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Das Gespensterkänguruh

 

Harald Harst

Aus meinem Leben

 

Band: 332

 

Das Gespensterkänguruh

 

Erzählt von

Max Schraut

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 16, Michaelkirchstraße 23a

 

Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 16. – 1932.
Druck: P. Lehmann, G. m. b. H., Berlin SO 16.

 

1. Kapitel.

Nach der Brandnacht.

In einer trüben, regnerischen Februarnacht, als die feurige Röte der gewaltigen Feuersbrunst im Heulen des Sturmes die Flammenzungen turmhoch emporlodern ließ, saß ein Mann mit leicht angegrauten Schläfen neben dem Bett seiner sterbenden Mutter und hielt die langsam erkaltende Hand in der seinen und starrte wie gelähmt von fassungslosem Schmerz in die verfallenen Züge des gütigen Matronengesichts.

Ich stand am Fußende des Bettes, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, denn daß wir diese grauenvolle Überraschung hier in Berlin vorfinden würden, hatten wir auch nicht im entferntesten ahnen können, obwohl uns bereits beim Eintreffen in Bremen die Nachricht erreicht hatte, Harriet Prill, unsere unerbittliche Feindin, sei unterwegs von Marrakesch nach London abermals trotz strengster Bewachung vom Zerstörer ‚Trafalgar’ unweit von Dover entkommen.

Wir hatten den englischen Zerstörer, der so rechtzeitig bei der Entlarvung und Vernichtung der Todessekte eingegriffen hatte, bereits vor der Einfahrt in den Kanal verlassen und hatten die Reise mit einem deutschen Dampfer fortgesetzt.

Auf dem Bahnhof in Berlin erwartete uns niemand, und schon dies hatte meinen Freund stark beunruhigt.

Dann erfolgten die niederschmetternden Schläge Hieb auf Hieb! Das alte Harst’sche Familienhaus, bereits einmal fast zerstört, bildete eine einzige Lohe, und im nahen Krankenhaus fand Harald nur mehr eine Sterbende vor, die den zermürbenden Aufregungen der letzten Stunden nicht mehr gewachsen gewesen.

Ganz still erlosch dieses flackernde Lebensflämmchen, ein allerletzter bewußter Blick umfing den einzigen Sohn und streifte auch mein blasses Gesicht, – dann war alles vorüber.

Alles…

Selbst unsere treue Köchin war der krankhaften wahnwitzigen Rachegier einer skrupellosen, vielleicht nicht voll zurechnungsfähigen Verbrecherin zum Opfer gefallen, und es bedeutete alledem gegenüber einen sehr schwachen Trost, daß infolge günstiger Umstände die Polizei sowohl Harriet Prill als auch die letzten Mitglieder ihrer Bande sofort nach diesem grenzenlos gemeinen Streich für alle Zeit unschädlich gemacht hatte.

Harald erhob sich, drückte der Toten sanft die Augen zu und ließ seine Hand eine Weile auf der blassen, faltigen Stirn ruhen. Dann drehte er den Kopf nach mir hin, winkte mir und sagte ganz leise, als ich neben ihm stand:

„Ich fürchte, mein Alter, die Gesetzesbrecher werden nunmehr einen anderen Harst kennen lernen… Wir müssen unser Dasein völlig umstellen… Harriet hat ganze Arbeit getan. Alles nahm sie mir, was mir lieb und wert gewesen, – alles, auch den größten Teil meines Vermögens, das mir gestattete, unsere kleinen Vorstöße gegen die bewußt verderbte Unterwelt zu finanzieren. In diesen Minuten, mein Alter, als ich meine Mutter verscheiden sah, vollzog sich in mir eine ähnliche Wandlung wie damals, als … meine Braut ermordet wurde. Du weißt: ‚Zwei Taschentücher’! Jedenfalls mögen die sich fortan hüten, die als Rechtsbrecher meinen Weg irgendwie kreuzen. In diesen letzten Stunden ist etwas in mir erstorben, das mich bisher in vielem zu nachsichtig vorgehen ließ. Dafür ist etwas neu erwacht, das mit frischer Kraft nach Vergeltung ruft. Diese schändliche Brutalität, für die man kaum eine passende Bezeichnung findet, – diese ungeheuerliche Bestialität völlig gewissenloser Menschen sollen ihre Sühne finden. Nur der Schwächling verzichtet auf eine Vergeltung…“

Er richtete sich straffer auf, und seine Züge waren hart und wie versteinert, und doch wie von innen durchglüht von dem hinreißenden Gedankenflug eines so überaus exakt arbeitenden Gehirns…

„Und ich bin kein Schwächling, mein Alter‥! – Gib mir deine Hand! Kampf fortan der bewußten Verderbtheit, Kampf bis aufs Messer! Wir beide sind nun allein übrig von alledem, was einst Harst’scher Familienbesitz hieß. Ich werde das Grundstück verschenken, – mag dort ein Heim für Unbemittelte errichtet werden, – wir beide suchen ein neues bescheidenes Heim, und alle die, die uns so gern um Rat und Hilfe angingen, werden uns dort zu finden wissen…“

* * *

Zwei Wochen später an einem bereits recht warmen Februarvormittag schritt ein älterer Herr straffen Ganges die stille Arnoldstraße in Berlin W. entlang und machte dann vor einem sehr schmalen, sehr alten dreistöckigen Hause halt, das als einziges auf dieser Straßenseite noch einen winzigen Garten besaß, der sich nach links um das zweistöckige Häuschen herumzog, während rechter Hand ein moderner Mietspalast den unscheinbaren Nachbar fast überschattete.

Drei Steinstufen führten vom Bürgersteig zu der schweren Haustür empor, an der über dem Briefschlitz ein mittelgroßes Messingschild mit der schwarzen Schrift ‚Harald Harst’ – weiter nichts – befestigt war. Daneben befand sich der Druckknopf der Glocke und ein kleines rundes, dick verglastes Fenster.

Der Herr läutete, und nach einer Weile öffnete ihm ein sehr junger Mensch mit strohblondem Scheitel und freundlich zuvorkommendem Lächeln die Türen und führte ihn in das rechter Hand gelegene Zimmer, dessen schlichte Ausstattung etwas büromäßig wirkte.

Hinter einem langen Schreibtisch, der vor den beiden Fenstern stand, saßen mit dem Rücken nach dem Licht hin zwei Herren, die beide schwarze Krawatten und um die linken Ärmel Trauerflore trugen.

„Bitte, nehmen Sie Platz, Herr Oberinspektor,“ sagte der größere höflich und deutete auf einen Sessel vor dem Schreibtisch. „Unser Diener Fred Steen hat uns Ihren Namen beim Anmelden schon genannt: Oberinspektor Hartwich. – Sind Sie noch in Dienst oder bereits pensioniert?“

Hartwig betrachtete meinen Freund voller Interesse.

„Noch im Dienst, Herr Harst… Sonst wäre ich nicht hier.“

Harald lehnte sich zurück und erklärte leichthin: „Wenn Sie noch in Dienst sind, dann kommen Sie aus Spandau und sind Beamter der staatlichen Versuchsanstalt für Brieftauben. – Verzeihen Sie schon: Ihnen haftet ein bestimmter Geruch an, der an einen Taubenschlag erinnert, und die drei Federchen auf Ihrem Jackenaufschlag stammen von grauen Brieftauben. Sie haben es auch sehr eilig gehabt, hierher zu gelangen, denn Sie beschränkten sich darauf, einen frischen Kragen und eine bessere Krawatte schnellstens umzubinden, wobei Sie vor Erregung schweißige Finger hatten, – Ihr Kragen zeigt mir dies, und die Krawatte ist sehr oberflächlich geschlungen. Ich darf annehmen, daß Ihnen in der verflossenen Nacht Brieftauben gestohlen worden sind…“

Hartwich nickte eifrig. „Bei Ihnen braucht man sich ja Gott sei Dank nicht lange bei der Vorrede aufzuhalten, Herr Harst. Ja, es wurden dreißig der besten Tauben gestohlen, und unser Assistent Schmelz ist spurlos verschwunden, sein Erdgeschoßzimmer im Hauptgebäude weist verwischte Blutspuren auf, daß eine Fenster stand offen, und Schmelz scheint, so meint die Kriminalpolizei, ermordet und verschleppt worden zu sein.“

Harst schob dem Oberinspektor eine Zigarrenkiste hin. „Bedienen Sie sich… – Nur drei Fragen.

Erstens: Waren es ausgebildete Brieftauben?

Zweitens: Waren die Tauben für einen bestimmten Flug trainiert?

Drittens: Was wissen Sie über diesen Herrn Schmelz?“

Hartwichs bisherige Nervosität legte sich. Er setzte sich bequemer zurecht. „Herr Harst, ich wäre nicht zu Ihnen gekommen, wenn bei alledem nicht auch meine Familie insofern in Mitleidenschaft gezogen wäre, als Schmelz heimlich mit meiner Tochter Beate verlobt gewesen wäre. Beate hat mich in ihrer Herzensangelegenheit hierher geschickt. Ich bin Witwer und habe nur das eine Kind. – Die dreißig Tauben waren sämtlich von der Abteilung H., Helgoland, also für Flüge nach Helgoland bestimmen und dafür ausgebildet. – Arthur Schmelz wieder war ein sehr gewissenhafter junger Beamter, solide, sparsam und allen Menschen sympathisch – allen! Wirklich ein prächtiger junger Mann, Herr Harst.“

Harald spielte mit dem Brieföffner. Er schwieg eine Weile…

„Herr Hartwig, wann können wir das Zimmer Arthur Schmelz’ uns ansehen?“

„Sofort… Die Kriminalpolizei hat ihre Ermittlungen bereits abgeschlossen und hüllt sich in Schweigen, – wie Sie soeben! Trauen Sie Schmelz nicht?“

Harst graue Augen hielten des Oberinspektors besorgten Blick fest. „Alte Erfahrung lehrt,“ meinte er ernst, „daß Leute, die überall auf Sympathie stoßen, zumeist charakterschwach sind. – Fahren wir nach Spandau hinaus. Dieser Diebstahl interessiert mich aus ganz bestimmten Gründen mehr, als Sie ahnen. Aber schweigen Sie darüber.“

Der Oberinspektor mit dem so ehrlichen Gesicht trommelte nachdenklich mit den Fingern auf der Sessellehne.

„Herr Harst, – können Sie nicht besser abends kommen! Ich möchte nicht gern, daß die Polizei erfährt, daß ich…“

„…Verstehe… Wie Sie wünschen, lieber Herr Hartwig… Erwarten Sie uns also um sieben Uhr…“

Der Oberinspektor verabschiedete sich dankbar, und als er gegangen, hielt mir Harald eine Depesche hin, die ich bisher nicht gesehen hatte und die heute früh sieben Uhr eingetroffen war. Der Absender war Kaptain Borell, ein uns befreundeter oberer Beamter von Scotland Yard, London.

„Bitte, lies, mein Alter… Nachher zeige ich dir die zweite Depesche, die zwanzig Minuten später eintraf.“

Mac Borell hatte telegraphiert:

‚Falls für einige Tage frei, bitte inkognito nach Wingarden kommen. Wohne ‚Palast-Hotel’. Sehr dunkler Fall in Arbeit. – Gruß Borell.’

Ich blickte Harald achselzuckend an.

„Nun ja, – – und?!“

„Hier die zweite Depesche, mein Alter… Die dürfte dich etwas aufpulvern.“

Sie lautete:

‚Bitte sofort Greenham-Castle bei Wingarden, Südostküste, sich einzufinden. Honorar spielt keine Rolle. Betrifft letzte Zeitungsmeldungen über Schadensersatzansprüche des Zirkus Orelli wegen Känguruh. – Lord Hamilton Greenham.’

Abermals konnte ich Harst nur ziemlich verständnislos anblicken.

Er schüttelte etwas ärgerlich den Kopf. „Wenn du nur auch die Auslandszeitungen genau lesen wolltest‥!! Greenham hat dem in dem Badeort Wingarden gastierenden Zirkus Orelli ein dressiertes Känguruh, das ausgekniffen war, in seinem Park versehentlich erschossen. Ist es nicht etwas eigentümlich, daß Freund Borell von einem ‚dunklen Fall’ spricht und das zwanzig Minuten nach seiner Depesche die des Lord eintrifft mit dem verlockenden Honorarangebot?!“

„Du meinst‥?!“ fragte ich grüblerisch…

„Vorläufig meine ich gar nichts… – Bitte, mag Fred Steen diese beiden Antwortdepeschen sofort aufgeben…“

Die Telegramme sagten sowohl Freund Borell als auch seiner Lordschaft unser baldiges Eintreffen zu.

 

 

2. Kapitel

Ein verwickelter Fall.

Fred Steen, unser Faktotum für Alles, unser Koch, Diener, Stenotypist usw., war auf nicht alltägliche Art in unsere Dienste getreten. Als Harald dieses Häuschen hier erwarb, das für uns seine besonderen Vorzüge besaß, hatten wir uns nach einem recht vielseitigen Faktotum umgetan. Da war denn gleich am ersten Tage nach unserem Einzug dieser junge Mensch auf gut Glück zu uns gekommen und hatte um Beschäftigung gebeten. Fred Steen, neunzehn Jahre erst, war bereits durch eine harte Lebensschule gegangen, und seine mannigfachen Beschäftigungsarten konnte er durch tadellose Zeugnisse beweisen, die bestimmt echt waren. Ausschlaggebend für Harald, ihn noch am selben Tage zu engagieren, war folgendes gewesen, – ein für Friedrich Steen sehr bezeichnender Vorfall.

Es wurden gerade von einer Möbelfirma die neuen, sehr bescheidenen Einrichtungsstücke für die vier Zimmer des Häuschens geliefert, und Steen erschien deshalb zu recht ungelegener Zeit. Aber gerade dies sollte sein Glück werden. Unter den Arbeitern der Firma befand sich ein finsterer, buckliger Mensch, der über Riesenkräfte verfügte. Steen, der sich bereits unverrichteter Sache verabschieden wollte, zog uns plötzlich in eine Ecke und flüsterte Harald eindringlich zu: „Herr Harst, der Buckel des Menschen ist falsch, ebenso sein wüstes schwarzes Haar unter der Schiebermütze. An denen Plakatsäulen ist noch heute die Bekanntgabe des Polizeipräsidiums über den schweren Raub in der Germania-Bankfiliale zu sehen… Der Arbeiter dort ist der Raubmörder Eduard Zechlinski… Sein Buckel verschiebt sich, wenn er sich bückt, und unter der Perücke kommen ein paar blonde Haare hervor…“

…Worauf Harst diesen überschlanken, etwas verhungerten Pechvogel Fred Steen – denn bisher hatte er wirklich stets Pech gehabt – zur nächsten Polizeiwache schickte.

Es war Zechlinski. Fred Steen erhielt die Belohnung von fünfhundert Mark und die Anstellung bei uns. Einen Menschen wie diesen Fred konnten wir brauchen.

Daß Harald seinerseits so tat, als ob er Zechlinski nicht erkannt habe, blieb unser beider Geheimnis und war echt Harst’sche Freigebigkeit und Güte gegenüber Pechvögeln vom Schlage Freds.

Dieser Fred war also der dritte Bewohner von Arnoldstraße Nr. 21. Er wird dem Leser noch häufiger begegnen, und ich kann Ihnen vorläufig mit diesen knappen Angaben abtun.

