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Im Ballon

Im Ballon.

Erzählung

von

Walter Kabel.

Fred Wilson, Agent des Detektivinstituts ‚Union’, New York, schaute nochmals unauffällig zu dem elegant gekleideten Herrn hinüber, der, behaglich auf dem von der Julisonne durchwärmten weißen Seesand ausgestreckt, seine Zigarette rauchte und aufmerksam die Segelboote verfolgte, die in der seichten Brise draußen auf dem Meere vor dem elegantesten der nordamerikanischen Bäder Coney Island kreuzten.

Parker,“ flüsterte er im Weitergehen seinem Kollegen zu, „wenn mich nicht alles täuscht, habe ich da eben den bisher vergeblich gesuchten Einbrecher Sinters entdeckt.“

Harry Parker zog die Augenbrauen erwartungsvoll hoch. „Tatsächlich? Irrst du dich auch nicht?“ fragte er eifrig.

Sie traten hinter einen Strandkorb, und hier entnahm Wilson seiner Brieftasche eine Photographie, die er nach kurzer Prüfung zufrieden lächelnd wieder fortsteckte.

Ich kann mich auf mein Personengedächtnis verlassen,“ meinte er zuversichtlich. „Sinters hat sich zwar den Schnurrbart abnehmen lassen und das Kopfhaar dunkel gefärbt, aber sein stark gekrümmtes, schmales Riechorgan verrät ihn trotzdem noch immer. Solche Nasen sind nicht allzu häufig. Gewiß, möglich ist’s ja auch, daß hier eine merkwürdige Ähnlichkeit vorliegt. Nun wir können uns ja bald Gewißheit verschaffen.“ – – –

Vor drei Monaten, Ende April, hatte man in New York die Kasse der Holzfirma Webster, Lorley & Co. vollständig ausgeraubt, wobei ein Wächter von den Einbechern, – daß mehrere am Werk gewesen sein mußten, stellte die Polizei bald fest – niedergestochen worden war. Bereits einige Tage später wurden infolge Verrats eines anderen Verbrechers, der der Behörde schon häufig Spitzeldienste geleistet und in diesem Falle zufällig die Namen der Täter erfahren hatte, drei Mitglieder der Bande dingfest gemacht. Der vierte mußte jedoch noch zur rechten Zeit von der ihm drohenden Verhaftung Wind bekommen haben und war entflohen. Seine Spur wurde bis St. Louis verfolgt. Dort verlor sie sich vollständig, und die Beamten mußten unverrichteter Sache nach New York zurückkehren, obgleich ihnen die Nachforschungen durch eine erst vor kurzem angefertigte Photographie des Gesuchten wesentlich erleichtert worden waren.

Da Webster, Lorley & Co. aber den auf Sinters gefallenen Anteil der Beute, der nicht weniger als 82000 Dollars betrug, nicht ohne weiteres auf das Verlustkonto setzen wollten, teilten sie sämtlichen Detektivinstituten New Yorks, in derartigen Fällen die Maßnahme, den Tatbestand mit und versprachen für die Ergreifung des Flüchtlings ein Drittel der noch bei ihm aufgefundenen Summe.

Jetzt schienen die beiden Agenten der ‚Union‘, die zur Beobachtung einer internationalen Hochstaplerin nach Coney Island geschickt worden waren, den Verbrecher in dem vornehmen, ganz in der Nähe von New York auf der Insel Long Island liegenden Bade, wo man ihn am allerwenigsten vermutete, ausfindig gemacht zu haben.

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Drei Tage später hatten die Agenten so viel Material gesammelt, daß sie ruhigen Gewissens die Verhaftung Sinters vornehmen zu können glaubten. Dieser war in einem der ersten Hotels von Coney Island unter dem Namen eines Fabrikbesitzers Robert Esterley aus New Orleans abgestiegen, trat Überall mit größter Sicherheit auf und gab das Geld mit vollen Händen aus. Einen Robert Esterley gab es jedoch in der genannten südlichen Handelsmetropole nicht, was sehr einfach durch telephonische Anfrage bei der dortigen Polizei festgestellt werden konnte. Nach dieser entscheidenden Auskunft waren die Agenten sich ihrer Sache vollkommen sicher.

Der angebliche Esterley saß gerade mit mehreren Damen und Herren, die er in seinem Hotel kennen gelernt hatte, vor dem Konzerthaus des berühmten Vergnügungsparkes des Seebades beim Nachmittagskaffee als Wilson und Parker sich an einem Tisch in der Nähe niederließen und eine günstige Gelegenheit abwarteten, um sich des Gentleman-Einbrechers ohne viel Aufsehen zu bemächtigen.

