Harald Harst
Band: 335
Von
Max Schraut
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 16,
Michaelkirchstraße 23a
Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1932 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16
Eine drohende Verhaftung.
Landjäger Sturm, ein sehr großer, breitschultriger Mann mit gutmütig pfiffigem Gesicht, musterte die vor ihm stehende Landstreicherin mit einigem Erstaunen.
Er hatte sich ihre Papiere geben lassen, und er fand darin das bestätigt, was die zerlumpte Frau ihm soeben mündlich erklärt hatte.
„Entschuldigen Sie, Fräulein Römer,“ meinte er höflich. „Ich glaubte bisher, derartiges käme nur in Romanen vor. Aber ich sehe, Sie sind tatsächlich Berichterstatterin einer Berliner Zeitung und studieren das Vagabundenleben.“
Er lachte leise und freundlich. „Weiß Gott, – sehr echt haben Sie sich herausgeputzt‥! Ich fürchte, Sie werden noch häufiger angehalten werden, denn durch die Not der Zeit werden sehr viele als Bettler auf die Landstraße getrieben… Sie sind heute Vormittag schon die fünfte Person, die ich pflichtgemäß mit Polizeiaugen untersuche. Weiß der Himmel, – der Zustrom an Strolchen nach der Ostseeküste ist erstaunlich. Wollen all die Kerle Seebäder nehmen?! – Komisch!“
Alice Römer tat völlig uninteressiert, horchte aber doch sehr genau hin.
Sturm und die verkleidete, schmierige, abgerissene Vagabundin standen mitten auf der Chaussee in einem dichten Buchenwald. Von Osten her näherte sich nun ein Privatauto, sie traten an den Wegrand. Sturm grüßte den einzigen Insassen des Wagens sehr stramm und flüsterte dann der Reporterin zu: „Das war Kriminalinspektor Tegthoff aus Braunemünde… Ein sehr tüchtiger, schneidiger Herr…“
Plötzlich hielt der schnittige Sportwagen, wendete kurz und kam auf die beiden zu, stoppte, und Alice Römer sah in das bartlose, frische Gesicht eines jüngeren Herrn, der sie scharf fixierte.
„Morgen, Sturm… – Was Neues?!“
„Nein, Herr Inspektor… Das heißt, der Zulauf von Landstreichern wird allmählich auffällig…“
Fritz Tegthoff schaute noch immer die zerlumpte Frau mit dem bunten Kopftuch, den grauen Haarzotteln und der schiefen Nickelbrille und dem ganzen völlig echt wirkenden ‚Kostüm‛ etwas durchdringend an.
„Wer ist die Alte, Sturm? Papiere in Ordnung?“
„Und ob‥!“
Während der Landjäger die nötigen Erklärungen abgab, raste Alice Römers Herz in tollstem Tempo. Äußerlich bewahrte sie ihre erkünstelte Gleichgültigkeit, obwohl die wahnwitzige Angst all ihre Nerven zittern ließ.
Tegthoff gab sich mit dem Gehörten zufrieden, nahm Sturm etwas beiseite, flüsterte ihm einige Worte zu, wendete wieder und fuhr davon. Auch der Landjäger schritt nach Westen zu die Chaussee hinab, hinter ihm her winkte die Landstreicherin und verlor ihn bald aus den Augen. – –
Im Haus Arnoldstraße 21, einem kleinen villenähnlichen Grundstück in Berlin W, schnurrte eine Viertelstunde darauf in dem büromäßig eingerichteten großen Vorderzimmer das Tischtelephon. An dem langen Schreibtisch saßen zwei Herren, die bei offenen Fenstern soeben die Morgenzeitungen genau durchgesehen hatten, was mit zu ihrem Beruf gehörte. Privatdetektive müssen über alle Tagesereignisse informiert sein
Harst nahm den Hörer ab. Da der Apparat sehr laut ansprach, konnte ich, obwohl es ein Ferngespräch war, jedes Wort mithören.
„… Hier Tegthoff… Morgen, lieber Harst… Ich spreche von dem kleinen Ostseebad Gusthafen aus. Hier in meinem Bezirk oder doch mit in dessen Umgebung gehen merkwürdige Dinge vor sich, aus denen ich nicht schlau werde. Seit einer Woche haben wir einen ungewöhnlich starken Zustrom von Landstreichern festgestellt, die alle insofern unantastbar, als ihre Papiere einwandfrei und ihr Geldvorrat genügend groß waren… Also keine ausgesprochenen Bettler, sondern alles halb und halb oder gänzlich gescheiterte Existenzen. Vor zehn Minuten, um neun Uhr, traf ich nun den Landjäger Sturm aus Gusthafen mit einer Vagabundin, die sich bei näherem Hinsehen als die Reporterin Alice Römer vom ‚Berliner Echo‛ entpuppte… – Ich würde Sie mit dieser Geschichte nicht behelligt, wenn ich nicht persönlich eine zweite sehr merkwürdige Beobachtung gemacht hätte, die ich hier am Apparat nicht preisgeben kann. Hätten Sie Zeit und Lust, mich zu besuchen? Ich wittere hier etwas ganz Besonderes, aber diese Witterung und meine Fähigkeit als Kriminalist reichen nicht aus, auch nur einen bestimmten Argwohn äußern zu können. – Na, wie wäre es?!“
Meines Freundes Haralds schmales Gesicht hatte sich schon bei der Erwähnung des Namens ‚Alice Römer‛ auffällig belebt. Er zog die Augenbrauen hoch, die bekannten drei Falten erschienen auf seiner Stirn, und er warf mir einen wirklich ellenlangen Blick zu.
„Tegthoff,“ sprach er trotzdem gelangweilt in die Muschel, „vielleicht ist dort bei euch ein Stromerkongreß angesetzt worden… So etwas gibt es heute. Auch die Vagabunden organisieren sich. Zufällig wollten nun Schraut und ich ohnedies jetzt vierzehn Tage Ferien machen. Wann wir kommen werden, können wir noch nicht genau sagen. –
Wiedersehen also… Unser Famulus Fred Steen, unser Mädchen für Alles, meldet soeben einen Klienten an… Schluß!“
Er hängte ab.
Steen, der lange, semmelblonde Jüngling mit der frechen Wippnase, war tatsächlich soeben eingetreten. Das entsprach der Wahrheit. Gelogen war jedoch, daß wir hatten ‚Ferien machen‛ wollen. Davon konnte schon deshalb keine Rede sein, weil der Fall Güllich uns zur Zeit stärkstens in Anspruch nahm.
Fred meldete mit Grabesstimme:
„Frau Geheimrat Güllich…“
„Wir lassen bitten…“
Die Dame, die uns dann mit dem Gesicht nach dem Fenster hin gegenübersaß, war nun zum dritten Mal bei uns.
Eleonore Güllich, verwitwete Geheimrätin, zweite Frau des vor einem halben Jahr verstorbenen schwerreichen einstigen Geheimen Legationsrates Ferdinand Güllich, konnte man mit wenigen Sätzen als Persönlichkeit skizzieren: Weltdame, gewandt, klug, höflich-frostig, und – – zweifellos mit einer Dauermaske vor dem noch immer blendend schönen Antlitz.
Die Villa Güllich im Vorort Dahlem war berühmt, der Park durch seine Marmorstatuen noch berühmter, der Sohn Hektor Ferdinand Güllich – aus erster Ehe – dagegen etwas berüchtigt und ganz aus der Art geschlagen, – – er war Bildhauer gewesen, nebenher vielseitiger Sportler, jetzt – – war er tot. Vor zwei Tagen war er nachts im Park erschossen worden. Zwischen ihm und seiner Stiefmutter hatte einen erbitterter Erbschaftsprozeß jedes Band zerrissen gehabt, der Park und die Villa waren geteilt worden, Hektor hatte im ersten Stock mit besonderem Eingang gehaust, im Erdgeschoß wohnte Frau Eleonore.
Und diese Frau, die gleichsam bei uns Schutz gesucht hatte, da die näheren Umstände der Ermordung Hektors sie zumindest in den Verdacht der Urheberschaft des Verbrechens gebracht hatten, vergoß heute bei uns die ersten Tränen. Sie war seelisch vollkommen zermürbt, sie war derart verzweifelt, daß zunächst aus ihr kein Wort herauszubringen war.
Was war geschehen?
Die Kriminalpolizei hatte ihre Räume durchsucht und heute früh in einem Wandtresor eine Kleinkaliberpistole entdeckt, aus der nur ein Schuß abgegeben worden war.
„… Ich schwöre es Ihnen, Herr Harst: Ich wußte nichts, nichts von diesem Wandtresor! Ich habe auch nie eine Waffe besessen! Man wird mich verhaften. – Sie wissen ja, die öffentliche Meinung bezeichnet mich als Mörderin des Erbschaftsstreites wegen! Das Testament soll eine Fälschung sein, – – welcher Wahnwitz!! Als ob ich nicht an den mir als Pflichtteil zugefallenden Millionen übergenug gehabt hätte! Aber Hektors Haß gönnte mir nicht einmal den Pflichtteil, er strengte den Prozeß an, er war zu keinem Vergleich bereit, – ich hätte das Testament gefälscht, und ich müßte ins Zuchthaus! Dieser Unselige war ja nur…“
Harald winkte begütigend ab.
„Regen Sie sich doch nicht auf, gnädige Frau… Ich habe den Tatort gesehen, ich habe mir bereits meine Meinung über den Fall gebildet, die nicht ganz falsch sein kann… – Was gibt es, Fred?“
Unser Famulus war leise, aber mit sehr bestürztem Gesicht erschienen.
„Drei … Kriminalbeamte wünschen die Frau Geheimrat zu sprechen…“ stotterte er.
Die Herren traten auch schon ein, drängten Steen beiseite, Frau Eleonore Güllich schrie entsetzt auf, und Kommissar Buth, kein Freund von uns, wollte offenbar den Haftbefehl hervorziehen.
Harst stellte sich schützend vor die unglückliche Frau hin…
„Lassen Sie das, Herr Buth… Das hat noch Zeit. Ich werde Ihnen am Tatort die richtige, die wahrhaft richtige Mordwaffe zeigen. Fahren wir nach Dahlem hinaus. Sie werden, glaube ich, sehr bald anders denken. Nähere Erklärungen gebe ich nur im Park unter der alten Blutbuche ab.“
2. Kapitel
Die dicke Gummischnur.
Kommissar Buth hatte keine Einwendungen erhoben. Zwei Autos rollten davon, und zehn Minuten später standen wir an demselben Platz, wo man sehr bald nach dem Schuß, der gehört worden war, den Ermordeten neben der weißen Gartenbank unter der Buche im gelben Zierkies tot aufgefunden hatte: Kopfschuß!
Die Tat war gegen ein Uhr morgens verübt worden, Spuren des Täters war nicht zu finden gewesen. Hektor Güllich hatte abends noch seine Freunde mit einer Ananasbowle bewirtet gehabt, und der Zierkies und die Rasenflächen hatten daher überall frische Fährten gezeigt.
Harst bat Frau Güllich, auf der Bank Platz zu nehmen.
Er wandte sich dann an Buth, einen kleinen untersetzten Herrn mit einem unangenehm höhnisch-überlegenen Zug um den Mund.
„Ich habe mir den Tatort erst sieben Stunden später ansehen können, Herr Buth, nachdem die Frau Geheimrat bei uns gewesen war.“
„Na, – – und?!“
„Daß ich hier noch etwas wichtiges finden könnte, glaubte ich nicht. Immerhin arbeite ich anders als die Behörden, Herr Buth, ich lasse mehr die Phantasie spielen, und da ich vorhin des Ermordeten Etage in Augenschein genommen hatte…“
„Na – – und?!“
Harst blieb durch diese herausfordernden Einwürfe ganz unberührt.
„… und da ich in Hektors Atelier dies hier gefunden hatte – in einer Ecke hinter Gipsabfällen…“ – er zog ein Stück Gummischnur hervor von jener Art, wie sie bei Flugzeugmodellen zum Antrieb des Propellers benutzt wird – „und da diese Stück dicke, vierkantige Gummischnur ganz neu war…“
„Na ja – – und?!“
Harald blickte Buth scharf in die Augen. „Sie werden ungeduldig… – Bitte, hier lag der Tote… Stellen Sie sich auf diesen Fleck und schauen Sie nach oben in die Buchenkrone. Was sehen Sie?!“
„Äste, Zweige, Blätter und ein großes Vogelnest,“ meinte Buth widerwillig.
„Nur das?! Dann haben Sie schlechte Augen… Klettern Sie nach oben, und Sie werden eine Selbstladepistole Kaliber 6,4 finden, die auf einem Stück Gummischnur über dem Eichhornnest hängt…“
Buth starrte Harald groß an.
„Bei Gott, ich werde emporklettern, und ich werde Sie dann zur Verantwortung ziehen, weil Sie der Behörde Dinge verschwiegen haben, die…“
Sein grau angelaufenes Gesicht, seine flackernden Augen und der kreischende Ton seiner Stimme bewiesen, wie vollkommen er aus dem seelischen Gleichgewicht geraten war. Sein krankhafter Ehrgeiz, seine Habgier und sein zügelloses Leben hatten ihm längst die Sympathie der Kollegen verscherzt. Sein Jähzorn hatte ihm soeben einen bösen Streich gespielt, – so klug war er nun doch nicht, eiligst seine Drohungen abzubremsen und sich mit etwas hilfloser Gebärde an seine Untergebenen zu wenden…
„Holen Sie die Waffe herab, Gührke!“
Dann schritt er aus dem Schatten der Buche in den grellen Junisonnenschein hinaus und blieb in einiger Entfernung mit dem Rücken nach uns hin stehen.
Der Kriminalassistent Gührke warf Harst einen fragenden Blick zu.
„Selbstmord, Herr Harst?“ flüsterte er leise.
„Möglich… – Jedenfalls ist auch aus der Pistole da droben ein einzelner Schuß abgegeben worden… Ich habe weder die Waffe noch sonst etwas berührt. Die Dinge können sich so abgespielt haben, daß Hektor Güllich infolge der ungünstigen Wendung des Prozesses den Freitod einer Anklage wegen schwerer Urkundenfälschung vorgezogen und diesen Selbstmord so hergerichtet haben mag, als ob die Frau Geheimrat die Täterin wäre. Jedenfalls liegt es durchaus im Bereich der Möglichkeit, daß jemand eine Waffe an eine derartige Gummischnur bindet, das andere Ende der Schnur oben an einen Ast befestigt und dann herabklettert, sich erschießt und die Waffe durch die Schnur schräg emporgerissen wird, wo sie nun tatsächlich dicht über dem Eichhörnchennest hängt und hier von unten nicht zu sehen ist…“
„Entsetzlich!“ murmelte die blasse, schöne Frau auf der Bank. „Das wäre eine so kaltblütig ausgeklügelte…“
Buth hatte sich umgedreht.
