Nic Pratt
Amerikas Meisterdetektiv
Heft 19:
Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1922
by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Nic Pratt, Amerikas Meisterdetektiv.
Zu beziehen durch alle Buch- und Schreibwarenhandlungen, sowie vom
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 26 Elisabeth-Ufer 44.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin
1. Kapitel.
Die Geschichte des leeren Zimmers gehört zu den seltsamsten Kriminalfällen aller Zeiten. Es ist geradezu ein Wunder, daß bisher kein Romanschriftsteller sich dieses dankbaren, eigenartigen und aufregenden Stoffes bemächtigt hat. –
Im ältesten, südlichen Teil der auf einer Halbinsel liegenden Stadt Neuyork steht in der Moulberry-Straße langgestreckt ein zweistöckiges, völlig schmuckloses Haus, das im Jahre 1801 erbaut worden sein soll. Seit seiner Entstehung gehört es der Familie Brandome, eingewanderten Franzosen. Drei Jahrzehnte beherbergte es im oberen Stock eine Freimaurerloge, bis diese sich ein eigenes Heim suchte.
Der letzte Brandome, Philipp mit Vornamen, war ein Geizhals und Sonderling. Von seiner Sechszimmerwohnung im oberen Stockwerk – im ganzen enthielt das Haus zehn Wohnungen verschiedener Größe – vermietete er stets fünf Zimmer möbliert. Diese Wohnung lag auf der Ostseite des einer Kaserne gleichenden Gebäudes, in dem zumeist nur ältere Leute, bescheidene Rentner und dergleichen, hausten. Jüngere Mieter nahm Philipp Brandome nie auf. –
Im Mai des Jahres 1922 fand nun der Neuyorker Privatdetektiv Nic Pratt eines Morgens in seinem Briefkasten ein Schreiben folgenden Inhalts:
Ich rate Ihnen dringend, sich einmal für ein paar Wochen bei Mr. Brandome, Moulberry-Straße Nr. 9, einzumieten. Legen Sie am besten die Maske einer älteren, bescheidenen Dame an, was Ihnen ja keine Schwierigkeiten machen dürfte. Es geschehen dort Dinge, die das Licht des Tages scheuen. Von den letzten Mietern Brandomes sind vier spurlos verschwunden. –
Einer, der offene Augen hat
Pratt las diesen Brief beim Frühstück und warf ihn dann zusammengeknüllt in den Papierkorb, da er ihn für eine gehässige Denunziation hielt. Mit solchen Sachen gab er sich nicht ab.
Um zehn Uhr vormittags schlug dann seine Telephonglocke an.
Er meldete sich und hörte die vor Erregung zitternde Stimme einer Frau, die ihm folgendes mitteilte:
„Ich wohne in der Moulberry-Straße Nr. 51 seit vielen Jahren. Mir gegenüber liegt die sogenannte Brandome-Kaserne, das Haus Nr. 9. Es hat ein hochgelegenes Erdgeschoß, einen Oberstock und hohe Bodenräume. Solange ich denken kann, ist von einem Fenster der Ostseite dieses Hauses niemals der Vorhang zurückgezogen worden. Es ist ein von der Sonne ausgeblichener, roter, offenbar sehr dicker Vorhang. –
In der vergangenen Nacht, als es so stark regnete, stand ich gegen ein Uhr aus dem Bett auf, um in meinem Vorderzimmer das eine Fenster zu schließen. Ich schaute unwillkürlich, im Dunkeln stehend, über die Straße hinüber. Da sah ich, wie aus jenem Fenster an einem Tau eine lange Kiste auf die Straße hinabgelassen wurde. Ich konnte infolge des Regens nicht genau erkennen, um was es sich dabei handelte. Dann hörte der Regen für ein paar Sekunden auf, nun erblickte ich alles deutlicher:
Die Kiste war ein Sarg!
Unten nahmen zwei Männer ihn in Empfang und trugen ihn in ein Lastauto, das dann rasch davonfuhr. Weil von Brandomes Mietern nun in der letzten Zeit vier spurlos verschwunden sind, ging ich heute morgen zur Polizei und meldete das Beobachtete. Man lachte mich jedoch aus und schickte mich wieder nach Hause. Ich hätte geträumt, meinte der Polizeiinspektor. –
Ich bin noch ganz empört über diese Gleichgültigkeit der Beamten. Sie, Mr. Pratt, sollten diesen Fall mal untersuchen. Brandome ist in der Straße hier sehr unbeliebt. –
Mein Name ist Witwe Anna Malkroux. Mr. Patt, Sie können sich nach mir erkundigen. Ich bin überall sehr angesehen und weiß, was ich rede und tue. Wenn Sie mich besuchen wollen, Mr. Pratt, so geben Sie mir bitte die Zeit gleich an.“
„Gehört das Fenster denn zu Brandomes Wohnung?“ fragte Pratt durch den Fernsprecher.
„Das weiß ich nicht. Das Haus hat doch zwanzig Fenster nach vorn heraus.“
„Es tut mir sehr leid, Mrs. Malkroux,“ erklärte der Detektiv, „aber zur Zeit bin ich zu beschäftigt. Vielleicht komme ich später mal zu Ihnen.“
„Natürlich! Wo’s nichts zu verdienen gibt, da haben Sie auch keine Zeit! Und Sie wollen ein berühmter Detektiv sein?!“
Offenbar sehr wütend hängte die grobe Frau ab.
Pratt lächelte dazu. Mrs. Malkroux sollte mit ihm zufrieden sein. Wenn er sich auch nicht gerade viel von dem Fall Brandome, wie er ihn bereits bei sich nannte, versprach, so war es immerhin mal eine Sache, die nicht sofort mit einem Kapitalverbrechen begann, und das war schon etwas wert.
Nachdem er Frau Allison, die Haushälterin, von seinem Vorhaben unterrichtet hatte, begab er sich in das Ankleidezimmer und zog sich völlig um, war eine halbe Stunde darauf eine ältere, etwas altmodisch gekleidete Dame mit Nickelkneifer auf der etwas geröteten Nase und einer großen, natürlich künstlichen Warze am Kinn.
Da kam auch schon Frau Allison herein und rief:
„Mr. Grablay ist da! – Wieder ein Mord!“
Pratt zog die Stirn kraus. Ein Mord?! Das paßte ihm sehr wenig.
Hinter Frau Allison erschien jetzt Grablays rundes frisches Gesicht.