Als Steen mit den Antwortdepeschen das Haus verlassen hatte, war es halb elf Uhr. Harald ging in unserem Arbeitszimmer gesenkten Kopfes auf und ab, rauchte zerstreut seine Zigarette und blieb schließlich vor dem Bilde seiner Mutter stehen, das er nach einer Visitphotographie hatte anfertigen lassen. Still und insichgekehrt betrachtete er das Bild und sagte dann mehr zu sich selbst:

„Es ist dies der erste umfangreiche Fall, den wir nach dem Zusammenbruch der sonnigen Vergangenheit in Arbeit nehmen. Ich würde den Leuten, die mit in diesen Fall verwickelt sind, nicht raten, noch einen Mord zu begehen, sonst könnte die Schlußabrechnung etwas zu hart ausfallen… Es ist ein Mord verübt worden, mein Alter, warte nur die Mittagssendung der Tagesnachrichten ab. Der Assistent Arthur Schmelz, dieser allen Menschen so sehr sympathische junge Mann, muß ein Schwächling gewesen sein… Hartwich betonte, wie verliebt er in Beate gewesen sei, und wie gerne er schleunigst heiraten wollte. Du wirst später begreifen, weshalb mir dies äußerst wichtig erscheint.“

Dabei nahm er seine ruhelose Promenade wieder auf, bis er erneut vor der billigen Wanduhr stehen blieb und kopfschüttelnd vor sich hin murmelte:

„Zwanzig Minuten‥!! Und Depeschen werden doch sofort abgefertigt, und das Postamt ist so nahe!“

„Du meinst‥?!“ Ich war aus meiner Sofaecke emporgefahren. Haralds ganzes Benehmen erschreckte mich, und Freund Steen war mir schon in dieser kurzen Zeit ans Herz gewachsen. „Du meinst, daß Steen etwas zugestoßen ist, Harald? Wie wäre das möglich, – – er ist doch immer wieder von dir gewarnt worden, und bei seiner Schlauheit…“

Harst winkte energisch ab. „Schlauheit?! Mag sein… Aber er besitzt zu wenig Erfahrung… – Gehen wir zum Postamt… Es gibt ja nur einen kurzen Weg dorthin. Steen macht keine Umwege. Vorwärts!“

Als er die Haustür abgeschlossen hatten, schickte mich Harald auf den anderen Bürgersteig hinüber. „Gib auf jede Kleinigkeit acht, auf jede‥! Steen ist noch immer nicht in Sicht, und ich bin ernstlich in Sorge um ihn.“

Wir trennten uns, schritten jeder auf seiner Seite die Arnoldstraße hinab. Wir gingen nicht allzu schnell, bogen nach links ein und mußten in wenigen Minuten das Postamt erreichen.

Weit vor uns sah ich eine Menschenansammlung, mitten darin ein paar Polizeibeamte und ein kleines Auto, das eine Laterne durch Anprall geknickt hatte.

Harald schritt plötzlich schneller aus, – ich lief sogar. Einer der Neugierigen erzählte mir dann, daß das Auto einen jungen Mann angefahren habe und daß der Autobesitzer entflohen sei, während ein eleganter Privatwagen den Verletzten gleich zur Unfallstation geschafft habe.

Harst bestieg mit mir sofort eine Taxe, die in der Nähe hielt, und befahl dem Chauffeur, zur Unfallstation zu fahren. Er beugte sich halb zum Fenster hinaus und beobachtete unausgesetzt den Fahrdamm.

„Halten Sie!“

Die wie ein Blitz war er draußen, raffte etwas wie eine Papierkugel auf und stieg wieder ein.

„Weiter‥!!“

Auf der Unfallstation war kein Verletzter eingeliefert worden. Auch der Anruf bei der nächsten Station ergab keinen Aufschluß.

„Haben Sie den Unfall beobachtet?“ fragte Harst den Chauffeur.

„Ja… Aber ich möchte nichts damit zu tun haben, Herr… Man hat nur Scherereien und Zeitverlust.“

Harst blickte den Mann scharf an. „Mithin ging dabei nicht alles mit rechten Dingen zu, – – mein Name ist Harst. Sagen Sie mir die Wahrheit.“

Der Chauffeur nickte. „Gut, – weil Sie es sind. Der junge Mensch wurde bestimmt absichtlich angefahren, und das Privatauto kam dicht hinterher, und zwei Herren hoben den blonden Jüngling sofort auf, sie hatten es sehr eilig. Der Übeltäter selbst benutzte ein an der Bordschwelle stehendes Fahrrad zur Flucht. Das war zweifellos eine sehr fein eingefädelte Sache, Herr Harst… – Nein, lassen Sie nur, – ich nehme keine Trinkgelder, ich weiß, es geht Ihnen selbst nicht mehr zum besten, und…“

„…Unsinn, – die drei Mark haben Sie mindestens verdient… Wir danken Ihnen… Fahren Sie nach Arnoldstraße 21.“

Als wir wieder daheim waren, wickelte Harald die ganz eng zusammengedrückt Papierkugel auseinander.

Es waren die beiden Depeschen, die Steen hatte aufgeben sollen.

Harst pfiff leise durch die Zähne. „Steen war also nicht bewußtlos, mein Alter… Er hat Komödie gespielt. Er mag wohl geahnt haben, daß das Attentat nur den Depeschen galt. Ein sehr brauchbarer junger Mensch.“

Er hatte kaum ausgesprochen, als die Flurglocke schrillte.

Der Besuch, den ich einließ, war ein junges Mädchen mit recht pikantem Gesichtchen und äußerst sicherem Auftreten.

„…Nehmen Sie Platz, Fräulein Hartwich…“ empfing Harst sie mit sichtlicher Spannung. „Ich hatte mit Ihrem Kommen gerechnet. Sie haben jetzt Mittagspause, Sie sind in einem Kaufhaus in der Nähe Buchhalterin… Wie denken Sie über Ihres Verlobten Verschwinden? Sprechen Sie ohne jede Scheu…“

„Scheu oder dergleichen kenne ich nicht, Herr Harst… Dazu bin ich zu selbstständig. Ich hätte gewünscht, auch mein Bräutigam wäre fähig gewesen, aus seiner Person etwas zu machen und nicht nur immer jedem zum Munde zu reden. Wenn ich mich entschlossen habe, Sie aufzusuchen, so tat ich es übrigens nur im Vertrauen auf Ihre Diskretion. – Hier, was halten Sie davon, Herr Harst? Das Papptäfelchen verlor Arthur gestern abend, und ich steckte es gedankenlos zu mir, da wir uns wieder einmal gründlich stritten. Arthur war mir zu sehr weiße Salbe, – Sie verstehen, Herr Harst.“

Das war ja ein ganz außerordentlich energisches Persönchen! Aber sie gefiel mir.

„Ich verstehe schon, Fräulein Hartwich,“ meinte mein Freund höflich und betrachtete die kleine Pappmarke, die aus einem braunen, sehr festen, harten Stoff bestand und etwa 5 x 5 Zentimeter groß war.

Sie war lediglich an den Rändern durchlocht und zeigte sonst keinerlei Eigentümlichkeiten.

„Darf ich das Ding behalten, Fräulein Hartwich? – Danke, – – und was hätten Sie sonst noch zu sagen?“

Das junge Mädchen zauderte nicht einen Augenblick…

„Arthur hat im letzten Monat allzu viel Geld auf sein Sparkassenbuch eingezahlt, – auch dahinter bin ich nur zufällig gekommen. Er hat mich über die Herkunft dieser zweitausend Mark zweifellos belogen. – Ich mag Ihnen vielleicht gemütsarm erscheinen, Herr Harst, aber all diese Dinge mußten einmal ausgesprochen werden, sie quälten mich und…“

Harald reichte ihr die Hand. „Sehr vernünftig von Ihnen… Nur nichts verschweigen. Entsinnen Sie sich, daß Arthur Schmelz vielleicht einmal von Herren in einer dunkelgrauen Limousine abgeholt wurde?“

Der Taxenchauffeur hatte uns die hilfreiche Limousine sehr genau beschrieben.

„Ja!“ sagte Beate schroff. „Und auch in dem Punkte hatte er mir gegenüber Heimlichkeiten. Zweimal bemerkte ich ihn in der Limousine, und…“

„Im letzten Monat?“

„Ja! – Und er leugnete, daß er es gewesen sei. Er hat gelogen. Was ihm auch zugestoßen sein mag, Herr Harst, er ist kein schlechter Mensch, nur zu schwach in allem. Mit genauester Pflichterfüllung ist nichts getan, wenn nicht ein Charakter diese Pflichten als Selbstverständliches hinnimmt, eben wirklich ein Charakter. Helfen Sie mir, – Sie müssen mir helfen, aus Arthur kann unter richtiger Anleitung noch ein … Mann werden. Ich habe ihn lieb, obwohl zur Zeit meine Empfindungen mehr mütterliche Fürsorge sein mögen…“

– Ich kann nur sagen, daß dieses vielleicht neunzehnjährige, ehrliche, natürliche Mädel mir imponierte.

Harald wurde jetzt sehr herzlich, versprach Beate, seinerseits alles zu tun, um das Rätsel um Arthur Schmelz’ Verschwinden zu lösen, und verabschiedete sie mit einem nachdrücklichen: „Kopf hoch, kleines Fräulein! Nun bin ich auch mit dem Herzen bei der Sache – Ihretwegen!“

Als sie sich entfernt hatte, nahm er die merkwürdige Pappmarke und legte sie neben eine ältere Nummer des Internationalen Fahndungsblattes, in dem die Polizeiorgane der verschiedenen Staaten ihre weltwichtigen Veröffentlichungen einander bekannt geben.

Auf einer Seite der Zeitschrift befand sich unter der Photographie eines noch immer gesuchten Hochstaplers, der die berüchtigten, heiteren, ehrlichen Augen dieser Verbrecherspezies hatte, eine genaue Abbildung der Pappmarke.

Als Text war hinzugefügt:

Erkennungsmarke eines internationalen Großhehler-Konzerns. Wo solche Marken auftauchen, sofort Nachricht an Polizeikapitän Mac Borell, Scotland Yard, London.

Harst tippte mit dem Finger auf das Bild.

„Nun, mein Alter, – was hältst du davon? Borell ruft uns nach Wingarden, Seebad und Hafenort, und Lord Greenham wohnt unweit Wingarden und hat ein dressiertes Känguruh erschossen, das dem Zirkus Orelli entlaufen, aber der Lord ist bockbeinig und will nicht Ersatz zahlen und depeschiert an uns genau wie Borell, der sogar von einem sehr dunklen Fall spricht. Wenn du zu alledem noch den Diebstahl der Brieftauben, das verdächtige Verschwinden des Herrn Arthur Schmelz und diese Pappmarke und einiges andere hinzunimmst, hast du einen wunderbar verwickelten Fragenkomplex vor dir – kurz, ein richtiges Problem! Wir beide wurden von den Polypenarmen dieses Problems so lange nicht berührt, als eben nicht unser trefflicher Freund Steen uns weggeschnappt wurde. Man hatte ihn geschnappt, – weshalb wohl? – Nun, die Antwort ist einfach, man wollte die Depeschen haben, die er abschicken sollte. – Wer konnte daran interessiert sein, daß die Depeschen nicht abgingen? Ich behaupte, Lord Greenham! – Du wieder kannst fragen: Weshalb gerade er? – Weil ich an solche Zufälle nicht glaube, daß Greenhams Depesche ausgerechnet nur zwanzig Minuten nach Borells Telegramm eintritt. Mein Gedankengang wird dir klar sein! Borell depeschiert, Borell wird beobachtet, und daraufhin depeschiert der Lord und wirft den Köder von ‚Honorar spielt keine Rolle’ aus… – – So, nun schreibe ich nochmals die Antwortdepeschen, und dann bringst du sie zur Post, jedoch erst nachdem ich…“ – und das Weitere war nur zu sehr geeignet, meinen ohnedies bereits erwachten Jagdeifer noch mehr anzufeuern…

 

 

3. Kapitel

Seebad Wingarden.

Inzwischen war es halb eins geworden. Ich schlenderte nun scheinbar ohne Begleitung die Arnoldstraße hinab. In der rechten Hand hielt ich zwei lose zusammengefaltete Papierblättchen, und, wie vereinbart, blieb ich stets recht nahe am Rande des Bürgersteiges.

Unser neues, so sehr bescheidenes Heim – das muß ich hier einflechten –, besaß einen zweiten geheimen Ausgang nach der Parallelstraße. Leute wie wir sind nun einmal auf so eine Art Fuchsbau angewiesen.

Ich markierte den in völligem Sicherheitsgefühl dahinwandernden Unbefangenen wohl recht gut, denn kurz vor der Post, das kleine Autowrack war bereits abgeschleppt worden! – sauste von hinten ein Radler auf einer vorzüglichen Rennmaschine an mir vorüber und riß mir die Blätter aus der Hand. Ich brüllte programmmäßig wütend hinter ihm drein, aber das half nicht viel, sollte auch gar nicht irgendwie eine Straßenszene und etwa eine Verfolgung hervorrufen, denn der zweite Herr dort im Taxameter, das wußte ich, würde sich nicht abschütteln lassen, und – – der flinke Dieb hatte ja auch nur die präparierten Depeschenentwürfe erwischt, von denen der an Borell ablehnend lautete, während der für Mylord eine Zusage enthielt.

Auf dem Postamt schrieb ich neue Formulare aus: Beide bejahend! –

Die Telegramme gingen ab, und ich kehrte heim. Als ich die Haustür aufschließen wollte, öffnete jemand von innen und grinste mich erfreut an.

„Fred, – Sie?!“

„Allemal der Fred, Herr Schraut… Und so gut wie unverletzt…“

„Erzählen Sie… Wie erging es Ihnen?“

„Höchst dramatisch: Attentat mit Kleinauto – arme Straßenlaterne!! –,– verkleidete Helfer in grauer Limousine, die mich dann, als sie mich durchsucht hatten, einfach im Grunewald in eine Schonung warfen. Heimkehr etwas hinkend aber billig! Straßenbahn von der Villenkolonie Grunewald aus! – Ich merkte gleich, Herr Schraut, daß es bei alledem um die Depeschen ging…“

„Harst hat die Papierkugel gefunden… Das haben Sie fein gemacht. Wer waren die ‚Helfer’? Engländer?“

„Bestimmt, und zwar bessere Leute der Sprache nach. Der eine meinte, die Sache sei ein Fehlschlag, und der andere erklärte, eine Kugel hätte schnellere Arbeit getan, wenn Harst von Wingarden ferngehalten werden solle – das war alles, was ich verstand. – Was ist mit Wingarden, Herr Schraut?“

Da unser Famulus unbedingt Anspruch darauf hatte, eingeweiht zu werden, entwickelte ich ihm den ganzen Fragenkomplex.

Fred staunte. Er saß auf der Schreibtischecke und rauchte und scheuerte sich nachdenklich das Kinn.

Eine Schönheit war Fred Steen keineswegs, aber er sah ganz patent aus. Wenn er die Augen zusammenkniff und Harst’sche Stirnfalten hervorzauberte, wirkte er wie ein Tennismatador, der einen Ball verpfuscht hat und sich grimmig ärgert.

„Glänzende Idee!“, lobte er nunmehr begeistert. „Wenn Herr Harst nur Schwein hat und ermittelt, wo der Radler bleibt… – Hallo, Telephon‥!!“

Ich meldete mich. – Harsts Stimme kam durch die Leitung: „Sofort nach Heerstraße 18 kommen, mein Alter… Neues schlichtes Holzhaus… Zweifellos wird Arthur Schmelz dort gefangen gehalten, vielleicht auch Fred…“

„Fred ist hier und mobil…“

„Dann erscheint beide, aber etwas verändert. Nehmt Autotaxe… Schluß.“

Die Veränderung war schnell erledigt. Wir gingen in den Keller, der sehr hohe Fenster hatte, krochen durch vier Zinkmüllkästen, die an der rechten Hofseite standen und nur Attrappen waren, kamen in den Stall an der rückwärtigen Grundstücksmauer und passierten den Hof einer Pleite gegangenen Malerei und waren in der Parallelstraße.

