Das Eiserne Kreuz
eine Episode aus den Kämpfen an der ostpreußischen Grenze
Von W. Belka.
Auf dem von kleinen Wellen gekräuselten Spiegel des Wyßtyter Sees, an dessen östlichem Ufer die russische Grenze ganz dicht entlangläuft, lag in der Nacht des 1. August 1914 ein kleiner Fischernachen, in dem zwei Personen, die in der nur von dem Sternenlicht des Firmaments ein wenig bekämpften Dunkelheit in ihrem lautlosen Hantieren eher Gespenstern denn Menschen glichen, soeben mit dem Krebsfang beginnen wollten.
Der eine der Männer, eine schlanke Jünglingsgestalt in grüner Jagdjoppe und hohen Stiefeln, wollte gerade das in einem eisernen, über die Spitze des Bootes hinausragenden Korbe liegende harzige Holz mit Hilfe eines Taschenfeuerzeugs anzünden, wodurch die Krebse, verführt durch den Feuerschein, aus ihren Schlupfwinkeln hervorgelockt werden sollten, als sein Begleiter ihn auf ein verworrenes Geräusch aufmerksam machte, das von der russischen Grenze in zunehmender Stärke herüberklang.
„Hören Sie, junger Herr,“ hatte der alte, grauhaarige Mann, der bereits über dreißig Jahre auf dem hart am westlichen Ufer gelegenen Rittergute Barkeimen die Stelle eines Fischmeisters bekleidete, leise, aber eindringlich geflüstert. „Unsere russischen Nachbarn scheinen in dieser Nacht wieder irgend was Besonderes vorzuhaben. Weiß der Deubel – die Geschichte da drüben gefällt mir schon seit Tagen nicht. Das ist ein ewiges Gehen und Kommen von Soldaten aller Waffengattungen. Selbst Artillerie ist gestern abend auf der Straße nach Wirballen vorübergezogen. Und jetzt wieder der Lärm, das ist fraglos eine starke Kavallerie-Abteilung. – Da – ganz deutliches Pferdeschnauben! Die berittenen Grenzwachen sind das nicht –“
Die beiden Deutschen im Boot lauschten aufmerksam in die stille Nacht hinaus, während der leichte Ostwind ihren Nachen jetzt unmerklich immer weiter der Mitte des etwa elf Kilometer langen und teilweise bis auf sechs Kilometer breiten Sees zutrieb.
Günther Hartwich, der einzige Sohn des Besitzers von Barkeimen, seufzte jetzt verstohlen und dann sagt er in demselben vorsichtigen Flüsterton zu dem Alten:
„Ich glaube, Buttgereit, daß wir dieses Mal um einen Krieg kaum mehr herumkommen. Auch Vater war gestern schon so einsilbig und so sehr ernst. Halt – was ist das! Sehen Sie, Buttgereit, die beiden Wachthäuser auf russischer Seite brennen –“
Im gleichen Augenblick hatte aber auch der alte Fischmeister eine besondere Beobachtung gemacht.
„Stimmt, junger Herr,“ meinte er unruhig. „Aber hören Sie! Das da in Richtung der Insel ist doch das Rattern unseres Motorbootes, – hören Sie?!“
„Ja. Was mag’s nur zu bedeuten haben?! Ob man uns etwa zurückholen will? – Ich werde mal rufen.“
Und der junge Hartwich legte die Hände als Schalltrichter an den Mund und ahmte sehr geschickt den Ruf eines Wasserhuhnes nach, dem er einen merkwürdigen Triller hinzufügte, ein Signal, welches die Gutsleuten von Barkeimen beim Fischen regelmäßig benutzten.
Gleich darauf kam von drüben dieselbe Antwort. Und dann rauschte das schnelllaufende Motorboot, das Rittergutsbesitzer Hartwich erst im Frühjahr angeschafft hatte und das sowohl zum Schleppen der Heu- und Getreidekähne als auch zu Vergnügungsfahrten benutzt wurde, heran und legte sich dicht neben den kleinen Nachen.
Die breite, massige Gestalt, die bisher am Steuer gesessen hatte, richtete sich jetzt auf.
„Der Krieg ist erklärt. Soeben war ein Knecht aus der Oberförsterei Nassawen zu Pferde bei uns,“ flüsterte Gutsbesitzer Hartwich erregt. „Ich versuchte, nach Cydtkuhnen zu telephonieren, aber die Leitung muß von den Russen schon zerstört sein. Deshalb haben wir die Mobilmachungsnachricht auch so spät erfahren. – Nun schnell. Hängt euch mit eurem Kahn hinten an. Dann los nach Hause!“
Der Maschinist der ‚Gertrud’, wie das Motorfahrzeug nach dem Vornamen der Frau Gutsbesitzer getauft worden war, stellte den Motor wieder ein, und in kurzem Bogen sauste das Boot um die von weiten Röhrichtfeldern umstandene kleine Insel herum, die inmitten des Wyßtyter Sees sich erhebt, anzusehen wie die Bergspitze einer Hochgebirgslandschaft mit ihren von grünen Tannen spärlich bewachsenen schroffen Felsspalten und grünen Wiesenflecken. Eine seltene Laune des Schöpfers hatte hier in dieser Gegend, wo es im weitem Umkreis nur mittelmäßigen Sandboden gab, dieses Granitmassiv inmitten der weiten Wasserfläche wie eine Erinnerung an die längst entschwundenen Zeiten einer anderen Weltepoche stehen lassen. Dieses Inselchen, das bei fast kreisrunder Form einen Durchmesser von etwa zweihundert Meter besaß, war für das Grenzgebiet hier eine Art Sehenswürdigkeit. Archäologen hatten es schon besucht, ja sogar der deutsche Kaiser war einmal von dem nicht allzu fernen, westlich gelegenen Jagdschloß Rominten herübergekommenen und hatte auf der Spitze des Donner-Berges, wie der Volksmund die höchste Erhebung der Insel nannte, einen Imbiß verzehrt. –
Nachdem das Motorboot, den Nachen im Schlepptau mitsichführend, das Felseneiland umfahren hatte, steuerte es genau westlich, dorthin, wo die zum Teil dicht bewaldeten Ufer sich zu einer weiten Bucht öffneten, an deren äußersten Winkel der Park des Gutshauses von Barkeimen sich anschmiegte. –
Zwei Stunden später bestiegen dann die drei Damen Hartwich den bereitstehenden Wagen, um sich nach der nächsten Bahnstation zu begeben. Drei weitere Gefährte waren mit Kisten und Koffern bepackt, worin die wertvollste Habe in aller Eile verstaut worden war. Der Gutsbesitzer wollte den Seinen zu Pferde das Geleit geben, während Günther noch zurückbleiben und die Abfahrt der Gutsarbeiter beaufsichtigen sollte, die durch keinerlei Zureden zum Bleiben zu bewegen gewesen waren, nachdem die Kunde von dem Kriegsausbruch sich wie ein Lauffeuer verbreitet hatte.
Vater und Sohn trennten sich mit einem festen Händedruck.
„Ich hoffe gegen Morgen wieder hier zu sein,“ sagte der Gutsherr noch. „Du kannst dann Mittags abreisen, Günther, da du dich ja am dritten Mobilmachungstag in Königsberg zu stellen hast. Dort siehst du Mutter und Alice und Erna dann noch. Also mach’s kurz mit dem Abschied.“ –
Gerade als das nächtliche Dunkel in die erste Morgendämmerung überzugehen begann, als im Osten der Horizont sich heller und heller färbte, trafen auf dem Gutshofe ein Infanterieoffizier mit zweiundvierzig Mann in fünf Automobilen ein.
Leutnant v. Stetten ließ sofort den Sohn des Gutsherrn, der sich noch bei den Insthäusern[1] aufhielt, herbeirufen und ersuchte diesen um Quartier für sich und seine Leute.
Die deutsche Abteilung, die aus Darkehmen kam und den Patrouillendienst der Grenze entlang auf einige zwanzig Kilometer übernehmen sollte, brachte bereits wenig erfreuliche Nachrichten mit. Kosaken waren schon in kleineren Trupps überall eingefallen, hatten die Telegraphen und Telephonleitungen zerstört und im Dorfe Pillupönen nördlich von Barkeimen ein paar Gehöfte mutwillig in Brand gesteckt und die Einwohner als Gefangene mitfortgeschleppt. Auf des jungen Gutsbesitzersohnes ängstliche Frage, ob das deutsche Detachement[2] etwa schon auf der ostwärts führenden Chaussee russischer Kavallerie begegnet sei, konnte Leutnant v. Setten jedoch beruhigender Weise mit ‚Nein’ antworten. So war denn wenigstes anzunehmen, daß die Damen noch rechtzeitig die Eisenbahnstation erreichen würden
Inzwischen hatten die deutschen Soldaten es sich in einer leeren Scheune bequem gemacht. Aus den Automobilen wurden neben einer ganzen Menge Munition auch zwei Maschinengewehre hervorgeholt, die nun sofort wieder zusammengesetzt wurden. Die zu jedem Maschinengewehr gehörige Protze hatte man in der Garnison gelassen, da sie zu schwer zu befördern waren.
Leutnant v. Stetten, ein noch junger Offizier mit lichtblondem Haar, aber desto gebräunterem Gesicht, teilte nun seine Leute in sechs Patrouillen zu je fünf Mann ein, so daß er im Gute selbst nur mit zehn Mann und zwei Unteroffizieren zurückblieb. Die kleinen Trupps setzten sich dann auch ohne Zögern mit verschiedenen Aufträgen in Marsch, teils, um die Grenze entlang nach feindlichen Truppen auszuspähen, um den unbequemen Kosaken etwas das Handwerk zu legen. –
Der Tag war mittlerweile angebrochen. Es war nicht nur dem Kalender nach ein Sonntag, sondern auch ein wahrer Feiertag, was das Wetter anbetraf. Die Sonne hatte in strahlender Klarheit den wolkenlosen Horizont überstiegen, und ebenso wolkenlos und in durchsichtiger Bläue spannte sich auch das gewaltige Himmelszelt über den ostpreußischen Fluren aus, die schon in nächster Zeit die ganzen Schrecken dieses eben erst begonnenen Völkerringens auskosten sollten.