„Morgen, Nic! – Ah – im Kostüm. –
Hören Sie mal, da ist vor zwanzig Minuten im Fernsprechautomatenhäuschen Nr. 102 an der Ecke der Moulberry-Straße eine Tote aufgefunden worden. Man hat ihr den Schädel eingeschlagen, wahrscheinlich mit einem Hammer. Der Mord muß soeben erst ausgeführt gewesen sein, als man die Frau fand. Wer es ist, ließ sich noch nicht feststellen.“
Pratt hatte aufgehorcht. Fernsprechautomat-Moulberry-Straße. Unwillkürlich dachte er an Frau Malkroux.
„Seltsamerweise ist der Toten nichts geraubt worden,“ fuhr Grablay schon fort, „obwohl sie in ihrer Handtasche fünfhundert Dollar und eine goldene Uhr mit dicker goldener Kette und wertvolle Ringe an den Fingern trug. Also wohl ein Racheakt.“
„Hatte die Uhr ein Monogramm?“
„Ja, – A. M.“
Anna Malkroux – A. M.! Das konnte kein Zufall sein! Die Tote war sehr wahrscheinlich Frau Malkroux.
Pratt überlegte rasch. Dann sagte er:
„Lieber Stuart, ich habe leider etwas anderes vor. Ich verreise einige Zeit. Diesmal müssen Sie schon ohne mich fertig werden.“
Grablay verabschiedete sich enttäuscht.
Pratt aber verließ sein Haus in der Pearlstraße durch den zweiten geheimen Ausgang nach der Bloornstraße und schleppte seinen Koffer bis zur nächsten Droschkenhaltestelle.
Hier bestieg er einen Wagen und fuhr nach der Moulberry-Straße. In fünf Minuten war er am Ziel.
Er läutete in seiner tadellosen Frauenverkleidung an Brandomes Flurtür. Ein alter, gebückter Mann mit grauem Stoppelbart, Hakennase, schwarzen Zahnstummeln im Mund und gehüllt in einen zerrissenen Schlafrock öffnete ihm.
Pratt fragte nach einem bescheiden möblierten Zimmer, spielte die Schwerhörige, Schüchterne und wurde auch mit Brandome, der ihm schon auf den ersten Blick gründlich mißfiel, handelseinig.
Das Zimmer war erbärmlich ausgestattet und lag gleich rechts hinter der Flurtür, hatte zwei Fenster, die nach vorn hinausgingen, und eine durch einen Schrank verstellte Tür nach Brandomes Wohn- und Schlafraum.
Pratt, der sich hier Miß Jenny Lindsor genannten und sich als Schriftstellerin ausgegeben hatte, erwarb sich des Geizhalses Vertrauen dadurch, daß er die Miete gleich für zwei Monate vorausbezahlte.
Er war allein in seinem neuen Heim, hatte den Koffer ausgepackt und stand nun am Fenster.
Gerade da trat aus dem gegenüberliegenden Haus Nr. 51, wo Frau Anna Malkroux wohnte, Inspektor Grablay heraus.
Pratt wußte nun, daß die Polizei also doch die Persönlichkeit der Ermordeten festgestellt hatte.
Grablay sprach mit einem seiner Beamten. Beide schauten nach der großen Mietskaserne herüber, kamen nun über die Straße und schienen sie betreten zu wollen.
Wirklich – draußen bimmelte die Flurglocke. Pratt hörte, wie Brandome öffnete, und Grablay dann sagte:
„Ich bin Detektivinspektor Grablay. Wo waren Sie heute gegen zehn Uhr vormittags, Mr. Brandome?“
„Spazieren gegangen,“ krächzte der Alte.
„So so. – Kommen Sie mit in Ihr Zimmer. Ich habe Sie noch einiges zu fragen.“ –
Pratt rückte schnell den Schrank von der Wand ab. Nun vernahm er jedes Wort, das drüben gesprochen wurde.
„Kennen Sie eine Frau Malkroux, Mr. Brandome?“ fragte Grablay.
„Von Ansehen, Mr. Grablay. Sie sind wohl der Denunziation wegen hergekommen, die Frau Malkroux heute früh bei unserer Polizeiwache gegen mich abgegeben hat. Nun – es war ja dieserhalb schon um neun Uhr ein Beamter hier. – Die Frau muß geträumt haben.“
Pratt waren diese Sätze sehr interessant. Die Polizei hatte auf Frau Malkroux’ Angaben hin also doch etwas unternommen. Brandome hatte mithin gewußt, daß er heute von der Malkroux denunziert worden war. Und gegen zehn Uhr – um diese Stunde war die Frau dann ermordet worden – hatte er angeblich einen Spaziergang gemacht.
Sehr verdächtig!
Jetzt wieder Grablays Stimme: „Frau Malkroux ist tot, ist durch Hammerschläge im Fernsprechautomaten Nr. 102 ermordet worden. Ich muß Ihre Wohnung, alle Räume durchsuchen, falls Sie nicht Zeugen benennen können, daß Sie heute vormittag nicht in der Nähe jenes Telephonhäuschens gewesen sind.“
Brandome kreischte entsetzt auf.
„Wie – soll ich etwa dieses verrückte Weib beseitigt haben – ich?! Keine Fliege kann ich töten! – Zeugen – Zeugen soll ich nennen? Ich – ich war ja leider heute dort in der Nähe dieses Fernsprechautomaten – bei meinem Bäcker. Ich hatte einen Korb bei mir, habe mir ein halbes Brot mitgebracht! Gott im Himmel – wie wende ich nur diesen Verdacht von mir ab – wie nur?!“
Und wieder Grablays Stimme: „Brooc,“ – das war der Beamte, den er bei sich hatte – „Sie bewachen hier Mr. Brandome. –
Wo befindet sich Ihr Einkaufskorb?“
„Ich – ich weiß nicht,“ stotterte der Alte
Grablay verließ das Zimmer. Auch Pratt huschte hinaus. Der Inspektor war schon in der Küche, als Pratt dort eintrat.
Grablay starrte die Frau entgeistert an.
„Nic, Sie hier?“ flüsterte er, als ihm die Erleuchtung kam.
Pratt hatte bereits den Korb erspäht. Gemeinsam untersuchten die beiden ihn. Da lag ein halbes Brot, ein Pfund Butter, Schinken, Wurst, ein Schälchen Gartenerdbeeren, eine halbe Flasche Wein und eine Papiertüte mit acht teuren Zigarren darin.