Als wir das von Harst angegebenen Ziel erreicht hatten, lehnte unweit der Holzvilla ein Herr an einem der Straßenbäume und zwinkerte uns verstohlen zu. Ich bat den bärtigen Mann um Feuer, und Harald raunte mir zu: „Fred soll die Rückfront beobachten, du selbst läutest an der Tür und zeigst die Pappmarke dabei auf… Hier ist sie… Alles Weitere findet sich schon…“

– Es fand sich gar nichts. Ich konnte lange läuten. Niemand öffnete. Harst trat zu mir. „Ausgekniffen sind sie!! Also von hinten in den Garten und ins Haus.“

Steen war als erster über den Holzzaun hinweg, Harald war als erster im Hause, und nach eifrigem Suchen fanden wir in einem Schrank hinter alten Kleidern einen bleichen Toten, bei dessen Anblick unser Fred doch entsetzt zurückprallte. „Es ist der Chauffeur des grauen Autos,“ flüsterte er scheu. – Der Mann war erschossen worden.

Harst setzte seine Suche nach Schmelz unverdrossen fort. Oben unter dem Dach im Schornstein hing Arthur Schmelz gefesselt und geknebelt und halb bewußtlos an zwei Stricken. Aber er lebte, und er konnte uns sehr bald angeben, was mit ihm geschehen war. –

Vor drei Wochen hatte er zwei vornehmen Engländer kennen gelernt, die sich als Londoner Börsenmakler ausgaben und ihm gute Tipps für Börsengeschäfte gegeben hatten. Er war denn auch wirklich vom ‚Glück’ (?) begünstigt gewesen und hatte über zweitausend Mark in kurzem ‚verdient’, ohne eine Hand zu rühren, da die Engländer, die Smith und Frankheel hießen, für ihn alles erledigten. Schließlich war ihm doch aufgefallen, daß sie ihn über die Einrichtung der Brieftaubenversuchsanstalt aushorchten, und als Smith einmal eine sonderbare Pappmarke verlor, hatte er sie zu sich gesteckt. In der verflossenen Nacht wurde, während er schlief, im Bett überfallen, niedergeschlagen und war erst hier im Schornstein wieder erwacht. – –

Mehr wußte er nicht, nur das eine noch, daß die Engländer den grauen Wagen samt Chauffeur von einer Verleihanstalt gemietet hatten.

Harald überlegte kurz. „Herr Schmelz, Sie werden jetzt der Polizei Ihre Erlebnisse melden, aber uns aus dem Spiel lassen. Sie haben sich eben selbst befreit. Der Chauffeur übrigens ist tot und liegt unten in dem alten Kleiderschrank.“

Schmelz, ein gut gewachsener, hübscher Mensch mit weichlichen Zügen, verfärbte sich.

„Tot, Herr Harst?! Tot?!“

„Ja, erschossen. – Kennen Sie die Autoverleihanstalt?“

„Gewiß, Firma ‚Autovertrieb GmbH’, Hauptstraße, Schöneberg.“

„Genügt… – Ich habe leider keine Zeit, Ihnen hier lange Vorträge zu halten, das wird wohl Ihre Braut besorgen. Nehmen Sie diese Dinge jedoch als ernste Lehre hin und – – werden Sie Mann!!“

Schmelz bekam beinahe wilde Augen. „Die dort im Schornstein ausgestandene Todesangst hat mich gründlich kuriert!! Beate wird sich wundern!“

Wir verließen die einsame Holzvilla und fuhren mit einer anderen Taxe nach Hause, während Arthur Schmelz gen Spandau die Straßenbahn benutzt. Daheim läutete Harald den Oberinspektor Hartwich an. „Unser Besuch bei Ihnen ist überflüssig geworden. Wir unternehmen eine kleine Erholungsreise. Schmelz wird Ihnen alles berichten. Schluß.“

Dann machten wir uns reisefertig. „Fred“, sagte Harald zu dem langen Jüngling, „Sie bleiben hier, halten den Mund und bewachen unser Heim. Ich verlasse mich auf Ihre Gerissenheit.“

„Und dies mit Recht!“ nickte Steen würdevoll.

Gegen drei Uhr nachmittags verließ das fahrplanmäßige Flugzeug Berlin-Amsterdam-London den Flughafen Tempelhof, und abends zehn Uhr langten wir beide im ‚Palast–Hotel’ in Wingarden an.

Kaptain Borell saß allein in der Veranda nach der See zu an einem Tischchen und las Zeitungen. Er erkannte uns nicht, und erst als Harald die Depesche erwähnte, leuchteten Borells Augen freudig auf.

„Großartig, daß ihr da seid‥! Setzt euch.“

Mac Borell, klein, sehnig, glich mehr einem Jockey als einem der fünf obersten Beamten von Scotland Yard.

Nachdem der Kellner die Bestellungen für ein reichliches Abendrot von uns entgegengenommen hatte, begann Mac zu erzählen.

„Ohne Grund habe ich euch wahrlich nicht herbeordert. Die Sache ist die: Wir sind seit Monaten einer…“

„…internationalen Großhehlerbande auf der Spur…,“ ergänzte Harst und schob Mac die am Rande vielfach durchlöcherte Pappkarte zu. „Bitte, – das stammt aus Berlin.“

Borell griff hastig zu. „Aus Berlin?! Von wem?!“

„Erst Ihre Geschichte, dann unsere Erlebnisse, – los also!“

Mac fuhr in knappster Form fort: „Diese Hehler sind nicht zu fassen… Ihre Organisation muß glänzend funktionieren. Acht Juwelendiebstähle, fünf Museumseinbrüche und andere ähnliche Scherze konnten wir aufklären und die Täter fassen, – die Hehler nie. Die Verhafteten erklärten gleichlautend, daß die Beute an einen Unbekannten, der sehr gut zahle, verschoben sei. Stücke der entwendeten Schmuckstücke tauchten in Frankreich, Holland, der Schweiz und Neuyork auf. Seit drei Monaten bin ich nun dauernd an der Arbeit – ohne Erfolg. So geht das nicht weiter. Den einzigen Anhaltspunkt bisher fand ich hier in Wingarden, wo die frische Leiche eines unserer geschicktesten Londoner schweren Jungens angetrieben wurde: Kopfschuß, – – leere Taschen, Gesicht zerschlagen, um ein Erkennen unmöglich zu machen. Aber Toby Roß hatte nur vier Zehen an einem Fuß. So erkannte ich ihn, und nun hocke ich hier in diesem öden Nest, das nur im Sommer Hochbetrieb kennt, seit acht Tagen und – – habe nichts erreicht.“

Unser Tisch stand dicht am Fenster. Vor uns breitete sich die sanft geschwungene Bucht von Wingarden aus, deren Wasser im Mondlicht glänzte. Die hellen Felsen der Ufer und in der Ferne einige kahle Inselchen waren ein recht ansprechendes Panorama, es lag Stimmung in diesem Bilde.

Harald begann mit Appetit die Abendmahlzeit und erzählte dabei die Berliner Ereignisse. Nur eins ließ er fort, die Depesche seiner Lordschaft und daher auch das Attentat auf Fred.

Mac Borell notierte eifrig die Hauptpunkte, und sein Ledergesicht mit den etwas spöttischen Augen wurde immer freudiger. Dann blinzelte er Harald humorvoll an und sagte ohne Scheu: „Harst, und wieviel haben Sie mir verschwiegen?!“

„Nur das, was Sie verpfuschen würden, Borell, da Sie scharf beobachtet werden.“

„Das weiß ich,“ nickte der Kaptain. „Beobachtet – von zwei von meinen Leuten‥! Man hat hier auf mich geschossen, Harst…“

Harald trank einen langen Schluck Whisky-Soda.

„Irrtum, Borell… Es sind vier Leute zur Stelle… Zwei von Ihrer Garde und zwei von der Gegenseite. Es stimmt schon, – drüben die elegante Dame in der anderen Verandaecke und ihr ebenso jugendlicher Freund sind die wahren Aufpasser.“

Borell lächelte. „Mein lieber Harst, die Dame ist Lady Lucy Greenham, und der Herr mit dem Scherben im Auge ihr Vetter Georg Greenham, – urältester Adel‥!“

„Urältester Schwindel,“ murmelte Harald, nur für mich verständlich.

Und für Borell bestimmt meinte er achselzuckend: „Also ein Irrtum!“

Unsere Aussprache dauerte noch eine halbe Stunde, führte jedoch zu keinem Ergebnis. Harst gähnte, und gegen elf begaben wir beide uns auf unsere Zimmer, die im Hochparterre lagen. Harald rief jetzt Schloß Greenham an.

„Ich möchte Mylord sprechen… Mein Name? Erinnern Sie Seine Lordschaft an die Depesche von heute früh.“

Der Schloßvogt erwiderte dann, Mylord erwarte uns sofort und würde uns sein Auto an den Westausgang des Ortes schicken.

„Das kann sehr, sehr interessant werden,“ meinte Harald zu mir, bevor wir zehn Minuten später zum Fenster hinauskletterten.

 

 

4. Kapitel

Die erste Brieftaube.

Greenham-Castle ist ein uralter Bau mit zwei angeflickten modernen Flügeln und liegt in einem riesigen Park unweit der Hauptstraße Wingarden-London.

Das Auto war zur Stelle, und schon nach einer Viertelstunde standen wir einem hochgewachsenen, vornehmen alten Herrn gegenüber, der uns dann mit seiner Tochter Lucy und seinem Neffen Georg bekannt machte. Wir saßen um den geheizten Kamin herum, ein Diener servierte Liköre und Zigarren und Zigaretten und verschwand.

Dann erst begann Lord Hamilton über die ihn quälenden Dinge zu sprechen. „Herr Harst, es handelt sich ja mich nur um das erschossene Känguruh, nein, die Hauptsache habe ich bisher verschwiegen. Als mir das Tier vor die Büchse kam, hielt ich es für einen wildernde Hund, der mich anspringen wollte. Bei der Untersuchung des Känguruhs sah ich dann, daß aus der Bauchtasche des Tieres ein Zipfel Leder herausragte. Ich zog, es war ein Beutel, und in dem Beutel befanden sich die wertvollsten unserer Familienkleinodien, die ich im Tresor verschlossen gehalten hatte, und deren Diebstahl mir bisher unbekannt war. Lucy und Georg rieten mir, die Dinge vorläufig zu verschweigen, und ich tat es auch, obwohl es meinen strengen Grundsätzen widersprach. Jetzt – gestern abend nämlich – sind die Juwelen erneut verschwunden, und ich entdeckte unweit des Schlosses frische Känguruhspuren. Ich hege eine ausgesprochene Abneigung gegen die Polizei und depeschierte daher an Sie. Lucy und Georg wollten anfänglich nichts davon wissen, aber ich beharrte bei meinem Entschluß.“

Das kalte, hochmütige, junge Gesicht seiner Tochter verzog sich spöttisch.

„Papa ist etwas eigentümlich, Herr Harst. Für derartige Vorfälle ist die Polizei da. Aber Papa hat einmal mit den Detektiven von Scotland Yard schlechte Erfahrungen gemacht…“

Mylord verwies sie streng zur Ruhe. „Das gehört nicht hierher, Kind… – Sie übernehmen also den Fall, Herr Harst. Allerdings, – viel an Honorar kann ich nicht zahlen, denn wir sind eigentlich arm, ehrlich gestanden…“

Ich dachte sofort an den Depeschentext, der hierzu in Widerspruch stand.

Georg Greenham, ein typischer, eisgekühlter Engländer, warf leichthin ein: „Das Honorar zahle ich, Onkel… Das sagte ich dir bereits…“

Der Lord hüstelte. „Meinetwegen… – Lucy und Georg, ihr könnt uns nun allein lassen…“

Die beiden entfernten sich ohne Gruß.

Hamilton Greenham rückte seinen Sessel näher heran.

„Herr Harst,“ beichtete er gedämpft, „die Verlobung meines Kindes mit meinen Neffen mißfällt mir immer mehr. Georg ist ein eleganter Nichtstuer und Spieler, und seine Spielgewinne erscheinen mir wie Diebstahl.“

Er blickte dabei zu Boden und war sehr nervös.

Harst flüsterte zurück: „Bitte, ganz offen, Mylord, Sie trauen Ihrem Neffen nicht mehr?“

„Nein! Fragen Sie aber nichts weiter… Ich … ich warne Sie nur… Außerdem bitte ich Sie, hier im Schloß Wohnung zu nehmen. Wann darf ich Sie erwarten? Morgen vormittag?“

„Ja.“ –

Wir verabschiedeten uns, bekamen das Brautpaar nicht mehr zu sehen und stiegen vor Wingarden aus dem Auto, das sofort umkehrte.

Es war jetzt genau halb ein Uhr morgens. –

Borell hatte uns bereits mitgeteilt, daß der Zirkus Orelli in der Tennishalle der Kurverwaltung gastiere und so geringe Eintrittspreise nehme, daß die Vorstellungen noch immer gut besucht seien.

Die helle Mondnacht war uns wenig günstig. Harald meinte, wir müßten zuerst noch in unsere Hotelzimmer zurück, da wir bestimmt beobachtet würden. So kam es, daß wir erst um zwei Uhr in anderer Verkleidung wieder durch ein Fenster an einer Leine ins Freie gelangten.

Die Tennishalle war bald gefunden. Daneben standen acht Zirkuswagen. Ringsum zogen sich die Anlagen des Klubparkes hin. Wingarden ist ein recht eleganter Badeort.

Als wir in einem entlaubten Gebüsch kauerten und die Tennishalle uns erst einmal von außen ansahen, strich dicht über uns eine Taube hinweg, die sich auf den Dachaufbau eines Geräteschuppens neben der Halle niederließ und dort in einem Einschlupf verschwand.

„Also doch!!“ flüsterte Harald nur.

Wir hatten genau gehört, daß in dem Schuppen ein gedämpftes Läutewerk anschlug, als sie Brieftaube in den Dachaufbau schlüpfte. Das Tierchen hatte dieses Läutewerk beim Passieren des Einschlupfes ausgelöst. – Genau so, das hatte uns Hartwig erzählt, wurde auch bei der Vesuchsanstalt Spandau die Ankunft einer Taube gemeldet.

„Warte hier!“

Harald schlich davon, öffnete mit dem Dietrich die Schuppentür, und kaum war er im Dunkeln der Bretterbude untergetaucht, als ich von dorther einen dumpfen Schlag vernahm.

Als Haus wieder im Freien erschien, drückte er die Tür nur zu, winkte mir, und im Laufschritt brachten wir uns in Sicherheit und erreichten atemlos und unbemerkt unsere Zimmer, wo Harald mir lächelnd ein Papierröllchen zeigte.

„Taubenpost, mein Alter!“

„Was geschah in dem Schuppen?“, fragte ich eindringlich.

„Hm – nicht viel… Ein Mann fiel mir gegen die Faust und liegt nun für einige Zeit bewußtlos da. Ich habe ihn gründlich ausgeplündert, damit er an einen Stromer glaubt, der dort nächtigen wollte. Der Brieftaube habe ich ein anderes Röhrchen nebst Zettel an die Schwungfeder gebunden mit einem unbedenklichen Text. – Hier, lies!!“

Er glättete das Stückchen Seidenpapier. Die Aufschrift in zierlichen Buchstaben und Zahlen lautete (englischer Text):

 

Geht ab 23. – Ziel I 4. – Firma H.&S. Filiale jetzt England. – Konkurrenz ausschalten. – Signatur 21.2. A.