Leutnant v. Stetten hatte sich soeben, nachdem er im Gutshaus einen reichen Imbiß eingenommen, mit Günther Hartwich hinab zum Seeufer begeben, um das Motorboot in Augenschein zu nehmen, das sein Begleiter ihm angeboten hatte.
„Da haben Sie recht,“ meinte der Offizier jetzt, nachdem er das schlanke, etwa acht Meter lange Fahrzeug eingehend gemustert hatte, „diese ‚Gertrud’ kann uns überaus nützlich werden. Aber etwas fällt mir eben einen, der Maschine wird doch wohl mit den übrigen Gutsinstleiten geflüchtet sein. Und ob unter meinen Leuten –“
„Oh, die Handgriffe am Motorboot lernt man schnell, Herr Leutnant,“ unterbrach der junge Hartwich ihn eifrig. „Ich werde das Nötige zeigen, da ich sehr gut Bescheid weiß.“
Und nach kurzer Pause fügte er hinzu: „Wäre es nicht sehr angebracht, wenn man den Fischern, die da drüben auf dem westlichen Ufer wohnen – zum Gute gehört nämlich nur die eine Hälfte des Sees – ihre Kähne fortnehmen würde, bevor die Russen sie für ihre Zwecke mit Beschlag belegen? – Ohne Boot bietet unser See dem Feind ein recht unbequemes Hindernis an dieser Stelle.“
„Das ist ein Gedanke,“ meinte Stetten lebhaft. „Wie wär’s, wenn wir gleich mal hinüberfahren würden? Sie kennen ja sicher die Plätze genau, wo die Kähne liegen.“
So kam es denn, daß die ‚Gertrud’ bemannt mit dem Leutnant, einem Unteroffizier und fünf Mann – Günther Hartwich bediente den Motor – sehr bald in der Richtung auf die Felseninsel davonschoß und, dieser dann ausbiegend, auf das gegenüberliegende Ufer zuhielt. Vorn an der Spitze im Boot stand Stetten, das scharfe Fernglas an den Augen und suchte sorgfältig den teilweise mit Kiefern bewaldeten Grenzstreifen ab, besonders die Stelle, wo noch die qualmenden Reste der beiden russischen Wachthäuser aus einer Lichtung hervorlugten. Er bemerkte jedoch nichts Verdächtiges. Trotzdem näherte sich das Boot dann in langsamer, vorsichtiger Fahrt dem Ufer, wo auf einer kleinen Anhöhe die Fischerhäuschen mit ihren Schilfdächern in die Luft ragten.
Unteroffizier Mertens, der im Pionierdienst ausgebildet war und daher das Steuer führte, wollte gerade in weitem Bogen an der niedrigen, aus Brettern gezimmerten und ein Stück in das Wasser hineinragenden Brücke anlegen, als der Leutnant sich blitzschnell duckte und gleichzeitig ausrief: „Alles in Deckung! Hinter den Häusern stehen Russen mit angeschlagenem Gewehr.“
Kaum war das letzte Wort verhallt, als auch schon ein paar Schüsse krachten und drei Kugeln die Bordwände des Bootes glatt durchschlugen.
Doch Günther Hartwich war auf seiner Hut gewesen. Er riß den Hebel herum, die Schraube drehte sich schneller und schneller, und, verfolgt von den feindlichen Geschossen, eilte das flinke, kleine Fahrzeug von dannen. Noch fünf Kugeln trafen, richteten aber nur insofern Schaden an, als sie die Fenster der Kajüte, die sich im hinteren Teil des Bootes befand, zertrümmerten.
Immer noch feuerten die Russen, bis die ‚Gertrud’ dann gänzlich außer Schußweite sich befand.
Stetten, der schon vorher wieder seinen Beobachtungsposten eingenommen hatte, setzte jetzt das Glas ab und rief dann seinen Leuten zu:
„Kinder, das waren also die ersten russischen Kugeln, die wir zu schmecken kriegten – unsere Feuertaufe! Eins haben wir daraus ersehen, daß die Kerle jämmerlich schlecht schießen. Keine hundert Meter waren wir da an der Landungsbrücke vor ihren Läufen, und doch haben sie nur unsere wackere ‚Gertrud’ so ein wenig geschrammt. Aber das soll ihnen mit Zinsen heimgezahlt werden. Nicht nur, daß wir die Boote unbedingt haben müssen, nein, auch deutsche Kugeln soll die Gesellschaft sehr bald zu schmecken bekommen. – Zurück also nach dem Gut – und dann –!“
In den Augen des jungen Offiziers blitzte die helle Kampfesfreude. – Wozu hatte er denn die beiden Maschinengewehre da? Die ließen sich leicht an Bord des flinken Fahrzeuges aufstellen. Und mit dem so in ein primitives Kriegsschiff umgewandelten Motorboot wollte er dem Gegner, den er etwa auf eine halbe Kompanie schätzte, nochmals auf den Leib rücken.
Seinen braven Gefolgsleuten machte diese Exkursion zu Wasser offenbar höllischen Spaß. Nur Unteroffizier Mertens, ein hübscher, strammer Mensch, beteiligte sich nicht an dem lebhaften Hin und Her von Worten, mit denen die Bootsinsassen den ‚Rachezug’ gegen den Feind besprachen.
Ganz unvermittelt fragte er dann den jungen Gutsbesitzerssohn, ob unter den Vorräten der Gutsschmiede vielleicht auch dünne Eisenplatten sich befänden. – „Es wäre doch sehr praktisch,“ fügte er hinzu, „wenn wir die ‚Gertrud’ so etwas panzern könnten, wenigstens bestimmte Teile der Bordwand, damit zum Beispiel nicht der Motor kaputt geschossen werden kann.“
Der Leutnant nahm diesen Gedanken sofort mit Feuereifer auf. „Eine tadellose Idee, Mertens. Da würde sich die harmlose ‚Gertrud’ wahrhaftig noch in einen Panzerkreuzer verwandeln! – Aber – wie steht’s mit Eisenplatten? Das ist die Hauptsache!“
Günther Hartwich sann nach. „In der Schmiede dürfte kaum was Passendes zu finden sein,“ sagte er schließlich. „Aber das Kesselhaus unserer Brennerei ist den Feuerversicherungsvorschriften gemäß innen mit Eisenplatten ausgeschlagen. Die könnte man wohl gebrauchen.“
Und wirklich – sie eigneten sich recht gut zu dem gedachten Zweck. In kurzer Zeit hatten die deutschen Soldaten eine genügende Anzahl der etwa viereinhalb Millimeter starken Platten von den Holzwänden des Kesselhauses losgelöst, und Unteroffizier Mertens stellte dann daraus für das Motorboot eine wirklich recht brauchbare Panzerung her, indem er die Platten, die zum Teil erst auf einem Amboß die nötige Krümmung erhalten mußten, nicht nur außenbords mit festen Nägeln anbrachte, sondern auch die niedrige Kajüte innen mit ihnen überzog und nur die notwendigen Schußöffnungen freiließ. Ebenso stellte man für die Maschinengewehre geschützte Wände her, hinter denen die Bedienungsmannschaften vollkommen sicher waren.
Obwohl man mit Feuereifer an der Armierung des Bootes geschafft hatte, waren doch drei Stunden vergangen, bis die ‚Gertrud’ zum abermaligen Auslaufen fertig dalag.
Inzwischen hatte Günther immer wieder nach dem Vater, der morgens von der Bahnstation zurücksein wollte, ausgeschaut. Jetzt war es bereits halb acht, und von dem Erwarteten noch keine Spur. Dafür kehrte eine der Patrouillen zurück, die in Richtung der Oberförsterei Nassawen vorgeschickt gewesen war. Der Gefreite, der sie geführt hatte, brachte recht böse Kunde mit. Das Forsthaus war bereits von einer starken russischen Dragonerabteilung besetzt, mit der die fünf Leute der Patrouille sich eine ganze Weile herumgeschossen hatten.
Auf des jungen Hartwichs Bitte sandte Leutnant v. Stetten nun einen neuen Trupp in derselben Stärke die Chaussee entlang, auf der der Gutsbesitzer zurückerwartet wurde.
Dann erst bestieg die Besatzung wieder dem neuen erstandenen ‚Panzerkreuzer’ und steuerte den alten Kurs den Fischerhäuschen zu. Freilich – einen Nachteil, den man im Kauf nehmen mußte, hatte das Anbringen der Eisenplatten gehabt. Das Motorboot hatte an seiner Schnelligkeit eingebüßt und lag auch infolge der Mehrbelastung tiefer im Wasser. Immerhin waren diese Nachteile nicht so bedeutend, daß sie die Idee der Panzerung des Fahrzeugs als verfehlt erschienen ließen. Im Gegenteil! Wie wertvoll dieser Gedanke des Unteroffiziers gewesen war, sollte sich noch des öfteren zeigten.
Wieder saß jetzt Leutnant v. Stetten vorn in der Spitze neben dem einen Maschinengewehr, das zweite war in der Kajüte aufgestellt worden, wo es je nach Bedarf sowohl nach Back- wie nach Steuerbord feuern konnte, und beobachtete durch sein Fernglas die schilfgedeckten, armseligen Häuser.
Immer näher kam das Boot. Und dann rief der junge Offizier mit unterdrückter Stimme den Seinigen zu: „Achtung! Die Kerle stecken jetzt zum Teil in den Häusern, zum Teil hinter dem Grabenrand halb links. Gewehr eins befeuert die Gebäude, das andere die Schützen in dem Graben.“
Und zu Günther gewandt, dessen jugendliches Gesicht förmlich vor Eifer und Kampfesfreude glänzte: „Verlangsamen Sie etwas die Fahrt!
Der nickte nur und tauchte wieder in den engen, benzinduftenden Maschinenraum unter.