Der Detektiv legte alles auf den Tisch. Der Boden des Korbes war mit alten Zeitungen ausgelegt. Als Pratt auch diese herausnahm, kam – ein blutbespritzter kurzstieliger Schumacherhammer zum Vorschein.
„Donner – dieser Leichtsinn von dem alten Schuft!“ entfuhr es Grablay.
Pratt schwieg erst, meinte dann: „Ich kehre jetzt in mein Zimmer zurück. Verraten Sie mich nicht, Stuart. Hier soll es ja allerlei Geheimnisse aufzuklären geben.“
2. Kapitel.
Pratt stellte sich in sein Zimmer abermals an die Verbindungstür. So wurde er Zeuge der aufregenden Szene, wie Grablay dem alten Brandome den blutbefleckten Hammer zeigte und ihm den Mord auf den Kopf zusagte.
Brandome schwieg erst, winselte dann aber in einem fort:
„Oh – ein Schurkenstreich! Ich tat es nicht – bei Gott – ich tat es nicht! Den Hammer hat mir ein anderer in den Korb gelegt!“
Grablay blieben unberührt durch das wehleidige Gejammer des Alten. Er verhaftete ihn und ließ ihn sofort abführen. Dann begann er die Wohnung zu durchsuchen. Da die übrigen vier Mieter Brandomes nicht daheim waren, begleitete Pratt den Inspektor und half ihm. Sie gingen von Zimmer zu Zimmer. Sie fanden auch mancherlei: in den verschiedensten schlau angelegten Verstecken große Summen Geldes in Gold und Banknoten, außerdem auch Juwelen aller Art, im ganzen Werte im Betrag von zwei Millionen.
Grablay zog einen Zettel hervor.
„Ich habe mir das Wichtigste notiert, Pratt. Da – behalten Sie den Zettel.“
Sie standen jetzt in der Küche. Als es nun an der Flurtür läutete, eilte Pratt nach raschem Händedruck schnell in sein Zimmer zurück.
Er setzte sich in die Sofaecke und dachte angestrengt nach.
Er teilte Grablays Verdacht jetzt nicht mehr. Er hielt Brandome für unschuldig. Er sagte sich, daß der Alte doch fraglos den blutverschmierten Hammer sofort gereinigt hätte, falls er der Mörder gewesen. Diese Dummheit, den Hammer unten im Korb zu lassen, traute er Brandome nicht zu, denn der Geizhals war fraglos ein ganz geriebener Bursche.
Es mußte ein anderer den Mord begangen haben.
Pratt fiel jetzt auch der Brief wieder ein, den er morgens erhalten hatte.
Er hatte ihn in seinen Koffer gelegt, holte ihn jetzt heraus und prüfte nochmals die Handschrift. Es war ohne Zweifel die einer Frau, sehr fein und zierlich, wie gestochen die einzelnen Buchstaben.
Plötzlich kam Pratt eine Erinnerung. Vorhin, als er mit Grablay die Zimmer der anderen Untermieter Brandomes durchsuchte, hatte er im Zimmer einer gewissen Lydia Trabarg – an der Stubentür hatte eine Karte mit diesem Namen bemerkt – auf dem Schreibtisch eine Postkarte bemerkt, die bereits geschrieben, aber noch nicht abgeschickt war. Und die Schrift auf dieser Karte war genau dieselbe gewesen wie die des anonymen Briefes, der mit ‚einer, der offene Augen hat’ unterzeichnet war.
Also diese Lydia Trabarg war die Briefschreiberin. Das stand nun fest. –
Pratt nahm den Zettel zur Hand, den Grabler ihm gegeben hatte. Er las folgendes in Grablays flüchtiger Schrift.
Betrifft die vier verschwundenen Mieter Brandomes. –
Erstens: seit dem 18. Januar 1921 verschwunden Henrik Overlyn, Uhrmachergehilfe. Wohnte bei Br. drei Monate. –
Zweitens: seit dem 13. Juli 1921 Albert Crossy, Maschinentechniker. Wohnte bei Br. zwei Monate. –
Drittens: Charles Trabarg, Goldschmied –
Hier stutzte Pratt. –
Trabarg! –
Ob das ein Verwandter Lydia Trabargs gewesen? – Freilich, der Name Trabarg war gerade in Neuyork sehr häufig.
Dann las er weiter:
Goldschmied. Wohnte bei Br. fünf Monate. Seit dem 28. November 1921 verschwunden. –
Viertens: Gaston Parlvoux, Techniker, seit dem 3. Februar 1922 verschwunden, wohnte bei Br. nur drei Wochen.
Von diesen vier Männern hat man nie mehr etwas gehört. Die polizeilichen Ermittlungen, die jedes Mal auf Brandomes Anzeige, daß seine Mieter sich nicht mehr sehen ließen, eingeleitet wurden, ergaben nichts Belastendes gegen Br. und blieben gänzlich erfolglos.
Pratt gähnte mit einem Mal. Gähnte abermals.
Wie müde er nur war! Er konnte kaum noch die Augen offen halten.
Mit aller Gewalt mußte er sich immer wieder aufreißen.
Und – doch nickte er ein. Sein Kopf sank ihm auf die Brust.
Dann fuhr er zusammen. Jemand rüttelte ihn. Es war Grablay.
„Nic – Nic, – aufwachen!“
Grablay war ganz verstört. Pratt starrte ihn verschlafen an.
„Was – was gibt’s denn?“ fragte er mit schwerer Zunge.
„Nic – das Geld, die Juwelen – alles weg – gestohlen!“ rief der Inspektor. „Ich hatte all die Werte in eine Pappschachtel gepackt und vorläufig in Brandomes Bücherschrank einschloß, bevor ich mit meinen beiden Leuten zu den anderen Mietern ging. Und jetzt – der Karton ist nicht mehr da, der Schrank erbrochen! Haben Sie denn nichts gehört, Nic?“
„Nichts. Ich bin leider eingeschlafen. Die Mailuft mag daran schuld sein.“
Pratt erhob sich. Er war unsicher auf den Füßen, und der Kopf war ihm so schwer.
Grablay rannte hinaus.
Pratt stürzte ein Glas Wasser hinunter. Das half ein wenig. Der Kopf wurde ihm klarer.
Er setzte sich wieder – grübelte – grübelte.
Sein Gesicht nahm allmählich trotz der Schminkschicht und der künstlichen Falten ein anderes Aussehen an. Seine Augen leuchteten in besonderem Glanz. Seine Lippen bewegten sich in unhörbarem Selbstgespräch.