 

„Nun, mein Alter?! – Heute ist der 21. Februar, und das große A soll natürlich ‚anno’ (dieses Jahres) heißen. Firma H.&S. sind wir beide. Ausschalten heißt beseitigen. – Was am 23ten, also übermorgen, abgehen soll, weiß ich nicht, was das Ziel I 4 heißt, erst recht nicht. Aber das wird sich schon noch herausstellen.“

„Und welchen Text schriebst du nieder, Harald?“

„Den gleichen, nur habe ich 23. in 24. verändert. Dort im Taubenschlag des Schuppens, den der Zirkus gemietet zu haben scheint, fand ich genügend Papierblättchen und auch Tinte und eine sehr spitze Feder.“

Ich schaute ihn immer noch recht verständnislos an. Er erklärte daher ergänzend: „Durch die Änderung des Datums 23. in 24. habe ich einen Tag gewonnen, und bevor das ‚Unbekannte’ das ‚Ziel I 4’ erreicht – und dieses Ziel muß hier in der Nähe liegen – werden wir eingreifen.“

„Das leuchtet mir ein. Und was gedenkst du nun zu tun?“

„…Ich gehe schlafen, Max Schraut. Ich denke gar nichts mehr… – Gute Nacht.“

Dagegen war nichts zu machen. Ich lag noch sehr lange wach und grübelte und grübelte. Ich hörte eine Uhr drei schlagen, – – dann schnellte ich hoch, denn unter unseren Fenstern ertönten hintereinander vier schwache Knalle, und auch Harst war im Nu aus dem Bett, öffnete die Fensterladen und blickte hinaus.

Draußen im Mondschein stand der kleine sehnige Mac Borell und schraubte gerade den Schalldämpfer von der Pistolenmündung.

„Pech!“, sagte er leise. „Es waren drei Kerle, die mit einer Leiter bei euch einsteigen wollten, – flink wie die Hasen, zu flink! – Seid ihr in einer Lebensversicherung eingekauft?“

„Ja!“ Und Harst ließ aus dem Ärmel seines Schlafanzuges seine eigene Pistole in die Hand gleiten. „Danke vielmals, lieber Borell. Auf diese Art kriegen uns die Anfänger niemals! Gute Nacht…“

„Gute Nacht, ihr … Schwindler…“

Der Kaptain verschwand kichernd um die Ecke. – Ob er doch etwas von dem Besuch bei dem Lord wußte?!

 

 

5. Kapitel

Das Gespensterkänguruh.

Am Morgen gegen halb neun rief Harald Seine Lordschaft an und teilte ihm mit, daß er eine Übersiedlung nach Greenham-Castle für überflüssig erachte, zumal wir hier im Hotel unseren alten Freund Kaptain Borell getroffen hätten, dessen diskrete Unterstützung uns sehr wertvoll werden könnte. –

Mylord bedauerte unsere Absage, erklärte sich im übrigen jedoch mit allem einverstanden.

Um neun frühstückten wir mit dem Kaptain in der Glasveranda. Der Tag war wieder sonnenwarm und freundlich. Borell sprache über die drei Kerle mit der Leiter und fragte dann geradeheraus: „Harst, Sie waren bei Greenham… Ich lasse nämlich alle hier in Wingarden eingehenden Depeschen kontrollieren und erhalte Abschriften davon. Nun erzählen Sie mir bitte auch den Rest… Dem Kunstreiter Feodor Orelli, dem Sohn des alten Orelli, haben Sie zu einer Schläfenbeule verholfen. Was war da in dem Schuppen los?!“

Harald mußte nun berichten. Aber Borell zuckte hilflos die Achseln. „Daraus werde ich nicht schlau… Was soll das alles?! Wo sind die Zusammenhänge zu finden?! Ein Känguruh mit einem Beutel von Edelsteinen in der Bauchfalte?! Der alte Lord wird kindisch. Das hat er geträumt!“

„Ich glaube nicht, Mac,“ versicherte Harst sehr ernst. „Ich mißtraue dem Neffen und dieser hochmütigen Lucy, – eigentlich mißtraue ich allen…“

„Auch mir?!“ scherzte Mac mit ironischem Glitzern in den klugen Augen.

„Sogar mir selbst,“ erwiderte Harst harmlos lächelnd. „Sogar meiner Fähigkeit, Knoten zu lösen… Dieser Fall wächst mir über den Kopf.“

Borell trank einen Schluck Tee und nahm dann eine Zigarette. „Sie haben also die Taubenpost gelesen, Harst?“ sagte er sinnend, da Harald gerade über diesen Punkt sehr schnell hinweggegangen war.

„Gelesen und in die Hülse zurückgetan, da die Botschaft gänzlich unverständlich war, – erwähnte ich das nicht?“

„Nein…“ Mac Borell sog hastiger an seiner Zigarette. „Können Sie mir den Text wiederholen, Harst?“

„Gewiß. Mein Gedächtnis ist noch immer vorzüglich. Geht ab 24. – Ziel I 4. – Firma H.&S. Filiale jetzt England. – Konkurrenz ausschalten. – Signatur: 21.2. A.“

„Allerdings Blech!“, bestätigte Mac wegwerfend. „Und sicherlich auch ohne Bedeutung, obwohl die Brieftauben zu denken geben.“

– Ich begriff den so äußerst intelligenten Kaptain in diesem Augenblick absolut nicht, außerdem war mir noch etwas anderes aufgefallen. Ich hatte, als Harald den Text wiederholte, eine Zahl korrigieren wollen, aber ein unmerkliches Zeichen Harst hatte mich gewarnt. Außerdem fügte auch Mac sofort hinzu: „Ich werde den Zirkus nun aufs schärfste überwachen… Die Sache überlassen Sie nur mir. Kümmern Sie sich um diesen Georg Greenham, – wir müssen uns die Arbeit teilen… – Also auf Wiedersehen beim Mittagessen‥“

Nachdem Mac sich etwas eilig verabschiedet hatte, warf ich einen prüfenden Blick auf Haralds Gesicht. Es war ernster denn je. Er schwieg jedoch, erhob sich und wir gingen zum Strande hinab, wo eine Anzahl Klubhäuser von Jachtvereinen standen und auch ein paar Fischer ihre Kutter in Ordnung brachten.

Harst beschaute sich die Schifflein, sprach dann mit einem alten bärbeißigen Burschen und gab ihm drei Pfund.

„Hören Sie zu und – halten Sie den Mund, Mr. Beef. Wir gehen bis zum Nordkap drüben, Sie machen Ihr Boot klar und holen uns dort ab. Fragen Sie nichts. Auch deutsche Touristen haben ihre Schrullen.“

„Scheint so.“ – Aber der Alte strahlte. Drei Pfund verdiente er jetzt kaum in einer Woche.

Wozu diese Segelpartie dienen sollte, blieb mir unverständlich, bis wir weit draußen im See zwischen den kleinen öden Felseninselchen uns befanden.

„Sagen Sie mal, Mr. Beef,“ fragte Harald, „haben diese Riffe auch Namen?“

„Namen, nein, nur Nummern, – dort die hohe zackige Insel zum Beispiel hat die Nummer 4, – die kleine drüben nach Norden ist die Nummer 1, – und so weiter…“

Harst steuerte, blieb aber den Inseln fern.

Ich hatte den Atem angehalten, als der alte Fischer Nummer 4 zuerst erwähnte.

I 4!!

Das war es!!

Insel Nr. 4!!

Das war ‚das Ziel’, das auf der Brieftaubenpost vermerkt war.

In meinem Hirn wirbelten die Gedanken durcheinander, – – nicht lange, denn Harald rief plötzlich:

„Eine Motorjacht, – dort, zwischen den Inseln, Kurs auf uns!! – Beef, werfen Sie den Motor an… Ich fürchte, es wird etwas heiß hergehen, mein Lieber‥! – Schnell, nur schnell!!“

Der Fischer glotzte Harst mißtrauisch an.

„Sind Sie etwa Ausreißer, Flüchtlinge?! – Dem Boot entkommen Sie nicht, das läuft achtzehn Knoten, und ich unterstütze keine Verbrecher!“

Horst schaute noch nach der Motorjacht aus.

Dann riß er das Steuer herum.

„Beef, – hinsetzen, Sie alter Narr!!“

In seiner Linken lag die dunkle Pistole…

„Hinsetzen!! – Schraut den Motor anwerfen!! Ich steuere auf das nächste Riff zu… Es ist nur ein Riff! Aber die Kerle mit der feinen Jacht werden sich wundern!“

Der Fischer fluchte…

Was er uns an Beleidigungen an den Kopf warf, hätte ihm ein Jahr Gefängnis eingetragen.

Unser Hilfsmotor schnurrte, die Brise war günstig, und der Kutter flog davon…

„Schraut, übernimm das Steuer!“

Fischer Beef beobachtete erbleichend, wie Harst unter dem Ulster die zwei Teile einer kurzen Repetierbüchse zum Vorschein brachte und Lauf und Schloß an den Kolben schraubte.

Jetzt hielt er uns bestimmt für Verbrecher.

Die Jacht, auf der übrigens keine Seele zu sehen war, rückte auf.

Harst kniete am Heck, legte den Büchsenlauf auf die Reling und wartete ab.

Fischer Beef kroch schleunigst in die kleine Kajüte.

Die graublaue flinke Jacht suchte uns den Weg nach dem Riff abzuschneiden. Dann – die Entfernung betrug noch etwa fünfhundert Meter – begann der Mückentanz…

Fast lautlos spielte drüben ein Kleinmaschinengewehr mit Schalldämpfer, aber die Geschoßgarbe lag miserabel, und ich sorgte durch schnelle Wendungen des Kutters dafür, daß die Kerle erst recht nicht trafen. Nur unsere Segel bekamen etwas ab, und mit einem Male feuerte auch Harald, – Schuß auf Schuß, bis die Jacht plötzlich stoppte, schleunigst umkehrte und verduftete.

Harst lachte grimmig. „Damit hatten die Herrschaften nicht gerechnet!! – Wenden, mein Alter! Zum Hafen! Hole auch Beef nach oben…“

Der Vortrag, den er dann dem alten Jan Maat hielt, wurde kräftig unterstützt durch das Vorzeigen unserer Legitimationen und Pässe.

„Also, Beef, – wir sind durchaus anständige Männer, – die weniger anständigen fliehen dort mit ihrer Jacht! Wir sollten hier erledigt werden, Beef, – Sie mit, Ihr Kutter wäre versenkt worden…“

Der Alte begriff jetzt. „Mr. Harst, – so eine Bande!! Entschuldigen Sie nur…“

„Schon gut. Setzen Sie sich… Schraut, eine Zigarre auf den Schreck‥! Und jetzt kramen Sie mal ein wenig in Ihrer Gedächtniskiste umher, Beef… Sie sind doch hier in Wingarden daheim. Können Sie uns irgend etwas Besonderes erzählen, was Ihnen vielleicht in letzter Zeit aufgefallen ist?“

Beef rauchte und rieb sich die Stirn.

„Hm, – Besonderes?! Meinen Sie über die verfl… Jacht? Die habe ich noch nie gesehen, das war ein großer, seetüchtiger Kasten… Aber … aber, – wissen Sie, Mr. Harst, da ist etwas anderes, worüber in Wingarden viel geredet wird, seitdem der Lord das Känguruh erschossen hat… Ich bin nicht abergläubische, doch – – es ist etwas Wahres daran, mein Schwiegersohn wohnt hinter Wingarden in der Heide und besitzt dort eine kleine Farm. Und vor zwei Tagen sah ich dort das Vieh auf dem Heimweg… Gespensterkänguruh nennen es die Leute… Es ist ganz weiß, – na, fast weiß, und es leuchtet…“

„…Wie der Hund von Baskerville vom seligen Sherlock Holmes…“

„Genau so…“

„Was tat das Tier?“

„Es kam von der südwestlichen Schloßparkecke von Greenham her und hatte es sehr eilig… Die Nacht damals war recht dunkel, und … und ich machte mich schnell aus dem Staube, Mr. Harst.“

„Verständlich‥! – Das Tier wurde also schon häufiger beobachtet?“

„Ja, verschiedentlich…“ Der Fischer beugte sich plötzlich vor und tippte Harst auf die Brust. „Da fällt mir etwas ein, Mr. Harst… Aber bitte, schweigen Sie darüber, denn hier in Wingarden tummeln sich so viel Kriminalbeamte aus London umher… Man kommt da leicht in Teufels Küche!! Hinter dem verd… Vieh lief jemand drein, und meine Augen sind tadellos, – – ich … ich … behaupte, es war der Neffe Mylords. – Zum Glück sah er mich nicht, aber ich sah ihn, und das weiß bisher niemand, niemand!“

…Fischer Beef erhielt noch zwei Pfund, setzte uns am Nordkap ab und fuhr weiter in die Bucht hinein, während wir auf Umwegen der Heide zustrebten.

Beefs Sohn wohnte ganz einsam in einem Tale, das dünn bewaldet war, und da wir uns auf seinen Vater beriefen, rückte der verschlossene Mann so allgemach mit der Sprache heraus…

Wir saßen in seinem schlichten Farmhause, seine Frau trug uns ein Frühstück auf, und Edward Beef bestätigte, daß das Känguruh seit etwa acht Tagen jede Nacht zu sehen sei. Er führte uns nachher zum östlichen Talrand und erklärte eifrig, daß das Tier stets diesen Weg nehme.

Es war ein Feldweg, der nach Westen zu an der Parkmauer vorbeilief, während er nach Osten anscheinend den Kurpark von Wingarden streifte.

Wir bedanken uns, Geld lehnte der stramme Farmer ab, und gemächlich wanderten wir nun nach Schloß Greenham auf dem Feldweg dahin, der sehr viel benutzt wurde, – Wagen, Autos, Fußgänger begegneten uns, und erst als wir die Parkmauer erreicht hatten, war niemand in Sicht. Wir schwangen uns hinüber, stießen drüben auf urwaldartiges Dickicht und schlichen daher an der stellenweise eingefallenen Mauer entlang.

Gerade dies sollte unser Verderben werden. So sehr wir bisher trotz scheinbar zur Schau getragen Sicherheitsgefühls jede Sekunde auf das Ärgste vorbereitet gewesen waren, – wir liefen denen, die hier mir völlig unerklärliche Dinge trieben, nur zu leicht in die Falle.

Da war eine ganz breite Mauerlücke, da waren im etwas morastigem Boden zahlreiche unverkennbare Känguruhspuren, und als wir uns bückten, um sie genauer zu betrachten, fielen uns aus einer Eichenkrone Schlingen über die Köpfe. – – Widerstand gab es nicht, halb erwürgt, besinnungslos schleppte man uns mit verbundenen Augen weg, und auch nicht einen einzigen der Gegner hatten wir zu Gesicht bekommen…

Hilflos, eingewickelt in alte Strohmatten, gefesselt mit Kupferdrähten, lagen wir irgendwo im Finstern – – irgendwo…

Daß man uns nicht schonen würde, wußte ich…

Ich hatte das heutige Frühstück in Gesellschaft Mac Borells nicht vergessen. Dieser Zirkus Orelli mit seinen bescheidenen Eintrittspreisen war nichts als eine Kulisse für eine einzige üble Verbrecherbande.

