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Der Schreibtisch Lord Dogbys

 

Nic Pratt

Amerikas Meisterdetektiv

 

Heft 32:

 

Der Schreibtisch Lord Dogbys.

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1923

by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.

 

Nic Pratt, Amerikas Meisterdetektiv.

Zu beziehen durch alle Buch- und Schreibwarenhandlungen, sowie vom
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 26 Elisabeth-Ufer 44.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin

 

1. Kapitel

Die Familienbrosche.

Zu den geheimnisvollsten und verwickeltsten Kriminalfällen der jüngsten Zeit gehört ohne Frage der in der amerikanischen Presse unter dem Sensationstitel ‚Der Mord im Dogby-Palais‘ behandelte Tod des alten Lord Emmery Charley Dogby, jenes Mitgliedes des englischen Hochadels, der als Botschaftsrat in den ersten Gesellschaftskreisen in Washington jahrelang einer der bekanntesten Vertreter der englischen Aristokratie war.

Nic Pratt, der Neuyorker Berufsdetektiv, hatte durch eine Verkettung merkwürdiger Umstände Veranlassung, sich mit diesem Doppelverbrechen näher zu beschäftigen.

Am 20. Mai 1922 erhielt er mittags folgende dringende Depesche aus Washington, dem Sitz der Regierung der Vereinigten Staaten:

Detektiv Pratt, Neuyork, Pearlstraße Nr. 111.

Bitte Sie inständigst, Untersuchung im Falle Dogby im Interesse meines heute früh verhafteten Verlobten zu übernehmen. — Jane Gottrick, Washington, Parkerstraße 12.

Pratt hatte nun bereits in der vor einer halben Stunde zur Ausgabe gelangten Neuyorker Mittagspost eine kurze Notiz über die Ermordung des Botschaftsrats Lord Charley Dogby gelesen, ohne daß dieses Verbrechen seine Teilnahme irgendwie geweckt hätte.

Diese Notiz lautete:

„Heute früh 7 Uhr fand der Kammerdiener Collin seinen Herrn, den Botschaftsrat Lord Dogby, in dessen Arbeitszimmer im Palais Dogby in der Parkstraße in Washington mitten auf dem Teppich liegend mit einer Schußwunde in der Stirn tot auf. Da keine Waffe neben der Leiche entdeckt wurde, dürfte Lord Dogby das Opfer eines Verbrechens geworden sein. Der Verdacht der Täterschaft richtete sich sofort gegen den gestern entlassenen Privatsekretär des Lords, Allan Graham, einen bisher gut beleumundeten Mann von, wie nun schon festgestellt, recht dunkler Herkunft. Graham ist verhaftet worden. Wir werden über den Fortgang der Untersuchung genau berichten. Unser rühmlichst bekannter Reporter John Pripp hat sich bereits nach Washington begeben.“ — —

Nic Pratt, der die Depesche am Fenster seines Arbeitszimmers gelesen hatte, sah nach der Uhr.

Es war genau zwölf Uhr achtzehn Minuten.

Da er die Abfahrtzeiten der Fernzüge genau im Kopfe hatte, überlegte er, welchen Zug er benutzen sollte denn er war entschlossen, den Auftrag Miß Jane Gottricks, der Braut des mutmaßlichen Mörders, anzunehmen Er hatte zur Zeit keinen anderen Fall in Arbeit, und nur einen Tag müßig zu sein, war ihm bei seiner Begeisterung für seinen romantischen Beruf geradezu unmöglich.

Als er sich nun für den Blitzzug, der nachmittags drei Uhr Neuyork verließ, entschieden hatte und noch einen letzten Blick über die stille Pearlstraße warf, deren andere Seite im grellen Sonnenlicht dalag, gewahrte er einen Mann, der dort an einen Laternenpfahl lehnte und nach dem Häuschen hinüberstarrte.

Der Mann trug einen Sportanzug, eine Ledermütze und hatte um den linken Arm eine Autoschutzbrille gehängt. Sein bärtiges Gesicht fiel durch die unnatürliche Blässe auf.

Er konnte den ihn jetzt beobachtenden Detektiv selbst nicht sehen, da dieser hinter dem Fenstervorhang gedeckt war.

Pratts Neugier war erregt. Ohne Zweifel hatte der Mann dort die Absicht, ihn aufzusuchen, zauderte aber noch, sein Anliegen dem berühmtesten Privatdetektiv ganz Amerikas anzuvertrauen, vielleicht in der Besorgnis, Pratts Honoraransprüche könnten allzu hoch sein.

Dann schien der Fremde, dessen leichenhaftes Gesicht bereits die Aufmerksamkeit eines vorübergehenden Polizisten auf sich gelenkt hatte, seine Bedenken überwunden zu haben und kam hastig über die Straße auf Pratts Häuschen zu, dessen mit blühenden Blumen reich besetztes Vorgärtchen inmitten der eintönigen Front der Mietskasernen wie eine freundliche Oase wirkte.

Pratt ging in den Flur, um selbst die Haustür zu öffnen. Kaum hatte der Fremde draußen auf den Klingelknopf gedrückt, kaum hatte drinnen die Glocke angeschlagen, als die Tür auch schon aufging. In demselben Moment, als der Detektiv nun dem Blassen gegenüberstand, raste ein Mietauto die Pearlstraße hinab und hielt mit einem Ruck vor Nr. 111.

Der Blasse hatte unwillkürlich den Kopf gedreht, sah den aus dem Auto springenden elegant gekleideten Herrn, drängte Pratt rasch beiseite, trat hinter die Tür und flüsterte keuchend:

„Mr. Pratt, verbergen Sie mich! Ich bin Allan Graham, der angebliche Mörder Lord Dogbys! Haben Sie Erbarmen mit mir! Retten Sie einen Unschuldigen! Der Herr, der soeben den Vorgarten betritt, ist Lord Dogbys Neffe, der Baronett Sir Balderley…“

Pratt war an Überraschungen aller Art gewöhnt.

Ein prüfender Blick in die grauen Augen Grahams genügte ihm. Der Mann hatte nicht den scheuen Blick eines Menschen mit schuldbeladenem Gewissen.

„Schnell — gehen Sie geradeaus, dann rechts in mein Schlafzimmer,“ sagte er. „Dort warten Sie.“

Graham hastete davon.

Pratt lehnte die Tür an, damit Sir Balderley den Privatsekretär nicht sehen könnte, tat so, als ob am Schloß etwas nicht in Ordnung wäre, zog die Tür wieder auf und spielte den Erstaunten, als der baumlange, junge Engländer plötzlich vor ihm auftauchte.

„Richard Balderley,“ stellte der Baronett sich vor, indem er leicht an den Hut faßte. „Mr. Pratt, nicht wahr? — Ich möchte Sie sprechen, Mr. Pratt. Eine ebenso dringende wie ernste Angelegenheit.“

Das braune bartlose Sportgesicht Balderleys hatte jenen halb blasierten, halb verschlossenen Ausdruck, wie man ihn bei den Vertretern des englischen Hochadels sehr häufig findet.

Pratt nötigte den Besucher in sein Arbeitszimmer und in einen Sessel, lehnte sich selbst an den Sofatisch und fragte:

„Sie kommen Ihres Onkels wegen, Baronett?“

Der vielleicht fünfundzwanzigjährige Balderley zuckte leicht zusammen. „Sie sind über den Fall bereits informiert, Mr. Pratt?“

„Nur durch eine kurze Zeitungsnotiz.“

„Und wie konnten Sie wissen, daß ich der Neffe des Ermordeten bin? Haben Sie mich schon einmal gesehen?“

Pratt schien’s, als glomm in den grauen kühlen Augen Balderleys bei dieser Frage ein mißtrauischer Schimmer auf. Und das setzte Pratt in Erstaunen. Weshalb sollte der Baronett Grund haben, etwa zu fürchten, Pratt könnte ihm schon einmal irgendwo begegnet sein?!

„Ich habe Sie noch nie gesehen, Sir,“ erwiderte er bedächtig. „Ich kenne nur das Wappen der Familie Dogby. Und der altertümliche Ring an Ihrer Hand zeigt dieses Wappen.“ — Er log in diesem Moment. Er hoffte nur, daß es das Wappen der Dogbys sein könnte. Er durfte Balderley doch nicht sagen, daß Graham ihm den Namen des im Auto erschienenen Klienten verraten hatte.

Der Baronett schaute auf den Ring. „Sie haben vorzügliche Augen, Mr. Pratt. Dieser Ring schmückte noch heute morgen die linke Hand meines Oheims „von dem ich nun Namen und Titel eines Lord Dogby geerbt habe.“

Pratt verbeugte sich „Mylord gestatten, daß ich mein Beileid ausspreche,“ meinte er. „Es ist für Eure Lordschaft überaus traurig, durch einen Mord Erbe der Pairswürde geworden zu sein.“

Der neue Lord Dogby machte ein sehr ablehnendes Gesicht. „In Ihren Beileidsworten liegt ein sehr verfänglicher Doppelsinn, Mr. Pratt. Scharfe Ohren hätten heraushören können, daß ich der Mörder bin.“ Er blickte zu Boden und fuhr dann hastig fort: „Der Mörder ist leider entflohen, als man ihn im Dogby-Palais an der Leiche meines Onkels vernahm. Ihm kam die genaue Kenntnis der Räume des Palastes dabei zustatten. Er hatte sich plötzlich losgerissen und war mit zwei Sprüngen im Flur, hetzte die Treppe hinan und — ward nicht mehr gesehen. Das geschah um acht Uhr vormittags in meiner Gegenwart. Ich bin dann sofort zum Flughafen hinausgefahren und mit einem Doppeldecker hierher gekommen. Sie sollen helfen, Graham wieder einzufangen, Mr. Pratt. Bitte begleiten Sie mich nach Washington zurück. Der Doppeldecker wartet auf mich.“

Nic Pratt mußte innerlich lächeln. Er sollte Graham, den Mörder, suchen helfen, und der saß da zwei Türen weiter im Schlafzimmer!

„Gestatten Sie eine Frage, Mylord,“ meinte er, indem er die Spitzen seiner braunen Halbschuhe kritisch zu mustern schien. „Weshalb hält man Allan Graham für den Mörder?“

„Weil er Grund hatte, meinen Oheim stumm zu machen.“

„Und dieser Grund wäre welcher?“

„Das ist bald erklärt, Mr. Pratt. Mein Onkel bewahrte in einem Geheimfach seines Schreibtisches die berühmte Dogby-Familienbrosche auf, und die war vorgestern am 18. Mai verschwunden. Gestern sagte mein Oheim seinem Privatsekretär Graham auf den Kopf zu, daß dieser die Brosche gestohlen haben müsse. Graham leugnete. Es kam zu einer heftigen Szene, und mein Onkel entließ Graham. Von einer Anzeige bei der Polizei nahm er Abstand, da er sich sagte, man würde Graham den Diebstahl kaum nachweisen können. Außerdem ist mit der Brosche auch eine Familienüberlieferung verknüpft, die es meinem Oheim angebracht erscheinen ließ, die Sache nicht an die Polizei weiterzumelden.“

„Und Sie waren Zeuge der Szene, Mylord?“

„Zufällig, Mr. Pratt. Ich befand mich in der Bibliothek, die neben meines Onkels Arbeitszimmer liegt. Mein Oheim selbst hat mir nicht einmal den Diebstahl mitgeteilt. Auch das hängt mit der Familienüberlieferung zusammen, über die ich leider nicht sprechen darf. — Es ist nach alledem ganz klar, daß Graham sich gestern abend in das Palais eingeschlichen und meinen Onkel erschossen hat. Detektivinspektor Goorb von der Washingtoner Geheimpolizei ist derselben Ansicht.“ Graham vermochte nicht anzugeben, wo er in der verflossenen Nacht bis fünf Uhr morgens gewesen ist. Er sagte aus, er sei in den Wäldern von Dennison spazieren gegangen. Schwindel natürlich. Seine Flucht bestätigte dann sein schlechtes Gewissen. — Wollen Sie mich begleiten, Mr. Pratt?“

„Gewiß, Mylord. Kann der Doppeldecker drei Passagiere tragen?“

„Fünf, wenn es nötig ist, Mr. Pratt.“

„Ich möchte nämlich meinen Gehilfen Maharg einen sehr geschickten Menschen, zu meiner Unterstützung gleich mitnehmen. — Entschuldigen Sie mich zehn Minuten, Mylord. Bitte — hier sind Zigarren, Zigaretten. Meine Wirtschafterin wird Ihnen auch ein Eisgetränk bringen. Es ist sehr heiß heute. Dieser Mai 1922 ist geradezu tropisch.“

 

 

2. Kapitel.

Der Schreibtisch.

Pratt fand Allan Graham in seinem Schlafzimmer zu seinem Erstaunen auf dem Diwan liegend vor.

Graham schlief wie ein Toter. Pratt mußte ihn lange rütteln, ehe er ihn wach bekam. Dabei verschoben sich Grahams falscher Bart und Perücke, und unter diesen Verkleidungsrequisiten erschien nun Grahams wahres Gesicht: ein bartloses, blasses Gesicht von geistvollen Linien.

„Sie schlafen wie das gute Gewissen selbst,“ lachte Pratt den angeblichen Mörder an. „Sie scheinen in der vergangenen Nacht nicht viel geschlafen zu haben, Mr. Graham. Wo waren Sie denn da?“

Graham hatte sich aufrecht gesetzt und blickte Pratt fest an.

„Ich war spazieren gelaufen — stundenlang. Der Baronett hat Ihnen natürlich schon…“

„Darüber später, Mr. Graham. — Wer hat denn Ihrer Meinung nach den alten Lord erschossen?“

„Wie soll ich das wissen?!“ Aber seine Augen wurden sehr unruhig bei dieser Antwort.

„Hm — weshalb halten Sie mit der Wahrheit zurück, Mr. Graham?!“ sagte Pratt sehr ernst. „Weshalb kamen Sie überhaupt hier zu mir, wenn Sie mit… Lügen umgehen wollen?! Und wie kamen Sie so rasch von Washington nach Neuyork?“

„Mit Baronett Balderley zusammen im Doppeldecker, Mr. Pratt.“

„Wie — was?! Mit dem neuen Lord Dogby im selben Flugzeug?! Das ist…“

„… die volle Wahrheit! Als ich der Polizei entflohen war, sprang ich vom Flurfenster des zweiten Stockwerks auf einen Ast der hundertjährigen Buche des Dogby-Parkes, kletterte hinab, lief zur Südmauer des Parkes und von da zu meiner Braut, wo ich meinen besten Freund den Reporter Jim Pripp vorfand. Pripp war im Flugzeug vor einer halben Stunde eingetroffen. Er besorgte rasch Perücke und Bart für mich, und dann fuhren wir im Auto zum Flughafen, wo der Doppeldecker der Neuyorker Mittagspost noch nicht in den Schuppen gebracht war. Als wir beide aufsteigen wollten, kam der Baronett und bat Pripp ihn begleiten zu dürfen. Pripp stellte mich dem Baronett als Monteur Smithbram vor. So gelangte ich mit Balderley gemeinsam hier an. Pripp hielt ihn dann noch eine Weile auf, und so konnte ich vor dem Baronett oder besser dem jetzigen Lord Dogby Sie aufsuchen.“

„Unglaublich!“ Pratt lachte leise. „Das sieht Jim Pripp ganz ähnlich! Pripp ist ein Teufelskerl. — Nun werde ich Sie aber etwas anders herausstaffieren, Mr. Graham. Sie heißen jetzt vorläufig Albert Maharg und sind mein Gehilfe. Sie kommen wieder mit nach Washington. In meiner Begleitung sind Sie sicher.“ —

Es ist wohl noch nie vorgekommen, daß ein wegen Mordes und Diebstahls von der Polizei Verhafteter und dann vor der Polizei Geflüchteter zusammen mit dem Neffen des Ermordeten und dem Detektiv, der den entflohenen Mörder suchen soll, im Flugzeug sich an den Tatort zurückbegibt.

Dieser unglaubliche Fall ereignete sich jedoch tatsächlich am 20. Mai 1922 in Neuyork nachmittags drei Uhr.

Da bestiegen vier Herren den großen Doppeldecker der bekannten Mittagszeitung und flogen nach Norden zu davon.

Jim Pripp steuerte den Riesenvogel. Pratts Gehilfe Maharg, ein blondbärtiger, buckliger Mensch mit einer scheußlichen Negernase, hatte um den Hals einen Wollschal geschlungen, da er erkältet und völlig heiser war.

Um sechs Uhr war der Doppeldecker in Washington. Der junge Lord Dogby ahnte nichts. Jim Pripp amüsierte sich köstlich, als die drei, Pratt, Maharg und Dogby, im Auto den Flughafen verließen und nach dem Palais rasten, um noch bei Tageslicht das Mordzimmer besichtigen zu können.

Im Palais feierte Pratt ein kühles Wiedersehen mit dem ihm noch von früher her bekannten Inspektor Goorb, einem aufgeblasenen Strohkopf, der jeden Privatdetektiv als elenden Schuhputzer zu behandeln pflegte — selbst Pratt!

Nic Pratt vergalt Goorb gegenüber Gleiches mit Gleichem. Er wußte, daß der Inspektor ein neidischer Mensch von kleinlichsten Charaktereigenschaften war.

Fröhlich streckte er ihm die Hand hin. „Tag, Mr. Goorb. Sehen wir uns auch einmal auf dem Felde der Ehre zur beiderseitigen Freude wieder!“ rief er. „Na, wo haben Sie denn den Mörder? Doch hoffentlich wieder eingefangen!“

Der dicke Goorb wurde grüngelb vor Wut, übersah Pratts Hand und sagte eisig:

„Nur weil Mylord es wünscht, gestatte ich Ihre Einmischung, Mr. Pratt.“

„Das ist nett von Ihnen. — Wie ist dieser Schurke Graham denn aus dem Palast herausgekommen? — Halt, ich muß Ihnen hier noch meinen Gehilfen Albert Maharg vorstellen. Maharg ist leider an Halsentzündung erkrankt, hat es sich aber doch nicht nehmen lassen, mich zu begleiten.“

Mr. Goorb beachtete Maharg gar nicht.

„Der Kerl steckt noch im Palais, der Graham!“ meinte er widerwillig. „Er kann aus dem Palast nicht entschlüpft sein. Er muß hier ein Versteck vorbereitet haben. Ich habe deshalb das Palais auch so eng von meinen Leuten umstellen lassen.“

„Nun — ausgeschlossen ist es nicht, daß Graham noch hier ist,“ nickte Pratt und wandte sich an Maharg. „Wie denken Sie darüber, Maharg2“

„Ich denke, es wird stimmen,“ krächzte Graham-Maharg, der ganz der Mann dazu war, die Rolle des Gehilfen vortrefflich zu spielen.

Die Herren standen vor der offenen Tür des Arbeitszimmers des alten Lords, des Ermordeten.

Der Tote war bereits oben im Saale feierlich aufgebahrt worden. Er hatte das Palais als kinderloser Witwer allein bewohnt. Sein Neffe Richard hauste in einem villenähnlichen Neubau am Südende des großen Parkes, der zu dem Palast gehörte.

„Ich werde mir zunächst allein das Zimmer ansehen,“ erklärte Pratt nun und trat ein.

Goorb, Maharg und Lord Richard schauten von der Tür aus zu.

Nach einer Viertelstunde sagte Pratt, der soeben das eine Fensterbrett besichtigt hatte: „Hier hinter den Vorhängen hat jemand längere Zeit gesessen.“

Er warf dabei Graham-Maharg einen langen Blick zu, und — — Graham errötete jäh.

„Hier ist nämlich infolge der Sonnenbestrahlung Harz aus dem Holz ausgetreten,“ führte Pratt seine Erklärungen weiter fort. „In dem Harz kleben Stoffasern vom Gesäßteil der Beinkleider eines Mannes. — Mr. Goorb, was für Hosen hatte Graham in der verflossenen Nacht an?“

„Grüngraue, lodenstoffähnliche.“

„Dann hat Graham hier nicht gesessen,“ log Pratt kaltblütig. „Die Stoffasern sind hellgrau. Ich werde sie loskratzen und verwahren.“

Die Fasern waren nicht hellgrau, sondern grüngrau, und Pratt wußte nun: Graham war nicht im Walde herumgeirrt, sondern hatte hier auf dem Fensterbrett sich versteckt gehalten! —

Dann trat Pratt an den großen altertümlichen Aufsatzschreibtisch des alten Lords heran.

Der Schreibtisch war überreich geschnitzt, zeigte in den Türen des Aufsatzes das Wappen der Dogbys und hatte schwere silberne Beschläge.

„Mylord, wo befindet sich das Geheimfach?“ fragte Pratt den Erben des Ermordeten.

Lord Richard kam, öffnete die mittlere Tür des Aufsatzes, schob die rechte säulenartige Leiste des Türrahmens, nachdem er innen auf einen verborgenen Knopf gedrückt hatte, zur Seite, und legte so ein schmales Fach frei, das kaum sechs Zentimeter tief und leer war.

„Hier wurde die Familienbrosche aufbewahrt, Mr. Pratt,“ meinte er kurz und begab sich auf einen Wink Pratts wieder zur Zimmertür.

Nic Pratt faßte in das Geheimfach hinein und befühlte die Wandteile und den Boden. Sein Körper verdeckte für die an der Zimmertür Stehenden den Mittelschrank des Aufbaus.

Mit einem Male ereignete sich da etwas sehr Überraschendes: Pratt hatte kräftig auf das Bodenbrettchen gedrückt, und da war das Brettchen plötzlich nach unten gekippt, so daß Pratts Hand nach unten in ein… zweites Geheimfach hinabfuhr und seine Finger ein kleines Etui berührten.

Es gab also unter dem ersten Geheimfach noch ein zweites, dessen Deckel zugleich das in Scharnieren bewegliche Bodenbrettchen des oberen Faches bildete.

Pratt zog die Hand zurück. Das Brettchen schnellte wieder hoch, und das Etui verschwand unbemerkt in des berühmten Detektivs Westentasche.

Dann drehte Pratt sich um.

„Maharg, ich möchte jetzt mit Ihnen mich beraten,“ sagte er scheinbar sehr enttäuscht, gerade so, als hätte er hier am Tatort nichts Wichtiges entdeckt. „Sie, Mylord, und Mr. Goorb lassen uns vielleicht zehn Minuten allein.“

„Dagegen erhebe ich Widerspruch!“ rief Goorb sofort. „Ich bin hier derjenige, der…“

Beruhigen Sie sich, Mr. Goorb“ fiel Pratt ihm ins Wort. „Was Sie sind, weiß ich, und — ich werde mich gegen Sie als Beamten nie auflehnen. — Mylord, vielleicht warten Sie in einem anderen Zimmer, bis wir drei hier unsere Besprechung beendet haben, der Mr. Goorb also beiwohnen wird.“

Lord Richard zögerte. Ein nadelscharfer Blick traf Pratts schmales Gesicht.

„Wie Sie wollen,“ sagte er dann. „Ich werde mich in meine Wohnung begeben. Dort finden Sie mich.“

Er schritt den Flur entlang und die Treppe hinab.

Goorb und Graham-Mabharg traten ein. Pratt drückte die Tür ins Schloß und winkte Goorb und Graham, neben ihn sich zu stellen.

Er lehnte an dem Fenster neben dem Schreibtisch und flüsterte nun:

„Hat Lord Richard Ihnen die gestohlene Familienbrosche beschrieben, Mr. Goorb?“

„Nein,“ meinte der Detektivinspektor sehr kühl und förmlich. „Seine Lordschaft sagte, das dürfe er nicht tun. Die Familientradition verbiete es ihm.“

„Haben Sie die Brosche mal gesehen,“ wandte Pratt sich da an den angeblichen Maharg. „Sie waren doch mal kurze Zeit bei Lord Charley Dogby Sekretär, als er noch in London wohnte.“ Das stimmte natürlich insofern nicht, als Graham erst seit sechs Monaten bei Lord Charley die Stellung als Privatsekretär bekleidete.

Goorb rief überrascht und ahnungslos: „Wie, Sie kannten Lord Charley, Mr. Maharg?“

„Ja, Mr. Goorb,“ krächzte Graham heiser. „Aber die Brosche habe ich nie zu Gesicht bekommen, habe auch nie etwas von einer solchen Brosche gehört. Das kann ich jeder Zeit beschwören — jeder Zeit! Ich glaube überhaupt nicht an diese Brosche!“

„Na nu?!“ fuhr Goorb auf. „Lord Charley hat doch mit Graham der Brosche wegen die erregte Auseinandersetzung gehabt! Ich habe Graham dieserhalb heute morgen verhört, und da hat er zugegeben, daß Lord Charley ihm auf den Kopf zusagte, er, Graham, habe die Brosche entwendet. Also muß sie wohl existieren.“

„Sie existiert!!“ Und Pratt holte das Etui hervor, klappte es auf…

In schwarze Seide gebettet lag eine Brillantbrosche mit sechs überaus kostbaren Steinen, die ein Viereck bildeten und einen Smaragd von wunderbarem Feuer umgaben.

„Donnerwetter!“ stammelte Goorb. „Wo haben Sie denn die Brosche her, Mr. Pratt?“

 

 

3. Kapitel.

Ein gedungener Mörder.

Pratt führte Goorb und Graham-Maharg zum Schreibtisch und zeigte ihnen das Geheimfach, drückte das Bodenbrett hinab und erklärte, wo das Etui gelegen hatte.

Goorb war sprachlos.

Pratt lächelte fein. „Sie sehen, Mr. Goorb, Graham hat die Brosche nicht gestohlen. — Warten Sie mal, ich will ein kleines Experiment versuchen.“

Er legte das Etui in das obere Geheimfach, drückte die Säule wieder vor, so daß das Fach geschlossen war, und gab dem Schreibtisch dann einen kräftigen Stoß.

Als er die Säule nun wegschob, zeigte sich, daß das Etui nicht mehr in dem oberen, sondern unten im zweiten Geheimfach lag.

„Vorgestern am 18. Mai,“ erklärte Pratt jetzt, „Ereignete sich hier in Washington die Explosion in der Collridge-Zellulosefabrik. Der Luftdruck der Explosion hat unzählige Scheiben zertrümmert. Hier diese beiden Scheiben des Fensters neben dem Schreibtisch sind neu eingesetzt. Der Kitt ist noch ganz frisch. Also sind auch sie in Scherben gegangen, und derselbe Luftstoß traf den Aufsatz des Schreibtisches, rüttelte ihn und ließ das Bodenbrettchen des oberen Faches sich senken. Das Etui rutschte in das untere Fach, und das Brettchen schnellte wieder hoch. Also war die Explosion der Dieb, Mr. Goorb.“

„Allerdings!“ murmelte Goorb kleinlaut.

„Wenn nun Graham die Brosche nicht gestohlen hat, wird er wohl auch kaum Lord Charley ermordet haben, Mr. Goorb, nicht wahr?“

„Nein. Obwohl Graham, was ich betonen möchte, gar nicht Graham heißt, Mr. Pratt. Ich habe ermittelt, daß dieser Mensch sich die Papiere seines vor einem Jahr verstorbenen Freundes angeeignet hat, und der hieß Allan Graham. Der, dem Lord Charley die Stellung als Privatsekretär übertrug, heißt in Wirklichkeit Fred Maming und war zuletzt Angestellter bei dem Juwelier Tomkins in Chikago, von wo er vor einem Jahr nach Verübung eines größeren Diebstahls entfloh. Man konnte seiner nicht wieder habhaft werden. Hier bei Lord Charley fühlte er sich als Allan Graham dann so sicher, daß er sich sogar mit Miß Jane Gottrick, der Tochter einer ehrbaren Witwe, verlobte.“

Pratt war von diesen Neuigkeiten so völlig überrascht, daß er Graham, also besser Fred Maming, sprachlos anstarrte.

Und nun ereignete sich etwas sehr Merkwürdiges: Maming riß Bart und Perücke ab und sagte zu Pratt:

„Ja, ich heiße Maming! Aber ein Dieb bin ich nicht!“

Goorb machte jetzt ein gänzlich verblüfftes Gesicht.

„Was — Sie… Sie sind nicht Maharg …?!“ stammelte er…

Pratt meinte nur: „Das sehen Sie ja, Mr. Goorb. Es ist Graham-Maming, den ich von Neuyork wieder mit zurückbrachte.“

Fred Maming wandte sich voller Biederkeit an den Inspektor. „Verhaften Sie mich nur wieder! Ich habe das Leben satt! Ich bin damals aus Chikago geflohen, weil die wirklichen Diebe die Sache so eingerichtet hatten, daß der Verdacht notwendig auf mich fallen mußte. Das erkannte ich rechtzeitig und brachte mich in Sicherheit. — Meine arme, arme Braut! Sie kennt mein Geheimnis! Sie glaubt an mich, an meine Schuldlosigkeit!“

Er sank haltlos in den nächsten Stuhl.

Goorb triumphierte. Ihm war soeben ein glänzender Gedanke gekommen. Er reckte sich höher — sagte mit Würde:

„Ich verhafte Sie, Fred Maming! Auch diesen Diebstahl hier haben Sie begangen! Sie haben eben das zweite Geheimfach gekannt und das Etui dort versteckt — vorläufig, denn Sie wußten, daß Lord Charley von dem unteren Fache keine Ahnung hatte. Und Mr. Pratt irrt sich, wenn er annimmt, die Explosion habe das Etui nach unten befördert!“

Pratt sah den Inspektor mit einem merkwürdigen Blick an.

„Mr. Goorb,“ meinte er kurz. „wollen Sie bitte Maming bis zum Morgen noch auf freiem Fuß belassen. Dann will ich Ihnen den Beweis erbringen, daß Maming ein Ehrenmann ist und daß Lord Charley durch eine andere Hand als die Mamings den Tod erlitt. Sie kennen mich, Mr. Goorb. Ich gebe Ihnen mein Wort, daß Maming nicht entfliehen wird. Ich liefere ihn Ihnen morgen früh acht Uhr wieder aus.“

Goorb zauderte.

„Sie halten wohl Lord Richard für den Mörder seines Onkels?!“ sagte er dann in demselben selbstbewußten Tone. „Aber der Verdacht ist gänzlich falsch, Mr. Pratt. Denn Lord Richard hat die vergangene Nacht bis vier Uhr ununterbrochen im Union-Klub geweilt, während der Mord an seinem Onkel gegen Mitternacht verübt wurde, wie beide Polizeiärzte übereinstimmend erklärt haben. Und gerade von 11 bis 1 Uhr war im Union-Klub Vorstandssitzung, an der Lord Richard teilnahm, ohne sich nur eine Minute aus dem Zimmer zu entfernen.“

Pratt blieb gelassen. „Ich habe an Lord Richard als Täter nie gedacht, Mr. Goorb. Wie durfte er als Erbe seines Onkels einen solchen Mord, der ihm den Lordtitel und Millionen einbrachte, persönlich wagen?! Er mußte doch damit rechnen, daß man sofort auch ihn mit in den Kreis der Verdächtigen hineinziehen würde! Aber — er kann einen Mörder gedungen haben, Mr. Goorb. Ob er es getan hat, weiß ich nicht — noch nicht.“

Der Inspektor war wieder unsicher geworden. Er überlegte, meinte dann:

„Nun gut, ich vertraue Ihnen Fred Maming an, Mr. Pratt, — bis morgen früh acht Uhr.“

„Und Sie schweigen jedem gegenüber, daß mein Gehilfe Maharg eigentlich Maming ist und ziehen Ihre Leute aus dem Park zurück?“

„Gewiß, Mr. Pratt. Alles nur, weil Sie es sind und weil…“

„… weil Maming auch auf Sie nicht den Eindruck eines Mörders macht,“ vollendete Pratt. „Auf Wiedersehen morgen früh, Mr. Goorb. Bis dahin besten Dank für Ihr Entgegenkommen.“

Mamings Bart und Perücke wurden wieder in Ordnung gebracht. Dann begaben Pratt und Marharg-Maming sich durch den Park nach der kleinen Villa, die Lord Richard bewohnte. Sie lag unweit der südlichen Parkmauer auf einem Hügel und war aufs eleganteste eingerichtet.

Als Pratt an der Vordertür läutete, kam Lord Richard und öffnete selbst, erklärte dazu, er habe die Köchin und den Diener für den Abend beurlaubt, da die beiden zu Verwandten hätten gehen wollen.

„Für Sie, meine Herren, steht ein Imbiß bereit,“ fügte er hinzu. „Kommen Sie ins Speisezimmer. Sie müssen ja Hunger haben.“

Es war inzwischen halb zehn geworden.

Pratt und Maming-Maharg ließen sich die ausgewählten kalten Delikatessen schmecken, und Pratt erklärte dabei dem jungen Lord, daß er bisher nur ermittelt habe, wie der ‚Mörder Graham‘ das Palais verlassen hätte: durch das Fenster und die alte Buche hinab!

Lord Richard prostete seinen Gästen zu. Er hatte drei Flaschen Wein bereitgehalten und trank eifrig mit.

Die Unterhaltung ging bald auf andere harmlose Dinge über. So wurde es elf Uhr. Lord Richard erzählte, von Pratt dazu angeregt, daß sein Onkel ihn allerdings mit Geld sehr knapp versehen habe. „Er war etwas geizig, der liebe Oheim. Ich bin seit meinem zehnten Jahre Waise und war stets ein lebenslustiger Bursche.“

„Sie spielten auch, Mylord,“ meinte Pratt so nebenbei.

„Gewiß — leider!“

„Und da gab es wohl zuweilen zwischen Ihnen und Ihrem Onkel kleine Auftritte, weil Sie zuviel Geld verbrauchten?“

„Die gab es, Mr. Pratt! — Trinken Sie doch aus, meine Herren! Ihr Wohl!“

Er stieß mit Pratt an — so kräftig, daß beide Gläser in Scherben gingen und der blutrote Kalifornierwein über das Tischtuch floß…

 

 

4. Kapitel.

Die Einbrecher.

Lord Richards ganzes Benehmen war für den Neffen des dreihundert Meter weiter im Dogby-Palais aufgebahrten Ermordeten recht eigentümlich.

Er hatte dem Wein am kräftigsten zugesprochen. Sein hageres braunes Gesicht glühte, und in den Augen war ein Flimmern, wie man es nur bei Betrunkenen von sehr widerstandsfähigem Körper findet.

„Scherben bringen Glück, Mr. Pratt,“ meinte er gleichgültig und schob die Splitter mit einer Serviette zusammen. „Setzen wir uns in meine Bibliothek, meine Herren. Hier ist es zu ungemütlich. Der Wein sieht wie Blut aus.“

Nic Pratt und Maming folgten ihm in das langgestreckte ernste Gemach mit den hohen Bücherschränken. In der Mitte stand ein mit Zeitschriften bedeckter Tisch. Vier tiefe weiche Klubsessel luden zu beschaulicher Ruhe ein.

Lord Richards Gäste nahmen Platz. Als er dann Zigarren, Zigaretten und ein Spirituslämpchen herbeiholte, beugte Pratt sich rasch zu Maming hinüber und flüsterte:

„Stecken Sie Ihr Taschenmesser geöffnet in die untere Rückennaht Ihrer Jacke, genau im Kreuz, — schnell! Fragen Sie nicht weiter. Es muß sein. Es wird sich sofort etwas ereignen…“

Maming war nicht begriffsstutzig. Er verstand zwar nicht, was Pratt mit dieser Vorsichtsmaßregel bezweckte. Daß es sich aber um eine solche handelte, war ihm klar.

Lord Richard rief vom Nebenzimmer aus:

„Soll ich Ihnen vielleicht noch eine Flasche kalifornischen Weißwein aus dem Keller holen, meine Herren?“

„Mylord, das wäre zu liebenswürdig. Ich bin, ehrlich gesagt, auf den Geschmack gekommen. Wenn es Ihnen also keine Mühe macht…“ — Pratts Antwort klang halb scherzend.

„Gut — ich bin in wenigen Minuten wieder da.“

Maming hörte eine Tür zufallen und des Lords flüchtige Schritte im Flur.

Und Maming sah, wie Pratt jetzt nebenan ins Herrenzimmer eilte…

Sah, daß der berühmte Detektiv den Hörer des Telephons von der Gabel nahm, daß er mit der anderen Hand im Telephonbuch blätterte…

Dann verlangte Pratt mit gedämpfter Stimme eine Nummer… —

Und sprach ebenso gedämpft in den Schalltrichter hinein. Was er sprach, konnte Maming nicht verstehen.

Pratt kam hastig zurück, setzte sich wieder und sagte laut:

„Mein lieber Maharg, diese Zigarre ist vorzüglich.“ Und leise wie ein Hauch: „Es sind außer uns noch Leute in der Villa… Männer! Ich sah einen Schatten auf der matten Glastür des Speisezimmers, sah einen zweiten, als die Gläser zerbrachen. Sie horchten an der Tür. Und — die Brosche, Maming, die angebliche Familienbrosche, ist ein modernes Stück, ist — — gestohlen, gehört zu der Beute, die — von Einbrechern vor vier Wochen bei Senator Bucler hier in Washington…“ Und wieder ganz laut — ohne Unterbrechung: „Geben Sie mir nochmals Feuer, Maharg. So, danke…“

Der Lord kehrte zurück, kam rasch in die Bibliothek, in der Hand zwei bestaubte Flaschen.

„Mr. Pratt,“ flüsterte er, „ich glaube, es sind Diebe in die Villa eingestiegen. Mir schien es, als ob ich eine Gestalt am Ende des Flurs…“

Dann schon von der Tür zum Herrenzimmer eine barsche Stimme:

„Hände hoch!!“

Da hatten sich drei Kerle mit Zeugfetzen vor den Gesichtern aufgebaut … Revolverläufe schimmerten matt. Und drei kleine Mündungslöcher drohender Waffen bewachten Lord Richard und seine Gäste.

Pratt hatte sofort, im Sessel zurückgelehnt bleibend, die Arme hochgereckt. Auch Maming und der Lord gehorchten. Jeder im freien Amerika weiß, daß eine solche Drohung „Hände hoch!“ kein Scherz ist.

Derselbe Kerl, der den Befehl den drei Herren zugerufen hatte, kam jetzt näher.

Er trug einen schmierigen blauen Leinenanzug. Der schwarze Zeuglappen vor dem Gesicht mit den schmalen Augenschlitzen und dem Loche vor dem Munde setzte sich nach oben zu als Kapuze fort.

„Kehrt!“ fuhr er den Lord grob an und hielt ihm den Revolver vor die Nase. „Du bist auch einer von den feinen Schuften, die schlemmen und prassen, während wir hungern! — Streck’ die Arme nach hinten… — So, Du bist vorläufig erledigt!“ Er hatte ihm eine Schlinge um die Handgelenke gestreift. „Setz’ Dich dorthin! Vorwärts!“

Dann schaute er Pratt und Maming an. „Was seid Ihr denn für fremde Vögel — he?! Du da kommst mir bekannt vor…!“ Die Revolvermündung zeigte auf Pratt. „Wer bist Du? Wie beißt Du?“

„Nic Pratt,“ erklärte der Detektiv gemütlich. „Nic Pratt aus Neuyork.“

Der Kerl trat einen Schritt zurück.

„Wie — der Detektiv?“ meinte er ungläubig.

Aber in seinem ganzen Verhalten, auch in dem Ton seiner Stimme war etwas, das wie Komödie wirkte.

Fred Maming entging das nicht. Er war überzeugt, daß der Einbrecher den berühmten Detektiv längst erkannt hatte und nur so tat, als ob er durch den Namen Nic Pratt überrascht worden wäre.

Pratt hatte, immer mit hochgereckten Armen, erwidert:

„Ja, der Detektiv!“

Und da hatte der Kerl schrill aufgelacht. „Oh — Du kommst mir gerade recht, Du verfl… Schnüffler! Hast meinem Freunde ja fünf Jahre Sing-Sing (Zuchthaus) besorgt! Sollst es gut haben!!“

Und zu Maming: „Daß Du nen falschen Bart und Perücke trägst, fühlt ein Blinder mit dem Stock!! Bist natürlich auch so’n Lump, der uns das bisschen Leben sauer macht!“

Dann trat er hinter Pratts Sessel und fesselte auch ihm die Handgelenke durch eine Schlinge zusammen. Maming kam als letzter an die Reihe. Inzwischen hatten die beiden anderen Einbrecher die drei Herren dauernd im Auge behalten.

Nun flüsterten sie miteinander. Einer holte aus der Tasche dünnen Draht hervor. Im Nu hatten sie den Gefangenen auch die Fußgelenke umwickelt.

Noch drei andere Kerle fanden sich plötzlich ein. Der Grobe gab ihnen einen Wink. Sie packten Pratt und schleppten ihn durch den Hinterflur die Kellertreppe hinab.

Die Keller waren hoch und luftig, hatten große Fenster und enthielten die Küche und die Stuben der Hausangestellten.

Man warf Pratt wie ein Bündel auf das Bett des Dieners; man band ihn hier fest. Er ließ alles mit sich geschehen. Er rief weder um Hilfe noch wehrte er sich. Er spielte gleichsam nur den unbeteiligten Zuschauer bei alledem, was man mit ihm vornahm.

Einer der Verbrecher blieb bei ihm als Wache zurück. Dann wurde Fred Maming herbeigebracht, wurde neben Pratt auf das Bett gefesselt. Die Kerle drehten das elektrische Licht aus und verschwanden.

Fred Maming lag mit dem Kopf neben Pratts Stiefeln. Da man ihm keinen Knebel in den Mund gesteckt hatte, wartete er nur, bis die Schritte der sich Entfernenden verhallt waren. Dann flüsterte er, plötzlich von Todesangst gepackt:

„Mr. Pratt, die Schufte haben den Hahn des Gasofens hier neben mir an der Wand geöffnet. Ich rieche das Gas, ich höre es ausströmen. Man will uns ermorden.“

„Das will man,“ erwiderte Pratt aus dem Dunkel heraus. „Sie brauchen sich jedoch keine Sorgen zu machen. Ich habe vorhin, als der Lord den Wein holte…“

Er schwieg — lauschte…

Oben im Hause waren ein paar Schüsse gefallen.

„Man ermordet den Lord!“ rief Maming…

Pratt lachte kurz auf. „Glauben Sie?! Man ermordet niemand, der…“

Abermals Schüsse — jetzt auch offenbar im Park.

„Verdammt!“ murmelte Pratt unwillig. „Dieser Dummkopf von Goorb hat sich natürlich nicht an meine Anweisungen gehalten! Alles verdorben hat der Kerl!“

Maming begriff nichts — nichts! Er merkte nur, daß Nic Pratt mehr als wütend war.

„Ich habe Goorb nämlich telephonisch herbestellt, als der Lord den Wein holte,“ erklärte Pratt aufgebracht. „Ich wußte, daß wir überfallen werden würden. Ich wollte…“

Da im Keller Stimmen — laute Rufe: „Pratt, wo stecken Sie? Pratt — — Pratt, melden Sie sich!“

Nic Pratt fauchte: „Daß Sie ja den Mund halten, Maming! Mag der Esel von Goorb uns nur suchen!“

Im Kellergang Schritte — erneutes Rufen, dicht vor der Tür der Dienerstube…

Goorbs Stimme war deutlich zu verstehen. „Sucht, Leute, sucht! Die beiden müssen hier sein!“

Dann flog die Tür auf. Eine grelle Lichtbahn fiel auf das Bett…

„Wir haben sie!“ brüllte der Inspektor. Und beugte sich über Pratt: „Sehen Sie, gerade noch zur rechten Zeit, Mr. Pratt!“

„Binden Sie mich los!“ schnaubte Pratt. „Mit Ihnen arbeite ich mein Lebtag nicht mehr zusammen! Hatte ich Ihnen nicht am Fernsprecher gesagt, Sie sollten die Einbrecher ruhig abziehen lassen und ihnen nur auf den Fersen bleiben?! Statt dessen haben Sie da oben die reine Revolverschlacht ausgefochten! — Wo ist Lord Richard?“

„Ja — des Lords wegen habe ich ja nur zugepackt, Mr. Pratt!“ meinte Goorb empört. „Wie können Sie mir deshalb Vorwürfe machen?! Die Schufte schleppten ihn gefesselt zu einem Auto, das draußen in der stillen Roglar-Street hielt!“

„Himmel — und wo ist der Lord?“ rief Pratt heiser vor Aufregung.

„Die Banditen sind mit ihm entkommen. Zwei von meinen Leuten haben Beinschüsse, und…“

„Und Sie sollten ein Kilo Blei vors Gehirn erhalten!“ kollerte Pratt, der heute in dieser Wut kaum wiederzuerkennen war. „Binden Sie mich los! Worauf warten Sie?! Wissen Sie, wen Sie da haben entfliehen lassen, Mr. Goorb: den Dieb der Juwelen Senator Buclers!“

„Wie… wie meinen Sie das?“ stotterte der Inspektor verblüfft und begann Pratts Fesseln zu lösen.

„Ich meine das so, wie es ist! Besinnen Sie sich gefälligst: eine Brosche mit sechs Brillanten und einem Smaragd gehörte mit zu der Beute, die bei Senator Bucler…“

„Herr Gott!“ rief Goorb da. „Das stimmt! Jetzt fällt es mir ein!“

„Ihnen fällt alles zu spät ein!“ und Pratt sprang auf die Füße. „Haben Sie das Auto der Verbrecher wenigstens verfolgen lassen?“

„Das konnte ich ja nicht. Sollten meine Leute hinterdrein rennen?!“

Pratt befühlte seine Taschen. „Meinen Revolver habe ich noch! — Nein, hinterdrein rennen, das wäre zwecklos gewesen. Ich will…“ er sprach immer langsamer — „will versuchen, Ihren Fehler wieder gutzumachen, Mr. Goorb. Schicken Sie alle Ihre Leute weg. Wir drei sind genug für den letzten Teil der Tragödie.“

Von der Tür rief jemand: „Und ich, Mr. Pratt? Ich muß doch als Reporter notwendig mit dabei sein!“

Es war der kleine hagere Jim Pripp, diese Perle von Reporter, dieser Mann, der alles konnte: Flugzeuge lenken, Autos lenken, Jachten steuern, Baseball spielen — kurz alles!

„Gut, Pripp,“ nickte der Detektiv ihm zu. „Sie also auch!“

 

 

5. Kapitel.

Der Mörder Lord Dogbys.

Zehn Minuten drauf saßen diese vier, Pripp Goorb, Maming, Pratt, in Lord Richards Bibliothek in den vier Klubsesseln. Pripp saß quer im Sessel und hatte die Beine auf die Armlehne gelegt, schaute den Inspektor an und meinte:

„Nicht wahr, Sie denken dasselbe wie ich: wozu sitzen wir hier?“

Goorb, finster wie ein beleidigter Pascha, brummte ärgerlich: „Das möchte ich auch wissen!“

„Wir warten auf den Lord,“ sagte Pratt und zog an seiner Zigarre. „Die Verbrecher werden ihn bald wieder freilassen, hoffe ich. Er wird sich loskaufen.“

Man hörte draußen Schritte. Dann erschien ein blondes Mädchen in Hut und Mantel, und ein gutgekleideter bartloser Mann.

„Ich bin der Diener James,“ erklärte der Mann. „Dies hier ist die Köchin Marry Woord. Wir kommen aus dem Theater. — Verzeihung, Mr. Goorb, wo ist Seine Lordschaft?“

Pratt stand schnell auf. „Aus dem Theater, James? — Darüber reden wir nachher. Setzen Sie sich dort auf das Sofa! Sie auch, Marry! Gehorchen Sie! Inspektor Goorb verhaftet Sie beide sonst.“

Goorb machte ein unglaublich geistloses Gesicht.

„Was Ihnen beiden zum Vorwurf gemacht wird, werde ich Ihnen nachher erklären,“ fuhr Pratt fort und spielte mit seinem Revolver. „Nun erzählen Sie uns mal, Maming, was Sie in der verflossenen Nacht in Lord Charley Dogbys Arbeitszimmer erlebt haben, als Sie auf dem Fensterbrett saßen und Ihr Beinkleid am Harz festklebte. Daß Sie Ihre Anwesenheit dort bisher verschwiegen, taten Sie nur, um nicht neue Verdachtsgründe gegen Sie auftauchen zu lassen. Das begreife ich. — Also bitte, Maming, nun die Wahrheit.“

Maming sah, daß der Diener James vom Sofa erschrocken hochschnellte. Aber Pratts Revolver hielt ihn in Schach. Und Pratt sagte ironisch zu dem Diener. „Ja, dieser Mr. Maming ist mit Graham identisch, James. — Bitte, Maming…“

Und der Privatsekretär begann: „Ich war tatsächlich in Lord Charleys Arbeitszimmer gegen ein Uhr morgens eingedrungen, um den Schreibtisch zu durchsuchen, da ich hoffte, die Brosche könnte von Lord Charley verlegt worden sein.“

„Die Familienbrosche!“ warf wieder ironisch Pratt ein. „Und — diese Familienbrosche hat nie existiert. Nur die Brosche der Frau Senator Bucler kommt hier in Betracht.“

„Das wußte ich damals noch nicht,“ meinte Maming ruhig. „Als ich mich in das Zimmer schlich, stieß ich mit dem Fuße gegen einen menschlichen Körper. Ich schaltete meine Taschenlampe ein und erkannte Lord Charley. Er war tot. Neben ihm lag ein Revolver.“

„Ah!“ machte Pratt überrascht. „Das hätte ich nicht gedacht!“

„Und zwar sein eigener Revolver, Mr. Pratt, den ich wiederholt in der Hand gehabt hatte,“ fuhr Maming fort. „Ich war so entsetzt, daß ich rasch wieder flüchten wollte. Aber kaum war ich aus der Zimmertür, als von rechts den Flur entlang jemand mit einer Blendlaterne dahergehuscht kam. Ich machte kehrt und verbarg mich hinter dem Fenstervorhang. So wurde ich Zeuge, wie der Diener James den Revolver mitnahm.“

„Und dann?“

„Dann verließ ich das Palais und eilte in die Wälder von Dennison, wo ich meine Nerven beruhigen wollte. Morgens wurde ich in meiner Wohnung verhaftet.“

Kaum hatte Maming den Satz beendet, als im Flur wieder Schritte erklangen.

Lord Richard betrat die Bibliothek, blieb stehen, schaute die hier Versammelten verblüfft an und sagte dann mit einem tiefen Seufzer:

„Da bin ich wieder, meine Herren! Ich mußte den Schurken Uhr, Kette, Ringe und meine ganze Barschaft für meine Freilassung geben. Ich trug 150000 Dollar bei mir.“

Pratt lehnte noch am Mitteltisch. „Nehmen Sie dort in meinem Sessel Platz, Mylord,“ meinte er gleichmütig. „Wir sind gerade dabei, den Mord an Ihrem Oheim aufzuklären. — Pripp und Mr. Goorb vielleicht halten auch Sie Ihre Revolver bereit. Maming, Sie stellen sich an die Tür. — So… — Ich beschuldige Sie, Lord Richard, Ihren Onkel durch Ihren Diener James beseitigt zu haben.“

Der baumlange junge Erbe des Titels und Vermögens des Lord Dogby richtete sich im Sessel mit einem Ruck auf.

„Sie sind betrunken, Mr. Pratt,“ sagte er hochmütig.

„Keineswegs, Mylord. Ich will Ihnen erklären, wie Sie dazu kamen, Ihren Oheim ermorden zu lassen. Sie sind Spieler, Verschwender. Ihr Onkel hielt Sie mit Geld sehr knapp. Da taten Sie sich mit James, dessen Geliebte Marry Ihre Köchin vorstellt, zusammen und verübten Diebstähle, so auch bei Senator Bucler.“

„Lächerlicher Unsinn!“ rief Seine Lordschaft. „Inpektor Goorb, ich verlange…“

„Bleiben Sie gefälligst still, bis ich fertig bin!“ sagte Pratt scharfen Tones. „Irgendwie bekam Ihr Onkel dann die Buceler-Brosche zu Gesicht, erkannte sie und merkte, daß sein Herr Neffe… Einbrecher geworden. Er nahm Ihnen das Schmuckstück weg und schloß es, vielleicht am 18. morgens, in seinen Schreibtisch ein — in das Geheimfach! Als er sie dann wieder hervorholen wollte, war das Schmuckstück in das zweite Geheimfach gerutscht, von dem Lord Charley keine Ahnung hatte. Nun beschuldigte er Graham Maming des Diebstahls. Er tat es, weil er genau gewußt haben muß, daß Sie, Lord Richard, die Brosche sich nicht wieder angeeignet haben konnten. Mit Ihnen verabredete er dann das Märchen von der Familienbrosche.“

„Ja — so muß es sein,“ rief Maming dazwischen, „denn Lord Charley hat mir bei der Szene zwischen uns 100000 Dollar versprochen, wenn ich die Brosche zurückgeben würde, und er nahm ja auch von einer Anzeige Abstand.“

Der junge Lord Dogby zuckte die Achseln und wandte sich an Goorb.

„Inspektor, ich verlange, daß Sie Mr. Pratt wegen schwerer Beleidigung meiner Person verhaften,“ sagte er kalt. „Mr. Pratt hat uns hier Hirngespinste vorgeführt, für die er nicht den geringsten Beweis besitzt.“

„Glauben Sie?!“ rief Pratt. „Maming hat gesehen, wie James den Revolver holte. Und James war einer der Verbrecher, die uns hier vorhin überfielen. Er trug Verkleidung, aber er trug dazu auch dieselben Stiefel mit Lackspitzen, die er jetzt noch anhat. Über die Lackspitze des einen Stiefels läuft ein Kratzer hin, den ich bemerkte, als die Einbrecher mich — unten in den Keller schleppten. Diese Einbrecher hatte James bestellt. Sie sollten mich und Maming mit Gas ermorden, damit ich die Wahrheit über Lord Charleys Tod nicht an den Tag brächte. Sie sollten auch Lord Richard mitnehmen, ausplündern und wieder freilassen, damit niemand auf den Verdacht käme, er und James hätten Maming und mich auf dem Gewissen! Hätten Sie, Lord Richard, bei diesem letzten Teil Ihrer schändlichen Pläne nicht einen so großen Fehler gemacht, so würde ich wohl kaum hinter diese neuen, gegen Maming und mich gerichteten Mordabsichten gekommen sein. Ihr Fehler bestand darin, daß Sie Maming und mich allzu liebenswürdig bewirteten und ganz vergaßen, den durch den Verlust Ihres Onkels ernst Gestimmten zu spielen, und daß Sie auch…“

Pratt schwieg — sprang auf Lord Richard zu.

Der hatte bereits das weiße Kügelchen verschluckt, sagte müde lächelnd:

„Ich habe die Partie verloren! Ja — das Spiel, das Hazard, hat mich in den Abgrund getrieben. Ihre Kombinationen stimmen, Mr. Pratt. Nur eins fehlt noch: ich habe auch mit James den Diebstahl bei dem Juwelier Tomkins in Chikago ausgeführt. Maming ist unschuldig…“

Sein Kopf sank zurück…

Gleich darauf war er eine Leiche. Das Gift hatte nur zu schnell gewirkt. —

Maming und Jane Gottrick sind längst ein glückliches Paar. James endete auf dem elektrischen Stuhl.