, – der See ringsum schien seiner chemischen Zusammensetzung entsprechend jetzt Ammoniak oder sonst ein die Nasenschleimhäute reizendes Gas auszuhauchen.
Dieses Kribbeln in der Nase – entsetzlich! Welche Folgen konnte es haben, wenn er niesen mußte –!
Dann – war er verloren, dann würde das Rhinozeros ihn mit dem Athletenstock verdreschen – nein, der Athlet ihn mit dem Rhinozerosstock verdreschen –!
Und – er mußte niesen, mußte! Es war nichts dagegen zu machen – gar nichts! Nur die Nase konnte er sich zuhalten. Und beten konnte er, daß unten auf die Straße gerade ein Auto recht laut hupte, damit das halberstickte Hatschi übertönt würde.
Er nieste. –
Und als diese Nasenexplosion erfolgt war, da – da wartete er darauf, daß der Athlet unter das Bett langen, ihn hervorzerren und durchbleuen würde –!
Er wartete. Aber – es geschah nichts – rein nichts! –
Da atmete er auf. Nein – der Intimus Ly Winters, dieser hier offenbar Bevorrechtigte, hatte nichts gehört.
Aber – komisch! Der regte sich noch immer nicht! War der etwa im Stehen eingeschlafen?!
Da – ein Knacks. Es wurde hell im Zimmer. Das heißt: rötlichgelbe Dämmerung trat ein!
Hermann Pleissingers Unterkiefer begann wieder zu wippen. –
Was – was würde nun folgen?!
Zunächst folgte totale Stille. Dann hatte Siegfried Rosenstrauch sich überzeugt, daß er allein in dem schicken intimen Gemach war; ganz allein. Und nun fiel ihm die bekannte Zentnerlast vom Hasenherzen; nun wurde er ruhiger; nun wurde er kritischer gegen seine eigene Memmenhaftigkeit. –
‚Blech!‛ dachte er. ‚Wo wird ein Varietéstern wie die Ly Winter Mordpläne wegen sechzigtausend Mark entwerfen. – Blödsinn ist das! Nein – sie hat ganz andere Pläne! Sie will dir eben ein süßes Stündlein gewähren – sehr einfach! Ein Segen, daß du noch gebadet und reine Socken genommen hast, Siegfried! Bad und Socken werden nicht umsonst gewesen sein! Und – da du hier auf diesem Fleck doch schließlich nicht anwachsen willst, such’ dir ‛ne Sitzgelegenheit. – Hm – die Ly Winter hat ja gesagt, du sollst ‛s dir bequem machen. Wie heißt bequem machen?! Nu – du bist doch ‛n Lebemann, Siegfried! Also: macht’s dir bequem!‛
Und er tat’s! Stock, Weste, Hose, Lackstiefel – alles legte er fein säuberlich auf dem Stuhl am Fußende des Bettes.
Ah – nun trat er mit dem einen Fuß in etwas Nasses! – Hm – da kam ja unter dem Bett ein reines Bächlein hervor! Sollte hier etwa was umgefallen sein? Es schien so! Eigentlich doch ‛ne Schweinerei, dieser Bach –!
Und Siegfried rieb sich auf dem Bettvorleger den Strumpf trocken.
Der andere aber betete wieder: ‚Ich spende noch ein Kirchenfenster, wenn dem Rhinozeros – nein dem Athleten nur nicht einfällt, nach dem umgekippten Porzellangefäß zu suchen! Denn dann erwischt er mich doch noch!‛
Nun – das Gebet wurde erhört.
Siegfried hätte wohl eigentlich mal ‚müssen‛–! Aber – dazu war er hier doch noch nicht heimisch genug! Er verkniff es sich. Und – er legte sich auf das schöne, breite Bett und – wartete geduldig.
Der Andere aber dachte: ‚Wenn ich in diesem Sumpf nach zehn Minuten liege, hole ich mir Schnupfen, Reißen, Rheumatismus, Nieren- und Bauchfellentzündung und nach andere angenehme Dinge! Ly Winter – sei verflucht! Seid verflucht, ihr Weiber insgesamt! Nur ihr seid schuld an meinem Ungemach!‛
Da –
Aber bevor dieses ‚Da‛ ergänzt wird, müssen wir erst noch in den Salon zurück.