Da schlugen auch schon die ersten Kugeln des Feindes klatschend gegen die Bordwand und die Schutzschilde des im Vorderteil aufgestellten Maschinengewehrs.
„Der Panzer hält!“ brüllte Mertens lachend. Und er zeigte auf eine starke Ausbuchtung, die die eine über den Bordrand hinausragende Platte jetzt auswies.
Der Leutnant paßte scharf auf. Zweihundert Meter war das Boot noch entfernt, – jetzt hundertundfünfzig.
„Feuer! Gebt’s ihnen!“
Und sofort setzte auch das nervenaufpeitschende Tack – tack – tack – tack der beiden Maschinengewehre ein. Ohne Aufhören folgte ein Schuß dem andern. Auch Leutnant v. Stetten hatte eine Waffe ergriffen, feuerte ruhig und sicher auf jeden feindlichen Kopf, der drüben irgendwo auftauchte.
Die Wirkung dieser unerwarteten Kugelsaat zeigte sich sehr bald. Das gegnerische Feuer verstummte immer mehr. Nur noch in größeren Pausen knallte es von den Häusern her, wo einige Schützen sich auch auf dem Dach eingenistet hatten.
Jetzt war die ‚Gertrud’ dicht an der Anlegebrücke. Unteroffizier Mertens, der einen Bootshaken bereitgehalten hatte, suchte die Fischerkähne von ihren Ketten, mit denen sie an der Holzbrücke befestigt waren, loszureißen. Es gelang nicht. Ohne der feindlichen Kugeln zu achten, arbeitete er mit aller Anspannung seiner Kräfte. Er stand jetzt hoch aufgerichtet auf dem breiten Bootsrand, zog und zerrte mit dem Haken. Die Ketten hielten. Nun begannen die Russen auch wieder lebhafter zu feuern, und ein Geschoß schlug ihm jetzt die Stange aus der Hand.
„Runter in Deckung, Mertens,“ rief Leutnant v. Stetten dem Waghalsigen zu. Und als der Unteroffizier nicht gleich gehorchte, „ich befehle es Ihnen!“
Da erst sprang Mertens hinter die schützende Bootswand zurück.
„Herr Leutnant haben ganz recht,“ stieß er hervor, sich den Schweiß von der Stirn wischend. „Die Kähne sind das Leben eines preußischen Unteroffiziers nicht wert. Ich weiß schon, wie wir den Dingern beikommen. Seit Tagen ist kein Tropfen Regen gefallen, da muß das Holz hübsch verdorrt sein, soweit es nicht eben unter Wasser liegt.“
Wenige Minuten später flog in den einen Kahn ein mit Benzin getränkter Ballen Putzwolle, der aus dem Maschinenraum stammte, hinein. Ihm folgte ein kleinerer, der lichterloh brannte.
„Mertens, Sie sind wahrhaftig ein Genie,“ lachte v. Stetten vergnügt, als sich jetzt das Feuer in den Nachen schnell weiter verbreitete und auch auf die übrigen Kähne übergriff.
Jetzt erst schienen die Russen ganz zu begreifen, worauf es den Deutschen bei diesem Angriff angekommen war.
Ein Wutgebrüll ertönte hinter den Fischerhäusern hervor, neue Schüsse krachten. Aber die Geschosse richteten nur an den Eisenplatten den einen Schaden an, daß sie die dünne Rostschicht absprengten und runde Einbuchtungen hervorriefen.
Stetten ließ jetzt die Maschinengewehre nur Feuern, wenn der Gegner sich etwas aus seinen Deckungen hervorwagte. Er wollte sparsam mit der Munition umgehen. Man konnte ja nie wissen, ob man sie vielleicht nötiger gebrauchen würde.
Die ‚Gertrud’ lag nun regungslos, nur vor dem kaum merklichen Wind nach Ost zutreibend, da, während die Fischerkähne noch immer brannten und die Flammen jetzt auch das Holz der Landungsbrücke entzündeten.
Da – ein neuer Gegner griff ganz unerwartet in den Kampf ein. Drüben, hinter dem Gehölz, in dessen Lichtung die Reste der Wachthäuser noch immer schwelten, plötzlich ein dröhnender Knall. Gleich darauf das Sausen einer Granate in der Luft und ein lauter Platsch im Wasser, keine fünfzig Meter hinter der ‚Gertrud’. Eine meterhohe Wassersäule stieg an der Einschlagstelle des Geschosses empor, und hohe Wellen zogen in immer weiteren Kreisen wie spielend von dannen.
„Nun wird’s Ernst!“ meinte Mertens ironisch lachend. „Unser Kreuzer bekommt Artilleriefeuer, da können wir nicht mithalten.“
Günther Hartwich hatte schon, ohne einen Befehl abzuwarten, den Motor angelassen, so daß das Boot bereits eine ganze Strecke seitwärts ausgewichen war, als die zweite Granate heransauste.
„Einige achtzig Meter zu kurz, meine Herren,“ meinte Mertens, den Helm über die Bordwand schwenkend.
Die ‚Gertrud’ beschrieb jetzt einen weiten Bogen, hielt sich aber auf Stettens Befehl noch so lange in der Nähe, bis die Kähne bis auf den Wasserspiegel heruntergebrannt waren. Während dieser ganzen Zeit feuerten die Russen unablässig bald mit Granaten, bald mit Schrapnells auf das kecke Fahrzeug, ein ziemlich überflüssiges Beginnen bei der leichten Beweglichkeit des Zieles, das alle Augenblicke seine Stellung wechselte.
Schließlich konnte der Offizier den Befehl zum Verlassen dieses ungastlichen Ufers geben.
Drei Hurras klangen zu dem Feind noch als letzter Abschiedsgruß hinüber. Dann strebte die ‚Gertrud’ in voller Fahrt der Mitte des Sees zu.
Da der junge Gutsbesitzerssohn sich inzwischen darauf besonnen hatte, daß ein paar Bauern am Nordufer ebenfalls noch brauchbare Nachen besäßen, wurde der Kurs geändert und auch dort das Ufer abgesucht. Vier Kähne fand man, die die ‚Gertrud’ unangefochten ins Schlepptau nehmen und nach dem Gut bringen konnte. –
So bot denn diese erste Expedition gegen den Feind den Deutschen in dem entlegenen Winkel des Grenzgebiets einen vollen Erfolg.
Der Vormittag verging. Leutnant v. Stetten war selbst in Begleitung Günthers noch einmal zu Pferde ein Stück die Chaussee entlanggeritten, hatte aber sehr bald umkehren müssen, da die ganze Gegend von russischen Patrouillen durchschwärmt wurde.
Schweigend nahmen die beiden in dem Speisesaal des Gutshauses ihre Mittagsmahlzeit ein. Der Offizier war sich darüber längst klar geworden, daß er hier in Barkeimen auf einem verlorenen Posten stand. Die Möglichkeit, daß er sich mit seinen Leuten noch durchschlagen könnte, war äußerst gering. Außerdem aber hatte er ja den Befehl erhalten hier auszuharren, bis er zurückbeordert würde. Mithin hieß es warten, warten! Und dabei schwand eigentlich mit jeder hinschleichenden Stunde die Aussicht auf ein Entkommen immer mehr. Die nach Norden zu geschickte Patrouille ließ sich überhaupt nicht mehr blicken, obwohl sie bereits sechs Stunden unterwegs war. Die Leute mußten also wohl in einen Hinterhalt geraten sein. Nicht besser stand es um die von einem Einjährig-Gefreiten geführte Patrouille, die nach Süden zu aufklären sollte. Von der war ein Mann mit der Meldung nach dem Gut gekommen, daß ein russisches Detachement in Stärke von einem Infanterie-Regiment, zwei Schwadronen Kavallerie und sechs Geschützen von Podangen aus nach Stallupönen marschiere. Der Gefreite selbst bliebe mit seinen restlichen drei Mann noch zur Beobachtung der feindlichen Bewegungen zurück. –
Diese Nachricht war vor zwei Stunden eingetroffen. Aber eine weitere Meldung von dieser Patrouille erfolgte nicht. Auch sie mußte aufgerieben oder gefangen genommen worden sein.
Leutnant v. Stetten hatte sich, nachdem er vor dem Gut überall Beobachtungspostens ausgestellt hatte, zu einem Nachmittagsschläfchen niedergelegt. Er wollte sich nach Möglichkeit frisch erhalten. Die große Verantwortung, die auf ihm lastete, erforderte einen ausgeruhten Körper und lebendigen Geist. Hatte er doch in den letzten drei Tagen so gut wie gar nicht geschlafen, da in seiner Garnison geradezu fieberhaft in allen Dienststellen gearbeitet worden war, um für den Mobilmachungstag gerüstet zu sein. Mithin war ihm diese kurze Ruhe wohl zu gönnen. Denn – es wurde wirklich nur eine knappe Stunde, die man ihm für einen bleiernen Schlaf gönnte. Um halb drei Uhr nachmittags hatte er sich auf den Diwan des Herrenzimmers hingestreckt, und bereits um halb vier – die alte Standuhr in der Ecke schlug eben mit ihrem tiefen Gongton zwei Schläge – weckte Unteroffizier Mertens ihn durch rücksichtsloses Schütteln wieder auf.
„Herr Leutnant – aufwachen!“
„Was gibt’s?“ Fritz v. Stetten fuhr empor und schaute sich schlaftrunken um.
Aber er wurde mit einem Male munter. Sein Soldatenohr hatte draußen ein recht lebhaftes Knallen vernommen, in das sich auch das taktmäßige Feuer der Maschinengewehre mischte. Da sprang er auf die Füße, griff nach Helm und Säbel.
„Was ist los, Mertens?“
„Wir werden von allen Seiten von Infanterie angegriffen, sind völlig eingekreist,“ erwiderte der Unteroffizier erregt.
„Und der Gegner – ist er zahlreich? Ob’s lohnt, einen Durchbruch zu versuchen?“
Die beiden stürmten schon ins Freie.