Die Strohmatte stank…

Mein Hals brannte…

Mein Hirn zermarterte ich mit Rettungsgedanken…

Rettung? Hilfe?!

Woher…

Wie die Gegner arbeiteten, bewiesen die Vorfälle in Berlin und hier die Kugelsaat, die von der Jacht um uns herumgespritzt war.

Stunden schlichen…

Hunger nagte…

Durst quälte…

Es war Nacht, als Geräusche auflebten…

Man hob uns empor…

Das Ende?!

…Das Ende vielleicht ein Stück Eisen an die Füße und dann … hinab in das unergründliche, verschwiegene Meer…

Vielleicht… – –

Es kam anders…

Noch schlimmer…

 

 

 

 

Ziel I 4

 

 

1. Kapitel

Die wehenden Scheiben.

Man schleifte mich davon wie ein Kalb zur Schlachtbank. Derartige Eindrücke vergißt man nicht so leicht. Man behandelte mich, als ob ich ein gefühlloses Stück Holz wäre, man richtete mich auf, riß mir die durch die Drahtschlinge zermarterten Hände nach hinten, – ich merkte, man fesselte mich an einen Baum, und plötzlich wurden auch die Augenbinde und der Knebel entfernt.

Nacht… Mondlicht…

Eine Lichtung, Bäume ringsum, links eine verfallene Parkwärterhütte, – – neben mir Harst, genauso wehrlos, genauso raffiniert an einen Baum gebunden… Und wie zum Hohn hatte man uns die Hüte weggenommen, hatte uns etwas Anderes auf die Köpfe gestülpt: Tropenhelme‥!

Und – Harst trug einen Tropenanzug!

Da erst blickte ich auch an mir herab. Derselbe leichte Anzug, zweifellos aus der Requisitenkiste des höllischen Zirkus Orelli stammend‥!!

Zum Hohn? – – In einer Februarnacht, wo von Nordost ein eisiger Wind über das Meer kam, wo die uralten Parkbäume rauschten und knarrten…

Mondlicht dazu, – fast taghell… – Sogar drüben die eingestürzte Parkmauer war zu erkennen, – jeder verwitterte Ziegelstein erhielt seine Gloriole durch dieses Mondlicht, das so zart und träumerisch alle zarten Umrisse verwischte. Es lag Poesie in diesem Bilde eines Ausschnittes einer Parkwildnis, deren endlose Weite wir kannten. Deutschlands Herrensitze kennen keine derartigen Riesengärten wie England, – – aber gerade diese gigantische Weite machte jeden Hilferuf zwecklos. Wir hätten wohl rufen können, denn wir spürten nichts mehr von der Nähe der Feinde, aber Harald schüttelte ablehnend den Kopf – nickte mir dann aufmunternd zu.

Andere Rufe aus der Tiefe des Parkes ertönten: Eulen, Käuzchen, Nachtfalken… Sogar die Fledermäuse waren infolge der Wärme der letzten Tage bereits erwacht nach monatelangem Wintertraum und schwebten mit sanftem Pfeifen über die Lichtung.

Sonst war alles still, so still, daß man irgend ein gänzlich unerwartetes Ereignis unbekannter Art in den Fingerspitzen vorausfühlte.

Derweil wanderte das Nachtgestirn weiter, und ein Teil der Parkblöße versank im Schatten. Auch die beiden Buchen, von denen wir nicht loskamen, obwohl nur die Handgelenke an die Bäume gefesselt waren, lagen nun im Dunkeln, und wir mit unseren sonst wohl sehr auffälligen Anzügen konnten uns kaum von der grauen Buchenrinde irgendwie abgeben.

Harald hatte mir soeben nochmals möglichste Reglosigkeit befohlen, und sein zur Seite geneigter Kopf bewieß mir, daß er auf jenes fernher kommende Geräusch lauschte, dem auch ich bereits einige Aufmerksamkeit geschenkt hatte.

Etwas mir zunächst Unverständliches geschah nun, – ich hatte mich doch geirrt, die Feinde waren noch in der Nähe, sie steckten über uns in den Bäumen, und graue, halb durchsichtige Gazestreifen schwebten herab, verdeckten uns vollends, und wehten mit unsauberer geschnittenen Rändern hin und her. Trotzdem konnte ich wahrnehmen, daß rechts von uns nach der großen Mauerlücke zu mit leichtem metallischem Knistern ein mit Mimikryfarbe überpinseltes weitmaschiges Drahtgitter emporklappte, das bis zu Nordgrenze der Lichtung zu reichen schien.

Fast in demselben Moment rutschte mir auch von oben jemand ins Genick, ein Knebel verhinderte den Schrei der Überraschung, der mir bereits auf der Zunge schwebte, und Harst erging es nicht besser.

Wieder bekamen wir nichts von den Leuten zu sehen, die hier so seltsame Dinge trieben, – sie verschwanden, alles wurde wieder still, und mein fieberndes Hirn löste spielend die bisher unklarer Frage, weshalb man uns bisher die Knebel abgenommen haben mochte, nur in der Hoffnung, wir könnten miteinander irgendwelche Gespräche führen, aus denen die Gegner ihnen Wichtiges zu erlauschen hofften!

Aber diese an sich nebensächliche Schlußfolgerung ward sofort zurückgedrängt durch eine neue Beobachtung. Ich hatte den Kopf mehr nach hinten gelehnt, und so erst gewahrte ich, daß der dünne Gewebestreifen vor mir nicht lediglich dazu dienen sollte, mich vollends zu verbergen. Auf diesen halb durchsichtigen Stoff, der unten an einer Stange wie ein altmodischer Zugvorhang befestigt war, hatte man nicht nur die Konturen, sondern das sauber auf Fernwirkung berechnete Bild eines lebensgroßen Känguruhs gemalt. Da der Stoff im Winde sich bewegte, mußte das Bild bei der ungewissen Beleuchtung den Eindruck erwecken, als lebte das Tier.

Drahtgitter, Vorhang, Bild, – – all das hätte wohl meine Gedanken vollkommen in Anspruch genommen, wenn nicht der ferne Lärm immer näher gerückt wäre. Es war ein taktmäßiges Stampfen, Brechen von Zweigen und Ästen, Poltern und Klopfen, – unentwirrbar den einzelnen Tönen nach. – – Sehr schnell rückte diese wilde Jagd heran, aus dem Dickicht brach als erstes das sogenannte Gespensterkänguruh hervor, rannte schräg über die Blöße, prallte gegen den hohen, weitmaschigen Draht, bog rechts ab und schoß dich an mir vorüber ins Freie. Ihm folgten zwei weitere Tiere, – denen ebenfalls nur die eine Durchlaufstelle blieb. Blitzartig flogen sie vorbei, der Lärm ihrer grotesken Sprünge erstarb hinten in der Heide, und mein von alledem in Bann gehaltenes, noch heftiger fieberndes Hirn ward bereits von abermals gänzlich Unerwartetem erfüllt, – – hinter mir eine Stimme, die keuchend, japsend, die Worte hervorstieß:

„Erschreckt nicht‥!! Mit dem Messer richte ich gegen die Stacheldrähte nichts aus‥!“

Dann sechs … acht ganz leise, sehr gedämpfte Schüsse, – – nochmals dieselben schwachen Knalle, deren Schallwellen das Ächzen und Knarren der alten Stämme verschlang.

„Hinwerfen!!“ keuchte dieselbe Stimme… „Hinwerfen!! Aber laßt die verfluchten Stoffstreifen unberührt!“

Ich sank zu Boden, hatte die Beine frei, stieß mich mit den Füßen hinter die Buche, da Harald eindringlichst geflüstert hatte: „Deckung hinter dem Stamm!!“

Der, der sich nun über mich beugte und die Drahtschlingen aufdrehte, war Kaptain Borell.

Mit einem Male drüben aus dem Gestrüpp das scharfe Peng einer Repetierbüchse, dieser eigentümliche, blecherne kurze Knall, der so vollkommen deutlich von einem Schuß aus einer älteren, unmodernen Waffe mit Schwarzpulver sich unterscheidet.

Noch drei Schüsse folgten…

Stille…

Mac Borell lachte eigentümlich…

„Hörtet ihr die Kugeleinschläge in eure Bäume, Harst?!“

„Ich hörte sie… Es war ein gemeiner Streich, wirklich,“ knurrte Harald und knetete seine geschwollenen Handgelenke. „Der alte Ben Akiba mit seinem berühmten Spruch ‚alles schon dagewesen’ behält trotzdem zur Hälfte recht. Schraut und mir ist es bereits zweimal begegnet, daß wir durch Hinterlist von Leuten auf ähnliche Weise abgeknallt werden sollten, die der Sachlage nach auf unserer Seite standen. – Ich danke Ihnen, lieber Mac… Sie müssen ja unglaublich gerannt sein, um noch zur rechten Zeit zu kommen.“

Borell trocknete sich Stirn und Gesicht von dem reichlich rinnendem Schweiß.

„Gerannt?! Galoppiert bin ich, Harst, – – galoppiert! Aber das kommt davon, wenn zwei Leute, die an demselben Strang ziehen, voreinander Versteck spielen, der eine, Sie, aus alter schlechter Gewohnheit, der andere vielleicht aus Ehrgeiz… Und doch ist es gut, daß hier die Dinge so kritisch wurden, – desto sicherer wird in zwei Monaten der Lieferant für Stricke zum Aufknüpfen in gesetzmäßiger Form etwas verdienen. Zwei Morde, hier zwei Mordversuche, – – es genügt. Der erste Tote in Wingarden – angespülte Leiche –, der zweite der Chauffeur in Berlin, jetzt ihr beide als erwählte Opferlämmer. Das Maß ist voll!“

– Ich stand schweigend dabei, mußte erst etwas Ordnung in meinen Verstandskasten bringen, in dem so ziemlich alle Schiebladen samt Inhalt durcheinandergeworfen waren.

Mac Borell?! Mac als Retter?! Mir wollte das nicht einleuchten. Hat man erst einmal Verdacht geschöpft, helfen auch alle schönen Redensarten nichts.

Doch Harst drückte nochmals Borells Hand. „Wie fanden Sie unsere Fährte, Mac?“

„Durch den Fischer Beef und dessen Sohn, den Farmer. – Ich denke aber, wir…“

„Ja – zum Schloß, Mac, ganz recht. Ich glaube, wir werden dort in eine recht erregte Gesellschaft hineinplatzten… Mylord wird toben. Übrigens hätte ich auch ohne Ihr freundliches Eingreifen die genialen Känguruhscheiben beseitigt… Die Zirkusleute hatten uns die Beine frei gelassen, und auch Schraut würde mit dem Stiefelabsatz den bemalten Stoff nach meinem Beispiel zerfetzt haben. Dennoch ist diese Lösung die bessere, – – der Hanfstricke wegen!!“

Er schritt um den Baum herum.

Der Stoff seiner ‚Scheibe’ hatte in Brusthöhe zwei Kugellöcher, – genau so verhielt es sich bei meinem Vorhang.

„Gute Schützen!“ nickte Harst. „Wir hätten einen leichten Tod gehabt… – Es waren Dum-dum-Geschosse, hier sind die Einschüsse in die Baumrinde! – – Kanaillen!!“

Mac hüstelte nur, und bis zum Schloß wurde kaum mehr ein Wort gewechselt.

Erleuchtete Fenster blinkten uns entgegen, der Schloßvogt, ein hagerer Mann mit steinernen Domestikenzügen, führte uns drei in des Lords Bibliothek, wo wir außer Seiner Lordschaft noch Georg Greenham, die hochmütige Lucy und den Sekretär und Verwalter Stuart Orpinkton um den geheizten Kamin gruppiert vorfanden. Orpinkton kannten wir noch nicht. Er machte den Eindruck eines recht überheblichen Menschen und war genau so Vollblutbrite wie der Neffe Seiner Lordschaft.

Hamilton Greenham war sehr erregt, trug einen seidenen Schlafrock und schien schleunigst das Bett verlassen zu haben. Auch die Anzüge der drei anderen Personen verrieten das.

„Was wünschen Sie, meine Herren, – – zu dieser Stunde?! Es ist halb ein Uhr morgens“, empfing uns Mylord mit einer so eindeutigen Feindseligkeit, daß nur Mac Borells amtlicher Eigenschaft die Situation rettete.

„Ich komme als Beamter von Scotland Yard, Mylord,“ erklärte der Kaptain sehr dienstlich. „Sie kennen mich bereits… Hier mein Ausweis… Ich bitte, im Nebenzimmer das ganze Personal zusammenzurufen.“

Der Lord kaute nervös seine Unterlippe…

„Orpinkton, läuten Sie‥!“

Der Butler erschien. „Tom, der Herr Kaptain Mac Borell befiehlt uns… – Bitte, Kaptain, – was befehlen Sie?“

Borell lehnte am Kamin. „Daß alle Dienstboten nebenan versammelt werden, alle, – und schleunigst!“

Der Butler Tom, sein voller Name lautete Tom Brisban, entfernte sich wieder mit recht bestürztem Gesicht.

Harst hatte ohne Aufforderung in dem fünften leere Klubsessel Platz genommen. Der Lord warf ihm einen gereizten Blick zu, doch Harald meinte harmlos: „Verzeihen Sie, Mylord, ich bin müde. Man hat uns sehr brutal behandelt… Sehen Sie sich meine Handgelenke an.“

Hamilton Greenham starrte wortlos auf die Rillen der Drähte und die geschwollene, zerschundene Haut. Mit sehr brüchiger Stimme bat er seine Tochter, ihm einen Whisky ohne Soda zu reichen und uns ebenfalls eine Erfrischung anzubieten.

Die Atmosphäre hier in dem großen düsteren Raum mit dem knisternden Kaminfeuer war am besten mit ‚Katastrophenstimmung’ gekennzeichnet.

Finstere Feindseligkeit lagerte über uns allen.

Ich hatte das Gefühl, daß hier einer dem anderen nicht traute.

Ich jedenfalls traute weder Lucy noch dem übereleganten Georg in dem lilaseidenen Schlafanzug, traute erst recht nicht Mac Borell, der seine Jockeyfigur lässig zur Schau stellte.

Niemann sprach mehr. Der Lord stierte vor sich hin, und Mac zündete sich gleichmütig eine Zigarette an.

Dann trat Tom Brisban, der Butler, ein und meldete Seiner Lordschaft, daß das Personal versammelt sei.

Jetzt rührte sich Mac Borell, schritt zum Fenster, öffnete es und zog seine Trillerpfeife hervor.

Harald beobachtete ihn.

„Lassen Sie das vorläufig, Mac,“ sagte er mit einer recht energischen Geste. „Soweit sind wir noch nicht. Ich fürchte, Sie überschauen die Dinge doch nicht so ganz…“

„Nun gut… – Dann sprechen Sie, Harst.“

Er kehrte an seinen Kaminplatz zurück und rauchte ein paar hastige Züge.

Die Gewitterstimmung war noch unerträglicher geworden.

 

 

2. Kapitel

Die Verhaftung.

Lord Hamiltons ehrwürdiges Gesicht erschien farblos und verfallen. Lucy lächelte unmerklich und anmaßender und herausfordernder denn je. Sie war eine kalte Schönheit, aber hinter dieser tadellosen Maske verbarg sich ein Vulkan… Nicht viel anders schätzte ich Georg Greenham ein. Der Sekretär Orpinkton hatte nur Interesse für seine schmalen Hände und tadellos gepflegten Nägel, – er war eine weit imponierendere Erscheinung als Georg Greenham, seine Züge verrieten Intelligenz und Tatkraft. Aber auch er schauspielerte hier…

Harald, die Ellenbogen auf den Sessellehnen, fragte kurz und unangenehm scharf: „Wer von Ihnen ist um Mitternacht im Park gewesen?“

Lord Hamilton erklärte sofort: „Ich nicht… Ich lag im Bett und las. Ich hörte Schüsse, stand schnell auf und öffnete ein Fenster, um zu lauschen.“

„Und Sie hörten nichts mehr und sahen nichts?“ meinte Harald bewußt schroff.