7. Kapitel
… in dem der Patentklosett-Sohn die Hauptrolle spielt.
Inzwischen hatte sich bei Ly Winter ein neuer Gast eingefunden. Ein Herr Robert von Schlimm; ein außerordentlich eleganter Herr; nur etwas stark verlebt; so etwas Lustspielfigur von heute: Tatterich in allen Gliedern über die Maßen mit dem zugehörigen Schuß von geistvoller Verblödung.
„Gnädigste, Ihrer Depesche hätte ich auch ohne die Beigabe des Reisegeldes Folge geleistet,“ meckerte Herr von Schlimm und küßte Ly Winter abermals die Hand. „Ihr Ruhm ist ja bereits bis in unser friedliches Städtchen gedrungen – auf Ehre!“
Ly Winter deutete auf einen der Seidensessel. „Nehmen Sie Platz, Herr von Schlimm. – Sie brauchen sich nicht etwa einzubilden, daß ich Ihretwegen dieses Kostüm angelegt habe. Oh nein! Das geschah zweier anderer Gesinnungsgenossen wegen. – Was Sie hier sollen, werden Sie sehr bald erfahren. Fritz von Lutz, Ihr Schwager, – nein, Ihr Halbschwager, denn Ihre Gattin ist ja nur seine Stiefschwester – wird sich hier gleichfalls in kurzem einfinden. Er kennt mich bisher nicht. Nein – für Varietésterne schwärmt er nicht. Er liebt ein Mädchen, das seine Liebe verdient. Und er selbst verdient es ebenso, daß eine Ly Winter für ihn so etwas eintritt.“
Herr von Schlimm war unruhig geworden. „Hm – mein Schwager –! Gnädigste, hätte ich das gewußt – das er hier erscheinen wird, dann – äh – dann hätte ich mir die Reise gespart. Der Fritz – hm – hat so –“
Er schwieg.
Es hatte geklopft. Und die hübsche Putzi ließ nun – Fritz von Lutz ein, der einen bescheidenen Zivilanzug trug. Beim Anblick seines Schwagers stutzte er. Noch mehr stutzte er über Ly Winters Kostüm.
Diese deutete wortlos auf das Seidensofa.
Lutz zögerte. Aber der Varietéstern wiederholte die Handbewegung so energisch, daß er sich achselzuckend setzte.
Ly Winter schlug den Vorhang vor der Schlafzimmertür zurück, riegelte auf, öffnete, ließ die Tür offen, eilte hinein –
Siegfried richtete sich auf seinem Liebeslager etwas hoch.
Und dies ist der Moment, denn das ‚Da‛ am Schluß des vorigen Kapitels einleitete.
Ly Winter hatte mit geschicktem Griff Siegfrieds Kleider vom Stuhl aufgerafft, eilte damit zur Tür, blieb stehen, sagte nun – und wieder sprach sie in dem ihr eigenen halben Flüsterton:
„Meine Herren, bitte treten Sie nur ruhig trotz Ihres Negligés in den Salon ein, – beide Herren, sowohl der unter als der auf dem Bett. Ihre Kleider habe ich in Verwahrung. Also, Sie müssen, ob Sie wollen oder nicht. Sie finden im Salon noch ein paar Herren. Vor mir dürfen Sie getrost so erscheinen, wie Sie sind. – Herr Pleissinger, Herr Rosenstrauch, – zieren Sie sich nicht. Vorwärts!“
Pleissinger, der bereits die Anfänge von Gelenkrheumatismus zu spüren glaubte, folgte der freundlichen Einladung als erster, erwischte aber noch einen neben der Tür hängenden Bademantel aus grauem Stoff und hüllte seine feuchte Bauch- und seine trockene Rückenseite darin ein.
Hinter ihm drein schlich der total geknickte Siegfried. Und diese beiden wunderlichen Gestalten machten Lutz und Schlimm nun recht verlegene Verbeugungen, setzten sich dann auf einen Wink Ly Winters auf die Ottomane hin, brüderlich nebeneinander und – kamen sich ganz ungeheuer blamiert vor.
Der Varietéstern selbst lehnte am Schreibtisch etwa in der Mitte der beiden Gruppen.