„Ausgeschlossen!“ rief Mertens im Laufen. „Die Russen haben ebenfalls Maschinengewehre. Nicht einen Mann bekämen wir an den Feind heran.“
Stetten hatte dann im Moment das Verzweifelte der Lage für die deutsche Abteilung erkannt. Nun beriet er sich mit Mertens und Günther Hartwich. Letzterer war es, der den Leutnant auf das Felseneiland aufmerksam machte. –
„Dort können wir uns tagelang verteidigen,“ meinte er. „Die Insel ist ja eine kleine Festung bei ihrer Lage mitten im See.“
Der Offizier nahm diesen Gedanken freudig auf.
„Mertens – Sie sorgen dafür, daß schleunigst alles Nötige nach der Insel geschafft wird. Besonders Proviant. – Na, Sie wissen schon Bescheid. Auf Ihre Umsicht kann ich mich verlassen. Eine bis zwei Stunden können wir das Gut vielleicht noch halten. Bis dahin müssen Sie fertig sein. Nehmen Sie sich acht Leute – mehr kann ich hier in der Verteidigungslinie nicht entbehren. – Und Sie, Hartwich, helfen dem Unteroffizier. Nun flink, Kinder, und – nichts vergessen!“
Mertens tat denn auch sein Möglichstes. Während vor dem Gut das Gewehrfeuer ununterbrochen andauerte, schaffte er in dem Motorboot und den vier am östlichen Ufer beschlagnahmten Kähnen, die die ‚Gertrud’ ins Schlepptau nahm, nicht nur allerlei Nahrungsmittel nach dem Eiland, sondern auch ein paar Kühe und Schweine, Futter für diese, des weiteren Säcke mit Mehl, Bretter, Balken und auch den Rest der Eisenplatten aus dem Kesselraum der Brennerei. An alles dachte der findige Unteroffizier, so an die mächtigen, geölten Leinwandplanen, die zum Überdecken der Getreidestapel benutzt wurden und aus denen sich so gut große Zelte herstellen ließen.
Um fünf Uhr Nachmittag konnte er seinem Leutnant dann melden, daß der Übergang nach der Felseninsel stattfinden könne. Es war aber auch die höchste Zeit. Die Russen waren im Süden bereits bis an die Parkmauer vorgedrungen. Und hätten sie jetzt einen offenen Angriff gewagt, so würde die bis auf dreiundzwanzig Mann zusammengeschmolzene deutsche Abteilung sicher über den Haufen gerannt worden sein. Aber – dazu fehlte es ihnen doch an dem nötigen Elan.
Noch einmal ließ Stetten jetzt die Seinen den Gegner mit Schnellfeuer überschütten. Dann ging’s tief gebückt zurück auf den Gutshof und hinab zum Seeufer. Die Toten – drei Mann hatten Kopfschüsse erhalten – und die Verwundeten wurden mitgenommen. In Eile wurden sie verladen. Der Motor der ‚Gertrud’ lief an, und langsam lösten sich die Boote vom Ufer – keine Sekunde zu früh! Denn jetzt zeigten sich schon die ersten feindlichen Schützen im Park. Aber das Feuer der beiden Maschinengewehre des ‚Panzerkreuzers’ hielt sie in achtungsgebietender Entfernung. Gewiß – der Feind überschüttete die fünf Fahrzeuge mit einem wahren Hagel von Geschossen, durchlöcherte aber nur zwei von den Kähnen, ein Schaden, der leicht wieder gutzumachen war. Wohlbehalten landeten die Deutschen nach kaum zehn Minuten an der Insel an, in deren dichtem fast mannshohen Röhrichtgürtel es eine schmale Straße gab, die zu einer engen, tief einschneidenden Bucht, einem vorzüglichen Landungsplatz hinführte.
Günther Hartwichs Anwesenheit war für den kleinen Trupp natürlich von unberechenbarem Nutzen. Er kannte das Eiland wie seine eigene Tasche und schlug nun auch sofort eine Stelle vor, wo das Lager errichtet werden sollte. Dieser Platz befand sich am Fuße des Donner-Berges auf einem kleinen Wiesenfleck, der, rings von ziemlich hohen Felsen umgeben, selbst gegen Artilleriefeuer leidlichen Schutz gewährte. Denn damit, daß die Russen alles versuchen würden, die deutsche Abteilung aufzureiben, mußte man bestimmt rechnen, also auch mit einer Beschießung durch Geschütze, deren Tragweite die fünfeinhalb Kilometer vom westlichen sowie östlichen Ufer unschwer überwinden würde.
Während ein Teil der Leute nun für die gefallenen Kameraden an einem entfernteren Ort ein Grab herrichteten, andere wieder die Verwundeten verbanden und labten, führte Günther den Leutnant und den Unteroffizier, der zweite Unteroffizier hatte einen bösen Schulterschuß abbekommen, um die Insel herum und schließlich auch auf den Donner-Berg, der eigentlich weniger ein Berg, als ein zackiger, zerklüfteter Felskegel mit platter Spitze war.
Hier bot sich den dreien eine überraschend weite Aussicht.
„Ein glänzender Platz für einen Posten,“ meinte Stetten, der mit seinem Fernglas eben nach dem Gut hinüberschaute. Die Entfernung war aber doch zu weit, um Einzelheiten unterscheiden zu können.
„Gewiß, Herr Leutnant,“ nickte Günther. „Eine Annäherung an die Insel am Tage ist gänzlich ausgeschlossen, wenn hier eine Wache steht. Freilich des Nachts, da –“
„Da richten wir mit Hilfe der Kähne einen Patrouillendienst ein,“ ergänzte Mertens zielbewußt. „Wir werden schon dafür sorgen, daß die Russen an unser Robinson-Eiland nicht herankommen.“
Dann kehrten sie wieder zu dem Lagerplatz zurück, und Stetten schickte auch sofort einen der Männer auf das Plateau des Donner-Berges, um vor einem Überfall sicher zu sein. – Inzwischen hatten die wackeren Infanteristen eifrig geschafft. Für die Lebensmittel war ein trockener Platz ausgesucht und dieser schnell mit einer der Öltuchplanen überspannt worden. Desgleichen hatten die Leute ein recht praktisches, geräumiges Zelt errichtet, zu dessen Bedachung die zweite Plane benutzt wurde, während die Wände aus den Zeltbahnen hergestellt waren, die jeder Fußsoldat neben dem Mantel um den Tornister geschnallt trägt. Eine Ecke war für die Vorgesetzten bestimmt, zu denen ja auch Günther Hartwich rechnete, da er Unteroffizier der Reserve eines Königsberger Feldartillerieregiments war.
So kam, während jeder vollauf Beschäftigung hatte, der Abend heran. Damit die Tätigkeit der einzelnen Leute jedoch mehr geregelt war, wies Stetten nun einem jeden seine besonderen Obliegenheiten zu.
Immer mehr verschwammen jetzt die Ufer des Sees in den leichten Dunstschichten, die nach Untergang der Sonne die stark erwärmte Wasserfläche förmlich aushauchte. Und erst als die Sichel des Mondes dann am sternenklaren Firmament emporkam, vertrieb ein frischer Ostwind diese grauen Schleier, die den Russen bei einem etwa geplanten Überfall nur allzu gute Bundesgenossen gewesen wären.
Unteroffizier Mertens, der soeben seine Portion Erbssuppe mit Speck mit größtem Behagen vertilgt und dann noch einen tüchtigen Kognak – Spirituosen, auch Wein, waren ebenfalls in ziemlicher Menge vom Gut mitgenommen worden – als Magenschluß darauf gesetzt hatte, brach jetzt mit Günther Hartwich zu der schon vorher verabredeten Rekognoszierungsfahrt auf, die beiden in Richtung auf Barkeimen zu unternehmen wollten. Es war doch immerhin möglich, daß die russische Abteilung das Gut bereits wieder verlassen hatte. Dies konnte man umso eher annehmen, als der Gegner sich in den letzten Stunden vollkommen ruhig verhalten und man von seiner Anwesenheit auch nicht das Geringste mehr gehört hatte.
Mertens begab sich also mit seinem Begleiter zu dem keine fünfzig Meter von dem Wohnzelt entfernten Landungsplatz hinab, und hier bestiegen die beiden den kleinsten der Nachen, einen sogenannten ‚Seelenverkäufer’, wohl deshalb so bezeichnet, weil die Gefahr des Umschlagens in den nur aus drei breiten Brettern gezimmerten Kahn recht groß war. Während Mertens mit seinen muskulösen Armen die beiden Ruder handhabte, bediente sich der junge Gutsbesitzerssohn eines dritten Ruders als Steuer. Mit sachten Schlägen wurde der Nachen zunächst durch die schmale Gasse in dem Röhricht getrieben und lenkte dann geradewegs auf die Gutsgebäude zu, indem er scharf nach Westen zuhielt. Lautlos glitt der Kahn dahin. Dann tauchte zur Rechten plötzlich ein anderes Boot auf, eines der Patrouillenfahrzeuge.
„Halt, wer da!“ klang’s gedämpft herüber.
„Gut Freund,“ antwortete der Unteroffizier, in dem er die Ruder etwas einzog. „Wilhelm der –“ fügte er schnell hinzu.
Und aus dem anderen Nachen ergänzte man: „– Große!“
Das war das vereinbarte Erkennungszeichen für diese Nacht.
Dann lagen die beiden Boote dicht nebeneinander.
„Habt ihr was Verdächtiges bemerkt?“ fragte Mertens die vier Mann des Patrouillennachens.
„Sonst nichts. – Nur auf dem Ostufer scheinen die Russen Holz zu fällen. Die Axtschläge sind auf der anderen Seite der Insel ziemlich deutlich zu hören.“
Die beiden kleinen Fahrzeuge trennten sich mit einem freundschaftlichen „Gute Nacht“. Während die Patrouille weiter in langsamem Tempo das Felseneiland umrundete und zwar in Richtung Ost, Nord, Süd, der andere Nachen mit der zweiten Patrouille ruderte in entgegengesetztem Kreise, so daß die Kähne sich einmal bei jeder Rundtour begegnen mußten, strebten Mertens und der junge Hartwich der weiten Bucht zu, in deren tiefstem Winkel die Gebäude des Gutes lagen. Je mehr ihr Schiffchen sich dem Ufer näherte, desto vorsichtiger handhabte Mertens die Ruder. Oft ließ er sie auch unbeweglich stilliegen um zu lauschen. Doch keinerlei Geräusch störte die nächtliche Stille.