Sinters hatte offenbar keine Ahnung, daß die Hand des Schicksals so dicht über ihm schwebte. Er war der Ausgelassenste der kleinen Gesellschaft, scherzte und lachte und benahm sich vollkommen zwanglos, als ob er das reinste Gewissen von der Welt sein Eigen nannte. Als jetzt aus der Richtung, wo die gelbe Kugel des Fesselballons ‚Amerika‘ dicht über der Erde im Winde leicht hin- und herschwankte, laute Hornrufe ertönten, die das Publikum zur Teilnahme an einem Aufstieg einluden, erhob er sich und schlenderte in Begleitung eines anderen Herrn dem eingezäunten Platze zu, in dessen Mitte der Ballon an einem starken Hanftaue verankert war.

Als die beiden Agenten ihm nach einigen Minuten folgten und sich durch die ‚Amerika‘ umdrängte Menge glücklich einen Weg bis dicht an die Barriere gebahnt hatten, stand Sinters bereits neben dem Besitzer in der Ballonkorbe und rief eben seinen Bekannten, lächeln mit der Hand winkend zu:

Auf Wiedersehen in einer Viertelstunde! Ich freue mich wirklich auf Fernsicht da oben.“

Ahnungslos beobachteten Wilson und Parker, wie der Ballon jetzt langsam hochzusteigen begann.

Der Kerl versteht das gestohlene Geld unter die Leute zu bringen, das muß man sagen!“ knurrte Parker ingrimmig.

Steigt der Bursche ganz allein auf, wo doch sonst stets fünf Passagiere an der Fahrt teilnehmen. Die Geschichte kostet ihm oder besser Webster, Lorley & Co. auf diese Weise runde fünfzig Dollars!“

Na warte, sobald du wieder den Erdboden betrittst, hast du die längste Zeit den reichen Fabrikanten gespielt!“ fügte Wilson mit einem drohenden Blick auf den einen Insassen der langsam, aber stetig emporstrebenden ‚Amerika‘ hinzu.

In demselben Augenblick beugte sich Sinters drohend weit über den Rand der Gondel. Und Fred Wilson wollte es scheinen, als ob der Verbrecher mit einem teuflisch höhnischen Grinsen zu ihm herabsah. Aber trotzdem schöpfte der Detektiv keinerlei Argwohn, lehnte sich vielmehr bequem neben seinen Kollegen auf die Holzbarriere, und beide harrten so geduldig auf den Moment, wo sie sich der Person Sinters bemächtigen könnten. Entschlüpfen sollte ihnen der Verbrecher jedenfalls nicht mehr.

Nach einigen Minuten war das Haltetau des Ballons abgelaufen, und die gelbe Riesenkugel schwebte nun, im Winde sacht hin- und herpendelnd, etwa 200 Meter hoch in der Luft.

Sinters hatte bisher mit dem Besitzer der ‚Amerika‘, dem rothaarige, stämmigen Irländer Morris, nur wenige Worte gewechselt. Jetzt fragte er ganz unvermittelt:

Würden Sie es auch wagen, mit Ihrer ‚Amerika‘ eine Freifahrt zu unternehmen?“

Warum nicht? Ich habe es schon verschiedentlich getan. Ein Wagnis ist das keineswegs.“

Und könnten Sie eine solche Freifahrt jetzt sofort antreten, – ich meine, ohne vorher nochmals bis zur Erde herabzusteigen – Der Wind ist günstig. Er kommt aus Nordost. Wir würden also nach dem Festland zu getrieben werden.“

Ausgeschlossen. Dazu fehlen mir verschiedene Ausrüstungsgegenstände, so besonders Schlepptau, Anker und der genügende Ballast.“

Auch für – sagen wir 1000 Dollars würden Sie’s nicht riskieren?“ forschte Sinters weiter.

Nein. Der Ballon kostet mich bedeutend mehr. Ich würde ihn ohne Anker und Schlepptau beim Landen der Gefahr völliger Zerstörung aussetzen, ganz abgesehen davon, daß auch wir dabei Hals und Beine brechen könnten. Ich bin Familienvater, habe fünf Kinder daheim. Da wäre es direkt gewissenlos, wollte ich mein Leben leichtsinnig aufs Spiel setzen.“

Sinters merkte, daß der Irländer im Guten nicht für eine Idee zu gewinnen war. Blitzschnell zog er jetzt eine Browningpistole hervor und richtete sie auf die Brust das entsetzt zurückprallenden Morris.