„Meine Herren,“ begann die berühmte Ly nun, „ich muß von Ihnen ehrenwörtliche Verschwiegenheit über alles erbitten, was sich hier nun abspielen wird. Ich glaube, Sie werden ja auch in Rücksicht auf sich selbst schweigen. Diese Szene hier ist nämlich so etwas wie eine große Abrechnung.
Als Einleitung will ich nun vorausschicken, daß ich die genaue Kenntnis der Familien- und anderen Verhältnisse des Herrn von Lutz zum Teil dessen Burschen Emil Knopp verdanke, der mir helfen wollte, seinem Herrn aus den Händen von Schmarotzern, Wucherern und ähnlichen Ehrenmännern zu befreien. – Ich beginne mit Ihnen, Herr von Schlimm. Sie haben mit Wissen Ihrer Frau Herrn von Lutz vorgespielt, Ihre Frau sei schwer lungenkrank und haben ihn, den Gutmütigen, so dazu bewogen, von Wucherern Geld zu leihen, daß Sie und Ihre Gattin dann verpraßten. Schamlos belogen, betrogen und ausgesogen haben Sie beide den armen Lutz! Ich kann all das beweisen. Und Ihres und Ihrer Frau wegen muß jetzt Fitz von Lutz nun die üble Nachrede eines leichtfertigen Schuldenmachers über sich ergehen lassen. – Bitte – versuchen Sie nicht, sich zu verteidigen. Es wäre zwecklos. Sie sind ein jämmerlicher Schmarotzer, der als Betrüger – vor Gericht gehört.“
Ly Winter machte eine kleine Pause. Herr von Schlimm saß mit gesenktem Kopf und sehr blaß da. Und Fritz von Lutz murmelte nun: „Pfui Teufel – und das sind meine nächsten Verwandten!“
Dann fuhr die Varietédiva fort: „Die Herren müssen schon gestatten, daß ich’s mir etwas bequemer mache. Dieses Kostüm trage ich daheim nicht gern.“
Sie streifte die goldenen Schuhe von den Füßen; sie wickelte die blauen Bänder ab; nahm vom Schreibtischsessel etwas hoch, das – nur eine seidene, leichte Herrenunterhose sein konnte; sie zog sie über, zog weiter ein paar seidene Herrenstrümpfe an, fand auf dem Schreibtischsessel auch noch ein paar braune Herrenschnürstiefel bereitliegen, die ihr tadellos paßten – tadellos!
Nun war sie bis auf den Oberkörper Mann geworden; jedenfalls wirkten diese plötzlich derart umhüllten Beine zu dem Spitzenkleid geradezu überwältigend komisch.
Hierauf wurde Siegfried Rosenstrauch ins Gebet genommen.
„Sie haben schamlos wie alle Wucherer gehandelt,“ sagte Ly Winter kalt und verächtlich. „und Fritz von Lutz’ Notlage ausgenutzt. Er brauchte das Geld, um seine angeblich lungenkranke Stiefschwester angeblich in einen Kurort schicken zu können. Eigentlich hätten Sie und Ihre Geschäftsfreunde nicht einen Pfennig zurückerhalten sollen, aber ich will Gnade vor Recht ergehen lassen; es soll bei der Schuldurkunde bleiben.“
Wieder eine kurze Pause. Siegfried Rosenstrauch wischte sich heimlich die Schweißperlen von seinem Riechorgan. Er war heilfroh, daß er so leichten Kaufes wegkam.
„Nun zu Ihnen, Herr Pleissinger!“ begann Ly Winter wieder. „Ihr Fall liegt bekanntlich schwerer als der der Wucherergilde. – Sie haben zufällig erfahren, daß der Vater einer gewissen jungen Dame als Buchhalter Unterschlagungen begangen hat, haben dann den Fehlbetrag aus Ihrer Tasche gedeckt. Dies wäre nun sehr anständig von Ihnen gewesen, wenn Sie nicht dabei einen höchst verwerflichen Nebengedanken gehabt hätten. Sie liebten die junge Dame und wollten sie um jeden Preis für sich erringen. Daher ließen Sie sich von dem Vater ein Schriftstück geben, in dem dieser seine Verfehlungen eingestand. Dieses Schriftstück benutzten Sie nun dazu, jenes Mädchen zu einer Ehe zwingen zu wollen. So handelt nur ein – Schuft!“
Der schöne Hermann machte in seinem Bademantel jetzt noch eine kläglichere Figur, da er ganz grüngelb vor Wut geworden war und den Kopf schuldbewußt tief gesenkt hielt.