Die beiden waren inzwischen den dunklen Bäumen des Parkes, der bis zum Seeufer hinabreichte, bis auf hundert Meter nahe gekommen.
„Im Erdgeschoß des Gutshauses brennt Licht,“ flüsterte Mertens, indem er die Ruder jetzt ganz einzog und das vor ihm im Nachen lehnende Gewehr zur Hand nahm.
Gleich darauf war das helle Pünktchen, das da zwischen den Bäumen inmitten der stillen, nur wie düstere Vierecke sichtbaren Gebäude geblinkt hatte, auch schon wieder verschwunden. Abermals nichts als die drückende Stille, nur unterbrochen von dem gelegentlichen Schrei eines Nachtvogels und dem leisen Glucksen des Wassers an den Wänden des langsam treibenden Kahnes.
„Ob wir mal zu landen wagen,“ meinte Günther Hartwich, der ebenso wie sein Gefährte unablässig mit den Augen die vor ihnen liegende Uferpartie argwöhnisch absuchte.
Mertens antwortete erst nach einer ganzen Weile.
„Die Geschichte hier kommt mir nicht recht geheuer vor,“ sagte er dann, indem er sich weit vorbeugte und scharf nach rechts hinüberspähte, wo das kleine, weiß gestrichene Badehäuschen etwa zehn Meter vom Ufer entfernt auf starken Pfählen über dem Wasserspiegel stand.
„Eben war’s mir doch,“ fuhr er mißtrauisch fort, „als ob sich dort etwas bewegte – da rechts an der Badebude vorbei, wo die Spitze eines Baumes, anscheinend einer Pyramidenpappel, über die Wipfel hinausragt. – Schaun Sie mal hin! Sehen Sie etwas?“
Zu einer Erwiderung fand der junge Hartwich jedoch keine Zeit mehr.
Plötzlich war vor ihnen, offenbar in der breiten Allee, die vom Gut durch den Park zum Wasser hinabführte, ein heller Pfiff ertönt, der sofort aus der Richtung des Badehäuschens erwidert wurde. Im gleichen Augenblick fielen auch ein paar Schüsse, und die Kugeln pfiffen den beiden Deutschen nur so um die Ohren.
Mertens hatte jedoch schon die Ruder wieder ergriffen und wollte den Kahn mit schnellen Schlägen wenden.
Da – eine neue peinliche Überraschung. Günther hatte gemerkt, wie sich rechts aus dem Schatten der Bäume ein dunkler Fleck loslöste und über die Bucht ziemlich schnell hinwegglitt, offenbar, um ihnen den Rückweg zu versperren.
„Mertens – ein Floß! Sie wollen uns abschneiden!“
Einen Blick warf der Unteroffizier nach dem etwa dreihundert Meter entfernten Floß. Dann trieb er den Nachen mit kräftigen Armen vorwärts.
„Im Bogen um sie herum! Wir müssen durch,“ stieß er wütend, weil sie so leichtsinnig in diese Falle gegangen waren, zwischen den Zähnen hervor.
Immer noch knallte es vom Ufer her, immer noch durchschnitten die Kugeln mit unheimlichem Singen die Luft. Ein Glück war’s, daß der niedrige Nachen bei dem ungewissen Sternenlicht ein so schlechtes Ziel bot.
Jetzt wurde die Lage für die beiden Kundschafter aber immer ungemütlicher. Auch von dem Floß her, das fraglos in dem seichten Wasser der Bucht mit Stangen vorwärtsgestoßen wurde, kam jetzt die erste Kugelsaat herüber. Auf diese Salve folgte Schuß auf Schuß, manche davon gar nicht schlecht gezielt, da die Geschosse oft in beängstigender Nähe vorbeipfiffen.
„Eine nette Bescherung!“ knurrte Mertens und hielt noch mehr nach rechts, indem er mit dem linken Ruder weniger kräftig durchzog. – Wenn Sie nun dadurch auch dem Floß mehr ausbogen, so kamen sie doch auch dem Ufer wieder so nahe, daß man sie von dort bequem unter Feuer nehmen konnte.
Inzwischen hatten die Russen ihr plumpes Fahrzeug aber ebenfalls mehr nach der Einmündung der Bucht in den eigentlichen See gelenkt, ein Manöver, welches den Erfolg hatte, daß der Kahn der beiden Deutschen ständig von zwei Seiten unter Feuer gehalten werden konnte.
Mertens ruderte noch immer mit der Kraft der Verzweiflung. Ihr Leben, zum mindesten ihre Freiheit stand auf dem Spiel. Schwere Schweißtropfen rannen ihm über das Gesicht. Er fühlte seine Hände kaum mehr. Und dabei ununterbrochen dieses vermaledeite Singen der Kugeln, hin und wieder auch ein scharfer klatschender Ton, wenn eines der Geschosse dicht neben ihnen ins Wasser fuhr. –
Die dunkle Masse der Gutsgebäude war längst in der Finsternis untergetaucht. Jetzt war’s nur noch ein Wettrennen zwischen dem schweren Floß und dem leichten Nachen. Wer würde zuerst die schmale Landzunge erreichen, die sich im Süden am Übergang der Bucht in den See etwa dreißig Meter in das Wasser erstreckte und die für die beiden so hart Verfolgten ein böses Hindernis bildete? Würde es Mertens gelingen, den Kahn vor den Verfolgern um die Landzunge herum ins offene Wasser zu lenken? Und würden etwa die Russen, die sich am Ufer stets in einer Höhe mit dem Nachen hielten, vorher die sandige, baumlose Spitze besetzten und die Flüchtlinge dann aus nächster Nähe abschießen?
Solcherart waren wohl die Gedanken und Befürchtungen, die den beiden jungen Deutschen durch den Sinn zuckten. Minuten konnte es nur noch dauern, dann war die Entscheidung da. Und Mertens tauchte weiter mit nerviger Faust die biegsamen Ruder ein und jagte das kleine Boot förmlich wie einen flüchtigen Vogel über das Wasser, in dem sich so lieblich das Firmament mit seinen tausenden von Sternen widerspiegelte.
Noch zweihundert Meter bis zur Landzunge, die wie ein Riegel vor dem Ausgang zur Freiheit lag, noch hundertfünfzig, hundertfünfundzwanzig – –
„Halt – halt!“ schrie Günther Hartwich da. „Ich sehe den Feind eben aus dem Ufergebüsch auf die Landzunge springen. So geht es nicht, wir müssen zurück, sonst –“
Da – mit einem Male vor ihnen vier Schüsse, ein lautes Hurra, wieder der harte Knall des Modells 98, des deutschen Militärgewehrs, immer wieder.
Mertens, der den Lauf des Nachen sofort durch gegen Druck mit den Rudern gehemmt hatte, spähte scharf hinüber.
„Die äußerste Spitze muß von den Unsrigen besetzt sein – kein Zweifel!“ stieß er hervor. „Ich sehe das Aufblitzend der Schüsse. Und da – die Russen räumen die Landzunge. Vorwärts – mit denen auf dem Floß nehmen wir’s jetzt schon auf –!“
Günther Hartwich hatte sich etwas aufgerichtet und brüllte nun gleichfalls ein freudiges „Hurra – gebt’s ihnen!“ hinüber.
Die auf dem Floß hatten anscheinend den Mut verloren, sich weiter vorzuwagen. Ja, man sah jetzt sogar deutlich, daß sie schleunigst wieder aus der Nähe der Landzunge fortzukommen suchten.
Inzwischen hatten aber die Deutschen, die eben die Russen so wacker an das Ufer zurückgetrieben hatten, für ihre Gewehre ein anderes Ziel gesucht, – das Floß, das etwa zweihundert Meter entfernt auf dem Wasser trieb. Schuß auf Schuß folgte. Und offenbar mit gutem Erfolg. Denn die Besatzung des plumpen Fahrzeuges hörte plötzlich mit dem Feuern gänzlich auf und mühte sich lediglich ab, schnellstens aus dem Bereich der deutschen Geschosse zu kommen.
Vergeblich war der Versuch! Mertens, der kaum den Umschwung der Lage erkannt hatte, trieb den Kahn nun von der Seite bis auf hundert Meter etwa heran, warf dann die Ruder auf den Boden des Seelenverkäufer und griff nach seinem Gewehr. Auch Günther Hartwig tat dasselbe. Und so, von zwei Seiten unter Feuer genommen, war das Schicksal des Floßes bald entschieden. Die drei noch darauf befindlichen unverwundeten Russen sprangen vor Angst ins Wasser und suchten schwimmend die Bucht zu durchqueren.
Gleich darauf legte der Kahn der beiden Deutschen an dem aus Balken und Brettern zusammengezimmerten Fahrzeug an und bugsierte es der Spitze der Landzunge zu, wo jetzt der Einjährig-Gefreite mit seinen drei Mann der bereits verloren geglaubte Grenzpatrouille den Feind am Ufer durch ein ruhiges Feuer in Schach hielt.
Es war ein selten freudiges Wiedersehen, das die tapferen Männer hier feiern durften. Mertens drückte dem Gefreiten, einem Studenten der Philosophie, warm die Hand.