Wieder trat Stuart Grablay ein – ganz verzweifelt.
„Eine nette Geschichte, Nic!“ stöhnte er. „Alles Geld, alle Schmucksachen sind futsch! Man wird mir einen bösen Rüffel erteilen! Aber wie konnte ich auch annehmen, daß ein Dieb hier eindringen würde?! Der Kerl hat sicher mit einem Nachschlüssel die Flurtür geöffnet!“
„Hm!“ machte Pratt zweifelnd. „Woher wußte dieser Eindringling denn, daß gerade diese Pappschachtel im Bücherschrank solche Werte enthielt?! – Hat er noch andere Schränke erbrochen?“
„Nein – nicht einen.“
„Seltsam – seltsam! – Wie steht’s mit dem roten Vorhang?“
„Blödsinn! An keinen Vorderfenster gibt es son Ding! Diese Malkroux muß schlechte Augen gehabt haben.“
Der Inspektor entfernte sich. –
Pratt setzte sich den altmodischen Damenhut auf, nahm den noch altmodischeren Umhang um und verließ das Haus, kaufte in einem Laden sechs billige Bilder mit mittleren Holzrahmen, einen Hammer und Nägel, Eßwaren und anderes mehr, war um vier Uhr nachmittags wieder in seinem Zimmer. Nachdem er gegessen hatte, begann er sein Heim mit den sechs Bildern zu schmücken.
3. Kapitel.
Die Wände des Zimmers wie auch alle übrigen dieses alten Hauses waren mit einer tief nachgedunkelten, etwa zwei und ein halbes Meter hohen Holztäfelung versehen.
Diese Täfelung war hier in diesem Raum am reichsten geschnitzt. Pratt erkannte in den Schnitzereien viele Abzeichen der Freimaurer: das heilige Dreieck mit dem abwärts gerichteten Pfeil, den Globus mit den geheimen Figuren und anderes.
Über der Täfelung gab es noch anderthalb Meter getünchte Mauer und dann die ebenfalls getünchte Balkendecke.
Pratt tat nie etwas ohne bestimmte Absicht. Wie er jetzt den Tisch an die Wand rückte und den Stuhl darauf stellte, um so eine Art Leiter herzustellen, schaute er sich die Täfelung sehr genau an – ganz unauffällig.
Dann nagelte er die Bilder an – sämtlich an die Wand nach der Nachbarwohnung, die, wie er jetzt im Flur am Türschild gesehen, einem Dr. Greeb gehörte.
Er mußte Tisch und Stuhl wiederholt an eine andere Stelle schieben. Auch das war alles kluge Berechnung. Der plötzliche Anfall von Müdigkeit vorhin hatte ihn mißtrauisch gemacht, und der Diebstahl des Kartons mit den Wertsachen hatte diesen Verdacht noch verstärkt.
Er fürchtete eben, daß er beobachtet würde, daß seine Müdigkeit auf ganz bestimmte äußere Einflüsse zurückzuführen sei und daß es – in der Täfelung etwas gäbe, was derartige Täfelung oft verbargen: eine geheime Tür!
Er war aber auch davon überzeugt, daß die Person, die ihm durch irgend ein durch die Wand geleitetes geruchsloses Gasgemenge auf dem Sofa in so tiefen Schlaf versetzt hatte, die dann durch die Geheimtür in sein Zimmer und in die Wohnung des Geizhalses eingedrungen war und das Geld und die Juwelen gestohlen hatte, auch die Witwe Malkroux ermordet und den Verdacht auf Brandome gelenkt hatte.
Dieser Person – ob Mann oder Weib, wußte er bisher nicht – mußte es ja ein leichtes gewesen sein, infolge des geheimen Zugangs das Mordinstrument von Hammer in den Korb zu legen.
Schließlich stand es für ihn auch fest, daß dieser Mörder seine – Pratts – Maske längst durchschaut hatte und genau davon unterrichtet war, wer wir in diesem Zimmer jetzt als Miß Jenny Lindsor wohnte. Pratt hatte ja soeben in der Täfelung nicht weniger als vier kaum bemerkbare Löchlein entdeckt, die fraglos zum Spionieren von jenseits der Mauer dienen sollten und die ganz sicher auch von der Person in dieser Weise benutzt worden waren, als Grablay ihn geweckt und ihm so verstört den Diebstahl mitgeteilt hatte.
Noch mehr als diese Gucklöcher hatte Pratt jedoch beim Annageln der Bilder in der Täfelung bemerkt: winzige Rillen, die nur die Umrisse der gesuchten Geheimtür sein konnten!
Dies alles überlegte sich Pratt jetzt ganz in Ruhe, während er in dem dämmrigen Zimmer am Fenster saß. Er vernahm, daß seine Mitbewohner heimkehrten, hörte im Flur Stimmen, Unterschied daraus auch eine Frau und dachte sofort an Lydia Trabarg.
Dann klopfte es. Er ging zur Tür, öffnete. Ein junges blondes Mädchen stand vor ihm. Im Flur brannte eine Lampe. Pratt sah, daß das Mädchen angenehme Züge, aber einen Zug tiefen Grams um den Mund hatte.