„Nein, nichts… Dann weckte ich Lucy und Georg und meinen Sekretär…“

„Wie lange lauschten Sie am Fenster, Mylord?“

Hamilton Greenham zögerte. „Vielleicht fünf Minuten. Es wird oft im Park gewildert, Mr. Harsts.“

„Allerdings!“ nickte Harald anzüglich. „Gewildert! – Und die übrigen Herrschaften verschliefen die Schüsse?“

Er blickte die drei, die noch in Frage kamen, der Reihe nach an.

Sie bejahten. Lucy erklärte noch, sie habe ihre Räume nach Norden hinaus… „Ich konnte dort kaum Schüsse hören, Mr. Harst. Aber was soll das alles?!“

Harald schüttelte leicht den Kopf. „Ich habe bisher nicht erwähnt, wo die Schüsse fielen… Hat Ihr Vater es Ihnen mitgeteilt?“

„Ja!“

Der Lord blickte schnell zur Seite.

„Mylord, über diese Schüsse dürfte hier vorhin sehr eingehend gesprochen worden sein.“

„Das wohl,“ bestätigte Greenham leise und gequält.

„Weshalb?! – Wilddiebe pflegen doch nicht um diese Zeit die Schloßbewohner um einen Kamin zu versammeln?! – Bitte, Mylord, – weshalb diese Zusammenkunft hier?“

Greenhams Stirn wurde kraus. Ein grimmer Blitz aus herrischen Augen traf Harald. „Mr. Harst, ob Sie berechtigt sind, hier den Inquisitor zu spielen, bezweifle ich. Ich lehne es ab, Ihnen fernerhin zu antworten. Kaptain Mac Borell, mit Ihnen ist es etwas anderes. Fragen Sie!“

Der berühmte Mac verneigte sich. „Harst frag für mich, Mylord!“

„Dann – – verweigere ich die Aussage,“ brauste Greenham auf…

„Wie Sie wollen, Mylord… – Harst, noch etwas?“

„Der Butler soll Schraut und mich durch das Schloß führen, lieber Mac. Ich rate Ihnen, öffnen Sie die Tür zum Nebenzimmer und beobachten Sie auch das Personal.“ –

Tom Brisban schritt uns voran.

„Zuerst Lady Lucys Zimmer, Brisban,“ befahl Harald.

Im Nordflügel in Lucys Wohnzimmer stand auch ein Gewehrschrank, der vier leichte Büchsen enthielt.

Harst prüfte die Waffen, öffnete die Schlösser und schaute durch die Läufe. Eine der Büchsen nahm er mit.

„Nun zu Georg Greenhams Räumen!“ ordnete er an.

Unterwegs dorthin fragte er Brisban, wie lange er hier schon Butler sei.

„Ein Jahr, Mr. Harst…“

„Sie tragen zu Ihrer Livree statt der weißen Schleife eine schwarze. Haben Sie Trauer?“

„Meine Mutter und Schwester sind an Grippe gestorben, Mr. Harst.“

„Oh, – mein Beileid. – Unlängst?“

„Vor etwa sechs Wochen.“

„Hier in Wingarden?“

„Nein, in London.“

Auch Georg Greenham hatte einen alten schmalen Schrank für seine Jagdwaffen als Gewehrschrank hergerichtet, auch hier nahm Harst eine Büchse mit.

„Brisban, besitzt außer Seiner Lordschaft noch jemand Gewehre?“ fragte er den verschlossenen Butler.

„Meines Wissens nicht, Mr. Harst. Der Sekretär ist ein Tennisnarr, und unser Jagdhüter wohnt an der Nordmauer des Parkes.“

„Danke. – Nun zurück zur Bibliothek…“

Als wir eintraten, fuhr Lord Hamilton halb aus seinem Sessel hoch, fiel zurück und griff mit zitternder Hand nach der Whiskyflasche.

Mac Borell hatte die Augen weit geöffnet.

„Harst, wem gehören die Waffen?!

„Lady Lucy und Mr. Georg Greenham, – die Läufe beweisen, daß vor noch ganz kurzer Zeit mit diesen Büchsen geschossen wurde, man riecht sogar noch das Blättchenpulver.“

Georg Greenham sagte eisig: „Das kann nicht stimmen, – die Büchse ist nicht benutzt worden‥!“

Der Lord hatte sich mühsam erhoben. Er richtete sich dann ganz straff auf. „Kaptain Mac Borell, meine Ehre war bisher makellos… Ich will nichts verheimlichen. Ich sah vom Fenster aus vorhin Lucy und Georg in wilder Hast von Südwesten her aus dem Park ins Schloß stürmen. Hier haben sie vor mir geleugnet, draußen gewesen zu sein. – Tun Sie Ihre Pflicht, Kaptain, ganz gleich, ob es sich um meine Tochter handelt.“

Mac und Harst tauschten einen schnellen Blick, den ich nicht recht zu deuten wußte.

Eine Weile herrschte peinvollstes Schweigen. Dann öffnete der Kaptain das Fenster, seine Pfeife schrillte, und sehr förmlich erklärte er Lucy und Georg für verhaftet… „…Wegen dringenden Verdachtes, gemeinsam einen Diebstahl und einen Mordversuch begangen zu haben. Aus Hinsicht auf Verdunklungsgefahr bleibt das Schloß von meinen Beamten besetzt.“

Der Butler hatte sechs Herren in Zivil eingelassen

„Inspektor Channon, führen Sie die Verhafteten ab, nachdem diese ihren Anzug vervollständigt haben. Ich rate Ihnen, die beiden sehr scharf zu bewachen…“ ordnete Mac äußerst dienstlich an.

Lord Hamilton saß zusammengebrochen in seinem Sessel, dicht hinter ihm stand Harald, und als die Bibliothek sich geleert hatte, beugte sich Harst schnell zu dem alten Herrn hinab und raunte ihm etwas zu.

Mylord hob mit einem Ruck den Kopf.

Ich verstand nur, wie er zurückflüsterte:

„War das wirklich nötig?!“

Harald nickte.

Wir verabschiedeten uns, und ein Polizeiauto brachte uns nach Wingarden, wo wir sofort zu Bett gingen…

Harst lehnte jede Erörterung der Vorfälle ab. Ich mußte mich damit zufrieden geben. Der Schlaf tat uns wirklich not. Auch ich war so erschöpft, daß ich sofort einschlummerte.

Der übereifrige Mac Borell hatte es weniger gut als wir, er hatte noch das Schloßpersonal vernehmen und verschiedenes andere erledigen wollen. – –

Am Morgen gegen acht saßen wir in der Glasveranda beim Frühstück und musterten argwöhnisch den leicht bedeckten Himmel, der Regen und Sturm verhieß. Das Barometer war gefallen, und gerade als Mac erschien, meinte Harald ärgerlich: „Regen schadet nichts, – nur keinen Sturm!! – – Morgen, Mac… Ausgeschlafen?!“

Der Kaptain nahm Platz. „Schlafen?! Ich?! Lieber Harst, ich bin dafür bekannt, daß ich drei Tage ohne Schlaf auskomme. – Kellner, keinen Tee, ganz starken reinen Mokka, dazu ein Beefsteak mit zwei Eiern und reichlich Sardellen und Whisky… – schleunigst!“

– Was sollte ich nun eigentlich von diesem sehnigen kleinen Kerl halten, der zu den Größten von Scotland Yard gehörte?! Und was hielt Harald, der einen so unbefangenen Riesenappetit entwickelte, von ihm und so geläufig über das Wetter schwatzte, als gäbe es überhaupt kein Gespensterkänguruh und keinen Zirkus Orelli, dessen Hauptattraktion sechs dressierte Känguruhs gewesen waren, die der junge Orelli, mit Vornamen Feodor, allabendlich vorführte. –

– Aber mit einem Schlage ließ Harald dann diese Maske fallen und fragte sehr gedämpft zu Mac Borell über den Tisch hin:

„Mac, Ihre unzulänglichen Versuche, Lucy und Georg zu schützen, die Sie im Verdacht des Juwelendiebstahls und einer heimlichen Zusammenarbeit mir Feodor Orelli hatten, waren auf Ihr sehr reges persönliches Interesse für Lucy zurückzuführen. Ich will nicht von Liebe sprechen, aber zumindest von starker Zuneigung, und wo derartige Empfindungen mitspielen, wird man blind.“

„Allerdings. Ich war ein Narr!“ – und der Kaptain lächelte etwas schmerzlich. „Freilich haben Sie sehr wenig dazu getan, mir rechtzeitig die Augen zu öffnen. Wer sind denn nun eigentlich die Schützen von der verflossenen Nacht mit den Dum–dum–Kugeln?! Daß die Läufe der beiden beschlagnahmten Waffen absichtlich verschmutzt sind, habe ich schon herausgefunden. Wer tat dies?“

Harald blickte durch die Fenster über die felsigen Buchtgestaden hin. „Gab es im Januar in London eine Grippeepidemie, Mac?“

Der sehnige Kaptain hörte zu essen auf. „Was soll das?! Nein, es gab keine Grippeepidemie… Nur einzelne Fälle.“

„Tennis ist ein sehr beliebter Sport, lieber Mac… Essen Sie nur ruhig weiter… Sie hätten sich den Geräteschuppen und Taubenschlag neben der Tennishalle genauer ansehen sollen. In dem Raum rechter Hand steht ein Garderobenschrank, und…“

Mac wurde rot vor Ärger. „Zum Teufel, Harst, reden Sie vernünftig!!“

„Lieber Mac, jedes Wort von mir hat Sinn und Verstand, mag es auch wie ein delphisches Orakel klingen. – Lucy macht mit ihrer künstlichen Kälte und diesem wunderbaren Leib alle Männer toll, alle, – – vielleicht doch nicht alle. Jedenfalls die, die häufiger mit ihr zusammen sind, wie zum Beispiel die Schloßbewohner…“

Borell lehnte sich plötzlich zurück.

„Ah, mir geht ein Licht auf, Harst‥! – Es waren also in der verflossenen Nacht vier Wilddiebe in dem Park, – je zweimal zwei!! – Und weshalb ließen Sie die Verhaftung zu?!“

„Weil das zweite Paar Wilddiebe vor nicht zurückschreckt, und weil das neue Polizeigefängnis von Wingarden der sicherste Aufenthalt für das Brautpaar ist. Ich denke, wir haben genug zu tun, uns drei am Leben zu erhalten.“

„Scheint so…,“ und Mac aß weiter.

„Was haben Sie hinsichtlich des Taubenschlages veranlaßt?“ fragte Harald in seiner sprunghaften Art.

„Alles Nötige… Nicht eine Taube kann aus- oder einfliegen. Im Gebüsch stecken zwei Leute mit Windbüchsen, die eine Schwalbe treffen würden.“

„Sehr gut. Die Hauptsache bleibt, daß Feodor Orelli nicht argwöhnisch wird. Ihnen ist doch bekannt, daß der eifrige Tennisspieler Mr. Stuart Orpinkton, in dessen Zimmer eine Todesanzeige seines Bruders lag, der eigentliche Pächter des Schuppens ist? Der Hotelportier erzählte es mir… Hotelportiers wissen alles, wenn sie verheiratet sind und drei erwachsene, heiratswilde Töchter haben.“

Mac lächelte schwach.

Indem kam der Kellner und überreichte ihm eine versiegelte Pappschachtel…

„Von Inspektor Channon, Kaptain. Es eilt…“

„Danke.“

Die Veranda war leer. Mac nahm den Karton auf den Schoß und öffnete ihn.

„Ah – eine tote Brieftaube, noch warm…“

Er las das Blättchen der Taubenpost und gab uns den Inhalt wieder:

„Nicht absenden. Konkurrenz zu groß. Signatur 23. 2. A.“

Harald krauste die Stirn. „Unangenehm! Die Bande ist doch etwas argwöhnisch geworden. Hoffentlich begnügen sie sich mit dieser Taube und sind nicht noch moderner, etwa geheime Funkstation, eingebaut in einen Zirkuswagen. – Mac, hinsichtlich der Tauben haben Sie meinen Wink verstanden, nun befolgen Sie auch den nächsten Rat und lassen Sie dem Zirkus unter einem Vorwand den elektrischen Strom bis zum Abend sperren. Beeilen Sie sich damit, Sie können ja telephonieren.“

Mac beeilte sich sehr, und als er wieder bei uns Platz genommen hatte, fragte er geradeheraus: „Wohin gehen die Tauben und die Depeschen von hier, – – wohin?“

„Bestimmt nach Helgoland,“ erklärte Harald. „In Helgoland muß sich eine Filiale der Hehlerbande befinden, die nebenbei auch zweifellos Schmuggel im Großen betreibt. Seit England gewisse Waren mit hohem Zoll belegt hat, lohnt der Schmuggel wieder.“

Mac Borell hatte eine Bewegung der Überraschung nicht unterdrücken können. „Teufel noch mal, da haben Sie recht, Harst! Hehlerei und Schmuggel sind so verwandte ‚Geschäftsarten’, daß sie die gleiche Organisation und die gleichen Mittel verlangen. – Und die Pappmarken mit den Löchern am Rande? Sind das wirklich nur Erkennungszeichen? Die erste fand ich bei der Leiche des berüchtigten Toy Roß in dessen Hosenumschlag, die zweite erhielten Sie von Miß Beate Hartwich in Berlin. Einer der Engländer, die dem Arthur Schmelz zu den Börsengewinnen verhalfen, hatte sie… – – Hallo, was gibt’s, Channon?!“

Der lange Detektivinspektor stand neben unserem Tisch. „Kaptain, soeben Meldung aus London: In der verflossenen Nacht ist das Juweliergeschäft von Grieser & Co in Park Lane ausgeplündert worden. Der Einbruch dürfte bereits um zehn Uhr abends stattgefunden haben… Es sind nur die wertvollsten Stücke geraubt worden.“

Mac schaute Harald an. „Bei mir dämmert es immer mehr, Harst,“ flüsterte er verbissen. „Es ist gut, Channon… Daß mir keiner vom Zirkus Orelli unbeobachtet bleibt!!“

„Nicht eine dressierte Maus entkommt!“ erklärte der Inspektor und stelzt davon.

 

 

3. Kapitel

Die Schuldigen.

Borell suchte aus seiner Zigarrentasche eine helle dünne Importe und setzte sie in Brand.