„Barnatz, das war Hilfe zur rechten Zeit! Hätten Sie uns nicht so wacker unterstützt, dann wären wir verloren gewesen.“
„Wir auch – wenn sie nicht das Floß herbeigebracht hätten, Herr Unteroffizier,“ meinte der Gefreite bescheiden. „Wir liegen hier schon seit Stunden im Sande und mußten jeden Augenblick fürchten, daß die Russen, denen wir bis dahin glücklich entwischt waren, uns doch noch entdeckten. Denn wie sollten wir wohl nach der Insel hinübergelangen?! Rufen oder uns sonst wie bemerkbar machen, ging ja nicht an.“
Mertens mahnte jetzt zum Aufbruch. Die auf dem Floß liegenden fünf Verwundeten – sie hatten sämtlich gefährliche Brustschüsse – wurden auf die Landzunge getragen, und dann stieß das von Barnatz und seinen drei Leuten neubemannte Floß schleunigst vom Ufer ab, verfolgt von einem wütenden Feuer des Gegners, der die schon als sicher angenommene Beute nun doch das Weite suchen sah. Die Geschosse gingen sämtlich fehl, mit Ausnahme eines einzigen, welches dem Einjährig-Gefreiten seitwärts in das Fernglasfutteral fuhr und das teure Binokel zertrümmerte.
Die Ankunft der vermißten Patrouille machte auf der Insel alle Mannschaften munter. Leutnant von Stetten, der, sobald drüben in der Bucht das Gewehrfeuer begonnen hatte, von einem der Posten, die am Rande der Insel entlanggehend diese beständig umkreisen mußten, geweckt worden war und dann gespannt auf die Rückkehr der beiden Wagehälse gewartet hatte, ließ sich nun von dem Einjährigen genau berichten, auf welche Weise es diesem geglückt sei, sich bis zu der Landzunge durchzuschleichen. Jedenfalls ging aus den Erlebnissen der Patrouille hervor, daß Barnatz sich äußerst geschickt benommen hatte. Gerade als das Motorboot mit den vier Kähnen im Schlepptau die deutsche Abteilung nach der Insel brachte, war er mit seinen drei Mann, immer in einem Stoppelfeld auf allen Vieren kriechend, bis an den Park gelang und hatte so von weitem den Übergang nach dem Eiland beobachten können. Da die Russen überall umherschwärmten, war er vorläufig in dem Getreidefeld geblieben und dann erst bei völliger Dunkelheit nach der Landzunge geschlichen, wo er bange Stunden in der Hoffnung ausharrte, daß vielleicht ein von Deutschen bemannter Kahn vorüberkommenden würde. Tatsächlich hatte die Patrouille denn auch das Schiffchen, in dem Mertens und Günther Hartwich saßen, bemerkt, aber nicht gewagt ihn anzurufen, da zu derselben Zeit mehrere russische Soldaten in der Nähe der Landzunge sich herumdrücken, ohne diese jedoch zu betreten.
Diese Mitteilungen des Einjährigen über die Erlebnisse der von ihm geführten Grenzpatrouille, so interessant sie auch waren, wurden jedoch von einer Bemerkung an Wichtigkeit weit übertroffen, die er zum Schluß so nebenher machte, ohne deren wahre Bedeutung, besonders für Günther Hartwich, zu kennen. Dieser, der mit mangelhafter Energie die Sorge und Angst um das Ergehen seines von den Russen doch offenbar überraschten Vaters bisher unterdrückt hatte, horchte hoch auf, als Barnatz nun seine Schilderung mit folgendem Satz schloß:
„Ich möchte noch erwähnen, daß eine russische Dragoner-Patrouille gerade zu der Zeit, als wir in dem Roggenfelde gedeckt lagen, einen gefangenen Deutschen nach dem Gut an uns vorüber brachte. Es war ein älterer Herr mit starkem graumelierten Schnurrbart, gekleidet in eine dunkelgrüne Joppe und gelbe Reithosen, alles in allem eine imponierende Erscheinung bei seinem mächtigen Körper und dem energischen Gesicht.“
Günther wußte genug.
„Das war mein Vater,“ sagte er dumpf. „Also wirklich gefangen ist er – wirklich gefangen!“
In dem großen Zelt, wo beim Licht zweier Laternen die Deutschen eben beieinander saßen, wurde es plötzlich ganz, ganz still. Alle bedauerten den frischen, mutigen Gutsbesitzerssohn, der sich schon in dieser kurzen Zeit als ein so mutiger Kamerad gezeigt hatte.
Leutnant v. Stetten streckte Günther jetzt warm die Hand hin.
„Lieber Hartwich – tragen Sie diesen Schicksalsschlag mit möglichster Zuversicht,“ sagte er herzlich. „Die Russen werden Ihrem Herrn Vater kaum ein Leid zufügen. Es liegt ja nicht der geringste Grund für sie vor, ihn schlecht zu behandeln.“
Günther nickte schmerzlich. „Hoffen wir’s. – Wenn Sie ihn nur nicht als Gefangenen mit nach Rußland hinein verschleppen,“ fügte er leise hinzu.
* * *
Der Rest der Nacht verlief ohne Zwischenfälle.
Vormittags gegen acht Uhr, nachdem sich alles an einem reichlichen Frühstück gelabt hatte, wurde dann der ‚Panzerkreuzer’ zu einer Entdeckungsfahrt bereit gemacht. Wieder führte Mertens das Steuer, während Günther Hartwich den Maschinisten spielte. Ebenso befanden sich auch die Maschinengewehre noch an Bord.
Zunächst ging’s dem östlichen Ufer zu, wo die Patrouillenboote in der verflossenen Nacht das Geräusch von Axtschlägen und fallenden Bäumen in dem Kiefernwald gehört haben wollten. Als die ‚Gertrud’ in etwa fünfhundert Meter Entfernung am Ufer entlangfuhr, erhielt sie aus dem Gehölz Feuer, das jedoch völlig wirkungslos blieb. Die Panzerung bewährte sich auch jetzt vorzüglich.
Leutnant v. Stetten, der mit seinem scharfen Glas das Gelände vor dem Wald absuchte, entdeckte nun auch wirklich hinter einer dicht am Ufer errichteten und mit Baumzweigen maskierten Verschanzung eine ganze Anzahl von gefällten Stämmen, die ohne Zweifel zur Herstellung eines großen Flosses dienen sollten.
Die Erdschanze war, wie das nun lebhafter werdende Gewehrfeuer verriet, gleichfalls besetzt. Schon hatte Stetten den Befehl gegeben, die Schanze mit den Maschinengewehren zu beschießen, als die Russen sich ihrer Artillerie zur Vertreibung des gefährlichen Motorbootes zu bedienen begannen. Die erste Granate schlug fünfzig Meter vor der ‚Gertrud’ ein und wühlte das Wasser zu einem wahren Wellenberg auf. Stetten, der das wertvolle Fahrzeug nicht zwecklos der Gefahr der Vernichtung aussetzen wollte, ließ Günther Hartwich sofort den Motor auf volle Geschwindigkeit stellen. Trotzdem gelang es dem nächsten feindlichen Geschütz, einen Schrapnell ziemlich genau über dem kleinen Kreuzer zur Endlagerung zu bringen. Die Bleigeschosse pfiffen der Besatzung nur so um die Ohren und durchschlugen auch an verschiedenen Stellen das Deck der Kajüte, das nur aus einem leicht gewölbten Holzrahmen mit Ölpappebelag bestand. Verwundet wurde glücklicherweise niemand. Die sechs folgenden Schüsse gingen aber wieder weit daneben. Dann stellte die Artillerie ihr Feuer als nutzlos ein.
Inzwischen war das Mutterboot an dem Felseneiland vorübergelaufen und strebte nun der Bucht am westlichen Ufer zu, um auch den Gutsgebäuden einen Besuch abzustatten. Auch hier prasselte dem sich nähernden Fahrzeug ein Geschoßhagel entgegen. Stetten erkannte durch sein Glas deutlich, daß die Russen zum Teil hinter der Parkmauer, zum Teil in frisch aufgeworfenen Schützengräben, die sich am Ufer entlangzogen, Stellung genommen hatten. Jetzt traten aber, nun mit gutem Erfolg, die Maschinengewehre des Bootes in Tätigkeit. Etwa eine Viertelstunde dauerte dieses Feuergefecht, bei dem der Gegner recht beträchtliche Verluste hatte, so daß er sich sehr bald hinter die Baulichkeiten zurückziehen mußte.
Leider war es dieses Mal aber auch auf deutscher Seite nicht ohne Verletzungen abgegangen. Einer der Leute, an dem im Vorderteil des Motorbootes aufgestellten Maschinengewehr, hatte eine Kugel in den linken Oberarm bekommen, zum Glück nur eine Fleischwunde, die bald auszuheilen versprach. Dann war aber auch die ‚Gertrud’ selbst ein paar Mal an den ungeschützten Stellen durchlöchert worden. Einige dieser Geschoßeinschläge saßen dicht über der Wasserlinie und bewirkten, daß das Boot ziemlich viel Wasser saugte. Trotzdem blieben die Beschädigungen, die sich leicht reparieren ließen, unbedeutend im Vergleich zu den erzielten Erfolgen. Denn einmal hat man den Gegner aus seiner Stellung vertrieben, dann aber auch, was sehr wertvoll war, festgestellt, daß das Gut mit recht geringem Kräften belegt war. Leutnant v. Stetten schätzte die Stärke des Feindes hier auf kaum eine halbe Kompanie.
Hierauf kehrte man nach der Insel zurück.
Da es nach den russischen Vorbereitungen am westlichen Ufer außer Frage stand, daß der Feind früher oder später mit Hilfe eines größeren Flosses einen Angriff auf das Eiland versuchen würde, machte sich Mertens mit einigen Leuten sofort an die Arbeit, um die Panzerung der ‚Gertrud’ zu verbessern, die Schußlöcher in den Bootwänden zu verstopfen und auch den größten der Kähne, der sechs bis sieben Mann zu tragen vermochte, gleichfalls durch Aufnageln von Eisenplatten kugelsicher zu gestalten.
Diese Tätigkeit nahm den ganzen Vormittag in Anspruch. Nachher war Mertens aber ordentlich stolz auf sein Werk. So besaß denn die deutsche Abteilung jetzt zwei gepanzerte Fahrzeuge, mit deren Hilfe es bei geschicktem Manövrieren wohl möglich sein mußte, sich den Feind eine ganze Zeit lang vom Halse zu halten.