„Ich heiße Lydia Trabarg,“ sagte sie bescheiden. „Unser Nachbar Dr. Greeb erzählte mir, daß Mr. Brandome verhaftet worden ist und daß Sie kurz vorher neu zugezogen wären.“
Pratt flüsterte rasch: „Wir wollen in Ihr Zimmer gehen, Miß Trabarg.“
Sie blickte ihn überrascht und prüfend an. „Gut – bitte, kommen Sie.“
Kaum hatten Sie dann die Tür ihres Stübchens ins Schloß gedrückt, als sie auch schon fragte:
„Sie sind Mr. Pratt, nicht wahr? Sie sind auf meinen Brief hin hierhergekommen?“
„Nur für Sie bin ich Nic Pratt, Miß. – Bitte, erzählen Sie mir jetzt, was Sie in diesem Haus Auffälliges beobachtet haben. Übrigens, sind Sie eine Verwandte jenes Charles Trabarg, der hier verschwand?“
„Eine ganz entfernte Verwandte, aber seine – Braut.“ Sie kämpfte mit Tränen. „Ich habe mich nur zu dem Zweck hier eingemietet, um Charmes Verschwinden aufzuklären. – Sie sollen auch sofort erfahren, Mr. Pratt, was ich hier im Haus an Auffälligem festgestellt habe. – Mein Vertrauter hier ist Dr. Greeb, ein älterer, freundlicher Herr, der die Dreizimmerwohnung nach vorn hinaus innehat. Er ist Chemiker und Erfinder. Auch er hat seit langem gegen Brandome Verdacht geschöpft.“
„Aber – worauf gründet sich dieser Verdacht?“
„Oh, es sind alles ja nur Kleinigkeiten, Mr. Pratt, als Einzelheit belanglos, als Ganzes zusammengefaßt aber überaus schwerwiegend. Brandome hat zum Beispiel meinen Verlobten geradezu in sein Haus gelockt, hat sich ihm verkleidet genähert und ihn durch Geldgeschenke bewogen, das Zimmer zu mieten, daß Sie jetzt bewohnen. Charles erzählte mir von dem Fremden, der ihm versprochen hatte, ihm guten Verdienst zu besorgen. Nach Charles Verschwinden habe ich dann wiederholt mit Dr. Greeb hierüber gesprochen. Es kann nur Brandome gewesen sein, der –“
„Halt, eine Zwischenfrage, Miß. – Ihr Verlobter selbst hat nie geäußert, der verkleidete Fremde sei Brandome gewesen?“
„Nein, nie. Charles tat, seitdem er hier wohnte, überhaupt sehr geheimnisvoll. Er hatte zwar stets Geld in Hülle und Fülle, aber dabei war er oft sehr niedergeschlagen, ganz so, als ob sein Gewissen schwer bedrückt sei.“
„Und die drei anderen spurlos Verschwundenen, haben die ebenfalls in meinem Zimmer gewohnt?“
„Ja, Mr. Pratt. Alle drei. Und Dr. Greeb meint, Brandome hat sie vielleicht zu Schlechtigkeiten verführt.“
Pratt konnte daran nicht recht glauben. Erstens war die ganze jämmerliche Persönlichkeit Philipp Brandomes in keiner Weise dazu geschaffen, den Führer einer Diebesbande zu spielen. Dann aber – und das gab für Pratt den Ausschlag! – kamen ihm sein totenähnlicher Schlaf, die Geheimtür, die Gucklöcher in der Täfelung und der Diebstahl der gefüllten Pappschachtel nicht aus dem Sinn. –
Miß Trabarg erzählte nun von ihren Beobachtungen: von dem geheimnisvollen Klopfen und Pochen in dem alten Haus, einem rätselhaften Brummen und Surren und von Brandomes häufigen nächtlichen Spaziergängen, die er stets mit Schlaflosigkeit begründete.
Alles in allem war Pratt durch den Bericht des jungen Mädchens enttäuscht. Er verabschiedete sich, bat sie um Verschwiegenheit über die Rolle, die er hier spielte, und kehrte in sein Zimmer zurück.
Das Haus hatte nur Gasbeleuchtung. Er zündete die Lampe an und nahm ein Buch zur Hand, um sich die Zeit zu vertreiben. Aber der Gedanke, daß er vielleicht ständig von den Augen jener Personen, die dort hinter der Täfelung lauerte, beobachtet werden könnte, störte ihn so, daß er schließlich das Haus verließ und in einer kleinen Kneipe zu Abend aß. Erst gegen zehn Uhr machte er sich auf den Heimweg.
Er ging auf der anderen Straßenseite entlang und schaute zu den Fenstern des Brandomeschen Hauses empor. Alle waren dunkel. Er zählte nun von der Hausecke die Fenster ab, die zu Brandomes Wohnung gehörten, die er nun ja kannte. Sechs waren es. Die beiden letzten bildeten sein eigenes Zimmer. Das siebente gehörte also bereits zu den Räumen des Doktors, des Chemikers Greeb. Drei Zimmer sollte dieser haben, hatte Miß Trabarg gesagt. –
Pratt suchte aus der Entfernung der Fenster voneinander festzustellen, ob Greeb sämtliche zweifenstrigen Räume besäße. Denn eigentlich konnte ja nur Greep der Mann sein, der die Wertsachen in dem aus dem Bücherschrank gestohlen hatte. Und doch sprach hiergegen Lydia Trabargs Charakterschilderung dieses Mannes.
Nein – die Entfernung der Fenster voneinander war überall die gleiche. Das Haus war eben wirklich eine häßliche, nüchterne Kaserne. Auch die Art der Gardinen und Vorhänge verriet nichts. Der Doktor zum Beispiel hatte an fünf Fenstern völlig gleiche Behänge, wie man selbst jetzt abends bei Laternenschein erkennen konnte.
Pratt schloß die Haustür auf und war gleich darauf in seinem Zimmer, riegelte sich ein und kleidete sich aus, ohne Licht zu machen. Bis zwei Uhr morgens lag er dann völlig munter im Bett und wartete mit fieberhafter Spannung, daß ich irgend etwas ereignen sollte.
Doch nichts geschah. Er erhob sich wieder. Er trug einen schwarzseidenen Schlafanzug, zog jetzt weiche Morgenschuhe an, steckte seinen Revolver, zwei Ersatzbatterien für den Leuchtstab und ein Futteral mit ein paar kleinen Werkzeugen zu sich.
So begannen die Abenteuer dieser Nacht für ihn.
4. Kapitel.
Lautlos schlich er bis zur Wand, wo die Rillen der Geheimtür sich befanden. Lautlos fuhr sein Messer die Rillen entlang, bis es den Riegel gefunden hatte, der die kleine schmale Tür verschloß.
Dann entdeckte er auch den verborgenen Knopf in der Schnitzerei, den man herabdrücken mußte, damit der Riegel zurückglitt.
Er schob die Tür nun nach außen auf. Sofort eine neue Entdeckung: die Mauer war hohl! Sie bestand aus zwei dünnen Mauern, zwischen denen ein Gang von dreiviertel Meter Breite freigelassen war.
Gegenüber der ersten Geheimtür gab es eine zweite. Auch diese öffnete Pratt jetzt ohne Schwierigkeiten. Der feine Lichtkegel seines Leuchtstabes fiel in den Raum hinein, zu dem diese zweite Tür den Zugang bildete.
Pratt sah sich in einem völlig leeren schmalen, einfenstrigen Zimmer, das nicht eine einzige Tür besaß. Aber auch hier hohe Wandtäfelungen, auch hier Gardinen und Vorhänge an dem Fenster. Sonst nichts. –
Die gelben Sonnenvorhänge waren zugezogen. Pratt konnte zu alledem nur den Kopf schütteln.