„Gührke, worauf warten Sie!“ rief er schroff.
Der Assistent, ein jüngerer Mann mit klugem, energischem Gesicht, erwiderte ebenso kurz: „Wäre es nicht angebracht, unter diesen Umständen die ganze Mordkommission zu verständigen, bevor wir etwas unternehmen?“
Der kleine, schwammige Kommissar kehrte langsam zurück und schaute in die Baumkrone hinauf.
„Es wäre vielleicht besser, ja … man müßte die Waffe photographieren, und…“ – – er hatte sich nun wieder in der Gewalt und richtete seine wässerigen Augen auf meinen Freund… „und Sie beide wären fernerhin hier überflüssig, Herr Harst… Ich danke Ihnen, Sie können gehen.“
Harald nickte. „Wie Sie wünschen… Vergessen Sie aber nicht, diesmal in das Protokoll mit aufnehmen zu lassen, daß Sie selbst den Bowlenabend bei Hektor Güllich mitgemacht haben.“
Buth, über dem seit geraumer Zeit das Damoklesschwert eines Disziplinarverfahrens schwebte, wie wir aus ganz zuverlässiger Quelle erfahren hatten, würdigte uns keines Wortes und keines Blickes mehr. Wir verließen diesen Parkteil und saßen gleich darauf in der Bibliothek des verstorbenen Geheimen Legationsrates mit dessen Witwe in einer behaglichen Klubecke beieinander.
Frau Güllich, deren Gesicht immer noch erschreckend farblos war, drückte Harst nochmals die Hand. „Wie soll ich Ihnen nur danken! Der Selbstmord ist jetzt ja erwiesen. Sind Sie wirklich nur durch das im Atelier gefundene Stück Gummischnur auf den Gedanken gekommen, die Waffe, die richtige Todeswaffe, könnte in der Baumkrone hängen?“
Harst schüttelte den Kopf. „Nein. Wenn die Sache nicht so bitter ernst wäre, könnte man über meine Sherlock Holmes-Methoden lächeln. Das ehemalige Eichhörnchennest in der Buche hat jetzt eine Eichelhäherfamilie okkupiert, und die jungen Eichelhäher spielten mit der hin und her pendelnden Pistole. Schraut hat damals sogar herzlich gelacht.“
Das stimmte. Jetzt war mir jedoch nach allem anderen zu Mute, und das totenbleiche Gesicht der schönen Frau, die ihr Stiefsohn sogar zur Mörderin hatte stempeln wollen, bereitete mir ein unerklärliches Unbehagen.
Mein Freund fügte nach kurzer Pause hinzu: „Kommissar Buth hat sich übrigens von mir bluffen lassen. Ich wußte gar nicht, daß er vorgestern an dem Bowlenabend teilgenommen hatte, und ich handelte nach dem alten Grundsatz, daß man mit einem unverhofften Hieb den Panzer des Gegners am leichtesten lädiert. Mir war lediglich bekannt geworden, daß Hektor als Künstler und Sportler einen sehr gemischten Freundeskreis um sich versammelt hatte und daß seltsamerweise die wirkliche Anzahl der Gäste damals abends nicht zu ermitteln gewesen. Allerdings hörte ich, Buth solle einige Male mit Hektor in teuren Amüsierstätten gesehen worden sein. Dies genügte mir, – ich schlug sehr kräftig auf den Busch, und Buth fiel auf die Anzapfung prompt hinein. Ein merkwürdiger Mensch, gnädige Frau…“
Ein Diener trat ein und servierte einige Erfrischungen. Frau Güllich trank hastig ihr Portweinglas leer und griff geradezu gierig nach einer Zigarette.
„Meine Nerven streiken…“ sagte sie tonlos und starrte wieder geistesabwesend vor sich hin.
Der Diener hatte sich entfernt, Harald erhob sich und schlenderte über den weichen Teppich auf den großen Zierkamin aus dunklem Marmor zu. Das geheime Wandfach, das Buth heute früh hier entdeckt hatte, sollte dicht neben den Kamin liegen, wo die Wand noch mit Marmor getäfelt war.
Er blieb stehen und befühlte die Marmorplatten, deren Ecken durch Messingknöpfe zusammengehalten wurden. Einer dieser Knöpfe war seitlich etwas verschiebbar, ein zweiter desgleichen, und nur wenn man gleichzeitig beide Knöpfe zur Seite drückte, fiel die Deckplatte des Wandtresor herab, – ein vorzüglich angelegtes Versteck.
Harst berührte die Knöpfe, die Platte klappte nach unten, und dahinter lag nun die Stahltür des kleinen Safe.
„Weshalb mag Ihr verstorbener Gatte Ihnen dies kleine Geheimnis nie verraten haben, gnädige Frau?“
Die Geheimrätin, die kaum vierzig zählte – Hektor war 28 Jahre alt geworden – schreckte leicht zusammen…
„Oh, er hatte viele Geheimnisse vor mir!“ sagte sie bitter.
„So?! Und welcher Art waren diese?“
Die Frau mit den eigentümlich verschleierten dunklen Augen erwiderte müde: „Mein Mann war zehn Jahre dienstlich in China gewesen… Er brachte drei Bedienstete von dort mit‥!“
Nur das sagte sie. Harst kam rasch zu unserem Tisch zurück.
„Gnädige Frau, seien Sie bitte ganz ehrlich… Weshalb erwähnen Sie China? Glauben Sie, daß…“
Sie fröstelte, ihre feine, zitternde Hand griff abermals nach dem Glas. Sie trank, betupfte sich die Lippen und flüsterte scheu: „Ist Ihnen nicht droben bei Hektor aufgefallen, daß sein Diener, sein Koch und sein Chauffeur Chinesen sind? Er hatte die drei erst nach Beginn unseres Erbschaftsstreites aus meinem Haus übernommen und sie gegen mich aufgehetzt. Aber…“
Sie stockte und blickte ängstlich umher, als fürchtete sie heimliche Lauscher. „Aber diese drei Chinesen hatten nachts hier mit meinem Mann heimliche Beratungen. Dort die Fenstertür führt über eine eiserne Treppe in den Park, und durch diese Tür schlichen die Kerle sich immer ein, denn mein Mann erwartete sie.“
Harald stand vor dem Tisch, hatte die Hände leicht auf die Platte gestützt. Sein Gesicht verriet ungewöhnliche Überraschung, während es doch sonst jede Gemütsbewegung meisterhaft zu verbergen weiß.
„Seltsam! Chinesen!! Gewiß, die drei fielen mir auf, obwohl sie mehr Mongolentyp haben… –
Und näheres wissen Sie nicht, gnädige Frau?“
Abermals flog aus den eigentümlichen Augen der Witwe ein angstvoller Blick ringsum.
Harst beugte sich weit über den Tisch.
Die Frau hauchte mehr, als daß sie zu flüstern wagte:
„Ich … ich weiß nur eins, Herr Harst. Aber Sie beide müssen mir feierlich geloben, nichts zu verraten. Ich … ich schäme mich… Ich habe mich eines Nachts dort in dem großen Schrank versteckt… Die drei Chinesen erschienen nach Mitternacht, und aus der Unterhaltung mit meinem Mann ging hervor, daß die drei einen uralten schwedischen Wachturm an der Ostseeküste besuchen sollten… – Mehr weiß ich wirklich nicht.“
Sie machte jetzt einen so erschöpften Eindruck, daß wir uns sehr bald rücksichtsvoll verabschiedeten.
3. Kapitel
Das Stromerlager bei Gusthafen.
Als wir nach der Arnoldstraße zurückgekehrt waren, hatte unser Fred das Mittagessen bereits fertig, und bei Tisch wurde der Fall Güllich nochmals gründlich durchgesprochen.
Fred Steen war nun trotz seiner Jugend ein Mensch, der geistige Rührigkeit mit ebenso viel Phantasie wie scharf logischem Verstand verband, neben anderen schätzenswerten Eigenschaften.
„Selbstmord also…“ meinte er sehr gedehnt… „Nun ja, Frau Eleonore Güllich hatte ja in dem Prozeß neuerdings den Spieß umgekehrt und ihren Stiefsohn der Testamentsfälschung beschuldigt, ein Vorwurf, der insofern Hand und Fuß hatte, als Hektors Handschrift der seines Vaters außerordentlich glich, was bei so enger Blutsverwandtschaft nicht selten ist. Auch Frau Güllichs Begründung für diese Anschuldigung hatte Hand und Fuß: Wenn Sie als Fälscherin verurteilt würde, hätte sie nicht einmal den Pflichtteil wegen Erbunwürdigkeit erhalten. Somit konnte Hektor das Testament gefälscht haben, um ihr, der verhaßten Stiefmutter, gar nichts zukommen zu lassen. – Und auch sein Selbstmord erscheint motiviert. Das Gericht hatte im letzten Termin die Schriftsachverständigen auch über die Möglichkeit gehört, ob Hektor nicht weit eher als Fälscher verdächtig sei als seine Stiefmutter, die doch das eigenhändige Testament mühsam hätte ‚nachmalen‛ müssen, also sehr lange und sehr genau die Handschrift des Geheimrates hätte einüben müssen. – Welch ein Schurke muß Hektor gewesen sein!! Der Trick mit der Gummischnur beweist bösartigste Erfindungsgabe, und daß er die zweite Waffe vorher im Wandtresor verbarg, war ein ebenso…“
Harst hatte Messer und Gabel etwas lärmend auf seinen Teller gelegt. Fred schwieg sofort und fragte ängstlich: „Sind Sie etwa anderer Meinung, Herr Harst?!“
„Ich bin der Ansicht, man sollte im Anfangsstadium eines Falles mit Werturteilen über Beteiligte, insbesondere über Tote, sehr vorsichtig sein. Rufen Sie mal das ‚Berliner Echo‛, Redakteur Tromissen, an und erkundigen Sie sich in meinem Namen über folgende Punkte…“
Er zählte sie an den Fingern her, und Fred Steens ohnedies schon recht längliches Gesicht wurde noch länger…
Er telephonierte dann und schrieb Tromissens Antworten sofort nieder, bedankte sich für die Auskunft und las uns von seinem Zettel folgendes vor:
1. Alice Römer, eine äußerst gewandte Reporterin, ist vor vier Wochen an Lungenentzündung im Alter von 25 Jahren in ihrer Wohnung Pariser Straße 12 verstorben.
Schon hier warf Harst gleichgültig ein: „Das stand so ziemlich in allen Zeitungen… Aber ihr beide lest ja nur das grob Sensationelle.“
2. Unser Blatt hat niemanden mit dem Studium des modernen Vagabundenlebens beauftragt.
3. Alice Römer führte eine gemeinsamen Haushalt mit der Filmschauspielerin Vera Bertty. Ich selbst (Tormissen) habe die Bertty bei Hektor Güllich eingeführt. An dem letzten Bowlenabend nahm sie nicht teil, verkehrte auch nur selten bei Güllich, da ihr dessen Umgangskreis zu gemischt war. –
Hiermit war Freds Niederschrift erschöpft.
Harst hatte sich inzwischen eine Zigarette angezündet. Er schaute still vor sich hin und sagte nur: „Ich bin zufrieden… Vera Bertty ist die Landstreicherin, die Tegthoff nun durch Sturm heimlich beobachten läßt. Was sie dort an der Ostsee vorhat, ahne ich. Das Schwergewicht des Falles Güllich liegt in dem alten schwedischen Wachturm bei Gusthafen. Dieser Zustrom von Vagabunden dort an der See hat dasselbe Ziel: Diesen Turm! Um zwei Uhr reisen wir im Auto ab, Fred, Sie bestellen einen Wagen bei unserem alten Vermieter und fordern den gewohnten Fahrer an. Das Auto muß Punkt zwei am Fehrbelliner Platz Südecke Hohenzollerndamm stehen. Im übrigen möchte ich euch beide auf eins noch hinweisen: Schon allein die unklare Rolle der drei Chinesen oder Mongolen als Mitspieler und einstige Vertraute des Geheimrats Güllich beweist, daß die ganze Angelegenheit ‚Hektor‛, mag nun Mord oder Selbstmord vorliegen, ganz aus dem Rahmen des Alltäglichen herausfällt, von dem seltsamen Vagabundenkongreß schon ganz abgesehen. Außerdem betone ich, daß wir drei außerordentlich gefährdet sein dürften, denn hier sind Kräfte am Werk, die sicherlich vor nichts zurückschrecken – vor gar nichts. Ich werde nun der Geheimrätin telephonisch mitteilen, daß ich leider eine weitere Mitarbeit ablehnen muß, da ich mit zu viel Widerständen von Seiten der Behörden zu kämpfen habe, ferner, daß ich die Sache ohnedies als erledigt betrachte und zur Erholung nach Norwegen reisen werde. Dieser Anruf wird meinerseits jedoch erst kurz vor zwei Uhr erfolgen, damit Frau Güllich nicht etwa Gelegenheit hat, zu versuchen, mich noch umzustimmen. – Und jetzt laßt mich bitte allein. Ich möchte in unseren alten Zeitungsausschnitten etwas nachblättern.“
– Gegen sechs Uhr nachmittags fuhr ein offenes großes Reiseauto, in dem außer dem Chauffeur zwei Herren und eine Dame saßen, dieselbe Chaussee entlang, auf der jener Landjäger Sturm am frühen Vormittag die alte Landstreicherin angehalten hatte. Die beiden Herren waren wir in etwas verändertem Erscheinungsbild, die Dame war unser Fred, der recht gut auch derlei Rollen mimte. Wir hatten unser Häuschen in der Arnoldstraße um dreiviertel zwei mit Koffern durch den geheimen Ausgang nach der Siegfriedstraße verlassen und waren unbeobachtet in einer Taxe zum Fehrbelliner Platz gefahren, wo wir in den anderen Wagen übergestiegen waren. Unser Chauffeur hatte bereits verschiedene ähnliche Expeditionen mitgemacht und war völlig zuverlässig.