Stehen Sie unbeweglich still, wenn sie Ihren werten Kadaver auch nur ein bißchen lieb haben,“ sagte er mit kalter Entschlossenheit. Da unten stehen ein paar Leute, die mir heimlich nachspüren und offenbar gern meine nähere Bekanntschaft machen wollen, worauf ich selbst jedoch nicht den geringsten Wert lege. Ich wollte dieses gesegnete Eiland daher schon längst verlassen, fand dazu aber keine Gelegenheit, weil die beiden aufdringlichen Menschen mich beständig belauerten. Erst als ich vorhin Ihren Ballon erblickte, schoß mir die Idee durch den Kopf, die ‚Amerika‘ zu meinem dringend notwendigen Ausflug in eine andere, weniger unruhige Gegend zu benutzen. Deshalb bestand ich auch darauf, als einziger Passagier mit Ihnen aufzusteigen. Wären wir zu mehreren hier, in dem Korbe gewesen, so hätte ich vielleicht erst ein kleines Blutbad anrichten müssen, ehe die Herrschaften auf meine Pläne eingegangen wären – Und… Massenmörder wollte ich nicht gerne werden. Also, mein Lieber, seien Sie hübsch verständig und helfen Sie mir, meinen lieben Freunden da unten zu beweisen, daß Percy Sinters bedeutend mehr Grütze im Kopf hat, als sie es auch nur im entferntesten ahnen. Hier haben Sie ein Messer, und damit schneiden Sie nun schleunigst das Tau durch, das uns noch an die ungastliche Erde von Coney Island fesselt. Keine Widerrede, keine verdächtige Bewegung! Ich zähle bis dreißig, und schwebt der Ballon dann nicht frei in der Luft, so sind sie geliefert – Ich beginne… Eins… zwei… drei…“

Der Irländer sah ein, daß er es hier mit einem Schurken zu tun hatte, dem es auf ein Menschenleben sicher nicht ankam. Das durch einen breiten Spalt im Boden des Korbes laufende geölte Haltetau setzte zwar der Messerklinge starken Widerstand entgegen, riß aber schließlich von selbst, als es dreiviertel durchschnitten war. Mit schwindelerregender Eile schoß die ‚Amerika‘ in den Äther empor.

Werfen sie das Messer weg,“ kommandierte Sinters kaltblütig weiter. „So, und nun sorgen Sie dafür, daß wir nicht allzuhoch steigen.“

Morris hatte schon nach der Ventilleine gegriffen. Mit starkem Zischen begann das Gas der prallen Seidenhülle zu entweichen. Die gefährliche schnelle Aufwärtsbewegung mäßigte sich, und bald fing der Ballon sogar langsam zu sinken an trieb dann in 800 Meter Höhe in Richtung des Festlandes davon.

Eine Viertelstunde verging. Sinters, die schußfertige Pistole in der Hand, lehnte unbeweglich an der Wand des Korbes und beobachtete gleichzeitig seinen Fahrtgenossen und die unter ihm vorübergleitenden Landschaftsbilder.

Die Küste kam in Sicht, rechts davon das gewaltige Häusermeer von New York. Noch immer standen die beiden Männer sich in dem engen Ballonkorb schweigend gegenüber, durch kaum drei Schritte voneinander getrennt. Morris mit fest zusammengepressten Lippen und einem tückischen Blinzeln in seinen Augen, der Verbrecher mit einem Lächeln des Triumphs um den Mund.

Der Wind frischte auf, und die ‚Amerika‘ schwebte immer schneller dahin. New York war längst hinter dem Horizont verschwunden. Grüne Felder, durchzogen von dunkleren Waldstrichen, tauchten auf. Immer seltener wurden die in die Landschaft eingestreuten hellschimmernden Häusergruppen.

Gehen Sie noch tiefer herab,“ befahl Sinters. „Und richten Sie sich so ein, daß wir jeden Moment landen können. Den Ort überlasse ich Ihnen. Nur darf in der Nähe kein Gehöft liegen. Und nochmals – keine Verräterei!“

Da endlich brach Morris das Schweigen.

Sie können ganz ruhig sein, Ich habe nicht die geringste Lust, mich von Ihnen niederknallen zu lassen,“ meinte er gereizt. Und nach einer Weile fügte er hinzu: „Wenn ich Sie nun glücklich lande, werden Sie mir dann die 1000 Dollars geben, die Sie mir anfänglich anboten? Ich bin nicht reich, und will für diesen ungemütlichen Ausflug wenigstens eine angemessene Entschädigung haben.“

So gefallen Sie mir schon besser, Freundchen,“ lachte Sinters. „Aber ich traue Ihrer Zahmheit trotzdem nicht. Das Geld sollen Sie haben. Mein Wort darauf. Um aber ganz sicher zu gehen, werden Sie es sich nachher, wenn wir gelandet sind, gefallen lassen müssen, daß ich Ihnen mit dieser Leine hier Arme und Füße etwas zusammenbinde, damit Sie mir nicht allzu schnell einige neugierige Leute auf die Fersen hetzen können. Nach 24 Stunden werde ich dann dafür sorgen, daß sie wieder befreit werden. – Machen Sie kein so überraschtes Gesicht. Percy Sinters denkt eben an alles.“

In des Irländers Augen glomm jetzt wieder das heimliche, tückische Flimmern auf. Aber er beherrschte sich meisterhaft.