Am Nachmittag mußte alles, was nicht gerade notwendig zur Besetzung der Beobachtungsposten gebraucht wurde, sich schlafen legen. Stetten wollte seine Leute für die Nacht recht frisch haben, da der Feind sicherlich nur die Zeit der Dunkelheit für einen Angriff benutzen würde.
Bei Anbruch der Dämmerung machte die ‚Gertrud’ dann nochmals eine Erkundigungsfahrt nach dem östlichen Ufer. Gleichzeitig brachen auch die beiden Patrouillenboote auf, deren Mannschaften erhöhte Wachsamkeit streng eingeschärft worden war.
Doch auch jetzt vermochte das Motorboot sich dem Ufer nur auf siebenhundert Meter zu nähren. Die Russen waren offenbar sehr auf ihrer Hut und hatten, wie sich sofort zeigte, ihre Geschütze nunmehr hinter dem inzwischen bedeuten verstärkten Erdwall in Stellung gebracht.
Granate – Schrapnell – Granate – Schrapnell, in dieser Abwechslung krachte es dem vorwitzigen kleinen Fahrzeug entgegen.
„Donnerwetter!“ schalt Mertens. „Die werden ja immer unhöflicher.“
Stetten ließ jetzt in kurzem Bogen umschwenken und wieder auf die Insel zuhalten. Nachher, als man im Zelt beim Abendessen bei einander saß, sagte er leise zu Mertens und dem jungen Hartwich:
„Ich möchte Sie gern mal allein sprechen. Unsere Leute sollen jedoch nicht aufmerksam werden. Wir treffen uns in einer halben Stunde an der Landungsstelle.“
Des jungen Offiziers Stimme hatte sehr ernst geklungen. Irgend eine starke Besorgnis schien ihn zu beschäftigen, obwohl er sich nichts anmerken ließ, sondern mit den Leuten scherzte und als Nachtrunk auch noch einen kräftigen Grog brauen ließ. –
Dann standen die drei, der Leutnant und die beiden Unteroffiziere, an der Landungsstelle dicht zusammen. Ihre Zigarren leuchteten wie Glühwürmchen durch die Dunkelheit, die heute bedeutend tiefer als in der vergangenen Nacht war, da gegen Abend der Westwind eine schwarze Wolkenwand herbeigeführt hatte, die jetzt drohend und düster den ganzen Himmel bedeckte.
„Ich fürchte sehr,“ begann Städten leise, „daß sich unser Schicksal in den nächsten Stunden entscheiden wird. Absichtlich habe ich von meinen näheren Beobachtungen bei unserer letzten Fahrt zum Ostufer hin nichts verlauten lassen. Ich wollte unsere Leute nicht mutlos machen. Denn ich habe trotz des Dämmerlichtes durch mein Glas genau gesehen, daß dort dicht am Ufer zwei große Flöße lagen, die sogar mit Baumstämmen als Brustwehren versehen waren. Die Russen sind also, gedeckt von dem an jener Stelle sehr dichten Schilfrohr, äußerst fleißig gewesen. Meine Hauptsorge ist nun die, daß sie womöglich auf einem der Flöße ein Geschütz aufstellen. Tun Sie es, so sind wir so gut wie machtlos dagegen. Sie brauchen uns nur von zwei verschiedenen Seiten anzugreifen, das heißt etwa im Westen und Osten gleichzeitig zu landen versuchen, und der Erfolg wäre ihnen sicher, da wir unsere Hauptwaffe, das geschützte Motorboot, nur an einer Stelle verwenden können. –
Ich will nicht näher all die Möglichkeiten erörtern, die dem Feind zu unserer Vernichtung zu Gebote stehen. Jedenfalls ist die Lage für uns jetzt außerordentlich ernst. Lassen Sie uns also gemeinsam beraten, wie wir am praktischsten unsere geringen Streitkräfte verteilen.“
Stetten schaute drüben über den etwa fünfzig Meter breiten, hohen Schilfrohrgürtel hinweg, der das Eiland rings umgab.
„Ja, wenn es heute nicht so dunkel wäre!“ meinte er leise. „Aber leider – leider! Einen besseren Bundesgenossen konnten die Russen kaum finden.“
Mertens schien die Sache lange nicht so ernst zu nehmen als der Vorgesetzte. In seiner frischen Art begann er nun seinerseits die Bedenken seines Offiziers zu zerstreuen.
„Herr Leutnant vergessen, daß wir über Hilfsmittel verfügen, die für uns äußerst wertvolle sein können, wenn wir sie richtig einsetzen. Wir haben hier auf unserer Insel zwei große Fässer Petroleum, ferner vier große Behälter Benzin. Damit läßt sich so Verschiedenes anfangen, was den Russen doch verdammt unbequem werden kann.“
„Und was gedenken Sie zu tun, Mertens?“ fragte Leutnant v. Stetten schon bedeutend hoffnungsfroher.
Der Unteroffizier, einer von den seltenen Menschen, die sich aus jeder Lage herauszufinden verstehen, da ihnen sowohl eine bestimmte Dosis natürlicher Verschlagenheit, als auch der nötige Mut zu Gebote stehen, entwickelte nun in Kürze seine Pläne, die bei aller Gefährlichkeit recht vielversprechend waren.
Jedenfalls endigte diese Besprechung damit, daß Stetten die Vorschläge Mertens ohne weiteres annahm und ihn auch mit den notwendigen Vorbereitungen dazu betraute.
Mittlerweile war es halb zehn geworden. Der Wind, der von Westen her das Gewölk zusammengetrieben hatte, war gänzlich eingeschlafen. Dunkel, unbeweglich lag die Fläche des Sees da.
Eine Viertelstunde später stieß der gepanzerte Kahn, in dem drei Mann unter Führung des Gefreiten Barnatz Platz genommen hatten, von der Insel ab und ruderte mit lautlosen Schlägen nach Norden zu. In dem Kahn befanden sich außerdem noch ein Petroleumfaß, sowie ein paar mit Benzin gefüllte Flaschen, ferner eine Anzahl Lappen, die in einem Kochgeschirr lagen und gleichfalls mit Benzin getränkt waren.
Kaum hatte der Panzerkahn das Eiland verlassen, als Mertens auch schon das zweite Petroleumfaß, sowie einige weitere Flaschen Benzin an Bord der ‚Gertrud’ schaffen ließ, wo sie im Schutz der eisenbeschlagenen Bordwände verstaut wurden. Gleichzeitig mußten zwei der Soldaten in dem ‚Seelenverkäufer’ die Insel umrunden und stellenweise das hohe Schilfrohr, dessen obere Blätter und Wedel durch die anhaltende Trockenheit gänzlich ausgedörrt waren, mit Petroleum, das einem der Fässer entnommen war, besprengen. Diese Stellen mußten sich nachher schon dem Geruch nach, leicht wieder auffinden lassen.
Dann wurde die Besatzung der Insel – sechs Mann sollten dort zurückbleiben, genau über die Absichten, wie man den Gegner zurückzuschlagen gedenke, aufgeklärt. –
Es war exakt elf Uhr geworden, als einer der Kähne das Motorboot ins Schlepptau nahm und durch die schmale Einfahrt auf den offenen See hinausbrachte. Absichtlich vermied Mertens es, die ‚Gertrud’ mit Hilfe der Schraube vorwärtszutreiben, da das Rattern des Motors in der windstillen Nacht auf weite Entfernung gehört werden konnte. Dann stiegen die Leute aus dem Kahn auf das größere Fahrzeug hinüber, während jener in das Schilfrohr zurückgestoßen wurde, wo er, wie vor Anker gelegt, ruhig liegen blieb.
Mit Hilfe einiger Ruder drängte man nun die ‚Gertrud’ noch weiter von dem Eiland ab. Sodann ließ man sie still auf dem Wasser treiben. Nach einer Weile tauchte aus der Richtung der Insel, die nur noch wie ein schwarzer Fleck sichtbar war, der kleine vorausgeschickte flache Kahn auf. Die drei Leute darin hatten ihre Aufgabe erledigt und kamen an Bord. Dafür kletterte nun aber Mertens allein in das zerbrechliche Fahrzeug hinein und verschwand gleich darauf nach dem östlichen Ufer zu.
So verging eine Stunde.
Diese nächtliche Wache auf dem stillen Gewässer hatte für die braven Kämpfer, die sich auf dem Motorboot befanden und ununterbrochen in die Finsternis hinein lauschten, etwas seltsam Aufregendes. Nur flüsternd tauschten die Leute ihre Bemerkungen aus. Oft gaukelten ihnen die fast schon überreizten Sinne Geräusche und dunkle Schatten vor, die sich stets wieder als Phantasiegebilde, als Täuschung herausstellten. Auf der kleinen Treppe zum Maschinenraum aber stand Günther Hartwich, jeden Augenblick bereit, den Motor anzulassen.
Dann – von Süden her leiser Ruderschlag. Die Umrisse eines Kahnes lösten sich aus der Dunkelheit los. Es war eines der beiden Patrouillenboote.
Der Gefreite, der das Steuer führte, lenkte behutsam dicht neben die ‚Gertrud’ und erstattete dann dem Leutnant hastig Bericht.
„Von dort her,“ er zeigte nach Süd, „nähert sich ein Floß. Es ist etwa eintausendfünfhundert Meter entfernt. Wir hörten ein verdächtiges Geräusch auf dem Wasser und fuhren darauf zu. Ich glaube kaum, daß man uns bemerkt hat, Herr Leutnant.“
Noch während der Gefreite seine Meldung machte, war auch Mertens in seinem Bootchen wieder aufgetaucht. Er wußte zu erzählen, daß das zweite Floß von Norden herankomme, freilich noch so weit ab sei, daß es bei seiner Schwerfälligkeit erst in einer halben Stunde die Insel erreicht haben könne. Auch den Einjährigen Barnatz mit dem Panzerkahn habe er getroffen und ihm noch schnell einige Verhaltungsmaßregeln gegeben, da das Floß im Norden insofern das gefährlichere sei, da es ein Geschütz mit sich führe.
