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Anna Raller

Anna Raller.

Erzählung aus den Märztagen des Jahres 1813

von

Walter Kabel.

Es war an einem kalten windigen Morgen eines der ersten Märztage des Jahres 1813. Feinflockiger Schnee trieb der schneidige Nordost durch die Straßen der schlesischen Hauptstadt und überschüttete die zahlreichen Menschengruppen, die trotz der frühen Stunde überall in den Gassen und auf den Plätzen beieinander standen, mit weißen Kristallen. Aber die aufgeregten Bürger scherte das Wetter nicht im geringsten. Lebte man doch hier in Breslau seit Monaten in einer geradezu fieberhaften Aufregung. Nach dem des Weltbezwingers Napoleon ungeheures Kriegsheer in den Eiswüsten Rußlands vernichtet war, nachdem der preußische General York durch den zu Tauropgen in Ostpreußen mit dem russischen General Diebitsch abgeschlossenen Waffenstillstand die Erhebung des deutschen Volkes eingeleitet hatte und König Friedrich Wilhelm III. dann vor den Häschern des Korsen nach Breslau geflüchtet war, verging kein Tag, an dem nicht irgend eine neue Nachricht vom politischen Theater die patriotischen Herzen der braven Schlesier höher schlagen machte. Leute, die sich bisher nie um Politik gekümmert hatten, wurden schnell von der allgemeinen Begeisterung mit fortgerissen, einer Begeisterung, die nur dem einen großen Ziele entgegenstrebte: das Joch der Fremdherrschaft abzuschütteln und den deutschen Boden zu reinigen von den französischen Eindringlingen, deren Willkür und Selbstbewusstsein jedem Patrioten schon längst die Galle ins Blut getrieben hatte. Jetzt endlich war der Zeitpunkt gekommen, wo die Sonne der Freiheit wieder aufgehen sollte in den durch jahrelange Kriege halbverwüsteten deutschen Gauen, wo jung und alt, arm und reich sich rüstete, wie ein Mann gegen den Korsen aufzustehen. — —

An der Ecke der Wall- und Reuschestraße, wo dichte Scharen von Bürgern ein an einer Hauswand angeklebtes Blatt umdrängten, hatte soeben ein Student, mit dreifarbigem Bande über der Brust, einen Bauernschlitten angehalten und sich neben den dichtvermummten Lenker auf den Sitz geschwungen.

„Mitbürger, Patrioten!“ rief er, „in dieser Nacht ist aus Ostpreußen ein Kurier eingetroffen, General York hat dort bereits ein Heer von 45000 Mann Landwehrtruppen gesammelt und befindet sich auf dem Anmarsch gegen Berlin.“

Wie ein einziger Erlösungsschrei war’s aus hundert Kehlen, was jetzt in donnernden Hurras in die Morgenluft hineinschallte.

„Noch mehr, noch besseres, Mitbürger!“ tönte die junge, begeisterte Stimme wieder. „Bereits in den nächsten Tagen trifft der Kaiser von Rußland hier in Breslau ein, um den Feldzugsplan gegen Napoleon mit unserm König zu beraten. Jetzt geht’s vorwärts — der Freiheit entgegen! — Patrioten! Noch weilen überall in den Mauern Breslaus Söldlinge des Franzosenkaisers! Darunter wird es mehr als einen heimlichen Spion geben, der alles, was hier geschieht, schnellstens mach Paris berichtet. Werfen wir die Franzosenbrut hinaus, Mitbürger, jene kläglichen Überreste der großen Armee, die hier nur ihre Wunden ausheilen lassen, um später wieder gegen uns kämpfen zu können. Hinaus mit ihnen! Aber, Patrioten, keine Gewalttat, kein Blutvergießen! Es gibt auch friedliche Mittel und Wege, die Fremdlinge loszuwerden. Vergeßt das nicht, Bürger!“

Wie ein Alarmruf wirkte diese Aufforderung auf die erregten Massen. Eine Stunde später begannen bereits die ersten Franzosen vor der immer erregter werdenden Stimmung der Bürger schleunigst zu flüchten. Ungehindert ließ man sie ziehen.