Das wundervolle Juniwetter, die Nähe der See, deren Salzhauch wir dauernd spürten, dazu die Vorfreude auf zweifellos recht interessante Erlebnisse hatten Fred und mich in sehr gehobene Stimmung versetzt. Im Gegensatz zu uns blieb Harald einsilbig und streichelte gedankenvoll seinen schönen blonden falschen Spitzbart.
Die Chaussee bog noch näher an die See heran, die ersten Häuser des kleinen Badeortes Gusthafen tauchten auf, – die Hauptmenge der Villen und Hotels lag dicht an der Küste in einem windgeschützten Tal. Wir kamen über die Steinbrücke des Gustbaches, und abermals nahm uns der Hochwald auf. Nach etwa zehn Minuten befahl Harst unserem Fahrer, in einen sogenannten Holzweg einzubiegen. Vorher hatte er sich sehr genau umgesehen. Aber die Chaussee war leer.
Wir glitten nun über ausgefahrene Gleise, knackende Äste und knisternde Kiefernnadeln hinweg, immer tiefer hinein in die grüne Dämmerung. An einer Lichtung ließ Harst nochmals abbiegen, und gleich darauf hielten wir mitten im Wald in einer älteren Tannenschonung, wo sich nun ein geräuschloses, emsiges Leben und Treiben entwickelte. Ein Zelt wurde errichtet, das Auto mit Tannenzweigen bedeckt, und bei Anbruch der Dunkelheit traten aus dem Zelt drei verblüffend echt wirkende Pennbrüder hervor, die still und eilig mit ihren Bündeln und Knotenstöcken sich nordwärts wandten, wo das Meer infolge der frischeren Ostbrise rauschend gegen die sandigen Dünen anrannte.
Harald war zwanzig Schritt voraus. Plötzlich hob er den Arm, blieb stehen, winkte. Wir waren sofort neben ihm.
„Rauch!“ flüsterte er…
Auch wir rochen es.
Harst schlich weiter, indem er sich mehr nach rechts wandte und der Richtung des Rauches folgte.
Wieder machte er halt. Vor uns schillerten im Abendrot, das in Streifen durch die dichten Baumkronen drang, trübe Pfützen, riesige Moospolster und helle alte Birkenstämme und herb duftende Erlen.
Der Geruch eines Lagerfeuers war hier deutlich zu vernehmen, ich unterschied sogar deutlich den Duft von garenden Speisen.
Harald rührte sich nicht. Wir kauerten am Boden, und in unseren flickenbesetzten Anzügen hoben wir uns kaum von der Umgebung ab. Nach einer geraumen Weile vernahmen wir jenseits des Dickichts, das uns jede Aussicht versperrte, das höhnische Krächzen eines Eichelhähers.
Dreimal ertönte der Vogelschrei, dann zum vierten Mal zweifellos aus dem Dickicht vor uns – – als Antwort.
Fred flüsterte geringschätzig: „Anfänger!!“
Aber Harst turnte bereits an einer Kiefer empor, die schräg nach dem Dickicht zu vom Sturm umgebrochen war und doch noch in den anderen Baumkronen Halt gefunden hatte.
Wir folgten. In der Höhe ging es äußerst behutsam weiter, von Krone zu Krone, bis wir seitwärts unter uns ein Bild gewahrten, das vielleicht einzig in seiner Art war.
Auf einer Hügelkuppe lagerten im hohen Heidekraut etwa achtzig Vagabunden. Unter einem großen Kessel brannte das von uns gerochene Feuer, und Männer und Weiber – letztere nur schwach vertreten – holten sich in allen möglichen Näpfen, zumeist leeren Konservenbüchsen, ihren Teil, aßen und tranken dazu aus den verschiedenartigsten Flaschen sicherlich ebenso verschiedenartige Spirituosen. Alle benahmen sich sehr ruhig. Man merkte, daß ein einheitlicher Wille sie in Schach hielt, und ebenso merkte man, daß die ganze buntgemischte Bande die Augen immer wieder nach Osten richtete, wo ein Baumverhau faulender Stämme die Lichtung abriegelte.
Doch das war nicht alles, was wir zu sehen bekamen.
Inmitten einer Gruppe von sechs Strolchen saß eine alte Landstreicherin mit Kopftuch, grauen Haarzotteln und schiefer Nickelbrille. Sie hatte soeben ihren Napf abgegeben, und einer der Kerle fesselte sofort ihre Hände, wozu er höhnisch grinste.
Plötzlich ging es wie eine allgemeine Welle der Erregung durch das Stromerlager. Die meisten erhoben sich, – aus dem Baumverhau traten zwei neue Gestalten ins Freie, die in allem älteren Fischern von der Küste glichen.
Daß sie erwartet worden waren, zeigte sich aus dem Verhalten eines der Strolche, die die verkleidete Filmschauspielerin Vera Bertty bewachten. Er ging ihnen entgegen, flüsterte längere Zeit mit dem einem ‚Fischer‛, und führte die Ankömmlinge zu der Gruppe hin, in deren Mitte Vera Bertty im Heidekraut saß und gleichgültig die Vorgänge ringsum beobachtete.
Die ‚Fischer‛ setzten sich. Die Dunkelheit nahm jetzt schnell zu, auf einen herrischen Wink des einen Neuankömmlings wurde das Feuer ausgelöscht, und die Vagabunden streckten sich zumeist zum Schlaf nieder.
Wir drei, die wir hier in einer Eiche hockten, deren Äste dicht bei dicht mit Mistelnestern, also mit Schmarotzerpflanzen bedeckt waren, vermochten sehr bald kaum mehr die einzelnen Gestalten zu unterscheiden. Anscheinend sprach der eine alte Fischer jetzt sehr eindringlich auf Vera Bertty ein, – – Harst mahnte da plötzlich zum Rückzug, wir erreichten ohne Gefahr wieder festen Boden und setzten unseren Marsch zur Küste fort…
Eine schmale Waldzunge reichte bis dicht an den Schwedenturm heran, der, nur noch unzugängliche Ruine, ein Wahrzeichen dieser Gegend darstellte, wo die Schweden einst Vorpommern völlig beherrscht hatten.
Das also war der uralte Wachturm.
Er enttäuschte mich. Es war nichts als ein viereckiges Gemäuer, von Brombeeren umwuchert, – – fünfzig Meter weiter brandete die See gegen das steinige Gestade.
Harst drückte uns jäh zu Boden…
Keine zehn Meter weiter schlichen lautlos drei Gestalten dahin, keine Strolche…
Als sie eine hellere Stelle überquerten, erkannte ich die drei Chinesen oder Mongolen.
Sie verschwanden im Gestrüpp an der Südseite des Turmes…
Harst regte sich nicht.
Hinter einer der schmalen Schießscharten des verwitterten Gemäuers blitzte ein heller Schein auf…
Es mußte eine Karbidlaternen sein…
Dann drei Schüsse, dumpf, trotzdem kurz und blechern der Knall, – das Licht erlosch, und fünf Minuten lang ereignete sich nichts … gar nichts.
„Tot!“ flüsterte Harst leise. „Arme Teufel! Das Spionieren ist Ihnen schlecht bekommen…“
Fred holte hörbar Luft. „Scheußlich!! Wer erschoß sie?“
„Der da!!“
4. Kapitel
Im Schwedenturm.
„Der da!!“
Aus dem Gestrüpp tauchte eine wunderliche Figur auf.
Still wie ein Dieb hatte sich bereits die rötliche Mondsichel aus dem abendlichen Dunst gelöst, und ihrer Apfelsinenscheibe schwaches Licht zeigte uns einen hühnenhaften Stromer, der ohne Kopfbedeckung mit wirrem Haarschopf wie ein Stachelschwein ins Freie taumelte. Die linke Hand preßte er gegen die Stirn, und er schien aus seinem Filz und seinem unwahrscheinlich sauberen Taschentuch eine Art Kompresse für eine frische, blutende Wunde hergestellt zu haben, aus der ihm drei dunkle Fäden über das schweißige Gesicht rannen. In der Rechten hatte er noch die etwas klobige Pistole, aus der sehr wahrscheinlich die drei Schüsse abgegeben worden waren, und gerade diese Waffe schien auf Harst den stärksten Eindruck zu machen.
„Die Pistole,“ sagte er leise.
Der riesige Vagabund war offenbar übler zugerichteter, als wir zunächst geglaubt hatten. Er wandte sich jetzt der See zu, brach jedoch sehr bald in einer Mulde der Dünen zwischen hohem Strandhafer zusammen und wurde so für uns unsichtbar.
Hier zeigte sich wieder einmal meines Freundes blitzartiges, streng logisches Urteilsvermögen im allerbesten Licht.
„Das ist kein Mitglied des großen Stromerkongresses, das kann nur der Landjäger Sturm sein. Gehörte der Mann zu den Pennbrüdern, würde er versucht haben, das große Stromerlager zu erreichen, aber er schlug die genau entgegengesetzte Richtung ein. – Fred, Sie kümmern sich um Sturm, Schraut und ich sehen nach den Chinesen. Die Schüsse können nicht sehr weit gehört worden sein, und die Vagabunden werden bis Mitternacht in ihrem Waldversteck bleiben. Vorwärts, wir haben keine Zeit zu verlieren. Sie, Fred, bleiben unbedingt bei dem verwundeten Landjäger, ihr unternehmt auf keinen Fall irgend etwas. Sollte die Lage kritisch werden, so rufen Sie Tegthoff von der nächsten Fernsprechgelegenheit aus an. – Unter ‚kritisch‛ verstehe ich jedoch nur allerernsteste Lebensgefahr… Im übrigen vertraue ich auf Ihre kluge Besonnenheit, – – wie so oft schon.“
Fred Steen nickte nur. „Wird gemacht. Auf mich ist Verlaß!“ Und er schlüpfte wie ein Wiesel davon.
Harald horchte eine Weile nach dem Wald hin. Es schrie irgend ein Käuzchen, das war alles…
Er erhob sich halb, war mit drei Sätzen vor dem Gestrüpp und bog die Zweige auseinander. Der ursprüngliche Eingang des Schwedenturms war längst durch Seesand verweht. Vor vielen Jahren hatte einmal ein geschäftstüchtiger Gastwirt aus dem nahen Badeort Gusthafen in dem Turm eine hölzerne Wendeltreppe einbauen lassen, hatte auch das Dach erneuert und den Turm als Aussichtspunkt und Ausflugsziel mit Kaffeeausschank benutzen wollen. Kaum waren die notwendigsten Arbeiten fertig gewesen, als ein Blitz in den Turm einschlug und die Treppe größtenteils verbrannte. Drei Zimmerleute, die damals noch im Turm schliefen, waren vom Blitz getötet worden und wurden halb verkohlt aufgefunden.
Seitdem mied man den Turm. Die abergläubischer Fischer- und Bauernbevölkerung behauptete noch heute, es spuke in dem alten Gemäuer.
Hinter uns schlugen die Büsche zusammen, wir zwängten uns durch eine Mauerspalte, Haralds Taschenlampe blitzte auf und fuhr mit kaltem weißem Lichtkegel hin und her.
Es gab nicht viel zu sehen. Am Boden lagen halb verfaulte Blätter, Balkenstücke, verrostete Konservenbüchsen, – – von den drei Chinesen war keine Spur zu entdecken.
Aber linker Hand neben der schief in den Angeln hängenden Tür des Turmes, durch die eine lange helle Sandzunge hineingeweht war, befanden sich noch Reste der Treppe, verkohlte Stützbalken, einzelne Stufen, sogar auch Teile des Geländers, während an der Mauer für ganz ängstliche Gemüter noch eine Stahltrosse in Eisenkrampen als zweites Geländer nach oben lief.
Dieser untere Raum – der Turm hatte drei Stockwerke – war mit der oberen Abteilung durch ein Loch in der teilweise zerstörten Zwischendecke verbunden. Und dort irgendwo über uns rührte sich jetzt etwas, Mauerschutt rieselte herab, – – Harsts Taschenlampe erlosch blitzschnell…
Wir standen im Finstern und horchten.
Das quadratische Loch, durch das die Treppe hindurchführte, war durch den Blitzschlag und das folgende Feuer noch weiter geworden, außerdem hatte die Zwischendecke auch so und so viel breite Risse, und wir vernahmen über uns nun auch hastiges Zischeln und Flüstern, dazu kurze harte Schläge, die offenbar dem alten Mauerwerk galten.
Harald zog mich nach der unter Seesand begrabenen alten Tür hin. „Wir müssen hier ein Versteck suchen…“ – sein Mund war dicht an meinem Ohr. „Tritt vorsichtig auf, – – kein Geräusch, prüfe den Boden erst mit der Fußspitze…“
Ich tat es… Er nahm meine Hand, im Finstern tappten wir vorwärts… Wo sollte es hier ein Versteck geben?!
Aber Harst wußte schon, wo wir uns verbergen könnten. Wir gelangten auf den hereingewehten Sandstreifen.
„Schuhe aus! Verwisch die Spuren… Streue Blätter darüber…“
Es war ein mühseliges Geschäft.
Dann wurde die Sandwehe steiler, ich stieß mit der Schulter leicht gegen die schiefe, morsche Tür und mit dem Kopf gegen den Oberrand der Türöffnung. Der Sand rutschte nach, eine Faust packte mich, und ehe ich mich’s versah, hockte ich neben Harald auf einem eisernen Träger oberhalb der Tür unter dem dicken Balkendach des einstigen Türvorbaues.
Der lockere feine Sand rieselte noch immer mit dem bekannten zarten Klingen nach unten und streifte meine nur in Strümpfen steckenden Füße. Ich mußte sie emporziehen, – die Schuhe hatte ich über die Schulter gehängt, das heißt: Das, was so echte Stromerschuhe waren, – – kein Hund hätte sie aufgehoben, um aus Langeweile daran zu kauen!
Mein Freund und Nachbar auf diesem harten, engen Sitz flüsterte mir zufrieden zu: „Siehst du, mein Alter, es hat stets seine Vorteile, wenn man sich vorher genau über die baulichen Eigentümlichkeiten eines alten Schwedenturmes unterrichtet, der auch im Leben des Geheimrates Güllich irgendwie eine Haupt- oder Nebenrolle gespielt haben soll. Unsere Art Arbeit erfordert allergrößte Genauigkeit, – ein Pfuscher, der Kleinigkeiten unbeachtet läßt, bringt es nie zu einem Erfolg. – Bitte, hier sind zwei Risse im Gemäuer… Ich hoffe, wir werden hier hindurchblicken können…“
Er hatte seine Taschenlampe mit der Hand halb abgeblendet und beleuchtete kurze Zeit die Risse.