Dann schaute er zur Decke empor. Sie war blau gestrichen, und goldene Sterne blinkten auf diesem Hintergrund. Und – auch hier in der Täfelung die Abzeichen der Freimaurer! –
‚Also der Raum einer Freimaurerloge!’ dachte Pratt, – ‚der sogenannte Tempel!’
Dann begann er das leere Zimmer auf seine Art zu untersuchen. Den Fußboden, die Wände tastete er ab. Und zog aus einer Ritze der Dielen einen schmalen Papierstreifen, kaum zwei Millimeter breit und zehn Zentimeter lang.
Eine weitere Geheimtür fand er nicht.
Und – dies machte ihn stutzig!
Es mußte doch einen Zugang – außer dem ‚Weg durch die Wand’ zu diesem leeren Zimmer geben! Es mußte noch eine Tür vorhanden sein!
Da kam er auf den Gedanken, den Gang zwischen den Mauern zu durchsuchen. Dieser entsprach in der Länge dem der Zimmer, die ihn einschlossen. Aber die Höhe war nicht die der benachbarten Räume. Der Gang war bedeutend niedriger.
Pratt hob den Arm mit dem Leuchtstab. Die Decke bestand aus weißgetünchten Balken.
Da bemerkte er an den Seitenwänden des Ganges zwei kugelförmige tiefe Kratzspuren, die sich genau gegenüber lagen.
Er bückte sich. –
Ja – da lag auf dem Fußboden roter Ziegelstaub! Da mußte also von oben die Balkendecke sich senken können, mußte dabei an den Mauern entlanggeschrammt sein. Daher das rote Ziegelmehl.
Er suchte weiter, sein Gesicht brannte vor Eifer.
Wo war der Hebel, der einen Teil der Gangdecke beweglich machte – wo?!
Und auch den Hebel fand er, neben der einen Geheimtür! Ein Hebel aus Eisen, tief eingelassen in das Holz des Türrahmens.
Als er ihn hochklappte, ganz langsam, ertönte über ihm ein Surren und Brummen.
Die halbe Decke senkte sich wie eine Falltür ein Stück und klappte dann um. Es war eine – Holztreppe! –
Pratt hatte schon manche sinnreiche geheime Einrichtung dieser Art gesehen. Doch dies hier war das am feinsten Ausgeklügelte.
Vorsichtig stieg er nun Stufe um Stufe hinan, bis unter die Decke, sah hier die Umrisse einer quadratischen Falltür, hob sie empor und stand in einem leeren, fensterlosen Bodenraum des alten Hauses.
Weiß getünchte Mauern ringsum, getünchte Balken oben.
Leer – auch hier nichts – nichts!
Aber dieser letzte Erfolg, diese Entdeckung der geheimen Treppe, war für Pratt wie ein belebender Trunk gewesen.
Er wußte nun: es gab hier einen Weg nach außen! Mußte einen geben.
Er betastete die kahlen Mauern. Er bemühte sich etwa eine halbe Stunde ab, etwas zu finden.
Er wurde beinahe mutlos. Doch er raffte alle seine Energie zusammen, suchte weiter.
Dann war er überzeugt: von hieraus konnte man nicht anderswohin gelangen, von hier aus führte nur die Treppe nach unten.
Und diese Treppe stieg er jetzt wieder hinab. Betrat nochmals das leere Zimmer, nachdem er die Treppe durch Hebeldruck in die alte Lage zurückgebracht hatte.
Und – abermals suchte er nun hier in dem leeren Zimmer Zentimeter für Zentimeter die Täfelung ab, suchte die Geheimtür, die er hier vermutete, mit dem Eifer dessen, der weiß, daß er schließlich finden muß!
Schritt für Schritt ging er suchend an der Wand entlang, die mit zu Dr. Greebs Räumen gehören mußte. Nur hier konnte die Geheimtür verborgen sein.
Mit einen Mal war’s ihm, als träfe sein Gesicht ein scharfer kühler Luftstrom.
Ah – ein Loch in der Täfelung, in der Schnitzerei.
Näher brachte er das Gesicht heran.
Und – taumelte.
Ihm ward schwarz vor Augen.
Sein letzter Gedanke war: Du hast verloren! Das – geruchslose Gas war der Luftstrom gewesen. – –
– – Und Nic Pratt erwachte, schlug mühsam die bleischweren Lider hoch.
Dunkelheit ringsum.
Seine Gedanken klärten sich allmählich. Das Gedächtnis begann zu arbeiten, die Gefühlsnerven übermittelten dem Gehirn erste Eindrücke. –
Pratt entsann sich auf die letzten Sekunden vor dem geistigen Entschwinden. Man hatte ihn betäubt. Man hatte ihn sehr schlau wehrlos gemacht. Der Luftstrom aus dem Loch der Täfelung – damit hatte er nicht gerechnet!
Er merkte, daß er in einem steiflehnigen Sessel mit Armstützen saß, daß er an diesem Sessel so gefesselt war, als hielten ihn Schraubstöcke fest. Seine Unterarme lagen auf gepolsterten Armstützen. Er spürte überall an seinen Gliedmaßen den Druck der Drähte, die seinen Leib, Arme, Beine, sogar den Kopf unverrückbar festhielten. Er fühlte den Knebel im Mund und die Fäden, die vom diesem Knebel straff über die Wangen hinabliefen, so daß er ihn mit der Zunge nicht herausstoßen konnte.
Er sog prüfend die Luft ein. Es war die muffige, dumpfe Luft des leeren Zimmers, des ehemaligen Logentempels. –
Seine Augen gewöhnten sich immer mehr an diese Dunkelheit, die doch nicht einer geringen Lichtquelle entbehrte
Dort geradeaus in einiger Entfernung vor ihm strahlte ein ganz matter violetter Kreis mit verschwommenen Rändern. Und dieser Kreis schrumpfte nun zusammen, nahm aber gleichzeitig an Helligkeit zu, bis Pratt erkannte, daß es eine Lampe mit einer runden violetten Glaslinse war, die auf einem dunkelverhängten Tisch stand.
Hinter dem Tisch gewahrte er nun auf vier Stühlen vier Gestalten.
Er kniff die Augen zusammen. Er glaubte an eine Sehtäuschung.
Nein: es war Wirklichkeit!
Dort saßen vier Totengerippe in Männerkleidern, weiße Kragen und Krawatten um die Knochenhälse, die Skeletthände vor sich auf den Tisch gelegt.