„Das Schriftstück trugen Sie stets bei sich. Ich habe mir erlaubt, es durch den heutigen, so wohl gelungenen Streich an mich zu bringen,“ sagte der Varietéstern nun. „Denn, Herr Pleissinger, – ich hatte es von vornherein darauf angelegt, daß Sie mir den Ring bringen sollten, den der Herr heute bei Ihnen gekauft hatte. Ihnen wurde dieser – Reinfall eben so mundgerecht gemacht, daß Sie ihm nicht entgehen konnten.“
Jetzt konnte Pleissinger sich doch nicht länger beherrschen. Er sprang auf, hielt den Bademantel vorn mit der Linken zu und reckte den rechten Arm drohend gegen Fritz von Lutz aus.
„Sie – Sie sind fraglos der geistige Urheber dieser infamen Erpressung!“ rief er. „Sie – und der Käufer des Ringes und Fräulein Ly Winter stecken unter einer Decke! Sie wollen Tussi mit hineinziehen in Ihren Ruin, Sie wollen –“
Das perlende Lachen Ly Winters schnitt ihm das weitere ab.
„Lieber Herr Pleissinger,“ sagte sie schnell, „wenn Sie hier den wilden Mann spielen, dann – dann erfährt ganz Berlin morgen, daß Sie dort auf der Ottomane vorhin mir gegenüber recht zärtlich gewesen sind, – mir gegenüber, Herr Plessinger, dem – geheimnisvollen Varietéstern gegenüber, dessen Geheimnis jetzt gelüftet werden soll –“
Und im Nu hatte sie das Spitzenkleid aufgehakt; es sank zu Boden. Im Nu flogen das Mieder und auch – die allerliebsten Höschen herunter; klirrend fielen die beiden runden Brustschilder auf den Teppich. Ein Griff – und die blonde Perücke folgte. Darunter kam ein ganz kurz geschorener Kopf zum Vorschein.
Und dann – nun riß Ly Winter auch den Gesichtsschleier herab.
Da fuhr Fritz von Lutz hoch. „Peter Erwin – du, du?! Er sank wieder in seine Sofaecke zurück und – lachte, lachte Tränen, krümmte sich vor Lachen, schnappte förmlich nach Luft.
Und die anderen drei Zuschauer?! Besonders der schöne Hermann und der Lebemann Siegfried?!
– Die standen oder saßen mit Gesichtern da, in denen der Ausdruck in jähem Wechsel alle Schattierungen vom blödesten Staunen bis zu maßlosem Grimm durchmachte.
„Das Geheimnis ist gelüftet!“ lachte Peter Erwin Müller, denn Lutz’ Heiterkeit wirkte ansteckend. „Die Sache ist ja so einfach, meine Herren. Im Regiment nennt man mich nur das verrückte Huhn oder – das Milchgesicht! – Schon als Student machte es mir viel Spaß, in Damenrollen mich zu betätigen. Daß ich mein Tanz- und Gesangstalent freilich mal würde dazu benutzen müssen, mich so rechtschaffen zu ernähren, – das ahnte ich nicht. Mein Vater – Müllersche Patentklosetts – hat nun vor sechs Wochen pleite gemacht und sein ganzes Vermögen verloren. Aber – deshalb ließ ich die Nase nicht hängen! Ich bin eben der Patentklosett-Sohn, wie einige ‚liebe‛ Kameraden mich heimlich tauften, – bin ein – fixer Kerl, ein heller Kopf! –
So wurde ich – Ly Winter! Diesen Namen wählte ich, weil mein süßes, kleines Mausichen, die ich nun bald heiraten werde, Lisbeth Paula Winter heißt! – und wir daher mit der Polizei bei der Anmeldung hier keine Scherereien hatten!