Das Licht erlosch wieder, und mein Freund rückte mehr zur Seite. Trotz der vollkommenen Finsternis fand ich die Stelle, die mir als Guckloch dienen sollte. Und schon gewahrte ich im Erdgeschoß des Turmes flüchtiges Aufblitzen einer Laterne, bemerkte auch drei flinke Schatten, die ins Freie strebten, – abermals drinnen nur pechschwarze Finsternis, und dann Harsts gedämpfte Stimme:
„Jetzt sind die drei Chinesen auf und davon… Landjäger Sturm hat entweder vorbeigeschossen, oder die Kerle haben Panzerwesten an, möglich ist bei diesen großzügigen Vorbereitungen alles.“
5. Kapitel
In Todesnot.
Mein Nachbar und langjähriger Kriegskamerad gegen die Verbrecherwelt jeglicher Spielart zündete sich jetzt zu meinem Erstaunen in aller Seelenruhe eine Zigarette an.
„Es wird noch einige Zeit vergehen,“ meinte er mit größter Bestimmtheit. „Die drei Chinesen müssen doch erst melden, daß die Arbeit vollendet ist, und dann wird das Festspiel ‚Stromerkongreß‛ seinen Fortgang nehmen. Außerdem, mein Alter, müßte sich eigentlich noch etwas ereignen. – Was wohl?!“
Derartige Examensfragen liebe ich nicht. Zumeist kann ich sie nicht beantworten. Ganz abgesehen davon aber: Theoretische Erörterungen langweilen jeden. –
Ich schwieg also…
Neben mir glimmte das Feuerfünkchen der Zigarette heller auf, ich bekam eine Rauchwolke zu schlucken, und Harst begann mit jener kühlen Sachlichkeit, die trotzdem die Knalleffekte wie Hammerschläge aufeinander folgen läßt:
„Wir haben Zeit. Überschauen wir das Geschehene. Hektor Güllich wird nach ein Uhr tot aufgefunden, seine Stiefmutter, gleichzeitig seine verhaßte Erbschaftsprozeßgegnerin, kommt zu uns. – Wir sehen uns den Tatort an, ebenso Hektors Etage in der Villa, wir hören von seinem ausgedehnten, zweifelhaften Bekanntenkreis. Wir erhalten durch Frau Güllich seltsame Kunde von drei Chinesen, wir haben vorher der Dame drohende Verhaftung verhindert, wir haben ebenso vorher durch Freund Tegthoff noch merkwürdigere Dinge über den Zustrom von Vagabunden hierher – und von einer Reporterin vernommen, die bereits verstorben ist und auf deren Papieren jetzt ihre Freundin Vera Bertty ‚reist‛… – Ich kenne die Bertty nur von Bildern her, meine Schlußfolgerung, daß sie die alte Landstreicherin sei, muß kühn erscheinen, die Köchin sagte mir, ihrer Herrin sein nach München zu einer Filmaufnahme gereist. Mein zweiter Anruf galt einem Lokal, in dem die Edelkomparserie verkehrt. Einer der Herren dort erklärte, Fräulein Bertty sei für keinen Münchner Film verpflichtet. Mithin sprechen fünfundsiebzig Prozent Wahrscheinlichkeit für meine Annahme. – Und nun unsere hiesigen Erlebnisse. Wir entdecken das Stromerlager, das ich übrigens hier in der Nähe vermutet hatte. Ich richtete unseren Marsch durch den Wald so ein, daß wir an den unzugänglichsten Stellen dieser Wildnis vorüberkamen. Was wir sahen, weißt du. Die Bertty war von den Stromern geschnappt worden. Wir suchen den Turm auf, wir werden Zeugen, wie die drei Chinesen, als solide Bürger gekleidet, in den Turm schlüpfen, wie dort drinnen drei Schüsse fallen, wie der Landjäger ins Freie taumelte und wie die Chinesen im Gespensterturm an den Mauern herumhämmern. –Nun sitzen wir beide hier und warten. Worauf? – Ich habe dir, mein Alter, schon xmal stets dasselbe gepredigt: Ein Detektiv ohne Phantasie ist für die Katz! Nur die Einbildungskraft, die das vorhandene Tatsachenmaterial in einen Phantasierahmen hineinzuzwängen weiß und diesem Rahmen wechselnde Formen gibt, falls die Tatsachen eben nicht hineinpassen, kann schließlich den einen Rahmen finden, der ungefähr der richtige sein könnte. Nimm einmal folgendes an: Hektor Güllich und die Bertty waren ein Liebespaar. Zumindest standen sie einander freundschaftlich sehr nahe, wenn sie dies auch in der Öffentlichkeit geheim hielten. Die Bertty mag nun genau wie ich gewußt haben, daß das moderne Vagabundentum in Berlin eine ‚Hauptgeschäftsstelle‛ besitzt, die von jener Sorte von Intellektuellen geleitet wird, deren kokainverseuchte Kadaver und Hirne so ziemlich alles treiben, was man ‚gesellschaftliches Außenseiterstreben‛ nennen könnte. Diese edlen Herren tagen in einer Bar im Westen Berlins, die sehr poetisch ‚Maulwurf‛ heißt. Der Kriminalpolizei erscheinen diese Leutchen als harmlose Dekadente mit so und so viel Komplexen, obwohl die Gefährlichkeit dieser ‚Hauptgeschäftsstelle‛ nicht unbedeutend sein dürfte. Der im ‚Maulwurf‛ tagende Klub dieser führenden ‚Geister‛ nennt sich – höre und staune! – … nennt sich ‚Die Köpfe‛. – Du hast einen Kopf, ich habe einen, der Geheimrats Güllich hatte einen, so und so viele feudale Leute tragen ebenfalls Köpfe zwischen den Schultern. Es kommt nur darauf an, was drinnen ist, – entweder verkalkte Holzwolle – gesundes oder vergiftetes Hirn. – Kurz und gut, von diesen ‚Köpfen‛ aus der Maulwurfbar verkehrten fast alle bei Hektor Güllich. Ich rief mittags auch noch den Redakteur Tromissen, einen nur leicht geistig angeknaxten, sonst anständigen Kerl an und horchte ihn aus. Tromissen nannte mir als den Oberkopf der ‚Köpfe‛, ich möchte sagen als den Wasserkopf, einen gewissen Siegfried Berancy, einen gebürtigen Ungar, seines Zeichens ‚freier Schriftsteller‛. Wovon der Bursche lebt, weiß niemand. Aber er lebt gut, ist stets tadellos angezogen, und Tromissen führte ihn vor Monaten bei Hektor ein, worauf – gib acht! – der Ungar auch die anderen ‚Köpfe‛ bei Güllich einschmuggelte, bis schließlich die Herrenabende Hektors mehr fragwürdige als ehrbare Elemente aufwiesen. –Nach dieser Vorrede, mein Alter, kann ich mich kürzer fassen. Ich behaupte, daß in diesem Turm das echte Testament des Geheimrats versteckt liegt, daß Vera Bertty dies weiß, daß sie die Urkunde bergen will, daß sie ferner davon unterrichtet war, daß Siegfried Berancy durch seine Stromer das Testament hier suchen lassen will, daß also er selbst und die ‚Köpfe‛ ein Interesse daran haben, das Testament in ihre Hände zu bekommen, nachdem sie selbst schon umsonst den Turm danach durchforscht haben. – Die augenblickliche Sachlage ist folgende, und hiermit komme ich auf die an dich gerichtete Frage zurück: Was müßte sich noch ereignen, oder, wie ich nun fürchte, schon ereignet haben? Bedenke, Landjäger Sturm ist zweifellos, nachdem ihm die Bertty hier im oder am Turm entschlüpft war, – er sollte sie ja beobachten! – verkleidet zurückgekehrt. Als die drei Chinesen eindringen, greifen sie ihn an, er schießt vorbei, sie schlagen ihn nieder und glauben, er hätte vorläufig genug. Aber seine Hühnennatur hilft ihm, er kommt zu sich, taumelt ins Freie … wir schicken Fred zu ihm. Vorhin schlüpfen die Chinesen aus dem Turm. Was werden sie tun? Den niedergeschlagenen Sturm verfolgen, der verschwunden ist!! Er darf ihnen nicht entkommen! Und deshalb, mein Alter, fürchte ich sowohl für Sturm wie für Fred weit ärgeres als für Vera Bertty, die hier sehr bald erscheinen wird, da sie aus dem Stromerlager entfliehen soll…“
„Soll?! – Das ist mir nicht recht klar,“ wagte ich kopfschüttelnd zu murmeln.
„Natürlich – – soll!! Was glaubst du, taten die Chinesen oben im Turm? Sie hämmerten, klopften. – Suchten sie das Testament? – Nein! – Also?“
Er schwieg … hatte seine Zigarette soeben ausgedrückt.
Der Seewind stieß mit fauchenden Stößen unter das zertrümmerte Schutzdach der Tür und hatte jede Gefahr, daß der Zigarettenrauch in den Turm dringen könnte, von vornherein beseitigt.
„Achtung!!“
Sofort hatte ich das Auge an dem Mauerriß.
Ein sehr dünner Lichtstrahl blitzte auf, hinter dem eine kaum erkennbare schmächtige Gestalt erschien, – sie blieb stehen, horchte, leuchtete den Boden ab und stützte sich mit der seitlich vorgestreckten Hand gegen die Mauer. Es war Vera Bertty, Sie war erschöpft, überanstrengt und völlig außer Atem, sie wirkte geradezu grotesk in ihrem Vagabundenkostüm, zumal sie unterwegs auf der Flucht Kopftuch und graue Zottelperücke verloren hatte und mit ihrem echten, blonden, zerzausten Bubikopf und ohne Brille die pikante Schönheit ahnen ließ, die sich unter Schminke und Lumpen verbarg.
Trotzdem mußte sie über ein ungewöhnliches Maß Energie verfügen, denn sie verweilte nicht lange am selben Fleck, schritt nun den Resten der Treppe zu, und obwohl doch die meisten Stufen fehlten und die Treppe halb verkohlt war, schmiegte sie sich dicht an die Mauer, packte das als zweites Geländer an der Wand befestigte Stahltau, flog nun geschmeidig von Stufe zu Stufe und entschwand unseren Blicken.
Harst flüsterte nur: „Das ging zu rasch! Hinab mit uns, – schnell, ihr nach!“, – er sprang, fiel in die Sandwehe, ich folgte ihm, der Sand rieselte nach, und beim Schein seiner Taschenlampe hetzten wir durch den Turm ebenfalls auf die Treppe zu, klommen empor, kamen in den zweiten Stock, und – – um uns her prasselte eine Unmenge Balken, verkohltes Holz und Laub in Sandfontänen herab, – – ein Wunder, daß wir nicht getroffen wurden.
Hoch über uns aber, genau über dem quadratischen Ausschnitt der Zwischendecke, hing an einem morschen Tau, das nur noch durch einen Mauerhaken gehalten wurde Vera Bertty dicht an der Mauer und starrte blinzelnd herab in den grellen Lichtkegel.
Sie mußte uns für Kerle aus dem Stromerlager halten, rief uns halblaut nur verächtlich zu:
„Mörder!! Ihr habt die Treppe zersägt, ich sollte abstürzen! Mörder! Aber – es gibt eine Vergeltung!“
Ich sah, daß der Haken in der Wand sich immer mehr lockerte…
Ich sah noch mehr…
Diese drei Schurken hatten vorhin über und neben dem Treppenloch der Zwischendecke alles, was sie an spitzen, verkohlten Balken noch hatten finden können, wie drohende Speere aufgerichtet…
Welch ungeheure Brutalität! Ein kaltblütiger Mordplan!
Doch die in mir aufflammende Empörung fand schnelle Ablenkung durch Harsts gedämpfte Antwort:
„Fräulein Bertty, – – lassen Sie sich herabfallen, ich fange Sie auf! – Schraut, weg mit den spitzen Balkenstücken!“
Aber es war bereits zu spät.
Der Eisenhaken löste sich aus der Wand, Harst warf diese niederträchtigen Palisaden um, das junge Mädchen schoß abwärts. Harst bekam sie glücklich zu fassen, der Anprall riß ihn nieder, und beide rollten über die Treppe in das unterste Stockwerk hinab, ohne ernstere Verletzungen davonzutragen.
Ich hob Haralds Taschenlampe auf, er trug Vera Bertty, eiligst bahnten wir uns einen Weg ins Freie, liefen dann dem Meer zu, kamen an der Stelle vorüber, wo eigentlich unser Fred den strammen Landjäger hätte betreuen müssen. Doch der Platz war leer, wir suchten eine andere Vertiefung zwischen hohem Strandhafer. Hier legte Harst die völlig gefaßte Filmschauspielerin in den Sand und tupfte ihr den dünnen Blutfaden von der Stirn. Die Verletzung war unerheblich.
Die Bertty beobachtete uns mit großen forschenden Augen.
„Sind Sie etwa Kriminalbeamte?“ fragte sie unsicher.
„Nein, Fräulein Bertty. Aber etwas ähnliches. Mein Name ist Harst.“
Sie fuhr empor. Helles Entsetzen ließ ihre Züge erstarren.
„Harst?! Harald Harst‥?! Wie … wie kommen Sie hierher?!“
„Oh, dasselbe möchte ich Sie fragen… Waren Sie Hektor Güllichs Braut?“
Er drückte sich vorsichtig aus…
„Ja!“ erwiderte sie ohne Zögern.
„Schade, daß es nicht wahr ist,“ meinte Harald belustigt und doch mitfühlend.
… Eine sehr scharfe Stimme hinter uns:
„Hände hoch, Kanaillen!! Hier Polizei!“
Harst wandte den Kopf. „Pech, lieber Tegthoff, Sie müssen schon auf andere Vöglein Ihr Schießeisen richten! Drei harmlosere Sterbliche als Fräulein Bertty und uns beide gibt es weit und breit nicht.“
Inspektor Tegthoff lachte herzlich.