Gräßlich grinsten die gelbweißen Schädel in dem ungewissen Licht der Lampe.
Pratt erkannte jetzt, daß das violette Licht ihn über die Entfernung getäuscht hatte. Der Tisch war keine zwei Meter entfernt. So konnte er den weiter feststellen, daß neben der Lampe auf dem Tisch noch ein Kruzifix aus Elfenbein stand.
Immer mehr überwanden seine Augen die Dunkelheit. Er richtete den Blick empor. In mildem Licht erstrahlten oben an der Decke die goldenen Sterne.
Pratt war viel zu sehr an außergewöhnliche Vorkommnisse gewöhnt, als daß diese Gerippe auf ihn hätte Eindruck machen können. Und doch: es fiel ihm schwer, ein ironisches Lächeln um seinen Mund zu erzwingen. Er gab vor sich selbst zu: wäre er nicht Nic Pratt gewesen, säße hier ein anderer an seiner Stelle, ein Alltagsmensch, der an keine seltsamen Aufregungen gewöhnt war, so würde der vor Grauen und Entsetzen eisigen Schweiß auf dem Leib gefühlt haben.
Pratt wartete, was nun kommen würde.
Und – es ereignete sich in der Tat etwas. Irgendwo hinter dem Tisch hervor erklang eine Stimme, die einen angenehmen tiefen Klang hatte. Aber das, was diese Stimme sprach, war desto brutaler, grausamer – ja höllischer:
„Nic Pratt, du wirst der Fünfte werden!“
Pratt dachte: ‚Also der fünfte Tote!’ Und er zweifelte nicht an der Wahrheit dieser Voraussage. Denn – wer sollte ihn hier retten?! Niemand – niemand! Selbst wenn man nach ihm suchte, würde man ihn nicht finden!
Auch Grablay nicht! Der ahnte nichts von dem geheimen leeren Zimmer.
Die Stimme sprach weiter:
„Nic Pratt, dir sei noch eine Stunde zu leben vergönnt. Ich werde dir den Knebel abnehmen lassen. Versuche jedoch nicht erst, um Hilfe zu rufen. Es wäre zwecklos – vollständig zwecklos. Durch diese Mauern dringt kein Ton hindurch, und das Fenster ist durch wattierte Decken verhüllt.“
Eine Hand – die Hand einer hinter dem Sessel stehenden Personen – nestelte an den Schnüren des Knebels, zog ihn heraus.
Pratt holte tief Atem. Und als er dies tat, glomm in seiner Seele ein winziger Hoffnungsschimmer auf. So leicht gab sich ein Nic Pratt nicht verloren, selbst wenn er nur den Mund zu seiner Verteidigung gebrauchen konnte.
Abermals atmete er tief die Luft ein. Jetzt würde, das ahnte er, der Feind ihn auszuforschen suchen. Jetzt begann der Entscheidungskampf mit geistigen Waffen.
5. Kapitel.
„Weißt du, wer ich bin?“ fragte die Stimme nun.
„Ja. Doktor Albert Greeb.“
„Wie kommst du auf Doktor Greeb?“
Pratts Hirn arbeitete mit einer Klarheit und Schärfe wie selten. Hinter ihm stand der Tod. Das wußte er. Sein Freikommen hing von seinen Antworten ab – sein Leben!
„Wenn diese Frage bedeuten soll,“ erwiderte er, „wie ich zuerst gegen Sie, Dr. Greeb, Verdacht schöpfte, so erklärte ich: Durch das Verschwinden des verblichenen roten Vorhangs von dem Fenster dieses Zimmers! – Die arme Frau Malkroux, die Sie dann ermordet haben, teilte mir telephonisch mit, daß aus diesem Fenster in der vergangenen Nacht ein Sarg weggeschafft worden sei und daß das Fenster einen roten dicken Vorhang hätte.“
Ein Fluch kam über Greebs Lippen. Und nun erschien hinter dem Tisch auch die Gestalt des Chemikers, ein schmächtiger bartloser Mann mit silbern schimmerndem Haupthaar.
„Ah – also hat das Weib mich auch an Sie verraten!“ stieß er hastig hervor. „Freilich – die Denunziation richtete sich mehr gegen den elenden Brandome! – Weiter nun, Pratt! Wir können jetzt ja mit offenen Karten spielen.“
Pratt lachte leise auf. „Gewiß, das können wir! Sie scheinen in dem Wahn befangen gewesen zu sein, daß Ihr ehrbarer Lebenswandel und Ihre Heuchlerkünste, mit denen Sie selbst Miß Lydia Trabarg umgarnten, auch mir den klaren Blick trüben würden. Sie irren sich, Dr. Greeb! Seit ich vormittags mit Inspektor Grablay nach dem Erwachen aus meiner Betäubung gesprochen habe, konnten Sie uns nicht mehr entgehen. Jeder Ihrer Schritte ist beobachtet worden. Seit drei Uhr nachmittags ist dieses Haus völlig umzingelt.“
„Das ist gelogen! Sie wollen mich nur einschüchtern!“ Greebs Stimme war heiser geworden.
Hinter Pratts Sessel traten jetzt aber zwei Männer hervor und lehnten sich zwischen Tisch und Sessel an die Wand, als ob auch sie bei dem Gedanken, das Haus könnte wirklich umzingelt sein, aus ungewisser Angst aus ihrem Versteck hervorgetrieben wären.