Wenn’s nicht anders geht, meinetwegen,“ nickte er, anscheinend ganz in sein Schicksal ergeben. „Nur lassen sie mich an unserer Landungsstelle nicht elend verhungern. Dann schießen sie mir schon lieber eine Kugel durch den Kopf.“

Ich bin kein Mörder und hoffe, falls mich nicht die äußerste Not dazu zwingt, es auch nie zu werden,“ beruhigte ihn der Verbrecher. „Doch nun geben sie Acht, wo sich uns ein günstiger Ort zum Niedergehen bietet.“

Immer tiefer sank der Ballon. Weit und breit war kein lebendes Wesen, keine menschliche Behausung zu erblicken. Jetzt glitt er in einer Höhe von etwa dreißig Meter über einer weiten Waldlichtung dahin.

Ich will zusehen, daß sich der Korb in den Baumwipfeln verfängt. Das wäre am ungefährlichsten für uns und die Amerika,“ erklärte Moris, scharf nach vorwärts Ausschau haltend.

Als der Ballon nun den Rand der Waldblöße erreicht hatte, ließ ein starker Ruck an der Ventilleine aufs neue das Gas in großen Mengen aus der inzwischen bereits schlaffer gewordenen gelben Kugel entweichen. Immer mehr senkte sich die ‚Amerika‘. Jetzt streifte der Korb bereits die Kronen einiger uralter, über das Blättermeer hinausragenden Eichen und wurde dadurch schwer hin- und hergestoßen, so daß die Insassen sich krampfhaft an dem Tauwerk anklammern mußten, um nicht herausgeschleudert zu werden. Plötzlich ein Ruck ein Knacken und splittern von Ästen… der Ballon saß fest. Ein starker Eichenast hatte sich – das überschaute Morris mit einem Blick – als sicherste Ankervorrichtung quer durch den Ballonring geschoben und gab die Amerika nicht mehr frei. Der Korb, halb von einem tieferen Ast gestützt, hing dabei derart schief, daß der Irländer beinahe über Sinters schwebte, der sich jetzt mit beiden Händen an den Stricken festhielt und so im Augenblick seine Schußwaffe gar nicht benutzen konnte.

Diesen Moment herbeizuführen wer das ganze Bestreben des schlauen Iren gewesen. Nur deshalb hatte er sich für die von allen Ballonführern stets gemiedene Landungsart in den Baumkronen entschieden, weil sich dabei notwendige Situationen ergeben mußten, in denen Sinters an dem freien Gebrauch beider Hände behindert sein würde. Dieser Augenblick war gekommen.

Achtung!“, rief Morris. „Die ‚Amerika‘ kann jede Sekunde wieder hochschnellen! Wir haben noch zu viel Gas in der Hülle! Gut festhalten!“

Unwillkürlich wurde Sinters Achtsamkeit durch die Warnung noch mehr abgelenkt. Das war sein Verderben. Urplötzlich lag der Irländer auf ihm, und, bevor er sich noch von dem ersten Schreck über diesen ganz unvorhergesehenen Angriff erholt hatte, war ihm schon die Pistole aus der Hand gewunden und die Kehle von dem eisernen Griff seines bärenstarken Gegners, völlig zugeschnürt…

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Wilson und Parker hatten mit recht gemischten Gefühlen den Ballen mit seinem für sie so wertvollen Passagier die Freifahrt antreten sehen. Daß sie sich jetzt, wo es zu spät war, mit allerlei fragwürdigen Ehrentiteln belegten, unter deren ‚Esel‘ noch der harmloseste war, hatte ebensowenig Zweck wie die sofortige Aufgabe zahlreicher Depeschen nach all jenen Orten, die der Ballon vermutlich passieren mußte. Denn schon am nächsten Tage lieferte der Irländer Morris, dessen Ballon später unbeschädigt geborgen werden konnte, seinen Gefangenen bei den New Yorker Polizei ab und erhielt darauf von Webster, Lorley u. Co. runde 18000 Dollars ausbezahlt, – ein Drittel der Summe, die man noch bei dem reichen Fabrikbesitzer Robert Esterley vorgefunden hatte.

Ende—