„Na, – weit und breit nicht, Harst?! Und ich und die beiden Landjäger?! Sind wir Raubmörder?!“
„Nein, – aber sehr oft taucht die hohe Behörde sehr zur Unzeit auf. Wie hier… – Haben Sie etwa das Stromerlager ausgehoben, hat etwa unser Fred dies mit veranlaßt?“
Fritz Tegthoff bejahte stolz…
„Allerdings waren wir der Bande ohnedies auf den Fersen.“
„Haben Sie die beiden alten Fischer mit verhaftet?“
„Fischer? Wo? – Nein, in dem Dickicht steckten nur zweiundachtzig Kerle, die alle Geld, Papiere und … vielleicht Läuse hatten, – – Verzeihung, Läuse klingt schlecht, sagen wir Flöhe?“
„Waren Exoten darunter?“
„Wenn Sie einen Zigeuner und einen Wasserpollacken zu den Exoten rechnen, dann ja… Aber Sie können sich die Banditen im Spritzenhaus von Gusthafen nachher ansehen… – Fräulein Römer, Alice Römer, nicht wahr? Wir lernten uns bereits kennen…“
„Ja, heute früh,“ sagte Vera Bertty schnell. „Ich habe nun diesen Auftrag satt und werde nach Berlin zurückkehren. Ich fiel vorhin über eine Baumwurzel, – die Schramme tut mir nichts. Wenn die Herren mich nur bis in die Nähe des Verstecks meines Autos begleiten wollten, das jenseits von Gusthafen in einer abgelegenen alten Scheune steht…“
Das sichere, bestimmte Auftreten des jungen Weibes schien Tegthoff zu gefallen, und da Vera sich außerdem die Schminke weggewischt und ihr Haar etwas geordnet hatte, war es verständlich, daß Fritz Tegthoff nicht von ihrer Seite wich und keinerlei Argwohn schöpfte. Für ihn war sie eine reizende, gesprächige Reporterin.
Für uns?! Für Harst?!
Dieser verflixte Harst entschuldigte sich, – er habe seine Armbanduhr verloren, kehrte um, und erst nach einer halben Stunde war er wieder bei uns.
„Du warst im Turm?“ raunte ich ihm zu.
Antwort?
Die konnte ich mir aus den Sternen heraussuchen.
6. Kapitel
Herrn Buths Alibi.
Am nächsten Tag gegen sieben Uhr abends saßen in der Arnoldstraße, Berlin W, in einem bescheidenen villenartigen Häuschen während eines schweren Gewitters vier Männer um den Sofatisch des großen, büroartigen Vorderzimmers und hatten jeder eine Abendzeitung in den Händen. Der Raum war voller Zigarren- und Zigarettenrauch, und der gegen die Fenster prasselnde Hagel gab die lärmende Begleitmusik zu den kernigen Bemerkungen ab, die der jüngste der vier übertemperamentvoll in die allgemeine Lesewut wie künstliche Blitze hineinwarf.
Das Abendblatt, das ich gerade erwischt hatte, schrieb über die Vorgänge bei Gusthafen folgendes:
… Die übereifrige Polizei hat sich in jedem Fall mit der Aushebung dieses Vagabundenkongresses wieder einmal unsterblich blamiert. Es lag auch nicht der allergeringste Grund vor, diese bedauernswerten Ritter der Landstraße, die nun endlich über eine straffe Organisation verfügen, wie Verbrecher in ein Spritzenhaus einzusperren. Der Kriminalinspektor Tegthoff aus der Hafenstadt Braunemünde hätte seinen Schneid besser bei anderer Gelegenheit bewiesen.
Denn – was kam bei der ganzen Aktion heraus? –
Nichts!! –
Aus den beschlagnahmten Akten ging hervor, daß die ‚Pennerschaften Brandenburg-Pommern‛ tatsächlich nur eine Tagung über ‚Standesfragen‛ hatten abhalten wollen. Jeder der Verhafteten war aus der Bundeskasse genügend mit Zehrgeld versehen worden, und der erste Bundesvorstand, Schriftsteller Siegfried Berancy, der erst morgens nach den Festnahmen im Flugzeug dort eintraf, setzte es durch, daß die Leute sämtlich wieder freigelassen werden mußten. Er wird sich nebst den anderen Bundesleitern lediglich wegen Gründung eines polizeilich nicht angemeldeten Vereins zu verantworten haben.
Unter den Verhafteten befand sich übrigens nicht ein einziger, der irgendwie von der Polizei wegen noch nicht gesühnter Straftaten gesucht wurde. Wenn überhaupt etwas ‚Geheimnisvolles‛ bei diesem Kongreß der Penner zu vermerken wäre, dann war das: Zwei der Stromer sind entkommen, sie trugen Fischertracht, aber man nimmt an, daß es sich lediglich um Delegierte anderer Pennerschaften gehandelt hat. –
Der Überfall auf den Landjäger Sturm im sogenannten Gespensterturm bei Gusthafen steht zu diesen Dingen in keinerlei Beziehung, und die drei gutgekleideten Herren, die Sturm niederschlugen, dürften Badegäste aus der Nähe gewesen sein, die sich als ‚Schatzgräber‛ versuchen wollten. Die Gerüchte, daß die Turmruine einen alten Kriegsschatz aus der Schwedenzeit berge, sind natürlich genau so unsinnig wie das Märchen von den drei ‚spukenden‛, seiner Zeit im Turm tödlich verunglückten Zimmerleute.
So schrieb das Blatt, das ich gerade las.
Jede Zeitung beleuchtete die Vorgänge natürlich anders, je nach ihrer politischen Einstellung. Die eine forderte schärferes Vorgehen gegen diesen ‚Pennerbund‛, der eine Gefahr für den anständigen Bürger darstelle, – eine dritte Zeitung berichtete nur die nackten Tatsachen und brachte dicht unter dieser Notiz zwei andere, die sich mit der Tagung der Vertreter der Regimentsvereine und dem Kongreß deutscher Briefmarkensammler beschäftigten – – was etwas erheiternd, wenn nicht geschmacklos wirkte.
Unser Fred äußerte nur: „Netter Spießbürgerrummel!!“ –
Worauf sich das bezog, war nicht klar ersichtlich.
Und doch hatten all diese Berichte eins gemeinsam: Weder ‚drei Chinesen‛, noch Vera Bertty, noch wir drei, Harst, Fred Steen und ich waren irgendwie erwähnt worden. Die Regie Harsts hatte eben tadellos geklappt, auch in dem einen Punkt, daß er Fräulein Bertty überzeugt hatte, sie täte besser, vorerst unsichtbar zu bleiben. –
Ein Eingeweihter hätte allerdings nur in unserem Heim eine Treppe höher zu steigen brauchen, und er würde die junge Frau droben als Gast in meinem Zimmer gefunden haben.
Wie auf Kommando legten wir nun die Zeitungen beiseite, und Fritz Tegthoff, der vierte im Bunde, fragte Harst merklich gereizt: „Wollen Sie nun nicht endlich Ihre Karten aufdecken?! Ich bin Ihren vielfachen, mir unverständlichen Wünschen aufs genaueste nachgekommen. – Aber – – ich spiele nicht länger blinde Kuh!“
Harald, der soeben eine frische Zigarette angezündet hatte, erwiderte nur: „Warten Sie doch ab… Vorhin rief ich Frau Eleonore Güllich an, – wir hätten die Erholungsreise des schlechten Wetters wegen verschoben. Frau Güllich, von Spionen umgeben, wird vielleicht nicht als einzige sehr bald hier erscheinen. Diese Besuche werde sich sehr interessant gestalten…“
Tegthoff, dieser famose, sympathische Mensch, der für Vera Bertty, die er nun nicht mehr für Alice Römer hielt, sehr viel übrig hatte, war mit dieser Antwort keineswegs zufrieden.
„Harst, hängt denn dieser Stromerkongreß irgendwie mit Hektor Güllichs Selbstmord zusammen?“ fragte er nun kurz.
„Ja. Sogar ganz eng.“
„Das verstehe ich nicht.“
Er konnte sich trösten: Fred und ich verstanden das erst recht nicht.
Im Flur läutete es scharf. Wir schreckten zusammen. Harald meinte kühl: „Nummer eins! Vielleicht Herr Kriminalkommissar Buth, der auf dem Aussterbeetat steht, den man aber nicht so leicht fassen kann… – Fred, öffnen Sie!“
Der kleine, untersetzte Buth mit dem Bulldoggengesicht, dem vorbildlichen Sherlock Holmes-Benehmen und dem noch vorbildlicheren undurchdringlichen Gesichtsausdruck nahm als Fünfter am Tisch Platz.
Harald zeigte eine geradezu bedenkliche Liebenswürdigkeit. „Womit kann ich dienen, Herr Buth? Bei dem Wetter kann Sie nur etwas äußerst Wichtiges hergeführt haben. Sie werden bei uns jede Unterstützung finden… – Also bitte.“
Erwin Buth starrte Harst so etwa wie eine Schlange an, – wie ein Reptil, das die Beute hypnotisieren möchte.
„Herr Harst,“ seine Stimme sollte ehern wie eine Damaszenerklinge tönen. „Sie haben die Gummischnur gekauft, an der die Waffe in der Buche hing‥! Sie haben das Ende Gummischnur nicht bei Hektor Güllich gefunden, sondern den Fund vorgetäuscht. Von Selbstmord ist keine Rede. Sie kauften sie bei der Firma Pech, hier ganz in der Nähe.“
Uns, Fred und mir, war das neu. Tegthoff erst recht.
„Stimmt,“ nickte Harald. „Ihre Erkundigungen sind vielsagend, Herr Buth. Mord soll Mord bleiben. Haben Sie etwa wieder solch ein amtliches Stück Papier in der Hand, um die Frau Geheimrat zu verhaften?“
Das war nicht mehr der allzeit nach Möglichkeit höfliche Harst, sondern ein gefährlicher Angreifer ohne Maske.
Herr Erwin Buth, der Mann mit dem Damoklesschwert des Disziplinarverfahrens über sich, verlor die Nerven, wurde erst blaurot, dann wachsgelb und sprudelte zischend hervor: „Ich habe Befehl, Sie zu verhören und, falls Ihre Antworten mir nicht genügen, zu ernsteren Maßnahmen zu greifen. Diese Maßnahmen…“ – aber er kam nicht weiter, Harst winkte energisch besänftigend ab.
„Wann kaufte ich die Gummischnur?“ fragte er unangenehm sarkastisch. „Nun – wann? Vor dem … Mord?!“
„Das … das ließ sich nicht mehr feststellen…“
„So?! – Bitte, hier ist der Kassenzettel… Ich tätigte den Einkauf,“ erklärte er in ganz gespreizter Ausdrucksweise, „genau an 27. Juni nachmittags kurz vor sieben Uhr, also nach dem ersten Besuch des Parkes und der Wohnung Hektor Güllichs.
Damals – zwei Stunden vorher hing die Pistole bereits in der Baumkrone, wie ich beschwören kann. Meine Gummischnur diente nur Versuchen ähnlicher Art in meinem Garten draußen und hängt noch von diesen Versuchen her in der Krone der großen Kastanie. Mit diesem Belastungsmaterial gegen meine Person, das etwa auf unzulässige Machenschaften zu Gunsten Frau Güllichs hindeuten könnte, ist es also nichts. Aber ein Belastungsmaterial bleibt es, es fragt sich nur, gegen wen. – Fahren Sie in Ihrem … Verhör fort. Wahrscheinlich hat ein gut arbeitendes Spionagesystem noch mehr ‚Material‛ entdeckt.“
Armer Teufel von Buth! Er tat mir fast leid. Wie viele haben sich schon an dem Granitklotz Harst die falschen Zähne ausgebissen! –
Buths Schlangenblicke waren zu Dolchen geworden. Er keuchte vor Grimm, aber er kam gar nicht zu Wort, denn Harald fügte schon hinzu: „Ich weiß, was Sie jetzt fragen werden‥: Wo waren Sie gestern von zwei Uhr nachmittags bis heute Vormittag elf Uhr? – Nicht wahr?!“
Erwin Buth, der Beamte auf der ‚Totenliste‛, der wohl das drohende Verhängnis durch besondere ‚Leistungen‛ von sich noch abwenden wollte, rief heiser, – es klang nicht schön, wirklich nicht: „Ich möchte zuerst einmal wissen, wer der Herr Müller dort ist…“
Er zeigte auf Fritz Tegthoff, den wir äußerst vorsichtig nach Berlin hineingeschmuggelt hatten.
Harst lachte geradezu aufreizend lustig. „Wie, Sie kennen diesen Müller nicht?! Aber Herr Buth, haben Sie ein so miserables Gedächtnis?! Sie sind diesem Müller, der sehr gern üble Wichte zwischen die Mühlsteine nimmt, doch erst gestern begegnet – gestern nacht, wenn auch nur flüchtig…“
Buth verfärbte sich jetzt in so grauenvoller Weise, daß ich wirklich fürchtete, er wurde einem Herzschlag erliegen. Sein Gesicht war nur mehr eine entstellte Fratze, und die vorgequollen Augen ließen nichts als eine Angst erkennen, für deren Maß weder der Ausdruck ‚Entsetzen‛ noch sonst etwas hinreichte.
Aber Harst war erbarmungslos. Seine Züge waren völlig beherrscht, vielleicht drückten sie nur eine gewisse Spannung aus.
Buth gab sich verzweifeltste Mühe, seiner selbst wieder Herr zu werden.
„Gestern nacht‥?!“ quälte er hervor.
Wie miserabel heuchelte er ein Erstaunen, das doch nur Angst und immer wieder Angst war.
„Gestern nacht … habe ich … die Villa Güllich beobachtet,“ erklärte er festeren Tones. „Ich wüßte nicht, daß mir dieser Herr dabei in den Weg gelaufen wäre…“
„Beobachtet? Allein?“
Buth schrak unter dem messerscharfen Ton dieser Frage erneut zusammen.
„Ja … ja, natürlich, – – allein… Das heißt, ich habe einen Zeugen, Herr Harst, eine Zeugin… Um zwei Uhr morgens wollte Frau Güllich heimlich die Villa verlassen… Ich hielt sie an. Sie hatte einen kleinen Koffer bei sich, und…“
„Gut, fragen wir die Dame. – Wo wollte sie denn hin? Was sagte sie Ihnen?“
„Eigentlich gar nichts. Sie war zu verstört, als sie merkte, daß ihr Haus umstellt und ihre Flucht unmöglich war.“
„Verzeihung, – – umstellt?! Sie waren doch allein da, Herr Buth?! Oder hatten sie ihren Intimus Siegfried Berancy mitgenommen?“
„Be… Berancy?!“ Dem armen Opfer dieser seltsamen Art von Streckfolter war der Unterkiefer herabgesunken. „Be… Berancy ist nicht mein Freund. Ich kenne ihn nur ganz oberflächlich durch die Herrenabende bei Hektor Güllich, – eine Zufallsbekanntschaft.“
„Mag sein…. Also der erste Vorstand der Pennerschaften war nicht zur Stelle, Sie waren allein, – ich werde die Geheimrätin anrufen…“
Harald ging bereits zum Schreibtisch und hob den Hörer ab.