Sofort fauchte Greeb sie wütend an: „Ihr hättet euch nicht zu zeigen brauchen. Schert euch wieder –“
Da fiel der eine ihm ins Wort, und seine Sprechweise verriet den Mann aus dem Volk:
„Immer friedlich, Doktor! Wenn unser Hals in Gefahr zu sein scheint, wollen wir selbst beurteilen können, ob Pratt lügt, oder…!“
„Der ist allerdings in Gefahr,“ meinte Pratt gleichmütig. „Als ich mir vormittags, bevor ich hier mich einmietete, das Haus von draußen besah und so feststellte, daß von dem siebenten Fenster von der linken Hausecke der rote Vorhang verschwunden und durch Gardinen und Behänge ersetzt war, wie sie die nächsten Fenster ebenfalls hatten, also Dr. Greebs Fenster, da wußte ich Bescheid! Und das war doch nicht schwer. Frau Malkroux hatte mir ja gesagt: das siebente Fenster ist das geheimnisvolle! – Dr. Greeb, es war ein schwerer Fehler von Ihnen, die Vorhänge zu ändern. Auch Grablay hat dazu geringschätzig gelächelt. Sie hofften, daß –“
„Halt,“ sagte da derselbe von Greebs Helfershelfern, der schon soeben offen zugegeben, daß er für sein Leben fürchte. „Halt, Mr. Pratt, wenn die Polizei, wie Sie behaupten, gegen den Doktor schon Verdacht hegte, weshalb hat sie denn den Geizkragen von Brandome verhaftet?“
„Lieber Mann,“ meinte Pratt gemütlich, „es gab doch wohl kein besseres Mittel, Greeb in Sicherheit zu wiegen als diese Verhaftung. Greebs zweite Dummheit war ja die gewesen, den blutigen Hammer in Brandomes Korb zu legen. Welcher Mörder wird wohl die Mordwaffe so schlecht verbergen?! – Im übrigen können Sie sich leicht davon überzeugen, ob ich lüge oder nicht. Ich habe mit Grablay verabredet, daß er mit seinen Leuten hier eindringen soll, sobald ich mich nicht alle drei Stunden am Fenster meines Zimmers zeige. Diese Vereinbarung war zu meiner Sicherheit notwendig. Da ich nun annehme, daß sehr bald drei Stunden verstrichen sein werden, ohne daß Grablay vom Hause gegenüber mich am Fenster erblickte, dürfte der Schlußakt der Tragödie sehr bald beginnen.“
Greeb schoß jetzt mit geballten Fäusten hinter dem Tisch hervor.
„Hund von Spion!“ zischte er. „Du magst die Wahrheit sprechen! Aber sterben sollst du doch! Du hast die Meute auf meine Fährte gehetzt! Zehn Jahre habe ich hier –“
„– Falschmünzerei betrieben,“ ergänzte Pratt eisig. „Ich fand einen Streifen Banknotenpapier hier in einer Dielenritze! Ja – zehn Jahre Falschmünzer! Und vier Ihrer Gehilfen haben Sie umgebracht, nachdem Sie sie hier als Mieter in mein jetziges Zimmer gelockt hatten! Aus ehrlichen Menschen haben Sie Verbrecher gemacht, dann – Tote!“
Und wieder rief da er ein Mann an der Wand:
„Ganz recht, Mr. Pratt, das hat er getan! Auch Boltry und ich waren ehrliche Arbeiter der Staatsdruckerei, bis er uns dazu verführte, Banknotenpapier zu stehlen. Dann hatte er uns in den Klauen. Gestern nacht mußten wir dann die ganzen in dem Sarg verstauten Fälscherwerkzeuge im Hudson versenken, weil –“
Greeb war plötzlich verschwunden.
„Er entflieht! Haltet ihn!“ brüllte Pratt.
Die beiden Männer kamen zu spät. Greeb war bereits durch die Geheimtür in den Gang zwischen den Mauern entwichen, hatte den Riegel der Tür von seiner Seite festgeklemmt.
„Schießt den Riegel heraus! Nehmt meinen Revolver!“ schrie Pratt.
Drei – vier Schüsse knallten.
Pratt konnte nichts sehen, was schräg hinter ihm geschah. Er hörte nur eine Stimme:
„Halt, Doktor, kehrt gemacht!“
Und wieder ein Schuß! Dann ein Poltern, ein dumpfer Schrei.
Greeb war die Holztreppe zwischen den Mauern hinabgestürzt, wurde wieder von den beiden Leuten ins Zimmer geschleppt, die vor Wut ihn am liebsten erdolcht hätten. Doch das brauchten sie nicht, denn die Kugel war ihm ins Rückgrat gegangen.
„Mr. Pratt,“ keuchte der eine, „Greeb hat die vier gegen unseren Willen vergiftet. Wir hätten auch nie geduldet, daß Sie hier ermordet würden. Wir hatten Greeb seit ein paar Tagen im Verdacht, ohne uns fliehen zu wollen. Als wir dann gestern den alten Sarg, der noch aus der Logenzeit dieses Hauses stammt, mit allen Werkzeugen im Hudson versenken mußten, nahmen wir uns vor, Greeb nicht aus den Augen zu lassen –“
Er schwieg, denn der schwer Verletzte hatte einen neuen qualvollen Schrei ausgestoßen. Sein auf den Dielen liegender Leib zuckte krampfhaft sich hin und her. Dann noch ein röchelndes Stöhnen – und dieser gewissenlose Verbrecher war tot. –
Boltry und sein Freund Parell banden Pratt eiligst los. Die beiden Männer zitterten jetzt vor Aufregung. Willenlos folgten sie Pratt in dessen Zimmer. –
Die Schüsse waren doch im Haus gehört worden. Man hatte ein paar Polizeibeamte geholt, denen Pratt jetzt Boltry und Parell übergab.
Die weitere Untersuchung brachte noch folgendes an den Tag: der fenster- und türlose Raum auf dem Hausboden hatte doch noch einen Ausgang, eine allerdings hoch über den Dielen fast unter der Decke liegende Geheimtür, die in Greebs Bodenkammer führte.
Der Geizhals Brandome wieder hatte zu Greeb in keinerlei strafwürdigen Beziehungen gestanden. Die Juwelen und das Geld waren sein rechtmäßiges Eigentum. Die Delikatessen in seinem Marktkorb hatte er für Sylvia Trabarg gekauft, die er dauernd mit Liebesanträgen verfolgt hatte. Was aus den Leichen der vier unglücklichen Mieter Brandomes geworden, wußten Boltry und Parell nicht. Gerichtsärzte stellten jedoch fest, daß die vier Skelette fraglos die der vier Ermordeten waren. Greeb endlich hatte bereits einen Dampferplatz nach England belegt, wollte also tatsächlich in den nächsten Tagen Neuyork mit seiner überreichen Verbrecherbeute für immer verlassen.
So hatte denn auch diesmal wieder Nic Pratt die Menschheit von einem gefährlichen Scheusal befreit und in einer Lage, wo ihm der Tod gewiß schien, Greeb durch dessen eigene Helfershelfer unschädlich machen lassen.
Das leere Zimmer aber bildete für Wochen eine Sehenswürdigkeit für die sensationslüsterne Menge, bis die Polizei anordnete, daß die Geheimtür entfernt würden. Heute ist es ein Wohnraum wie alle anderen im Haus geworden, und nur die blaue Decke mit den goldenen Sternen erinnert noch an die traurige Geschichte dieses einst leeren Zimmers.