„Die Dinge klären sich…“, meinte er zufrieden. „Harst, hängt dieser Juwelenraub wieder mit den Känguruhs zusammen?“

Auch Harald rauchte, antwortete nicht sofort, sondern zog die Pappmarke hervor. „Lieber Mac, zunächst diesen Punkt. Die Marke ist aus allerhärtester präparierter Pappe gefertigt, die Löcher an den beiden Rändern lassen nur eine Deutung zu‥: Schlüssel!“

„Was für ein Schlüssel?! Chiffreschlüssel?!“

„Nein, ein richtiger Schlüssel, Mac… Betrachten Sie das Ding genau, ganz genau. Versuchen Sie es einmal zu biegen. – Sehen Sie, es hat eine unsichtbare Einlage eines ganz leichten Metalls, es besteht aus drei Schichten: Pappe, Metall, Pappe. – Das Metall könnten Sie feststellen, wenn Sie mit der kleinen Klinge eines Taschenmessers in einem der Löcher kräftig bohren. Dann hören Sie das Kratzen. Und die Löcher?!“

„…Diese Löcher, Mac, im ganzen acht, sind so angeordnet, daß, wenn man vier davon zum Oberrand aufmerksam betrachtet, zwischen je zweien ein größerer Abstand sich befindet, während bei der anstoßenden Kante die Löcher gleichmäßig verteilt sind. In diese Löcher, behaupte ich, passen dünne Zapfen eines besonderen Patentschlosses hinein, und derjenige, der diese Zapfen als ‚Schloß’ erkennt und dies Pappstück benutzt, wird in eine Ali Baba-Höhle gelangen – – oder dergleichen: Räuberhöhle, Hehlernest, Beutekammer, wie sie es nennen wollen. – Kapiert?!“

„Ja!“

Mac schien begeistert. „Und wo befindet sich dieses besondere Patentschloß?“

Harald erhob sich. „Draußen!“ erwiderte er zweideutig. „Gehen wir zum Nordkap, Mac… Nur ein Verdauungsspaziergang…“

Am Hafen unten begrüßte uns der vergnügt grinsende alte Fischer Beef. „Na, da sind Sie ja wieder, Gentlemen‥! Wie wäre es mit einer Segelpartie?!“

„Abends, Beef, abends‥! Aber Mund halten! Diesmal könnten Sie zwanzig Pfund verdienen.“

Wir schritten weiter. Harald blätterte in einem der von der Kurverwaltung herausgegebenen Prospekt.

„Lieber Mac,“ meinte er durchaus ernst, „ich habe schon immer betont, daß ein Detektiv ohne Phantasie stets ein kläglicher Paragraphenhengst bleiben wird, ein Theoretiker und Stümper. Lesen Sie mal hier und da ‚Sehenswürdigkeiten Wingardens’. Da steht zum Beispiel: ‚Die kleinen Inseln sind fünf Meilen von der Küste entfernt und bergen eine interessante Erinnerung an den Weltkrieg. Dort liegt eingekeilt zwischen Klippen das Wrack des Kreuzers ‚Lord Kitchener’, das von der Regierung Denkmalschutz genießt. Der Kreuzer wurde am 18. Oktober 1915 von einem deutschen U-Boot torpediert und von dem Kommandanten mit größter Bravour zwischen die Klippen gesetzt. Das Heck hängt völlig im Wasser. Das Betreten des Wracks ist verboten. Es bietet jedoch einen recht denkwürdigen Anblick dar.’ Nun‥?“

Mac Borell pfiff leise.

„Verstehe! Und das Wrack liegt auf Inseln Nr. 4, – also I 4. – Und weiter?“

„Ja – weiter?! Sie machen sich die Sache sehr bequem, lieber Mac.“

„Ich besitze leider nicht Ihre Phantasie, lieber Harst.“

„Gut. Also zäumen wir den Gaul von hinten auf und lassen wir das Vorspiel in Berlin weg. – Schraut und ich kommen hierher, weil der Lord und Sie telegraphiert haben, und zwar trete ich mit einiger Voreingenommenheit hier auf den Plan, die sich gegen Schloß Greenham richtet. Lucy und Georg erscheinen irgendwie mitbeteiligt, zum Glück hatte der Lord nur dem Brautpaar mitgeteilt, wo er den Beutel mit den Juwelen fand, die nachher wieder verschwanden: in der Bauchtasche des Känguruhs, das übrigens nicht er, sondern Georg erschossen hatte.“

Mac blieb stehen. „Georg?! Und weshalb wurde Mylord vorgeschoben?!“

Harald lächelte fein. „Natürlich auf Georgs Betreiben, der, vielleicht wirklich eine Spielernatur, auch einmal das Spiel um die Wahrheitserforschung erproben wollte.“

Kaptain Borell begriff sofort. „Also Amateurdetektivehrgeiz?! – Unglaublich! Und natürlich im Bunde mit Lucy!“

„Allerdings. Das Brautpaar war hinter dem Gespensterkänguruh und alledem, was sich in diesem Namen vereinigt, genauso scharf her wie wir, lieber Mac. – So, diese durch die Klippen windgeschützte Bank mag uns vorläufig als Ruheplatz dienen. Hier können wir nicht belauscht werden, außerdem sehen wir von hier aus das Badebecken des Känguruhs, drüben am Strande jene von Felsen umdrängte enge Schüssel, die so flach ist, daß man wirklich nur von einem Planschbecken sprechen kann. Sie wissen doch, Mac, daß der vielseitige Theodor Orelli bei leidlichem Wetter täglich seine ihm verbliebenen fünf Dressurkinder dorthin treibt?!“

Mac, durch Haralds eigentümliche Betonung dieser Sätze aufmerksam gemacht, spitzte schon wieder die Lippen zu einem bedeutungsvollen Pfiff.

Harst rief hastig: „Weg hier von der Bank! Dort hinter die Steine! Hinlegen, Mac!!“

Er zog dann ein Fernglas unter dem Ulster hervor. Auch der Kaptain hatte ein Glas dabei.

„Achtung jetzt! Da ist auch der junge Orelli! Das Theater wird sofort beginnen! Geben Sie dann scharf acht, – die am vergangenen Abend in London erbeuteten Steine werden nun ‚deponiert’ werden. Ein Glück, daß Georg Greenham und Lucy und der Lord dem entdeckten Trick mit der Bauchfalte des Känguruhs so sorgsam verschwiegen haben, die Bande ist ahnungslos geblieben, – – sahen Sie, Mac, soeben massierte Herr Feodor zwei Tiere den Bauch, und jetzt – – dachte ich es mir doch!! – – scheint Orelli zwischen den Felsen im Wasser Muscheln suchen… Auch wir werden suchen, allerdings anderswo… – Sind Ihnen die Dinge klar, lieber Mac? Als der Lord mir von dem Juwelenbeutel im Känguruhbauch erzählte, fiel mir sofort die bekannte Geschichte des Dompteurs und Edelsteinenschmugglers Barnali ein, der in New York abgefaßt wurde. Das liegt ein Jahr zurück. Auch Barnali operierte mit Känguruhs. Die Bauchtasche eines Känguruhs fast eine gehörige Menge Edelsteine. –

Ach, – Herr Feodor ist fertig… Dieses Vormittagsbad der Tiere ist Bluff, ist Mittel zum Zweck. Er treibt die Känguruhs wieder davon, genau wie er sie nach den Abendveranstaltungen für einige Zeit auf die gepachtete Weide dicht an der Parkmauer treibt, – das weiß ich von dem Farmer Beef, und das ist auch Bluff… Man sagt immer, die Wirklichkeit dichte nur ganz schlichte Kriminalfälle, – wer das behauptet, liest keine Auslandszeitungen. Die heutigen Großverbrecher haben mehr Phantasie zum Einnebeln ihrer Absichten, als der Polizei lieb ist.“

„Stimmt!!“ Mac war Feuer und Flamme. Er drängte darauf, daß Planschbecken sofort zu untersuchen.

Harald lehnte ab. „Mein Lieber, ich bin ja nur ein schlichter Privatmann mit etwas abenteuerlichen Neigungen, die jetzt wieder durch den Tod meiner Mutter eine starke Verschärfung zu Ungunsten der Rechtsbrecher erfahren haben. Nein, wir bleiben… Ich habe aufgepaßt, wir sind nicht verfolgt worden, die Bande fühlt sich sicher, übermorgen will der Zirkus nach dem eine Meile entfernten Küstenstädtchen Holky übersiedeln. – Seit Monaten treibt der Zirkus sich hier in den Strandorten umher. Aber diese Übersiedlung werden Sie leiten, Mac, – – nach London ins Gefängnis. – Geduld, mein Lieber… Es gibt noch mehr zu beobachten. Warten wir. Meine Vorbereitungen sind getroffen. Die Taube, die das Schmugglerschiffe in Helgoland zurückhalten sollte, ist erschossen worden… Das Schiff kommt in dieser Nacht. Bestellen Sie nachher von London die allerschnellste Polizeijacht, die schwer bewaffnet sein muß. – – Achtung, Mac‥!! Sehen Sie die Fahnenstange auf der Tennishalle, die jetzt Zirkus ist? Ein Wimpel steigt hoch… Begreifen Sie? Ein Signal für I 4.“

Mac lachte bissig. „Kann mir denken, was geschehen wird… Vielleicht erscheint die Mimikryjacht, die Sie beschoß… – Ja, natürlich bin ich davon unterrichtet… Wir sind auch auf dem Posten, Harst.“

…Wir warteten… Wir fieberten den kommenden Dingen entgegen. Eine halbe Stunde verstrich, dann tauchte ein kleines Segelboot von den Inseln her auf, zwei Leute saßen darin. Landeten an dem Planschbecken und taten so, als ob sie die Bootsleine dort vertäuen wollten, wo der junge Orelli zwischen den Wellen Muscheln gesucht hatte. Nach zehn Minuten segelten sie wieder davon.

„Wahrhaftig, – die Beute aus dem Einbruch bei Grieser & Co. ist jetzt unterwegs nach dem Wrack des ‚Lord Kitchener’…“, meinte der Kaptain doch etwas verblüfft… „Sind das geriebene Halunken!! Haben die eine feine Organisation!!

„Über Helgoland nach Berlin zum Beispiel – die Brieftauben!!“ nickte Harst und kroch zurück.

Wir spielten wieder die müßigen Spaziergänger und kehrten auf Umwegen zum Hotel zurück. Unterwegs kam das Gespräch nochmals auf die ‚Weide’ des Känguruhs und auf den von dem Tennismatador Stuart Orpinkton gepachteten und an Orelli weiter verpachteten Geräteschuppen. Harald erklärte so nebenbei: „Orpinkton ist auch Tauben–züchter, – Liebhaberei… Orpinkton hat dort seinen Garderobenschrank stehen… – Großzügige Leute!! Ein Zirkus als Verbrecherbande ist ebenfalls nicht alltäglich.“

Und wieder machte da Mac Borell in den Anlagen halt und flüsterte eindringlich: „Harst, – gut, Orpinkton, der Sekretär, ist einer der Schufte im Schloß. Wer ist der zweite?“

„Der Hauptmacher ist Orpinkton, Mac. Sein Helfer ist der Schloßvogt Tom Brisban, der auch erst etwas über ein Jahr in Diensten des Lords steht.“

Mac Borell schaute zu Boden. „Und der Juwelendiebstahl im Schloß?!“

„Darüber reden wir später, lieber Mac… Dieser Diebstahl stellt eine unglaubliche Schurkerei mit durchsichtiger Nebenabsicht dar.“

Des Kaptains Kopf flog hoch. „Gegen wen?!“

„Nebenabsichten gegen Georg Greenham…“

„Na nu?! Das ist mir unverständlich, Harst… Georg und der Sekretär schienen befreundet.“

„Schienen‥!! Und doch haßt dieser Orpinkton den Erben des Lordtitels, und das ist Georg, wie die Sünde, – nein, wie die Ehrlichkeit, denn an Stuart Orpinkton ist alles morsch und faul. – Sie werden den Sekretär und den Butler abends neun Uhr in aller Stille verhaften, Mac. – Wir nehmen die Burschen dann mit auf Beefs Kutter. Abends wird es regnen, der Himmel bewölkt sich immer mehr. Und die bewaffnete Polizeijacht bestellen Sie für zehn Uhr ohne Lichter drei Seemeilen südwärts der Inseln… Ich habe seit langem kein richtiges Piratenstückchen mitgemacht, – – heute hoffe ich darauf!“

Aber der unersättliche Mac war noch immer nicht zufrieden gestellt. „Harst, – noch eins. Wer waren die Engländer in Berlin, die den Brieftaubendiebstahl vorbereiteten und nachher…“

„…Das waren zwei Leidtragende, die zum Begräbnis ihrer Angehörigen und zur Regelung von Erbschaftsangelegenheiten vierzehn Tage beurlaubt waren. Grippe ist eine gefährliche Krankheit.“

Mac schaute Harald verblüfft an. „Wieder Orpinkton und der Butler?!“

„Wer sonst?! – Dieser Besuch in Berlin hat immerhin ein Gutes gehabt. Der Schwächling Arthur Schmelz, der sich so prompt einwickeln ließ, wird nun wohl durch Beate Hartwig gänzlich umgeknetet werden. Ein tüchtiges Mädel!!“

– Als wir unsere Zimmer im ‚Palast–Hotel’ betraten, saß da ein alter Herr mit grauem Bart, Hornbrille, Säufernase und wollenen Handschuhen. Zwischen seinen Füßen stand ein schäbiger kleiner Koffer.

Harald schloß schnell die Tür.

„Fred, Sie?! – Was ist geschehen?!“

– Es war Fred Steen, der in seinem Pechvogeldasein auch monatelang ‚gefilmt’ hatte, – – als ‚Volksmenge’ oder sonstwie in der Komparserie.

 

 

4. Kapitel

Die schneidige Beate.

Steen sagte leise: „Das Flugzeug, das ich benutzen mußte, war teuer, Herr Harst. Aber der Abgang des verliebten Schmelztiegels und der inhaltsreichen Beate glaubte ich persönlich melden zu müssen. Das Brautpaar ist seit gestern früh unauffindbar. Ich habe festgestellt, daß Beate von der Sparkasse tausend Mark abgehoben hat und der Schmelztiegel genau so viel. Vater Hartwig und die Polizei sind ratlos. Ich nicht. Die beiden stecken in London, Herr Harst. Zweck der Übung: Sie suchen Schmelz’ Verführer! Sie spielen auch Detektiv. Schmelz muß doch über seine ‚Freunde’, die die graue Limousine gemietet hatten, etwas verschwiegen haben.“

Harald warf sich mißmutig in den nächsten Sessel…

„Neue Verwicklungen!! – Fred, packen Sie aus. Was haben Sie noch ermittelt, Sie rühriges Knäblein?“

‚Knäblein’ für diesen rotnasigen Mummelgreis war nicht schlecht gesagt.

Fred Steen lächelte bescheiden. „Ermittelt?! – Dies fand ich in des Schmelztiegels Zimmer, als ich Hartwig besuchte und ihm kondolierte. Man nennt so etwas ‚stehlen’, selbst wenn es nur zwei gänzlich zerknitterte Zirkusprogramme sind, in die offenbar etwas eingewickelt gewesen war, – – vielleicht Geld, – ich weiß es nicht. – Bitte… – Programm eines Zirkus Orelli, zur Zeit Wingarden gastierend, Tennishalle…“

Harald nahm eine Zigarette. „Wie leichtsinnig von Beate! Natürlich steckt sie dahinter. Das Mädel wird, fürchte ich, einen bösen Dämpfer erhalten haben, Beate ist zu forsch, zu sehr Draufgängernatur…“

Es hatte geklopft.

Der Zimmerkellner meldete Mr. Orpinkton an.

„Verschwinden Sie im Schlafzimmer, Fred… Die Tür bleibt angelehnt…“, befahl Harald, als der Kellner verschwunden war.

Mr. Orpinkton, sehr elegant, sehr förmlich, nahm Platz.

„Mylord schickt mich, Mr. Harst… Ich hatte ohnedies in Wingarden zu tun… Denken Sie, der Familienschmuck hat sich gefunden… Sir Georg Greenham hatte ihn wohl nur verlegt. Der treue Butler entdeckte ihn in einer Vase in Georgs Räumen. – Sind Sie nicht überrascht?“

„Keineswegs…“, meinte Harald gleichgültig.

Orpinkton tat erstaunt. „Hm, – darf ich einmal in Vertrauen mit Ihnen sprechen? Lady Lucy und Sir Georg haben bisher nicht einmal Haftbeschwerde eingelegt, und der Lord ist überzeugt, daß die beiden gestern nacht auf die Känguruhs oder besser auf Sie und Mr. Schraut schießen wollten.“

„Die beiden schossen auch,“ bestätigte Harst sehr ernst. „Die beiden werden in kurzem baumeln.“

„Oh – – nicht doch!! Eines Diebstahles wegen?!“

„Und Mordversuchs wegen! Die beiden sind reif, überreif.“

Orpinkton hüstelte. „Lady Lucy ist dabei bestimmt nur die Verführte, Mr. Harst. Ich wollte Sie bitten, Ihren Einfluß auf Kaptain Borell geltend zu machen, damit sie aus der Haft entlassen wird. Bedenken Sie, – eine Dame im Polizeigefängnis!! Alle Zeitungen sind davon voll.“

„Auch die Zeitungen werden sehr bald noch mehr Stoff für Sensationsartikel erhalten. – Ich bedaure, Mr. Orpinkton… Die beiden verweigern jede Aussage, heute Abend werden sie nach London gebracht, und wir beide fahren mit. – Haben Sie ein Auto hier? Dann möchten wir nach Schloß Greenham fahren, da Sir Georg nun noch schwerer belastet scheint. Ich habe … den beiden nie recht getraut… Ich will die Dinge nachprüfen.“

Orpinkton war im Auto gekommen. Um elf Uhr fuhren wir nach Greenham-Castle. Der Lord empfing uns sehr finster und wortkarg, und die ganze Stimmung war so ungemütlich, daß wir uns schleunigst wieder verabschiedeten. – Mylord spielte seine Rolle vorzüglich. Wenn er auch nicht alles wußte, – eins wußte er: Das Brautpaar war unschuldig. Doch das durfte vorläufig nicht an den Tag kommen.

Wir gingen zu Fuß zurück.

Der Weg nach Wingarden führte zum Teil durch Buschwerk und durch die Ausläufer der Uferfelsen der Küste.

Harald hatte die Augen überall.

„Fürchtest du ein Attentat?“ fragte ich unsicher.

„Nein. Obwohl die echten Juwelen des Familienschmucks durch tadellose Imitationen ersetzt sind. Orpinkton wird sich doch nicht ein Geschäft von rund zweitausend Pfund entgehen lassen.“

„Wirklich, – – unechte Steine?!“

„Natürlich. Dies festzustellen, fuhr ich nach dem Schloß. Meine Wachsamkeit hier auf diesem Privatweg gilt anderen Dingen, mein lieber Alter. Dort vor uns münde die Chaussee von London in diesen Privatweg, und Beate und ihr Verlobter stecken niemals in Wingarden, sondern hier irgendwo. – Hallo, – – was ist los?! Dort ragt ja ein morsches Dach über die Klippen, und hier am Wegrand, – – bittet – eine Doppelspur, eine Frau dabei!“

Er blickte sich vorsichtig nach allen Seiten um, dann sprang er über den Graben, und gleich darauf standen wir vor einer massiven, versteckten Hütte, die so hoch gelegen war, daß man vom Dach die ganze Strandlinie überschauen konnte.

Wir schlichen noch näher… Das Blockhaus stammte sicherlich noch aus Kriegszeiten und hatte wohl eine Küstenwache beherbergt. Die Tür war halb offen, – die Hütte leer.

Harald durchsuchte die beiden Räume aufs Genaueste. Auch ich bemerkte frische Zigarettenreste, Fußspuren und dunkelblonde Haare, die aus einem Kamm herausgezogen worden waren.

„Geschnappt!!“ sagte Harst nur. „Die Känguruhbande paßt auf… – Mr. Orpinkton als Spion ist minderwertig. Er wollte vorhin im Hotel uns nur auf den Zahn fühlen, ob wir die neueste Schufterei ahnten. Besinne dich auf seine Flausen über die Unsicherheit der Gegend hier. – Zurück zum Hotel, mein Alter… Es beginnt zu regnen…“

In der Veranda saß Freund Mac bei Whisky und Zigarre und einem Stoß Zeitungen. „Alles erledigt, Harst… Das Polizeiboot wird zur Stelle sein. – Wer war der alte Herr, der in eure Zimmer schlüpfte und das Fenster benutzte? Euer Fred Steen?“

„Ja… – Es sind übrigens noch zwei Menschen erledigt worden, Mac… Leider werden wir bei der abendlichen Razzia darauf Rücksicht nehmen müssen.“

Mac machte große Augen.

„Diese Beate?!!“

„Ja – ein deutsches Mädel, Mac, – – hat Schneid – zu viel Schneid‥!!“

 

 

5. Kapitel

Die Nacht von 23. zum 24. Februar.

Um acht Uhr abends hielt ein Polizeiauto vor dem Ortsgefängnis, – ein ganz großer Überfallwagen.

Sir Georg, Lucy, Mac und wir beide stiegen bei strömendem Regen ein und fuhren Richtung London ab.

Doch London war offenbar plötzlich sehr nahe an Wingarden herangerutscht, denn sehr bald stiegen wir wieder aus, das Brautpaar wandte sich dem Schlosse zu, und die Fortsetzung spielte sich am Nordkap der Bucht von Wingarden in genauso bedrückender Finsternis ab.

Fischer Beefs Kutter lag bereit.

Die Gesichter Mr. Orpinktons und Mr. Brisbans, des ‚treuen’ Butlers, erschienen im Licht der pendelnden Kajütenlampe sehr bleich, und auch die Handschellen erhöhten ihre Laune kaum.

Der Kutter segelte ohne Lichter davon. Wir saßen dem edlen Paare gegenüber, und Harsts erste peinliche Frage lautete: „Wer hat Toby Roß, dessen Leiche hier angetrieben wurde, weil die Eisenstücke samt der Leine von den Füßen abgeglitten waren, erschossen?“

Schweigen…

„Wer hat den Chauffeur in Berlin erschossen? – Ihr beide wart in Berlin… Schmelz wird euch an den Stimmen wiedererkennen.“

Da erst grinste Brisban frech. „Schmelz?! Sucht ihn!“

„Das werden wir, Brisban…“

Und er legte vor die beiden Kumpane die Schlüsselmarken nieder. „Ihr beide glaubt, den Hals noch aus der Schlinge ziehen zu können. Dies Pappstück ist mein Schlüssel zu irgend einem von euch im Wrack des ‚Lord Kitchener’ eingerichteten Geheimraum, – Hehlerversteck, Schmugglerdepot… – Eure Brieftaube wurde abgeschossen, und die Warnung kam nicht an, also wird euer Schiff heute Nacht hier abgefaßt werden.“

Brisban leckte sich die Lippen. Dann brach es aus ihm heraus:

„Mr. Harst,“ – – – „Orpinkton beging die Morde,“ erklärte er heiser „Tody Roß schoß er nieder, weil Tody für die Sachen zu viel verlangte, und…“

Mr. Stuart Orpinkton brüllte dazwischen: „Alles Lüge! Alles!! Ich werde ein Geständnis ablegen, Kaptain Mac, ich biete mich als Kronzeuge an… Dann rette ich nach englischem Gesetz wenigstens das Leben.“

Mac lehnte verächtlich ab. „Wir brauchen Ihr Zeugnis nicht, Orpinkton… Sie sind der intelligentere. Brisban war bisher ein anständiger Kerl, aber Sie waren es nie… Sie heißen gar nicht Orpinkton. Der echte Orpinkton ist tot, Sie sind Jacques Relli, der Hochstapler, Sie sind ein Sohn des alten Orelli, der mit richtigem Namen auch Relli heißt. – Brisban, wo befindet sich das Patentschloß in dem Wrack? Harst hat Gott sei Dank noch die Bedeutung der Pappmarken herausgefunden.“

– – Eine Stunde später…

Es regnet weiter, es ist so finster, daß niemand die flinken Gestalten bemerken kann, die sich auf das unter Wind liegende Kreuzerwrack schwingen.

Lautlos geht es über nasse Treppen zum Heck, das tief im Wasser liegt…

Nur zuweilen blitzt flüchtig eine Taschenlampe auf…

Dann mach Brisban, unser Führer, in einem schmalen Gang halt, der hinten voller Wasser ist.

An der Seite der Steilwände ragen acht kleine Zapfen aus einer der scheinbar fest vernieteten Platten heraus. – Wir wissen, die Bande hat einen Teil der Heckräume leergepumpt und sorgsam abgedichtet, – ein wunderbares Versteck, ein Versteck unter Wasser.

Harst legt den Markenschlüssel auf die Zapfen und dreht ihn nach rechts. Die Stahlplatte weicht zurück, und Mac schiebt den geknebelten Jaques Relli als ersten hinein.

Plötzlich funken grelle Laternen auf, – Schüsse fallen… Relli bricht zusammen, und auch Brisban gleitet mir in die Arme.

„Polizei‥!! Hände hoch!!“

Drei Kerle, die sich hinter Warenballen verschanzt haben, geben das Spiel verloren, als eine Tränengasbombe ihre Augen überfließen läßt.

In einem Nebenraum sitzen Beate und der Schmelztiegel. Fred bringt sie schnell ins Freie.

Orpinkton-Relli ist tot, Brisban schwer verletzt.

Wir überlassen ihn und das Brautpaar der Fürsorge Inspektor Channos und stechen wieder in See.

Es regnet…

Die Brise ist mäßig, und gegen ein Uhr morgens steigt irgendwo im Osten eine rote Leuchtkugeln auf.

Auf Insel Nr. 4 antwortet eine grüne Kugel, und ein mittelgroßer Dampfer schiebt sich näher, schält sich aus den Regenschnüren, bis mit einem Schlage ein greller Scheinwerfer seitlich des Schmugglers aufzuckt und das überraschte Schiff wie ein Bild einer Laterna magica aus dem Dunkeln hervorschimmert.

Ein Kanonenschuß donnert…

Noch einer…

Der Schmuggler stoppt… Um Polizei kletterte an Deck, findet keinen Widerstand, und Kaptain Mac darf den größten Erfolg seiner amtlichen Laufbahn buchen. – –

Wenden wir uns freundlicheren Bildern zu. –

Am nächsten Tage sitzen im Speisesaale von Greenham-Castle an blumengeschmückter Tafel neben Seiner Lordschaft zwei Brautpaare, Mac Borell, unser Fred und wir beide.

Mylord führt das Gespräch, – über die unangenehmen Dinge fällt vorläufig kein Wort, erst als im Wintergarten der Mokka serviert ist, fragt Hamilton Greenham:

„Lieber Harst, Sie wollten uns noch einige Schlußaufklärungen liefern… Bitte, wir sind allein…“

Zigarren und Zigaretten lösen sich in kleine Wölkchen auf und schweben zwischen Kübelpalmen. Mokka duftet… Aller Augen hängen an Harst.

„Aufklärungen, Mylord?! Das würde sich doch erübrigen. Der Fall Känguruh ist abgetan, der Hauptschuldige ist tot, die anderen verhaftet. Nein, ich wollte hier nur noch auf einige rein psychologische Tatbestandsmerkmale hinweisen, die allerdings das Dunkel noch mehr oder völlig lichten.

Brisbans Geständnis über den Zweck der Känguruhweide unweit der Parkmauer und über das sogenannte Gespensterkänguruh entspricht der Wahrheit, – nämlich soweit er selbst eingeweiht war. Er hat angegeben, daß Londoner Gauner sich von Wingarden mit ihren Beutestücken fernhalten und diese entweder den Bauchtasche der Beuteltiere oder einem Versteck auf der Weide anvertrauen sollte, während das Gespenstertier nur Neugierige abschrecken sollte. Dies trifft in der Hauptsache nicht ganz zu.“

Seine Augen begegneten denen Lady Lucys, und das junge Mädchen wurde merklich nervös.

„Nein,“ fuhr er noch bedächtiger fort, „Jacques Relli alias Orpinkton wollte Sie verderben, Sir Georg, weil er um jeden Preis Lady Lucy erringen wollte, denn er liebte sie auf seine Art bis zur leichtfertigen Tollheit. Diese Tollheit ließ ihn schwere Fehler begehen. – Ist er Ihnen gegenüber nicht etwas zudringlich geworden, Lady Lucy?“

Sie errötete tief und nickte widerwillig.

„…Ich kann mir denken, Lady Lucy, weshalb Sie sich dies gefallen ließen. Er wird Ihnen versteckt mit Enthüllungen über Sir Georgs Spielerleidenschaft gedroht haben. Ihr Vater war ja mit dieser Ihrer Verlobung nicht ganz einverstanden, und darauf baute er seine weiteren niederträchtigen Pläne auf. Sir Georg sollte als Dieb der Familienkleinodien hingestellt werden, und nur deshalb pachtete Rellis Vater die Weide… Jacques Relli stahl die Juwelen, verbarg sie in der Bauchtasche eines der Känguruhs und trieb das Tier vor Sir Georg Büchse. – Weshalb?! Der Schuß sollte Sie, Mylord, aufmerksam machen, Sie sollten Sir Georg mit dem Juwelensäckchen antreffen, – Sie sollten mißtrauisch werden. – Ein teuflischer Plan, der ebenso teuflisch weiter ausgesponnen wurde, wie wir wissen. Die Schmucksachen verschwanden abermals, Brisban fand sie in Sir Georgs Vase, – – aber … Verliebte vom Schlage Rellis überspannen den Bogen und begehen Fehler. Und so mußte denn auch dieses Ränkespiel aufgedeckt werden, weil es zu viel schwache Stellen hatte… Das Unsinnigste waren die Schüsse auf die gemalten Känguruhs…“

Abermals blickte er Lucy und Georg nachdenklich an.

„Nicht wahr,“ fragte er freundlich, „Sie beide in Ihrem Detektiveifer waren Relli und Brisban in den Park nachgeschlichen… Sie sollten Ihnen ja auch nachschleichen… Und das, gerade das erkannte ich, und von dem Augenblick an war diese psychologische Seite geklärt…“ – –

„Die Sonne scheint heute,“ fügte er munteren Tones hinzu. „Wie wäre es mit einem Spaziergang? Vergessen wir diesen Fall Känguruh, – leben wir der Liebe und erfreuen wir uns an der Natur, die bereits das erste Frühlingsahnen spürt…“ –

Drei Tage darauf waren wir daheim. Die gestohlenen Brieftauben, deren Verlust dem braven Herrn Hartwich so nahe gegangen war, wurden in der Berliner Hehlerfiliale der Känguruhbande aufgefunden, genau wie die Polizei auf Helgoland ein Schmugglernest größten Umfanges entdeckt hatte. Daß sowohl wir, wie unser Famulus Fred und auch Beate mit ihrem nunmehr kurierten Arthur Schmelz bei der ganzen Geschichte recht gut abschnitten, sei nur nebenbei erwähnt.

Fred Steen hat Herrn Schmelz nie mehr wegwerfend als unbrauchbaren Schmelztiegel bezeichnet, und Beate, verehelichte Schmelz, wird aus ihrem Männe sicherlich noch einen ganzen Mann zurechtdoktern. Das Zeug dazu hat sie…

Harald meinte letztens, bei all seiner Courage hätte er es nicht riskiert, Beate zu heiraten…

„Pantoffelhelden, mein lieber Alter, sind nun einmal keine Helden…“

Aber das können wir nicht so recht beurteilend, wir sind bei allzeit Junggesellen gewesen…