Der Schmiedemeister Raller hatte noch vor wenigen Wochen zu den beliebtesten Bürgern der Vorstadt gehört. Dann war an einem Novemberabend des Jahres 1812 ein verwundeter französischer Offizier vor seinem Hause umgesunken, und damit war’s mit Meister Rallers Popularität vorbei. Daß er den Franzosen bei sich aufgenommen, niemand würde ihn deswegen scheel angesehen haben. Aber dem Fremdling gleich die breite Stube des Erdgeschosses einzuräumen und zu dulden, daß jener sich von des Meisters blondem Töchterlein pflegen ließ, das war’s, was man Raller verdachte. Gute Freunde hatten es ihm längst gesagt. Der Schmied, eine wahre Hühnenfigur, krauste dann wohl unmutig die Stirn und schwor Stein und Bein, daß er den Franzosen nicht länger bei sich behalten wollte. Doch daheim kommandierte nicht er, sondern sein ebenso starkknochiges, ehrgeiziges und eitles Eheweib. Und der schwebte die Hoffnung vor, aus dem Grafen Velvoux, Major in der Kaiserlichen Garde, und der blonden Anna könnte vielleicht doch ein Paar werden. Und daher blieb alles beim alten.

Der Student, der vorhin von dem Bauernschlitten seine aufreizenden Worte herabgerufen hatte, war jetzt an der Spitze eines wohl zweihundert Mann starken Haufens vor das Haus des Schmiedemeisters Raller gezogen. Dieser befand sich gerade in seiner Werkstatt bei der Arbeit, als seine Frau hereinstürzte und ihn von dem drohenden Gebaren der draußen versammelten Menge verständigte.

Der Schmied erbleichte. Also soweit war es schon gekommen, so weit…!

„Daran bist du allein schuld. Ursula, du allein“, sagte er dumpf und mit unheilverkündendem Aufblitzen in den Augen „Aber niemand soll mich mehr Franzosenfreund nennen, niemand…!“ Damit verließ er die Schmiede und trat auf die Straße hinaus.

Mit Johlen und Pfeifen empfing man ihm. Raller biß die Zähne zusammen, reckte sich höher und winkte mit der Hand.

„Bürger, ich weiß, weswegen Ihr gekommen seid,“ sagte er mit weithin vernehmbarer Stimme. „Mein Dach beherbergt einen Feind. Noch heute wird er mein Haus verlassen. Ich schwöre es Euch zu. Geht daher ruhig heim.“

In dieser einfachen Sprache war die Kraft überzeugender Wahrheit. Der Student, der Führer des Haufens, nickte befriedigt. Wenige Worte von ihm genügten und die Menge zerstreute sich ruhig nach allen Seiten.

Einige Minuten später betrat Raller die ebener Erde gelegene Stube, in der der Franzose untergebracht war.

„Herr Major,“ begann der Schmied mit finsterer Entschlossenheit. „Sie verstehen genug Deutsch, um das begreifen zu können, was ich Ihnen jetzt sagen muß. Ich habe Sie bis heute als meinen Gast betrachtet. Damit ist’s nun zu Ende. Heute habe ich erfahren, daß Sie genügend wiederhergestellt sind, um nach Ihrer Heimat zurückzukehren zu können. — Keine Widerrede. Herr Graf! Wer nachts heimlich aus dem Fenster auf die Straße hinaus klettert,“ sprach’s mit erhobener Stimme, „um mit anderen Spionen des Korsen heimliche Zusammenkünfte abzuhalten, dessen Beine sind gesund. Und daher — noch heute werden Sie mein Haus verlassen! Und, wenn Sie einen guten Rat wollen, auch die Stadt, in der Ihnen das neugebildete Sicherheits-Komitee schon seit einer Woche auf der Spur ist und jeden Ihrer Schritte überwacht. Heute wird man sie noch ungehindert ziehen lassen. Ob morgen noch — ist sehr die Frage.“

Graf Velvoux, ein Mann mit anziehenden, feinen Gesichtszügen, war bei des Meisters Worten bis unter die Schläfen errötet. Jetzt raffte er sich zu einer Erwiderung auf. Seine Stimme sollte stolz und sorglos klingen, und doch zitterte etwas wie Verlegenheit in ihr.