Als ob Herr Erwin Buth durch diese einfache Handbewegung Harsts mit einem Schlage aus einem zuckenden Nervenbündel wieder ein durchaus normaler Mensch geworden war: Er lehnte sich zurück, beobachtete meinen Freund mit völligem Gleichmut und nahm eine recht selbstbewußte Haltung an.
Da geschah etwas sehr Merkwürdiges: Harst sprach höflich entschuldigend in die Muschel hinein…
„Fräulein, ich danke Ihnen… Ich werde die Person, die ich anrufen wollte, besser unter vier Augen befragen…“
Und er legte den Hörer auf die Gabel zurück, blickte den geisterbleichen Kriminalkommissar flüchtig an und meinte: „Sie wechseln sehr oft die Farbe, Herr Buth. – Wollen wir sofort aufbrechen… Fred, besorgen Sie zwei Autotaxen…“
7. Kapitel
Der tödliche Anruf.
Während der Fahrt – Buth saß ganz still neben Harst, der mit Hilfe seiner Taschenlampe Zeitung las – hatte ich Zeit genug, diese neuen Geschehnisse prüfend nochmals zu überschauen. Der Fall Güllich blieb völlig undurchsichtig. Nur eins war nun wohl geklärt: Auch Buth hatte genau wie Berancy seine unsauberen Finger irgendwie mit in diesem verworrenen Spiel, bei dem es bestimmt um das große Vermögen des verstorbenen Geheimrates, das mehrere Millionen betrug, ging. Der Gespensterturm bei Gusthafen mußte als Versteck des echten Testaments gedient haben. Vera Bertty hatte davon gewußt, sie hatte ermordet werden sollen, alles weitere blieb in Dunkel gehüllt.
Als die beiden Taxen vor der Villa hielten, entstieg der zweiten lediglich ‚Herr Müller‛, mit wahrem Namen Fritz Tegthoff. Fred Steen schien unterwegs verloren gegangen zu sein.
„Wo ist Herr Steen?“ fragte Buth sofort und blickte Harald mißtrauisch an.
„Ausgestiegen, auf meinen Befehl… Und dieser Befehl umfaßte noch andere Dinge, Herr Buth. Genau so, wie Sie Herrn Müller sehr gut mit richtigen Namen kennen, wissen Sie, daß wir daheim einen Gast beherbergen, dessen Leben schwer bedroht ist. Dieser Gast ist jetzt durch Steen dorthin gebracht worden, wo ihm nichts zustoßen kann.“
Es grollte und blitzte noch immer. Der Regen fiel nur dünnen. Aber die Schweißbäche, die über Buths Gesicht rannen, redeten eine sehr eindeutige Sprache.
Frau Eleonore Güllich empfing uns wieder in der Bibliothek, wo sie gelesen zu haben schien. Auf dem Tisch der Klubecke lag ein aufgeschlagenes Buch. Die noch immer schöne Frau sah krank und verfallen aus. Ihre Selbstsicherheit war wie weggetilgt, – nervös und fahrig bat sie uns, Platz zu nehmen und hörte kaum hin, als Harst ihr den netten, straffen Tegthoff mit richtigem Namen vorstellte.
„Sie sind mir willkommen,“ sagte sie zerstreut und wich Tegthoffs ruhigem Blick ängstlich aus.
Neben dem aufgeschlagenen Buch und einer Zigarettenschale, einem Aschbecher und einem Rauchverzehrer stand auf dem Ecktisch noch ein Telephonapparat.
Niemals, und sollte ich hundert Jahre alt werden, kann ich die Vorgänge vergessen, die sich nun hier in diesem großen Raum mit seinen hohen Bücherregalen abspielten.
Harst, der seinen Sessel mehr in den Schatten gerückt hatte, begann ohne jede Einleitung zu sprechen, – sehr klar, sehr kühl, sehr überlegt.
„Gnädige Frau, Herr Kommissar Buth sitzt hier – nicht mehr als Amtsperson. Er ist bis auf weiteres vom Dienst enthoben. Meinen Freunden ist dies neu, doch das Polizeipräsidium steht mit mir dauernd in Verbindung. Bitte, Herr Buth, hier haben Sie es schriftlich… Sie sind hier nichts als Privatmann, und … Angeschuldigter. – Ihr Maß ist voll…“
Erwin Buth las die Verfügung mit schlotternden Händen.
Ein Blick traf Harst, der töten sollte… Aber der ohnmächtige Haß war nichts als Furcht.
Der dienstenthobene Kommissar legte das Papier auf den Tisch.
Frau Güllich hielt die Hände im Schoß gefaltet und starrte Buth aus unnatürlich großen Augen dauernd an…
Die Fenstervorhänge waren dicht geschlossen, es brannten hier in der Bibliothek nur zwei Wandleuchter über dem Klubsofa.
„Gnädige Frau, nachdem der Kommissar Buth ausgeschaltet ist,“ begann Harst von neuem, „möchte ich Sie fragen: Sie wollten in der verflossenen Nacht gegen zwei Uhr morgens die Villa heimlich verlassen und wurden durch ihn daran gehindert?“
„Ja… Ich … ich wollte … verreisen, irgendwohin, nicht fliehen… Nur, mir graute vor diesem Haus.“
„Verständlich…“ nickte Harst. „Lieber Tegthoff, notieren Sie Frau Güllichs Antworten… – Was sagte Buth da zu Ihnen, gnädige Frau?“
„Er … er befahl mir, in meiner Wohnung zu bleiben… Er war sehr zynisch und … grob.“
„Hatten Sie Ihr Personal beurlaubt, gnädige Frau?“
„Ja… Das mußte ich wohl tun…“
Das Haus war also leer – bis auf Sie… Der Pförtner wohnt ja an der Parkmauer im eigenen Häuschen, und Hunde sind nicht vorhanden.“
„Das ist alles richtig…“
„Notieren Sie auch das, Tegthoff… – Sie sind auch jetzt noch allein im Haus, besser hier in Ihrer Etage, gnädige Frau. Der Pförtner versieht Dienerpflichten. – Wo liegt Ihr Schlafzimmer?“
„Drüben, – – das Erkerzimmer…“
„Also ganz weit ab von hier. Mithin konnten Einbrecher hier in der Bibliothek recht ungestört arbeiten.“ Harst musterte den armseligen Buth, der halbtot in seiner Sofaecke zusammengesunken war.
Mein Freund lächelte fein… „Ihre Nerven sind miserabel, Herr Buth… Sie verraten sich. – Gnädige Frau, dieser Raum hier, der bereits durch das Wandschränkchen neben dem Kamin, in dem die Pistole gefunden wurde, eine sehr zweifelhafte Rolle spielt, dient Ihnen für gewöhnlich doch kaum als Wohnzimmer… – Weshalb sitzen Sie heute gerade hier und lesen?! Sie sagten mir, der Raum sei Ihnen verhaßt, – – Sie besinnen sich…“
Das geisterbleiche Gesicht der Geheimrätin mit den dunklen Schatten um die Augen überflog eine heiße Blutwelle. Sie zögerte mit der Antwort, sie duckte sich wie unter körperlichen Schmerzen, man hätte fast sagen können, sie krümmte sich zusammen…
„Ich … ich erhielt einen Brief!“ stieß sie hervor…
„Haben Sie ihn noch?“
„Ja… Hier…!“
Es war ein getipptes Schreiben ohne Ortsangabe und Unterschrift. und lautete:
Wenn Sie die Wahrheit über den Tod Ihres Stiefsohnes erfahren wollen, bleiben Sie heute abend von acht bis neun in der Bibliothek in der Klubecke neben dem Fenster und halten Sie ein Telephon bereit. Ein Anschluß zum Stöpseln befindet sich ja neben dem Sofa. Gehorchen Sie unbedingt. Ihre Sicherheit ist gefährdet.
Harald hatte dies laut vorgelesen.
„Herr Buth, sind Sie der Verfasser dieses Schreibens? – Antwort!!“
Messerscharf klang die Frage…
„Wie käme ich dazu, derart unsinnige…“ – aber Erwin Buth brach jäh ab.
Harsts Taschenlampe war aufgeblitzt… Der grelle Lichtkreis beleuchtete die kleine Schaltdose, in die die Telephonschnur gestöpselt war.
„Saubere Arbeit!! Die Tapete ist geschickt abgelöst und noch geschickter wieder überklebt worden…“
Und sich wendend: „Haben Sie Mäuse in den Kellern, gnädige Frau?“
„Zu viel!“
„Sind Fallen aufgestellt?“
„Ja, ein Dutzend…“
„Schraut, sieh zu, ob du eine Falle mit lebenden Mäusen findest…“
Aber es sollte nicht dazu kommen, daß ich in den Keller hinab mußte. Plötzlich kam hinter einen der Schränke eine große gelbe Katze mit kläglichem Miauen hervor.
„Wem gehört sie?“ fragte Harst schnell.
„Dem Pförtner, – das heißt, eigentlich gehört sie zum Haus…“
„Tegthoff, lassen Sie jetzt die Schreiberei… Holen Sie Ihre Dienstwaffe hervor… Sobald Buth nur die geringste verdächtige Bewegung macht, schießen Sie.“
Er hatte die Katze ergriffen, schnitt ein Stück Vorhangschnur ab und bat Frau Güllich, ihren Platz zu räumen. Er band die Katze dann in derselben Sofaecke fest und öffnete die Fenster, rief uns zur Tür des Nebenzimmers und verschwand, nachdem er auch den Kronleuchter eingeschaltet hatte.
Buth, den Tegthoff dauernd scharf überwachte, sank auf einen Stuhl neben der Tür. Frau Güllich stierte den Unglücklichen wie eine finstere Schreckgestalt an… Was eigentlich aus ihren Blicken herauszulesen war, blieb mir unklar.
Es war jedenfalls eine so unglaublich mit Gewitterluft überladene Stimmung, die auf uns lastete, daß mir das plötzliche Schrillen des Telephons auf dem Ecktisch wir ein Signal zur Entspannung erschien.
Der Apparat schnurrte dreimal…
Buth wandte sich wie in Krämpfen…
Die gelbe Katze hatte ihre Versuche, sich zu befreien, aufgegeben.
Mit einem Mal stand Harst neben uns.
„Achtung – – die Katze!!“
Das Tier, das soeben noch aufrecht gesessen hatte, schwankte und fiel plötzlich um, strampelte etwas mit den Beinen und lag still.
„Tot!“ sagte Harald ganz laut. „Und der Tod, Frau Güllich, war Ihnen zugedacht!!“
Er riß dem halb ohnmächtigen Buth ins Nebenzimmer, winkte uns und schlug die Verbindungstür zu.
Wir standen in des Geheimrats Herrenzimmer… Harst führte die taumelnde Frau Güllich zu einem Sessel, während Tegthoff dem armseligen Wicht von ‚Kollegen‛ Handschellen anlegte.
Dann ging die Flurtür auf.
Meines Freundes Regie klappte.
Fünf Herren traten ein, voran ein sehr bekannter Kriminalrat.
„Der Mordversuch ist erwiesen, Herr Rat,“ sagte Harst zu dem Beamten. „Wir müssen noch einige Zeit warten, bis die Zugluft das Giftgas aus der Bibliothek verweht hat. Wir werden dann unter dem Sofa eine Vorrichtung finden, die durch einen elektrischen Auslöser das Gas ausströmen ließ. Hätte ich von meinem Heim aus Frau Güllich angerufen, dann wäre ich unbewußt zu ihrem Mörder geworden. – Die Vorrichtung reagierte eben auf ‚Anruf‛ und damit verbundenem Stromfluß. Wenn Buth es bei mir zu Hause nicht so offensichtlich darauf angelegt hätte, daß ich Frau Güllich anriefe, wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, daß derartiges geplant sei. Buth hat sich selbst verraten. Den letzten Beweis lieferte mir die Tapete unter dem Steckkontakt.“
Aus dem Sessel der Geheimrätin ertönte ein unheimlicher gurgelnder Schrei. Die Frau war ohnmächtig geworden.
Nachdem Buth abgeführt worden war, wurde Frau Güllich in ihr Schlafzimmer getragen. Zwei Frauen, Beamtinnen der Polizei, übernahmen die Pflege.
Die Katze war tot. In den Sprungfedern des Sofas fand sich eine technisch vollkommene Einrichtung, die unbedingt die Geheimrätin getötet hätte.
Harst erklärte dann nur noch: „Die Verbündeten Buths wagten es nicht, Frau Güllich auf andere Art zu beseitigen oder gar selbst anzurufen, da sie sich überwacht fühlten.“
„Und wie überwacht, lieber Harst!“ meinte der Kriminalrat grimmig und drohend. „Nicht einer der Herren des Vorstandes der Pennerschaft entkommt uns, nicht einer!! Soll ich zupacken?“
„Ja. Lassen Sie sie verhaften, sie sind reif. Der Kampf um die Güllich-Millionen nähert sich dem Schlußakt…“
8. Kapitel
Eine unbegreifliche Flucht.
Inzwischen war es elf Uhr geworden, das Gewitter hatte sich verzogen, und in derselben Bibliothek, die vorhin nur uns als engste Beteiligte beherbergt hatte, saßen nun auch zwei höhere Beamte und drei äußerlich sehr elegante Herren, die leider Handschellen trugen. Diese drei waren der ‚Schriftsteller‛ Siegfried Berancy, ein Mann mit einem recht fesselnden Gesicht, ferner der Redakteur Alfred Stahl, ein ähnlicher Typ, und der Bildhauer Milo Milowitsch, ein düsterer, haßzerfressener Fanatiker, alles Stammgäste der berüchtigten ‚Maulwurf-Bar‛. Nebenher hatte die Polizei noch ein Dutzend ähnlicher Helden geschnappt, auf die es jedoch weniger ankam.
Die drei Verhafteten saßen mit höhnisch-frechen Gesichtern da, besonders Berancy spielte den Unschuldsengel mit all den kleinen Mätzchen, hinter denen doch nur stets die jämmerlichste Angst lauert. Die ‚Herren‛ wußten nichts von Buths Verhaftung, nichts von der toten Katze. Die Bibliothek und die Klubecke sahen genau so aus wie vor Stunden, als wir sie betreten hatten. Harst hatte sie auf das Ledersofa platziert, und bevor irgend eine wichtige Äußerung fiel, trat er an den Tisch heran und griff nach dem Hörer, um ihn von der Gabel des Telephonapparates herabzunehmen.
Er hatte den Hörer noch nicht berührt, als Berancy emporfuhr – – als einziger der drei ‚Herren‛.
„Lassen Sie das,“ rief er heiser… Telephonieren Sie besser vom Nebenzimmer aus… Diese Leitung ist nicht in Ordnung.“
Damit hatte er sich verraten. Nur er. Er allein wußte von dem teuflischen Anschlag, er selbst saß auf dem Platz, auf dem Frau Güllich hatte sterben sollen.
„Schuft!!“ sagte der Kriminalrat verächtlich. „Jetzt sind Sie überführt, Sie Dummkopf!“ –
Selten habe ich den Beamten, der sich immer so gut beherrschen konnte, derart empört gesehen.
Berancy fiel leichenblaß in die Polster zurück.
Harst bat mich, Frau Güllich zu holen. Ich wußte nun im Haus bereits Bescheid, und als ich am Ende des Flures an die Tür des Schlafzimmers klopfte, warf ich mehr zufällig einen Blick in den dunklen Park hinab. Der Himmel war ja noch immer dicht bewölkt, und jederzeit konnte ein Regen- oder Hagelschauer herabprasseln.
Durch die Finsternis draußen glitten zwei lange Lichtkegel, – nur für Sekunden, dann glaubte ich das Surren eines Automotors zu hören, – eine ungewisse Ahnung von irgend etwas Ungewöhnlichem beschlich mich, – – ich klopfte noch stärker, dann wollte ich die Tür aufstoßen, doch sie war verschlossen…
Ich hämmerte dagegen…
Niemand meldete sich…
Ich nahm nun keine Rücksicht mehr und warf mich mit aller Kraft gegen die Türfüllung. Das Schloß gab nach – – Dunkelheit drinnen – – ich tastete nach dem Lichtschalter, fand ihn, – – er versagte.
Meine Taschenlampe her…
Ich hatte bereits den Luftzug gespürt, das Erkerfenster stand offen, und auf dem Bett lagen die beiden Pflegerinnen, bewußtlos, brutal niedergeschlagen…
Frau Güllich war nicht im Raum…
War sie entführt worden? Sie konnte doch unmöglich entflohen sein?! Weshalb?! Zur Flucht lag für sie doch gar kein Grund vor.
Ich hetzte in die Bibliothek zurück. Ich brüllte das Geschehene den dort Verbliebenen entgegen, erregte einen Aufruhr, der jeder Beschreibung spottete.
Harst schwang sich als erster durch das Fenster hinaus, Tegthoff und ich waren dicht hinter ihm. Harald eilte zur großen Pforte, sie stand offen, er rannte die Straße hinab. An der Ecke hielt ein großer, geschlossener Wagen. Steens Stimme bewies mir, daß auch hier die Regie klappte, die Wagentür flog auf, wir sprangen hinein, und sofort ruckte der schweren Mercedes an, immer schneller werdend, während hinter uns die Hupe des Polizeiautos mahnend sich meldete und uns anzeigte, daß auch der Kriminalrat die Hetzjagd mitmachen wollte.
Nun, der Wagen der Durchbrennenden hatte gut fünf Minuten Vorsprung, war längst außer Sicht und würde von uns nie eingeholt worden sein, wenn nicht – was mich abermals kopfschüttelnd von mir unbekannten Vorbereitungen Notiz nehmen ließ – an den ersten Straßenecken uns grelle Lämpchen in Händen nächtlicher Wachtposten den rechten Weg gewiesen hätten.
Die Fahrt ging über Zehlendorf gen Potsdam zu, – nein, Fahrt konnte man das nicht nennen, – es war ein förmliches Wettrennen, aber selbst Frau Güllichs schnittiger Zweisitzer konnte sich mit unserem Benz nicht messen, und längst sahen wir das Schlußlicht der Verfolgten vor uns, hielten weiten Abstand und stellten fest, daß die Frau, die ich bisher für makellos rein dastehend betrachtet hatte, die Hauptchaussee nach Vorpommern gewinnen wollte.
Die feuchtwarme, schwüle Julinacht und der nur zuweilen durch träge ziehendes Gewölk hindurchlugende Mond wurden Zeugen dieser denkwürdigen Verfolgungsjagd.
Wir waren sechs Personen einschließlich des Chauffeurs in unserem Wagen: Tegthoff, wir beide, Fred und Vera Bertty, dazu der Fahrer, derselbe tüchtige, bewährte Mann, der nun abermals seinen Achtzylinder gen Gusthafen steuerte.
Harst, der von neben dem Chauffeur mit einem Glas den Zweisitzer beobachtete, ließ nach einer Stunde plötzlich halten. Auf der regennassen Chaussee lag ein verkrümmter Körper. Es war einer der Chinesen, – tot, Kopfschuß.
„Weiter!!“
Wir hatten die noch warme Leiche nur an den Wegrand geschleift.
Weiter also…
Der Sportflitzer war indessen außer Sicht gekommen. Fünf Minuten vergingen…
Von dem so heiß begehrten Schlußlicht nichts mehr.
„Abgebogen!“ sagte Harst nur. „Sie ist vorsichtig‥!“
Wir jagten getrost die Hauptchaussee entlang, und die nächste Bemerkung Haralds lüftete das Dunkel noch mehr:
„Frau Güllich hat ihre drei mongolischen Widersacher abgetan… Sie spielt va Banque, – – aber dazu ist es zu spät!“
Wieder eine Viertelstunde darauf wurden wir vor einer Stadtgrenze angerufen. Quer über die Straße standen zwei Ackerwagen, und drei Landjäger sowie einige bewaffnete Zivilisten umringten uns. Der Oberlandjäger betrachtete uns kurz…
„Dürfen passieren!“
Das Hindernis wurde geöffnet…
Harst fragte nur: „Auf telephonischen Befehl von Berlin?“
„Ja, Herr Harst… – Sie sind es doch?“
„Leider! Denn Sie verpatzen mir die Sache gründlichst!!“
„Nanu?!…“
Aber unser Benz schoß schon weiter.
Harst rief dem Fahrer zu: „Jetzt zeigen Sie, was Sie können, Biltz! Und wenn die Karre dabei zum Deubel geht! Daß die Bande auch mit Flugzeugen arbeitet, ahnte ich. Frau Güllichs Flitzer dürfte schon in einem See den Fischen Gesellschaft leisten… Sie hat uns bemerkt und fliegt nun zweifellos in einer Sportmaschine gen Gusthafen. Trotzdem müssen wir als erste den Gespensterturm erreichen.“
Noch eine Stunde… Unser Wagen hält im Wald, wir laufen auf die Küste zu, vor uns tauchen die lange Waldzunge und der Turm auf…
Wir stehen still, Harst kriecht in das Gestrüpp, kehrt zurück…
„Alles sicher!“
„Still!“ ruft Fred und deutet nach oben…
Zu sehen gibt es nichts, aber wir hören ein sanftes Schurren von Süden her, das dann jäh verstummt.
„Hinein in den Turm!“ kommandiert Harald. –
Drinnen fragt er Vera Bertty, die sich musterhaft tapfer und ruhig zeigt: „Wo liegt das Testament? – Bitte, jetzt keine falsche Scham mehr! Daß Sie des Geheimrats außereheliche Tochter sind, war wirklich nicht schwer festzustellen. Ihre Beziehungen zu Hektor konnten zunächst falsch gedeutet werden, aber der Verlauf der Dinge wies schließlich doch auf die einzig mögliche Lösung hin.“
Das junge Dame erwiderte nur äußerst bestimmt: „Hektor hatte das Testament oben im dritten Stock hinter einen gelockerten Mauerstein gelegt, und…“
„Still!“
Wieder mahnte uns Fred zum Horchen…
9. Kapitel
Das eine Testament.
Ganz gedämpft vernehmen wir aus den Lüften das ratternde Tacken einer Maschinenpistole oder eines Maschinengewehrs…
Die schnell aufeinanderfolgenden Schüsse werden deutlicher…
Verstummen…
Dann ein hohles, eigentümliches Sausen, und urplötzlich auf den Resten des Turmdaches ein ohrenbetäubender Krach, ein Splitter von Holz, eine schwache Explosion, ein gellender Schrei, – und alles wird wieder still… Nur Holzsplitter und Mauerstücke poltern herab…
Auch das hört auf.
Wir starren uns in die schweißfeuchten Gesichter.
Harst sagt leise: „Der Kriminalrat war auch auf dem Posten: Luftkampf im Frieden! Frau Güllich dürfte tot sein. – Fred, die Angelstöcke her‥!“
Der semmelblonde Jüngling, der schwer beladen ist mit einem umfangreichen Rucksack, öffnet diesen, und im Umsehen sind die Teile der zwölf Meter langen Angelrute ineinandergesteckt, ebenso schnell wird über dem zerstörten Teil der Treppe droben, deren Einsturz Vera Bertty hatte in den Tod schicken sollen, erst mit Hilfe des Angelstockes nur eine dünne Schnur und dann ein Tau durch einen der Mauerhaken gezogen.
Inzwischen haben wir längst mit Taschenlampen und Laternen das völlig eingedrückte Dach und die Reste eines Eindeckers, der gänzlich demoliert zwischen den Trümmern hängt, gründlich abgeleuchtet und längst auch das schwere Stöhnen vernommen, das aus dem Wrack des Rumpfes zu uns hinabdringt.
Harst klettert an dem Tau empor, schwingt sich auf das Flugzeug hinüber, Fred Steen als fixester folgt ihm, uns sehr bald lassen sie behutsam an dem Tau den schlaffen Körper der todwunden Frau herab, von deren wahrem Wesen und von deren Teilnahme an den dunklen Vorgängen der letzten Tage wir noch immer nicht allzuviel wissen. Wir ahnen so manches, aber die inneren Zusammenhänge bleiben – unklar.
Äußerst behutsam wird die Bewußtlose in das Endgeschoß des Gespensterturmes hinab getragen, dort sorgsam gebettet und rasch auf ernstere Verletzungen hin durch den sachkundigen Tegthoff untersucht.
Der zuckt dann die Achseln…
„Schwere Rippenbrüche, – die Lunge ist verletzt.“
Es klingt wie ein Todesurteil.
Die Frau liegt leichenblaß da, und aus ihrem halb geöffneten Mund tritt blasiger, blutiger Schaum hervor…
Vera Bertty kniet neben ihr, säubert das marmorbleiche Gesicht und schaut erst auf, als Harst, der inzwischen den bewußten Mauerstein gefunden hat, ihr einen dicken Umschlag unter die Augen hält:
Mein Testament
So lautet die Aufschrift.
Vera winkt hastig ab. „Nur jetzt nicht, – – es ist doch meines Vaters zweite Gattin, die hier für alles büßt!“
Harst steckt das Testament in die Tasche, Tegthoff versucht, der Sterbenden etwas Kognak einzuflößen. Es gelingt, und das schreckliche Stöhnen läßt nach, das Gesicht bekommt sogar einen Hauch von Farbe. Wir alle hoffen, daß die Unselige vielleicht doch noch die Kraft finden könnte, ihr Gewissen durch ein Geständnis zu erleichtern.
Plötzlich steht der Kriminalrat neben uns.
Still überblickt er die ernste Szene, schaut Harst fragend an und erklärt leise:
„Ich handelte nach Ihrem Wunsch, ich habe die beiden Hauptsünder mitgebracht…“
„Lassen Sie sie dann hereinführen, Herr Rat,“ – und Harald deckt ganz zart seinen Mantel über die bleiche Frau, winkt uns weiter nach dem breiten Mauerriß hin und läßt die Laternen abblenden.
Erwin Buth, der Mann, der seit langem verdächtig war, seine Dienstpflichten gröblichst zu verletzen, und den seine Vorgesetzten unbedingt einmal hatten abfassen wollen, betritt neben Herrn Siegfried Berancy den Turm, hinter ihnen ein paar Beamte in Zivil.
Von dem anmaßenden ‚Schriftsteller‛ Berancy ist nichts mehr übrig geblieben als ein kläglicher, schlotternder Feigling, dessen scheue Augen hin und her schweifen wie die einer Ratte im Käfig. Der ‚König‛ der Vagabunden ist ein verächtlicher Taschendieb geworden, – Taschendieb, den Eindruck erweckte er jetzt.
Seine Blicke hängen schließlich wie in kläglichem Flehen auf Vera Berttys klaren, ernsten Zügen, aus denen nur eins spricht: Vergeltungswille, Verachtung, – ein starker Charakter.
Der Kriminalrat wartet geduldig. Harst sitzt etwas zusammengesunken auf der Treppe, hebt nun langsam den Kopf.
„Man sagt oft,“ beginnt er gedämpft, „ein Kriminalproblem müsse sich allmählich lösen, – der Knoten dürfe nicht mit einem Hieb zerhauen werden. Hier in diesem Fall erweckt es den Anschein, als ob man von einem solchen Hieb sprechen könnte. Doch das trifft nicht zu. Alles, was zu dem Tod Hektor Güllichs in Beziehung steht, all diese scheinbar unklaren, allzu dunklen Ereignisse, trugen doch bereits den Kern der Wahrheit samt so und so vielen Keimen derselben Wahrheit in sich. – – Was liegt vor? Der Geheimrat Güllich stirbt, hinterläßt ein Testament, und dieses eigenhändige Testament wird von dem einzigen Sohn Hektor angefochten – – als Fälschung. Die Fälscherin soll Frau Eleonore Güllich, Stiefmutter Hektors, gewesen sein… Das trifft nicht zu. Der Fälscher war Hektor selbst.“
„Unmöglich!“ murmelt der Rat und trocknet den Schweiß von der Stirn…
„Tatsache ist es!“ erklärt Harst weiter. „Wir müssen uns fragen: War denn kein echtes letztes Vermächtnis da? – Nun, Herr Buth und Herr Berancy, was wissen Sie beide darüber, die Sie doch den Güllich-Millionen nachjagten? Bitte! Äußern Sie sich!“
Betretenes Schweigen…
Harst erhebt sich, tritt dich vor den gefesselten König der Vagabunden hin, greift in die Tasche…
„Da – – löst Ihnen das die Zunge?! Das ist das echte Testament, das Ihre heimliche Geliebte Frau Güllich widerrechtlich aus dem Wandtresor in der Bibliothek herausnahm, von dem sie nichts erfahren sollte – das ist der Umschlag, den sie widerrechtlich aufschnitt, den Inhalt las und daraus ersah, daß ihr Mann sie als Ehebrecherin enterbt und seine beiden Kinder zu gleichen Teilen als Erben einsetzte: Hektor, seinen ehelichen Sohn, und Vera Bertty, das Kind einer freien Liebe, – Sie wußten dies, Berancy und Buth, und Sie beide … stahlen dieses echte Testament noch in derselben Nacht aus dem Tresor, nachdem Sie die arme törichte Frau, die für Sie, Berancy, eine blinde Leidenschaft empfand, dazu bestimmt hatten, die Urkunde nicht sofort zu vernichten. – Leugnen Sie, daß diese meine Schlußfolgerungen stimmen?“
Keine Antwort…
„Nun gut, – – sie stimmen! Sie müssen auch stimmen, denn die Ereignisse sprechen für ihre Richtigkeit! – Der geistige Urheber dieses ungeheuerlichen Schurkenstreiches sind zweifellos Sie, Berancy. Nur Sie konnten die drei Chinesen des Geheimrats, die diesem in hündischer Treue ergeben waren, so beeinflussen, daß sie Hektors Todfeinde wurden. Sie stellten ihnen Frau Güllich als das Opfer der Intrigen Hektors hin, und die törichten armen Teufel glauben Ihnen. – Ist es so? – Sie ziehen es vor, zu schweigen… Auch das ist eine Antwort. Sie verstanden es, Frau Güllich davon zu überzeugen, das echte Testament befände sich nun in Hektors Besitzt, er hätte es an sich gebracht, er wünsche jedoch nicht mit seiner Halbschwester Vera zu teilen, deshalb sei plötzlich das andere, gefälschte Testament aufgetaucht. Und die Ärmste, diese alternde, haltlose, und so verliebte Frau traute Ihnen! – Fürwahr, raffinierter ist noch nie ein Plan entworfen worden, ein Riesenvermögen zu ergaunern! – Was geschah weiter? – Ich will die Ereignisse nur ganz kurz streifen, dann…“
Er bricht jäh ab…
Hinter uns aus dem Dunkel ist ein halber Schrei, ein heller, schriller Schreckenslaut ertönt…
Die Laternen schwenken herum. Frau Güllich sitzt aufrecht da, der Mantel ist von ihrem Körper herabgeglitten, und ihre Augen hängen übergroß und mit ungezügeltem Haß auf dem verstörten Gesicht Berancys, den Harst mit kräftiger Faust vorwärtsgeschoben und in die Knie gedrückt hatte…
„Du … Schurke!!“ sagt die Frau unheimlich laut und klar. „Du … Mörder!! Du hast Hektor erschossen, du hast … auch mich töten wollen, du…“ – – jetzt verliert ihre Stimme alle Kraft… Langsam sinkt sie zurück… „Gott … sei … mir … gnädig, mir … armen Betrogenen!“
Das letzte ist kaum mehr zu verstehen. – Frau Eleonore Güllich steht vor dem ewigen Richter…
10. Kapitel
Ein leerer Papierbogen.
Harst breitete den Mantel wieder über die stille Gestalt. Als er sich aufrichtete und zu dem noch immer knienden Berancy hinblickte, schüttelte er sich vor Ekel…
„Sie erschossen Hektor in jener Nacht, Sie elendes feiges Reptil… – Weshalb? Weil Hektor Sie unlängst durchschaut hatte, weil Vera seine Verbündete war, weil Vera entdeckte – sie hat es mir gebeichtet – wo das echte Testament, das Sie jederzeit als Druckmittel gegen Frau Güllich gebrauchen wollten, verborgen war: Hier im Turm! Vera fand es, brachte es Hektor, der das andere Testament nur gefälscht hatte, um Zeit zu gewinnen und um zu verhüten, daß irgendein Vermögenswert seiner Stiefmutter ausgehändigt würde – und dies erreichte er durch den Prozeß und die Nachlaßverwaltung…“
Der ‚König‛ der Vagabunden war aufgesprungen. Eine schier unfaßbare Verwandlung war mit ihm vorgegangen. In einer etwas sehr theatralischen Pose stand er da und lachte geringschätzig.
„Beweisen müssen Sie das alles, Harst!“ rief er mit allzu falschem Pathos und mit einer unglaublichen Frechheit. „Nichts können Sie beweisen, nicht! Hektor mag sich selbst entleibt haben, – ich weiß es nicht, es ist mir auch gleichgültig. Auf Fräulein Berttys Zeugnis wird niemand etwas geben, und die Ärmste dort –“ – er wies auf die tote Frau Güllich – „war Morphinistin, hielt sich nur noch durch Reizmittel aufrecht. Auch sie trieb ein falsches Spiel, ihre Werkzeuge waren die drei Chinesen, die die Polizei schon finden wird…“
„Sie sind stumm für immer,“ erklärte Harst ohne besondere Betonung. „In dieser Nacht erschossen worden – – als Verräter!“
Berancy rief hastig: „Von wem denn?! Von wem?“ Und auch das war nur Komödie.
Harst schaute ihn unverwandt an. „Sie leugnen also alles ab? Auch den Anschlag auf uns im Turm hier? Auch die Tatsache, daß Sie die Treppe droben vollends zerstört haben, um Schraut, Steen und mich zu beseitigen? Auch das, daß Frau Güllich auf Ihr Geheiß diesen Turm vor uns erwähnen mußte, damit wir hierher gelockt würden? Auch das, daß Sie den Stromerkongreß hierher beriefen, damit die Schuld an dem ‚Unfall‛ im Turm irgendwie den Vagabunden zugeschoben werden würde! – Und schließlich auch die Anwesenheit zweier alter Fischer im Stromerlager? Frau Güllich und Buth waren diese ‚Fischer‛, waren Ihre Abgesandten, derweil Sie in Berlin geblieben waren. Buth hatte für ein Alibi gesorgt: Er log mir vor, er habe Frau Güllichs Villa bewacht und Frau Güllich abgefaßt, als sie fliehen wollte. Und zu allerletzt: Leugnen Sie auch, daß Frau Güllich durch die Giftgasvorrichtung sterben sollte, die die Chinesen in dem bewußten Ecksofa anbringen mußten?“
Wieder fand Berancy nur das geringschätzige Hohngelächter…
„Beweise?! Wo sind sie?! Mit phantastischen Schlußfolgerungen kann man wohl ein Kartenhaus aufbauen, aber jeder Windstoß wird es umwerfen! –
Sie wissen nichts, gar nichts… Sie wissen nichts von der Erholungsreise…“
„… die Sie mit Frau Güllich bald nach des Geheimrats Tod unternahmen,“ vollendeter Harald kalt. „Eine Seereise nach Madeira, und Berancy, eine Trauung an Bord des englischen Schiffes durch den Kapitän, eine vorgetäuschte Nottrauung, da Frau Güllich die schwer Kranke spielte. Ihre Frau, verwitwete Güllich, sollte Ihnen zu den Millionen verhelfen, sollte dann sterben… – Sie wären ihr einziger Erbe gewesen, denn von Vera Berttys engster Verwandtschaft mit dem Geheimrat ahnte niemand etwas… Nur das Testament enthüllte diese Verwandtschaft. Hier ist es… Hier steht in des Geheimrats Schrift auf dem Umschlag: Mein Testament! Ich holte es soeben droben hinter den Mauersteinen hervor.“
Berancy verzog höhnisch die Lippen. „Ich denke, Vera gab es Hektor, sagten Sie vorhin.“
„Ich sagte: Sie brachte es ihm. Übergeben konnten Sie es ihm nicht mehr – denn er war tot. Zu schnell hatten Sie, Berancy, das Verschwinden der Urkunde bemerkt.“
„So?! Allerhand Achtung!! Ihrer Phantasie macht nette Seitensprünge. Und – – wo ließ Vera das Testament? He, wo?!“
„Sie schaffte es schleunigst eben dorthin, wo es ursprünglich gelegen hatte, hier in den Turm…“
„Ah, – – nicht möglich! Also in den Turm, wo ich es verborgen haben soll?!“
Harst schwieg sekundenlang. Sein Blick bohrte sich fest in die frechen Spötteraugen des zynischen Verbrechers. Dann faßte er in den aufgeschnittenen dicken Umschlag hinein und holte einen ebenso starken gefalteten Papierbogen hervor, entfaltete ihn und schrak merklich zusammen, denn – – das Papier war leer, vollkommen unbeschrieben.
„Na, – stimmt da etwas nicht?!“ meinte Berancy ironisch. „Ihr sogenanntes echtes Testament scheint ein Phantasieprodukt zu sein. Die Aufschrift auf dem Umschlag wird Hektor geschickt gefälscht haben! – Weshalb, – – ich verfüge nicht über Ihre Einbildungskraft, Herr Harst. Erklären Sie mir das doch…“
Harald starrte den leeren Bogen gedankenverloren an. „Es scheint, daß meine erste Theorie doch die richtige war… Vera sollte hier durch die zerstörte Treppe sterben, nicht wir…“
Er sprach sehr langsam, hob dann den Blick, und dieser eiskalte Blick verscheuchte jede Spur von frechem Grinsen aus Berancys Zügen…
„Natürlich sollte Vera sterben, natürlich… Deshalb gab man ihr im Stromerlager eine Fluchtmöglichkeit. Es stimmt schon…“
„Faselei!“ meinte Berancy etwas unsicher.
„… Vera wäre ja auch beinahe umgekommen, die drei Chinesen-Touristen hatten hier alles sehr fein vorbereitet… Wir retteten sie, und als wir gen Gusthafen wanderten, kehrte ich nochmals um, Berancy. Allein, ganz allein war ich hier im Turm… Außen kletterte ich empor, fand den gelockerten Mauerstein, leuchtete die Wände ab… Sehr genau, Berancy, sehr genau…“
Dicke Schweißperlen traten auf des Vagabundenkönigs Stirn…
„Sehr genau, Berancy… – Und ich habe gute Augen… Tadellose Augen…“
Sehr, sehr langsam faßte er erneut in die Tasche und brachte einen Umschlag ohne Aufschrift zum Vorschein.
Berancy taumelte zurück…
Harst lachte kalt. „Sie sind ein Schurke von einem ganz ungewöhnlichen Ausmaß‥! Der leere Bogen im echten Umschlag war beschrieben, als ich im hinter dem Stein hervorholte. Es schien das echte Testament zu sein… Schien nur so, Berancy! Sie sind auch ein guter Chemiker… Ihre Tinte würde in achtundvierzig Stunden verschwinden, fürchtete ich… Weshalb aber lag in dem Mauerloch ganz hinten ein Fläschchen, das mit Salzsäure gefüllt war und nur einen Wattepfröpfchen hatte?! Damit die verdunstende Säure die Schrift für immer tilgte‥! –
Berancy, Sie sehen wieder sehr blaß aus… All Ihre Pläne sind gescheitert… Sie wollten mich ein leeres Papier finden lassen, doch ich … fand auch Ihr zweites Versteck, auch einen losen Mauerstein, aber mit fest eingedrückten Mörtelstücken in den Fugen – und dort lag dieser Umschlag, – – das echte Testament! Ich nahm es mit, – – den anderen Umschlag, der Vera betrügen sollte, ließ ich liegen.“
Kurzer Pause…
Berancys Augen flackerten vor Angst.
„Und dies ist mein schwerwiegendster Beweis gegen Sie, Berancy: In der Mordnacht, nachdem Sie Hektor erschossen hatten, bemerkten Sie Vera, die den Toten fand und sofort eilends nach Gusthafen fuhr… Sie folgten ihr… Sie beobachteten Sie… Sie sahen, wie sie das echte Testament in dasselbe Mauerversteck zurücktat, weil sie glaubte, dort würden Sie niemals suchen…
Als Vera wieder davongefahren war, entwarfen Sie den neuen Plan, fertigten das Neue Testament mit der wieder verschwindenden Schrift an, tauschten echtes gegen unechtes aus und glauben sich so gesichert. Sollte Vera ihren Entschluß ändern, überlegten Sie sich, würde sie … leeres Papier mitnehmen, anderseits blieb das echte Testament als Zwangsmittel gegen Ihre Frau erhalten, – – ein raffiniertes Vorgehen, zu raffiniert, Berancy!! Sie haben sich dadurch selbst die Schlinge über den Kopf gestreift, denn daheim habe ich auf dem Umschlag ohne Aufschrift Ihre Fingerabdrücke sichtbar gemacht, – – bitte, schauen Sie her!! Fingerabdrücke lügen nicht! Sie sind der Mörder, der geistiger Urheber dieser Jagd nach den Güllich-Millionen! – – Herr Kriminalrat, Ihnen übergebe ich diese Beweisstücke… Für mich ist der Fall damit erledigt…“
Als wir ins Freie traten und Tegthoff dabei mit zartester Fürsorge Vera Bertty stützte, lag klares Mondlicht über der ganzen Gegend. Die See rauschte leise, ein paar verschlafenen Möven kreischten und der würzige Duft der Juninacht war rein und stark – und unberührt von der Schlechtigkeit der Welt um uns her… – –
Vierzehn Tage darauf saß Vera Bertty, nunmehr einzige Erbin des Riesenvermögens, sehr ernst als Klientin uns gegenüber. Mit voller Offenheit erklärte sie ohne Umschweife:
„Herr Harst, ich brauche Ihre Hilfe. Ich weiß, daß Tegthoff mich liebt … und ich liebe ihn! Doch er weicht mir aus, weil ich jetzt so schrecklich reich bin…“
Harald lächelte liebenswürdig. „Sie hatten uns zum Glück Ihren Besuch angekündigt… Entschuldigen Sie uns bitte einigen Minuten… Ich konnte mir wohl denken, was Sie bedrückte…“
Er öffnete die Tür zum Nebenraum, wir traten dort ein, und dann schob Harald den widerstrebenden Tegthoff mit aller Macht ins Vorderzimmer…
„Da ist er, Fräulein Bertty‥! Und wehe ihm, wenn er Sie … nicht küßt‥!!“
Er schlug die Tür zu.
Wir gingen in den kleinen Vorgarten. Das Brautpaar erschien erst nach einer Stunde, und beide sahen sehr glücklich und – sehr erhitzt aus…