Und meine kleine Paula-Putzi hat sich vorhin erlaubt, von dort unter dem Tisch aus die zärtlichen Szenen zwischen Ly Winter und dem Herrn Pleissinger und Rosenstrauch zu knipsen. Und wenn diese Herren nun wagen sollten, mein Geheimnis zu verraten, so werden diese Bilder – als Ansichtskarten in den Handel kommen, und wenn Herr von Schlimm nicht den Mund hält, so zeige ich ihn bei der Staatsanwaltschaft wegen – Erpressung an, begangen an seinem Halbschwager!“
Herr Robert von Schlimm, die Lustspiel-Ruine, erhob sich. –
„Sie werden mir Genugtuung für diese – diese Beleidigungen geben, wie es sich zwischen Kavalieren geziemt,“ zischte er. „Sie werden –“
Peter Erwin Müller war schon dicht vor ihm, – jetzt mit nacktem Oberkörper – in Unterhosen, keine Spur mehr von Ly Winter, abgesehen von dem vielen Puder.
„Schweigen Sie, Sie Jämmerling!“ rief er. „Dort ist die Tür! Und sollten Sie die Unverfrorenheit wirklich besitzen, mir meine Karriere als Varietéstern zu verderben, so ist Ihnen das Gefängnis sicher. Auch Lutz wird Sie nicht schonen. Hinaus mit Ihnen. Diese Sorte von Kavalieren wie Sie gehört nicht in meinen Salon!“
Herr von Schlimm versuchte ein hochmütiges Lächeln, nahm seinen Hut und – schob ab. Als er verschwunden war, wandte der gerissener Patentklosett-Sohn sich an die beiden anderen Sünder.
„Dort nebenan liegen Ihrer Sachen. Ziehen Sie sich an und – ziehen Sie dann Leine! Wir sind fertig miteinander!“
Und – sie zogen ab, wortlos, geknickt, blamiert.
Lutz und Peter Erwin waren allein.
„Du, Lutzchen,“ sagte die männliche Ly Winter vergnügt, „hab ich das alles nicht großartig gedeichselt?! Nur schade, daß ich nicht schon früher diese drei Ehrenmänner hier kaltstellen konnte! Dann wäre der Kladderadatsch beim Oberst heute früh nicht erfolgt.“
Lutz hatte Peter Erwin beide Hände hingestreckt.
„Ich danke dir!“ – sagte er wirklich gerührt. „Jetzt weiß ich doch, daß ich mich auf zwei Menschen unbedingt verlassen kann: auf dich und Tussi!“
„Gestatten – auf vier! Du vergißt meine Putzi und deinen treuen Emil Knapp! – Übrigens, Lutzchen: auch ich habe den Abschied eingereicht! Und – morgen gehen wir beide hin und bestellen auf dem Standesamt die Aufgebote. Denn – hm ja – für Putzi und mich ist’s nämlich höchste Zeit, daß wir heiraten; es soll vorkommen, daß Nachkommen – vorkommen, – du verstehst!“
„Und ob ich verstehe! Tussi und ich haben dafür aus bestimmten Gründen volles Verständnis –!“
„So so – hm, – also auch ihr! Ich glaubte, derartiges passierte nur einer Varietédiva und ihrer Zofe.“
„Ach nee, Peter Erwin, – das passiert auch anderswo!“
„Stimmt, – wenn man Emil wegschickt!“
Und die Freunde lachten sich weiter an. –
Abends nach der Vorstellung im ‚Wintergarten‛ wurde bei Ly Winter großes Siegesfest gefeiert, bei dem Emil Knapp die erste und einzige Sektleiche war.
Das Geheimnis des Patentklosett-Sohnes kam doch sehr bald an den Tag; nur durch einen Zufall. –
Zufälle sind zum Teil sehr heimtückisch. So war es auch hier. Bei einer Vorstellung lösten sich die beiden schillernden Schilder, die mit ihrer kühnen Wölbung die männliche Flachheit schlau bis dahin verdeckt hatten. Und auf diese Weise kam dann nicht nur der völlige Mangel an weiblicher Fülle, sondern auch der echt männliche, starke Haarschmuck dieser Körperstellen zum Vorschein, worauf es im Publikum einen kleinen Aufstand gab.
Am nächsten Tag erschien in den Berliner Zeitungen eine gleichlautende Notiz des Inhalts, daß Ly Winter nunmehr zugebe, ein Mann zu sein. –
Und der Erfolg? –
Der Damenimitator Pedro Erwino wurde eine noch größere Zugnummer! –
Jetzt ist er längst glücklicher Vater und auch Patentonkel der Zwillinge des Ehepaares Lutz. Und im nächsten Monat wird er wieder Vater! Er ist eben ein Universalgenie, dieser frühere Konzessionschultze und – Varietéstern!