„Ihre Anschuldigungen verlache ich. Ich werde mich bei ihrem König darüber beschweren. Noch sind wir in Preußen die Herren, vergessen Sie das nicht! Das andere —“ er zog verächtlich die Lippen hoch und warf eine geldgefüllte Börse vor den Meister hin, „da ist die Bezahlung für Ihre Dienste. Ich werde nicht eine Stunde länger in Ihrem Hause bleiben.“

Raller schob mit dem Fuße das Geld beiseite. „Dann sind wir ja einig,“ meinte er ruhig. Bald stand er wieder vor seinem Amboß in der rauchigen Werkstatt. Das Herz war ihm so frei, so leicht.

In der Nacht erwachte er infolge irgend eines Geräusches, das aus der Nebenkammer, wo seine Tochter schlief, hervordrang. Lauschend richtet er sich auf. Aber alles blieb still. So hatte er doch nur geträumt. Schon wollte er wieder beruhigt den Kopf in die Kissen sinken lassen, als er deutlich das Knarren einer Tür vernahm. Schnell machte er Licht und riß, das Herz voll von bösen Ahnungen, die Tür zu der Kammer auf. Annas Bett war leer. Auch im Hause war sie nirgends zu finden… —

An der großen gen Westen führenden Heerstraße lag damals ungefähr drei Meilen von Breslau entfernt inmitten eines Wäldchens das große Gasthaus „Zur goldenen Kugel.“ Dort ging es in derselben Nacht sehr lebhaft zu. Aus dem großen Saalanbau, dessen Fenster in hellstem Lichte erstrahlten, drang lautes Stimmengewirr. Auf dem Hofe vor der Einfahrt standen eine große Anzahl von Schlitten, deren Pferde dicht in warme Decken gehüllt waren.

Auf der Landstraße aber waren Wachen aufgestellt. Man wollte vor Überraschung sicher sein.

Der Saal selbst war nicht gefüllt. Wohl vierhundert Männer aller Berufsstände und Altersklassen lauschten jetzt andächtig den Orten desselben Studenten, der am Morgen schon die Breslauer Bürger zur Vertreibung der Franzosen aufgefordert hatte. Bisweilen wurde die Rede durch laute, begeisterte Hurras unterbrochen.

„Und so fordere ich Euch denn auf, schlesische Landsleute, dem Rufe Eures Königs zu folgen,“ schloß der Student soeben seine Ansprache. „Schon am 3. Februar dieses Jahres hat unser Monarch seinen Aufruf zur Bildung freiwilliger Jägerkorps erlassen. Napoleon, noch heute der eigentliche Gewalthaber in unserem Vaterlande, drohte daraufhin mit strengen Gegenmaßregeln. Nur vorsichtig konnte daher bis heute die Bildung dieser Freiwilligentruppe erfolgen. Wußten wir doch nicht, ob wir für den großen Befreiungskampf Bundesgenossen finden würden. Jetzt wissen wir es: der Russe steht zu uns. Alle Heimlichkeit hat bald ein Ende. Und deshalb, Schlesier, schart Euch um Eure Führer, erklärt Euch durch Handschlag bereit, von heute ab nur der großen Sache der Befreiung zu dienen. Dort sitzen die drei Herren, die diese patriotische Versammlung einberufen haben. Sie werden Euch mit Waffen versehen, Euch zu Soldaten heranbilden, Schlesier, denkt an Euer geknechtetes Vaterland! Alles für die Freiheit! Es lebe der König!“

Brausende Hurras, ein Vorwärtsdrängen nach dem Tische hin, an dem die drei Großgrundbesitzer der Umgegend, die Herren von Görne, von Stetter und Kutzow saßen. Schnell füllten sich die Listen mit Namen. Jeder wurde noch nebenbei durch Handschlag vereidigt.

Da schob sich ein Mann, der zu den nach Breslau zu auf der Landstraße aufgestellten Wachen gehörte, an Herrn von Görne heran und flüsterte ihm eifrig etwas zu. Draußen vor der „Goldenen Kugel“ hier hielt ein Schlitten mit dampfenden Pferden, in dem zwei dicht vermummte Gestalten lagen.

Jetzt trat Herr von Görne und der Student an den Schlitten heran. Der nun folgende laute Wortwechsel mit einem der Insassen des Gefährtes lockte schnell immer mehr Neugierige herbei.

„Ich fordere Sie nochmals auf, sich zu legitimieren,“ sagte der Gutsbesitzer von Görne ernst.

„Unerhörte Belästigung!“ rief wütend der Andere. „Ich sagte Ihnen schon — bin der Gardemajor Graf Velvoux. Lassen Sie mich passieren — oder es soll Ihnen teuer zu stehen kommen.“

Herr von Görne blieb kalt.

„Und Ihr Begleiter, Herr Major?“

Der Franzose stieß eine Verwünschung aus peitschte auf die Pferde ein. Aber ebenso schnell fiel man den Gäulen in die Zügel. Kräftige Arme packten zu und zerrten erst den Major und dann seinen Begleiter aus dem Schlitten. Ein Ruf des Erstaunens. Die zweite vermummte Gestalt war ein Weib — ein blondes bildhübsches Mädchen… –

Man hatte Anna Raller in das Privatzimmer der Wirtin geführt. Dort saß sie jetzt verschüchtert in einer Ecke und schluchzte leise in sich hinein. Erst nach einer geraumen Weile erschien Herr von Görne.

„Sie tun am besten, mein liebes Fräulein, wenn Sie zu Ihren Eltern zurückkehren. Den Grafen werden wir als Gefangenen behandeln. Er führt wichtige Schriftstücke bei sich und dürfte als gewöhnlicher Spion zu behandeln sein.“ —

Als die Wirtin „Zur goldenen Kugel“ am nächsten Morgen Anna Raller wecken wollte, damit diese sich zur Heimfahrt fertig mache, war die Stube leer. Wo das Mädchen geblieben, wußte man nicht. Im Elternhause war sie nicht eingetroffen, wie man feststellte. –

Als König Friedrich Wilhelm III. dann am 17. März den „Aufruf an mein Volk“ erlassen hatte, jene unvergeßlichen Sätze:

„Es ist der letzte entscheidende Kampf, den wir bestehen für unsere Existenz, unsere Unabhängigkeit. Es gibt keinen Ausweg als Sieg oder Untergang“,

jene Sätze, die einen Widerhall im ganzen Land fanden wie noch keines Herrschers Wort je zuvor, die das Volk zu den höchsten Opfern anspornten und Armeen geradezu aus der Erde zauberten, da ließ sich als einer die ersten Freiwilligen in Liegnitz ein junger, blonder Mann eintragen mit auffallend zartem Gliederbau und mädchenhaft weichen Zügen, aus denen jedoch nie ein Ausdruck bitteren Herzenswehs weichen wollte. Dieser Jüngling, der sich Hans Raller nannte, fiel dann sechs Wochen später in der unentschiedenen Schlacht bei Großgörschen, nachdem er durch seine seltene Todesverachtung seinen Kameraden ein rühmliches Beispiel gegeben hatte.

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Meister Raller stand am Amboß in seiner Schmiede. Sein Haar war in jener Unglücksnacht, als seine Anna mit dem Franzosen auf und davon ging, weiß geworden.

Ein Schatten fiel durch die offene Tür der Werkstatt auf den schwarzen Lehmfußboden. Der Meister drehte sich um. Ein alter Magistratsdiener stand vor ihm, reichte ihm schweigend einen Brief hin und verschwand wieder.

Raller riß das Schreiben auf, las, las, — Leichenblässe bedeckte sein Gesicht. Und halb taumelnd schritt er dann in das Wohnhaus hinüber.

Frau Ursulas rotgeweinte Augen konnten den Brief zunächst kaum entziffern.

„Kommando des 2. Schlesisch. Landwehrregiments, — Hierdurch erfüllen wir die traurige Pflicht und teilen Ihnen mit, daß Ihre Tochter Anna, die unter dem Namen Hans Raller in der 4 Kompanie stand, bei Großgörschen am 2 Mai 1814 den Ehrentod für das Vaterland gestorben ist.“

Frau Ursulas Händen entglitt das Papier. Wie ein frohes Leuchten ging es über ihr vergrämtes Gesicht.

„Gesühnt, schwer gesühnt,“ murmelte sie leise.

Da zog ihr Mann sie fest an seine Brust.

„Hast recht, Mutter — — gesühnt! — Nun können wir den Kopf wieder hochtragen. Der Himmel hat unserem Kind den richtigen Weg gewiesen.“ —

—Ende—