Nach kurzer Beratung mit Mertens, ließ Leutnant v. Stetten jetzt den Motor ankurbeln. Das flache Boot Mertens nahm man ins Schlepptau, während das Patrouillenboot seine Rundtour wieder aufnehmen sollte.
In voller Fahrt ging’s nun zunächst dem südlichen Gegner auf den Leib, den man auf zweihundert Meter nahegekommen, unter ein vernichtendes Maschinengewehrfeuer nahm. Unerschrocken rückte die ‚Gertrud’ im Vertrauen auf ihre Panzerung immer näher heran. Diese Taktik erwies sich als die richtige. Die aus Stämmen errichtete Brustwehr des Flosses bot den Stahlmantelgeschossen gegenüber auf nahe Entfernung so gut wie keinen Schutz. Der Gegner, der wohl damit gerechnet hatte, unbemerkt bis an das Felseneiland zu gelangen, wurde von dem ihn umkreisenden Motorboot mit Kugeln förmlich überschüttet. Die Gegenwehr, die die Russen leisteten, bestand in einem unregelmäßigen Geknalle, das sehr bald verstummte. Tatsächlich waren seit dem ersten Tack Tack Tack der Maschinengewehre, noch keine fünf Minuten verflossen, als der kleine Panzerkreuzer diesen Feind bereits als erledigt betrachten konnte.
Nun ließ Leutnant v. Stetten schleunigst wenden und den Kurs nach Norden nehmen, wo das zweite Floß inzwischen ungestört seine Fahrt hatte fortsetzen können. Die ‚Gertrud’ umsteuerte die Insel, verlangsamte dann ihre Geschwindigkeit etwas und wartete der Dinge, die da kommen sollten – und mußten, falls es eben dem Einjährigen Barnatz gelang, dem Schlachtplan gemäß, von den mitgeführten Petroleumvorräten Gebrauch zu machen.
Jetzt lag das Motorboot mit abgestoppter Maschine ruhig da. Und nun nahm der Leutnant seine Schützenpfeife zu Hand und entlockte ihr einen schrillen Pfiff.
Wenige Sekunden später zuckte plötzlich im Norden auf dem Wasser ein flackernder Lichtschein auf. Es waren dies die benzingeträngten Lappen, die Barnatz auf das verabredete Signal hin auf die ölige, breite Straße schleuderte, die der gepanzerte Kahn, indem er lautlos hinter dem feindlichen Floß herfuhr und dabei das Petroleum, dem die Flasche Benzin beigemengt war, hergestellt hatte. Schnelle lohte nun auch das Petroleum in seiner ganzen Ausdehnung auf, weithin die Wasserfläche mit blutrotem Schein übergießend, so daß das Floß sich klar und deutlich von diesem hellen Hintergrund abhob.
Ein besseres Ziel konnte es für die Maschinengewehre der ‚Gertrud’ kaum geben. Das Motorboot, selbst im Dunkeln liegend, eröffnete auch sofort das Feuer, indem es in langsamer Fahrt des Öfteren seine Stellung wechselte. Gleichzeitig ließ auch der Einjährige-Gefreite aus seinem gepanzerten Boot von der Seite den Feind mit Geschossen beunruhigen, wodurch die Bestürzung der Russen nur noch größer wurde. Nur zwei Schüsse vermochte das Geschütz abzugeben, dann hörte fast jeder Widerstand auf. Beide Granaten fuhren, da vollständig auf gut Glück abgefeuert, unschädlich ins Wasser.
Immer näher rückten nun die beiden deutschen Boote. Noch immer brannte das Petroleum und beleuchtete grausige Szenen auf dem von Verwundeten und Toten übersäten plumpen Fahrzeug.
Jetzt wurde von den Überlebenden dort drüben irgend ein helles Tuch geschwenkt. Sofort ließ Leutnant v. Stetten das Feuer einstellen. Und wenige Minuten später befanden sich zwei russische Offiziere, darunter ein Hauptmann, und fünf unverwundete Infanteristen, als Gefangene an Bord der ‚Gertrud’. Diese übergab die Aufsicht über das Floß mit dem erbeuteten Geschütz nunmehr dem Panzerkahn des Gefreiten und kehrte in schneller Fahrt nach der Südseite der Insel zurück, um auch hier die Überlebenden des zuerst niedergekämpften Angreifers aufzunehmen.
Man mußte jedoch erst eine Weile suchen, ehe man das von der Strömung etwas abgetriebenen Floß auffand. Die unverwundeten Russen, sechs Mann, ergaben sich ohne jeden Widerstand.
Ein glänzender Sieg war errungen! Von den Feinden, die, auf jedem Floß achtundzwanzig Mann, den nächtlichen Angriff gewagt hatten, waren siebzehn tot, der Rest verwundet und gefangen genommen. Dazu hatte man ein modernes leichtes Feldgeschütz mit Schutzschilden, sowie einige dreißig Granaten und Schrapnells erobert. Wahrlich ein einzig dastehender Erfolg, wenn man in Betracht zieht, daß auf deutscher Seite auch nicht eine einzige schwere Verletzung zu beklagen war.
Kein Wunder, daß Leutnant v. Stetten jetzt ein dreimaliges, jubelndes Hurra ausbringen ließ, das triumphierend über den stillen See hinüberklang. –
Schwere, traurige Arbeit wartete nun jedoch der Sieger. Es galt, die verwundeten Feinde von den Flößen an Land zu bringen und zu verbinden, ebenso die Toten sobald wie möglich zu bestatten.
Bis in den hellen Morgen hinein dauerte die von echt deutscher Barmherzigkeit und Güte zeugende Tätigkeit. Als dann die Sonne das Gewölk gegen acht Uhr früh durchbrach, lagen die Wasser des Wysztyter Sees ebenso friedlich da wie am vorigen Tage. Nur große, ölige Flecke trieben noch als letzte Zeichen der Vorgänge dieser Nacht auf der Oberfläche. Es waren die Reste des Petroleums, das den Deutschen so vortrefflich geholfen hatte den Sieg zu erringen. –
Zwei Stunden später näherte sich ein Kahn, in dem an einer Stange ein weißes Tuch befestigt war, dem östlichen Ufer. Mertens war es, der allein sich zu dem Feind wagte, um über die Auslieferung der Verwundeten und besonders über die Auswechslung der beiden russischen Offiziere gegen Gutesbesitzer Hartwich Verhandlungen einleiten wollte.
Diese hatten denn auch sehr bald den gewünschten Erfolg. Es wurde ein fünfstündiger Waffenstillstand vereinbart, und während dieser Zeit fand die Überführung der zum Teil schwer verwundeten Russen auf das Festland und der Austausch der eben erwähnten Gefangenen statt.
Wortlos sanken die beiden Hartwichs, Vater und Sohn, einander in die Arme. Und der Gutsbesitzer fand nachher gar nicht genug herzliche Worte, um seinen Rettern zu danken.
Als er dann aber erst gehört hatte, wie glänzend sich die von Unteroffizier Mertens vorgeschlagenen Maßnahmen bewährt hatten und auf welche Weise dieser Sieg von den wackeren Deutschen unter Leitung ihrer Vorgesetzt zu Wasser erfochten war, da drückte er immer wieder Mertens Hand, bis dieser verlegen lächelnd sagte:
„Aber Herr Hartwig, die Geschichte ist doch so viel Wesens gar nicht wert. Die Russen hätten ja noch mit mehr Flößen anrücken können, und wir wären auch mit ihnen fertig geworden. Es ist ja das Petroleumfaß auf unserer ‚Gertrud’, mit dem wir eigentlich weitere Angreifer wie mit einem feurigen Gürtel einkreisen wollten, bisher ebensowenig in Tätigkeit getreten wie das getränkte Schilfrohr, das wir angezündet hätten, sobald der Feind die Insel zu nehmen versucht haben würde. – Schade – das wäre doch noch so eine nette Überraschung geworden.“
Zwei weitere Tage folgten, in denen nichts Wesentliches geschah. Die Russen hatten wohl eingesehen, daß mit schwerfälligen Flößen der Insel nicht beizukommen war, und beschränkten sich darauf, vom östlichen Ufer aus das Eiland von Zeit zu Zeit mit Granaten zu bewerfen – freilich nur mit dem Erfolg, daß sie eine der Kühe und zwei Schweine töteten. Denn die deutsche Besatzung zog sich, sobald der Gegner zu ‚funken’ begann, stets schleunigst in den Schutz des Donner-Berges zurück, auf dessen westlicher Seite man dann völlig sicher war.
Inzwischen hatten sich die bei Eydtkuhnen vor weit überlegenen feindlichen Streitkräften zurückgehenden Deutschen mit ihrem rechten Flügel der Gegend von Barkeimen genähert, wodurch die Russen auf dem westlichen Seeufer zum schleunigen Verlassen des Gutes gezwungen wurden, und die Deutschen auf der Insel in die Lage kamen, ihre Zufluchtsstätte aufgeben und sich ihren Landsleuten anschließen zu können. Unter Mitnahme der Verwundeten fand die Rückkehr auf das Festland statt und zwar mit Hilfe der ‚Gertrud’ und der Kähne, die dann, wenn auch schweren Herzens, zerstört werden mußten, während man das Motorboot an einer tiefen Stelle versenkte. –
In Königsberg traf Günther Hartwig mit seiner Mutter und seinen Schwestern wieder zusammen. Er wurde dann dem 52. Reserve-Feldartillerie-Regiment zugeteilt, bei dem er als erster, der mit dem Eisernen Kreuz geschmückt war, die sämtlichen Schlachten auf ostpreußischem Boden mitmachte. Leutnant v. Stetten war es gewesen, der sowohl für den jungen Gutsbesitzerssohn, als auch für den tüchtigen Mertens und den Einjährig-Gefreiten Barnatz die Dekorierung beantragt hatte. Daß er selbst auf Veranlassung seines Regimentskommandeurs gleichfalls den schönsten aller Kriegsorden für die heldenmütige Verteidigung der Insel im Wysztyter See erhielt, war dem ganzen Umständen nach durchaus verständlich.
* * *
Anmerkungen: