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Der Lackschuh der Lady Farstal

 

Harald Harst

 

Band: 336

 

Der Lackschuh der Lady Farstal

 

Von

Max Schraut

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 16,
Michaelkirchstraße 23a

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1932 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16

 

1. Kapitel.

Wilddiebe und ein Lackschuh.

Das uralte Schloß Reubnick, ein zwingburgartiger Bau mit Wällen und Gräben, mit einem riesigen Park und gewaltigen Ländereien, war zweifellos einer der schönsten Herrensitze Norddeutschlands.

Und doch sollte gerade Schloß Reubnick plötzlich aus seiner weltabgeschiedenen Stille und aus seiner trügerischen Vornehmheit in erschreckender Art vor das Forum der öffentlichen Meinung gezerrt werden – samt all seinen Bewohnern, samt all seinen Gutsbeamten, Arbeitern bis zum ebenso uralten Schäfer Hinrich Knast, dem Leibdoktor der ganzen Bevölkerung zehn Meilen im Umkreis.

Diesen Kriminalfall in eine Form zu bringen, die lediglich die rein seelischen und kriminellen Einzelheiten hervorhebt, ist schon deshalb nicht so ganz einfach, weil der Beginn unserer Arbeit auf eine so eigentümliche Art einsetzte, daß es mir schwerfällt, dieses zeitliche Ineinandergreifen mehrere Vorgänge, die anfänglich nichts miteinander zu tun zu haben schienen, dem Leser schmackhaft zu machen.

Versuchen wir es einmal mit einem Griff in ‚medias res‛, mitten in die Dinge hinein.

An einem schwülen Juniabend war ein Klient bei uns gewesen, der sich Gutspächter von Rindenkerg genannt hatte. Sein Anliegen bezog sich auf das Treiben einer Rotte von Wilddieben, denen nicht beizukommen war. Herr von Rindenkerg vermutete, daß Gutsarbeiter mit den Wilddieben gemeinsame Sache machten und die Wilderer durch Lichtsignale rechtzeitig von den Pirschgängen der Gutsförster verständigten.

Mein Freund Harald Harst hatte den Auftrag höflich unter der Begründung abgelehnt, derartiges liege ihm nicht, dafür sei die Polizei zuständig. –

Herr von Rindenkerg nahm das nicht weiter übel, und wir trennten uns in allem Frieden.

Zwei Stunden später, gegen halb elf Uhr, zog ein kurzes Unwetter über den Westen Berlins hinweg und brachte die Antenne auf dem Dach in Unordnung. Da unser Famulus Fred Steen im Kino weilte, kletterte ich durch die Dachluke auf das Türmchen unseres bescheidenen Häuschens in der Arnoldstraße, Berlin W, und suchte die auf die Antenne herabgefallenen abgebrochenen Äste und Zweige der großen Kastanie wieder zu entfernen.

Bei dieser mühseligen Arbeit machte ich eine Ruhepause, setzte mich in das Dachtürmchen und beschaute mir die nächtliche Welt von oben.

Uns gerade gegenüber lag ein älteres Mietshaus mit einer Mansarde. Das eine Mansardenfenster war erleuchtet, und da die Vorhänge nicht zugezogen waren und die Fenster offen standen, erblickte ich auf dem Bettrand eines fast ärmlich möblierten Stübchens ein junges Mädchen, das im Schoß einen Lackschuh liegen hatte und mit einer Schere aus Pappe eine Einlegesohle zurechtschnitt.

Der Schuh mochte zu groß sein.

Dieses Bild hätte mich nicht weiter fesseln können, wenn das Mädchen nicht urplötzlich in aller Hast den Schuh, die Schere und die Pappe unter das Kopfkissen geschoben hätte und aufgesprungen wäre.

Es mußte ein Fremder das Zimmer betreten haben, uns sehr bald sollte ich den Mann auch zu sehen bekommen, da er sich nun auf den Bettrand setzte.

Es war zweifellos Herr Bodo von Rindenkerg, Major a.D. und Gutspächter.

Nun, so unverkennbar seine Figur, sein Gesicht und seine aufgeplusterte Kopfhaltung auch waren, sein jetziges Benehmen dort oben in dem Stübchen warf auf ihn ein noch weit kennzeichnenderes Licht. Die Unterhaltung zwischen den beiden nahm sehr bald eine höchst gereizte Form an, sowohl das junge Mädchen als auch der weit älterer Herr bewiesen durch Gesten und Mienenspiel, daß sie erbitterte Gegner waren, und schließlich artete der Streit von Seiten des Mannes zu halben Tätlichkeiten aus. Er sprang auf, riß das Mädchen in den mir nicht sichtbaren Teil des Zimmers und schleuderte sie schließlich über das Bett, wo sie in katzenhaft sprungbereiter Art sitzen blieb, während der Mann – sein Schatten zeichnete sich auf den geschlossenen Vorhängen des zweiten Fensters ab – offenbar einen Schrank durchwühlte und die darin befindlichen Sachen herausschleuderte.

Da geschah etwas sehr Unerwartetes.

Das junge Mädchen – ich beobachtete auch jede ihrer Bewegungen – holte heimlich unter dem Kopfkissen den Lackschuh und das Stück Pappe hervor, preßte die Pappe in den Schuh und warf diesen blitzschnell zum offenen Fenster hinaus, ohne daß ihr ‚Besuch‛ davon etwas merkte. Der Schuh flog bis dicht an unseren Gartenzaun, schlug dort dumpf auf, und da die Straße leer war, kümmerte sich niemand um dieses seltsame Wurfgeschoß. Der Herr droben durchsuchte nun auch das Bett, ich aber hielt es den Umständen nach für richtiger, zunächst einmal den Lackschuh in Sicherheit zu bringen.

Als ich ihn gerade aufhob, verließ drüben der Herr von Rindenkerg das alte schmale Mietshaus, sprang in ein nur wenige Schritte weiter haltendes Auto und fuhr davon.

Meine durch Äste beschwerte Antenne war vergessen.

„Harald, – – bitte, was hältst du davon?!“

Ich erzählte. –

Mein Freund saß am Schreibtisch und studierte Zeitungen, schnitt diesen oder jenen Artikel aus – für unsere Sammelmappen – und legte erst die Schere weg, als ich ihm den Schuh hinreichte.

Es war ein älterer Lackhalbschuh mit durchgelaufenen Sohlen. Die hineingestopfte Pappe war nicht Pappe, sondern braunes, dünnes Leder, wie es für das Ausfüttern von Schuhen – innerer Sohlenbelag – benutzt wird.

Harst widmete diesem bereits zurechtgeschnittenen Lederstück die größte Aufmerksamkeit.

Er zeigte mir, daß das Mädchen die Größe und Form der Einlegesohle mit Bleistift vorgezeichnet hatte, und nach einigem Nachdenken erklärte er mit aller Bestimmtheit:

„Die Untersohle ist durchgelaufen. Der Schuh hätte also besohlt werden müssen. Da nun die Innensohle noch ganz, wenn auch blank gescheuert ist, gibt es für deine Beobachtungen nur eine Erklärung. Das Mädchen – gib acht – kennt den Herrn von Rindenkerg sehr genau und unterhält gegen dessen Willen einen geheimen Briefwechsel mit irgend einer Person, die wohl auf dem Lande in der Nähe Rindenkergs wohnt und die ein Schuhmacher sein muß. Ich behaupte, das Mädchen wollte diese Sohle nur zurechtschneiden, um darunter einen Brief zu verbergen. Sie hätte sie in den Schuh eingeklebt, und sie würde bei Benutzung dünnen Papiers einen recht langen Brief haben schreiben können. Diese meine Schlußfolgerungen werden durch dreierlei bewiesen: Erstens durch den Wortwechsel zwischen den beiden, der sich nur auf die geheime Korrespondenz bezogen haben kann. Zweitens durch das Durchsuchen des Schrankes und des Bettes, – der Mann suchte eben die Antwortbriefe des ‚Schusters‛, drittens durch das Hinabschleudern des Schuhes, wodurch das Mädchen verhindern wollte, daß Rindenkerg des Schuhes wegen Verdacht schöpfte. Wenn ich soeben sagte, ein Schuhmacher käme als Empfänger der geheimen Nachrichten in Betracht, so meinte ich damit, daß das Mädchen ihre Schuhe oder ihr Schuhzeug überhaupt zum Besohlen fortschickt – – aufs Land, wahrscheinlich nach Schloß Reubnick, als dessen Pächter sich Rindenkerg uns gegenüber ausgab. Zum Gut und Schloß Reubnick gehört auch das kleine Dorf gleichen Namens, wie mir bekannt ist. Der Schuhmacher dürfte im Dorf wohnen, und das Mädchen wird zum Schein, weil es billiger sei, ihr Schuhzeug zur Reparatur dorthin senden. – Ich glaube, das sind ganz zwanglose und logische Schlußfolgerungen, die man noch dahin erweitern könnte, daß man den Besuch Bodo von Rindenkergs bei uns lediglich als einen kleinen Trick auffaßt, um etwa herauszubringen, ob das Mädchen sich mit uns in Verbindung gesetzt habe. Sicherlich spielen hier ernstere Dinge mit. Rindenkergs hochgradige Erregung, seine Brutalität gegenüber dem Mädchen und seine ganze Persönlichkeit – mir gefiel er nicht – deuten auf mehr als nur Kleinigkeiten hin. – Möglich auch, daß seine Angaben hier bei uns über die Lichtsignale stimmen, nur werden diese dann nicht Wilderern das Handwerk erleichtern, sondern andere Zwecke haben. Es bleibt nun abzuwarten, was das Mädchen tut. Daß sie dich beobachtet hat, als du den Schuh aufhobst, ist sicher. Du sagtest selbst, ihre Fenster seien dunkel gewesen. Sie wird nach ihrem Schuh und nach dem sich entfernenden Rindenkerg ausgeschaut haben, und… – Hallo, die Flurglocke, – – öffnet bitte…“

– Es war das Mädchen.

Doch nein: Kein Mädchen. Eine junge, sehr junge Witwe.

Frei und offen nannte sie ihren Namen.

„Ich bin Lady Helga Farstel, Witwe Lord Emmery Farstels… Mir fiel vorhin ein Schuh aus dem Fenster, meine Herren – – der dort!“

Sie zeigte auf den Schreibtisch.

Harst bat, sie möge doch Platz nehmen, er hätte einiges mit ihr zu besprechen.

Das noch so kindlich reine hübsche Gesicht unseres späten Gastes wurde hochmütig – verschlossen.

„Herr Harst, ich wüßte wirklich nicht, was wir einander zu sagen hätten. Ich darf meinen Schuh wohl mitnehmen?“

„Gewiß, Mylady… Nur – ich dränge mich niemandem auf – haben Sie so gar keine Sorgen?! Eine Lady Farstal, geborene von Rindenkerg, wohnt in einer Mansardenstube, während Ihr Vater, Mylady, angeblich Pächter eines der größten Güter und Schlösser Norddeutschlands ist.“

Sie wechselte die Farbe.

„Haben Sie sich mit meiner Person bereits beschäftigt, Herr Harst?“ fragte sie in ängstlicher Hast.

„Ja… Vorhin… Bevor Sie den Schuh zum Fenster hinausfallen ließen.“

Sie starrte ihn grob an.

Dann nahm sie zögernd Platz und meinte kampflustig: „Inwiefern haben Sie sich mit mir beschäftigt, Herr Harst?“

Harald suchte unter den Zeitungsausschnitten einen ganz bestimmten hervor.

„Hier – – deshalb, Mylady…“

Und er las vor:

 

 

2. Kapitel

Die Schreibmaschine.

„Die Chronique skandaleuse des hohen Landadels ist, wie erst jetzt bekannt wird, um einen Fall vermehrt worden. Wenn schon vor einem Jahr die Heirat zwischen der Enkelin eines unserer ersten Magnaten mit dem alternden und übelbeleumundeten Mitglied eines englischen Adelsgeschlechtes peinlichstes Aufsehen erregt hatte, so steht man jetzt als unvoreingenommener Beobachter gesellschaftlicher Ereignisse vor der geradezu unfaßbaren Tatsache, daß die blutjunge, bereits wieder verwitwete Lady F. – ihr Gatte erschoß sich, da seine Entlarvung als gewerbsmäßiger Spieler mit einem starken Hang zum ‚Corriger la fortune‛ ihm keine andere Wahl ließ – hier in Berlin in ärmlichen Verhältnissen als Angestellte eines Notars leben muß, während ihr Großvater über ein Riesenvermögen verfügt und ihr Vater mehr dem Namen nach Pächter des großen Gutes ist…“

Lady Farstal war aufgesprungen.

„Wie gemein!“ rief sie flammend vor Erregung. „Welch ein Wisch von Zeitung kann derart in Familienangelegenheiten umherwühlen, die…“

„… leider wahr sind,“ sagte Harst begütigend. „Jedenfalls, Mylady, Sie haben soeben ungewollt bestätigt, daß dieses Skandalblättchen, das nur von unsauberem Gesellschaftsklatsch lebt, auch Ihre Person attackiert hat.“

Helga Farstal erwiderte eisig: „Meine Person steht über derartigem gehässigem Gerede, und ob ich etwas bestätigt habe, bleibt dahingestellt. Gute Nacht, meine Herren…“

Sie schob den Lackschuh und das Lederstück unter ihren leichten Gummimantel und schritt mit kaum merklichem Kopfneigen hinaus.

Ich schaute ihr nach. Seltsamerweise überquerte sie nicht die Straße, sondern ging in derselben Richtung weiter, die das Auto des Herrn von Rindenkerg genommen hatte. Als ich unser Wohnzimmer, das gleichzeitig als Büro dient, wieder betrat, war mein Freund Harald ebenfalls verschwunden. Möglich, daß er in sein Schlafzimmer hinübergegangen war. Ich hatte im Augenblick nur Gedanken für die Fortsetzung jenes Skandalartikels über Lady Helga Farstal. Ich fand den Zeitungsausschnitt auf dem Tisch vor und überflog die letzte gedruckten Zeilen.

… dem Namen nach Pächter des großen Gutes ist. Am unverständlichsten bei alledem bleibt die Tatsache, daß der greise Herr Anton von R. als Großvater zu dieser empörenden Behandlung seiner Enkelin schweigt und angeblich aus Überparteilichkeit nicht in die Vaterrechte seines sehr selbstherrlichen Sohnes eingreifen will. Zu diesem Punkt wäre vielleicht noch so manches zu sagen, aber vorläufig möchten wir nicht näher auf gewisse Einzelheiten eingehen, die ein sehr merkwürdiges Licht auf die Zustände des Herrensitzes Reubnick werfen.

Hiermit schloß der Artikel, der unbedingt eine versteckte Drohung enthielt.

Ich dachte nun wieder an meine Antenne, kletterte die Treppe empor und traf zu meinem größten Erstaunen Freund Harald mit einem Fernglas droben im Dachtürmchen.

„Ganz interessant,“ sagte er in seiner anscheinend stets so gleichgültigen Art. „Schau mal hinüber… Herr von Rindenkerg ist wieder eifrig bei der Arbeit…“

Er stimmte… Auf den Fenstervorhängen – beide Fenster waren jetzt geschlossen – zeichnete sich der Schatten eines Mannes ab, der zweifellos erneut das Zimmer durchsuchte.

Harst winkte mir. „Es ist Rindenkerg. Aber wo ist Lady Farstal?! Komm, sehen wir einmal nach, ob sein Auto in der Nähe hält.“

Wir verließen unser villenartiges Häuschen und wandten uns der Südhälfte der Arnoldstraße zu. Dort hinab war auch Helga Farstal eifrigst entlanggeschritten.

Wie gesagt, unsere Arnoldstraße zeichnet sich durch vornehme Ruhe aus. Bei dieser drückenden Schwüle und diesem gewitterschwangeren Himmel begegneten wir kaum einem Menschen.

Harst blickte andauernd scharf umher. Vor uns sahen wir das Schlußlicht einer großen grauen Limousine. Es war die des Herrn von Rindenkerg.

Plötzlich bog Harald vom Bürgersteig ab und hob einen auf dem Fahrdamm liegenden Gegenstand auf. Es war der Lackschuh. Fünf Meter weiter hielt das Auto.

„Warte!“ befahl mein Freund.

Er gab mir den Lackschuh samt dem noch immer hineingepreßten Lederstück und befestigte sich im Umsehen einen jener Vollbärte vor dem Gesicht, die durch zwei Drahtschleifen hinter den Ohren festgehalten werden. Für die abendliche Dunkelheit genügte eine derartige Maskerade.

Langsam schlenderte er mit hochgeklapptem Jackenkragen etwas schwankend an dem Auto vorüber, pfiff dabei sehr falsch irgend einen Gassenhauer, blieb stehen und versuchte, ein Zündholz anzureiben. Fluchend und weiter den Halbtrunkenen spielend schleuderte er die Zündholzschachtel von sich.

„He, Sie, – haben Sie ein Feuerzeug?“ fragte er den mir unsichtbaren Chauffeur.

„Scheren Sie sich zum Teufel, – – nein!!“ fauchte der Mann ihn an.

„Na na, – immer gemütlich!“ –

Harst trollte sich davon, und gleich darauf standen wir in unserem Gärtchen hinter der dicken Kastanie.

„Merkst du was?! Der Chauffeur wollte mich wegekeln… Und der Lackschuh lag auf dem Fahrdamm! So etwas nennt man Entführung.“

Ich mußte ihm beipflichten. Auch ich befürchtete, daß Lady Farstal gegen ihren Willen in das Auto geschleppt worden war, wobei sie den Lackschuh weggeworfen haben mochte. Wahrscheinlich war sie die Straße nur hinabgegangen, um nachzusehen, ob ihr Vater sich tatsächlich entfernt hätte.

„Merkwürdige feine Leute!!“ sagte Harald bissig. „Wer weiß, welcher Art diese Familientragödie sein mag… Ich fürchte, es spielen dabei sehr ernste Dinge mit, die das Strafgesetzbuch zu scheuen haben.“

Ein langer dünner Jüngling betrat unser Grundstück: Der semmelblonde Fred Steen!

„Fred!!“

„Hallo, – – was gibt es?! Auf Posten, Herr Harst? Ein neuer Fall?“

„Ja… – Nehmen Sie sofort Ihren Handkoffer, der ja stets gepackt ist… Hier haben Sie dreihundert Mark. Sie fahren sofort mit einer guten Autotaxe nach Schloß Reubnick. Chaussee nach Eberswalde, halten vor dem Dorf Reubnick und passen auf, wo eine graugelbe große Benzlimousine bleibt, in der sich wahrscheinlich eine junge Dame befindet, die man irgendwie einsperren dürfte. Ich verlasse mich vollkommen auf Ihre Schlauheit, lieber Fred. – So, und jetzt – – Galopptempo!!“

Fred Steen, der nun bereits über ein halbes Jahr unser neues Heim mit uns teilte, besaß all jene Eigenschaften, die wir von einem Mitarbeiter verlangen mußten. In wenigen Minuten trabte er mit seinem Koffer davon und rief uns nur noch halblaut ein kurzes „Wohin Nachrichten?“ zu.

„Dorfkrug Reubnick,“ antwortete Harald, und unser Fred verschwand.

Wir beobachteten die Mansardenfenster drüben.

Der Schatten huschte noch immer über die Vorhänge, wenn auch in größeren Pausen. So verging eine halbe Stunde. Dann erlosch das Licht, gleich darauf trat Herr Bodo von Rindenkerg, ein großer Mann mit seltsam unausgeglichenen Bewegungen, die durchaus seinem Benehmen entsprachen, ins Freie, blickte sich mißtrauisch um, schloß die Haustür hinter sich ab und eilte auf sein Auto zu, das sich sofort in Bewegung setzte.

Harst wartete noch fünf Minuten.

So, mein Alter, jetzt werden wir suchen…“

Haustürschlösser sind mehr Zierrat als Schutz. Jeder Dietrich öffnet sie. Etwas schwieriger war es droben vor Lady Farstals Mansardentür. Diese Schloß war ein Patentschloß und hielt uns etwas länger auf.

Wir leuchteten das kleine Zimmer mit den Taschenlampen ab. Alles war wieder sehr ordentlich eingeräumt worden, – das Stübchen erweckte keinerlei Mißtrauen. Sogar das Bett war sauber hergerichtet.

Harald verriegelte die Tür und meinte leise: „Es kommt mir auf etwas ganz Besonderes an… Dort steht eine kleine Schreibmaschine. Ich möchte feststellen, ob Lady Farstal ihre geheime Korrespondenz getippt hat.“

Er hob die Blechhaube von der Maschine ab und wollte sie schon beiseite stellen, als er plötzlich die Haube umdrehte und hineinschaute.

Dabei lachte er zufrieden. „Leuchte mal‥! – Schau an, eine kluge Frau, die Lady!! Wenn der Griff der Haube nicht so locker gewesen wäre, hätte ich das Versteck kaum entdeckt!“

Er legte die Schreibmaschinenhaube mit der Öffnung nach oben auf das Bett, und ich erkannte nun, daß die beiden Schrauben des Griffes innen ein gewölbtes schwarzes Blechstück mit festhielten. Als Harst sie entfernt und dieses Blech abgehoben hatte, kamen darunter eine Menge Papiere zum Vorschein, die mein Freund nur flüchtig besichtigte und dann zu sich steckte.

Hierauf widmete er dem Papierkorb seine Aufmerksamkeit, fischte zwei zusammengeknüllte Blätter blauen Durchschlagpapiers heraus, glättete sie etwas und sagte gleichmütig:

„Wir können gehen…“

Das Einzige, was er noch mitnahm, war der zweite Lackschuh, der zu dem auf der Straße gefundenen paßte.

 

 

3. Kapitel

Ein merkwürdiges Dorf.

Dorf Reubnick, hart am Ufer des gleichnamigen Sees sich hinziehend, war am nächsten Morgen um drei Anglergäste reicher geworden. Der eine, ein langer, dürrer, semmelblonder Jüngling mit frecher Wippnase, war ein Student namens Steinke. Der zweite, der auch allein von der nächsten Bahnstation eingetroffen war, nannte sich Hermann Hurtig, Regierungsrat, und der dritte, ich, hatte mich bescheiden zum Eisenbahninspektor a.D. selbstherrlich erhoben. Im übrigen kannten die drei ‚Neuen‛ einander absolut nicht und kümmerten sich auch nicht um einander. Jeder aß am eigenen Tisch im Wirtshausgarten sein Frühstück, jeder hatte sein Zimmer für sich, – der Dorfkrug ‚Zum märkischen Leu‛ war ganz auf Anglergäste eingestellt und zählte zu den neuesten ‚Prunkgebäuden‛ neben der Chaussee.

Mir war hier in Reubnick sofort aufgefallen, daß das Dorf, in dem zumeist Gutsarbeiter wohnten, eine richtige Potemkin-Siedlung darstellte.

Jeder kennt den netten Schwindel, den Potemkin sich mit seiner russischen Kaiserin dereinst leistete, als diese ihr Land besichtigte. Er ließ Dorfkulissen an den Ufern der Wolga errichten, und die Kaiserin glaubte blühende neue Dörfer zu sehen, wo doch nur bemalte Pappe vorhanden war.

Ähnlich hier.

Kam ein Fremder die Chaussee entlang, dann erblickte er links am See die renovierte Kirche, das große Pfarrhaus, den neuen Dorfkrug – schon mehr Hotel! – und noch einige blitzsaubere Siedlungshäuschen, dazu eine gut gepflasterte Straße, einen Turnplatz, eine Anlegebrücke mit Jachten, Motor- und Ruderbooten.

Wenn dieser Fremde jedoch das Waldstück, in dem er sogenannte Reue-Bach dahinfloß, und die Brücke überschritt, fand er die Kehrseite der Medaille vor: Armselige, strohgedeckte, windschiefe Häuschen und Ställe, kein Pflaster, – – und dies war das echte Dorf Reubnick! Der andere Teil war nur Schwindel – Blendwerk der Hölle.

Hier in diesen uralten Baracken hausten die Gutsarbeiter kläglicher als das Vieh in den modernen Luxusstallungen des Gutshofes, hier wurde ‚gespart‛, hier wurde nichts für die sogenannten Instleute getan, hier zeigte sich die ganze Schamlosigkeit einer Selbstsucht, die den einfachen Mann unter das Vieh degradierte.

So lernte ich Dorf Reubnick bei meinem ersten Spaziergang nach dem Frühstück kennen.

Potemkin-Dorf‥!!

Schwindel, Bluff, übelste, raffinierteste Taktik, von der Chaussee aus ein Musterwerk vorzutäuschen.

‚Zufällig‛ trafen sich die drei neuen Gäste um elf Uhr an der Westecke des von dem Reue-Bach durchströmten Burggrabens in einem dichten Haselnußgebüsch – ‚zufällig‛.

Unser Fred war quietschfidel, aber Harsts ernstes Gesicht ernüchterte ihn sehr schnell. „Lieber Fred, die Sache hier liegt weit, weit bedenklicher, als ich ahnte. Erzählen Sie mal… – Wohin wurde die Dame gebracht?“

„Nicht ins Schloß, Herr Harst, sondern in ein älteres Gebäude am Nordrand des großen Parkes, wo ein scheußliches Ehepaar haust. Die Dame wurde hineingetragen, Herr Harst, und man hat ihr im Oberstock ein Wohnzimmer mit vergitterten Fenstern zugewiesenen.“

„Das genügt mir vorläufig. Sie haben sich wieder bewährt, lieber Fred. – Wieviel Leute befanden sich in der Limousine?“

„Mit dem Chauffeur vier, – ohne die Dame. – Wer ist es?“

Harst weihte Fred ganz kurz in die bisherigen Vorfälle ein.

„… Aus den in der Haube der Schreibmaschine vorgefundenen Papieren war leider nicht viel zu entnehmen,“ sagte er zum Schluß mit einem bedauernden Achselzucken. „Obwohl Lady Farstal von jedem Brief, den sie dem Schuhmacher, beziehungsweise Schäfer Hinrich Knast in den zu besohlenden Schuhen sandte, einen Durchschlag zurückbehalten hatte und obwohl des Schäfers Antworten vollzählig vorhanden waren, hatten sich beide so vorsichtig ausgedrückt, daß wir lediglich auf Vermutungen angewiesen sind, und diese gehen dahin, daß wahrscheinlich Lord Farstal im Schloß gefangen gehalten wird, also gar nicht tot ist.

Eins ist gewiß: Die heimliche Korrespondenz, die die Lady mit dem Schäfer als dem treuen Hüter ihrer Kinderjahre führt, handelt stets von ‚ihm‛, also einer nicht näher bezeichneten Persönlichkeit, über deren Wohlergehen die Lady sehr in Sorge ist. Vieles spricht dafür, daß dieser Gefangene der moralisch entgleiste Lord sein kann, – vieles spricht dagegen, so hauptsächlich die von Schäfer Knast wiederholt erwähnte ‚Ausfahrt im Rollstuhl‛. –Nehmen wir einmal an, daß Lord Emmery Farstal gemeint sein könnte, den man vielleicht verschwinden ließ, um einen noch größeren Skandal zu verhüten. Würde man den Lord dann im Rollstuhl spazieren fahren? Wohl kaum! Er könnte doch dabei entfliehen oder Hilfe herbeirufen oder sonst etwas unternehmen, seine Freiheit zurückzugewinnen! Und weiter: Wäre es Farstal, würde ihn doch dieser oder jener der Gutsarbeiter erkennen, die fast alle Herrn Bodo von Rindenkerg grimmig hassen, weil er der Typ des selbstsüchtigen adligen Großagrariers ist. Also?! –Wir tappen im Dunkeln, mein lieber Fred. – Nun noch etwas anderes: Rindenkerg hat gestern abend mit Myladys Schreibmaschine an den Notar Bechstein, bei dem sie arbeitete, einen Brief getippt und dem Notar – mit Frau Helgas Unterschrift – mitgeteilt, daß sie die Stellung sofort aufgebe, da sie nach London verreisen müsse … für längere Zeit. Das heißt mithin: Herr von Rindenkerg will nun auch seine Tochter einkerkern! – Weshalb? Er fürchtet sie! Er glaubt, sie könnte ihm und seinen Getreuen und Freunden, die sich hier in Reubnick zum Schützenverein ‚Kimme und Korn‛ zusammengetan haben und die wie Pech und Schwefel zusammenhalten, irgendwie gefährlich werden. Diesen Verein erwähnt Schäfer Knast ebenfalls wiederholt und deutet auch einmal an, daß sein Enkel Hilbert ten Leer nunmehr bei ihm wohne und diesen Schützenbrüdern schon hinter ihre Schliche kommen würde. Auf diesen Hilbert ten Leer bin ich außerordentlich neugierig. Was der Mann eigentlich ist, geht aus den Briefen nicht hervor, aber auch Lady Farstal vertraut ihm blindlings.“

„Ein wundervolles Problem!“ meinte Fred begeistert. „Sonst noch was, Herr Harst?“

„Ja. Die Hauptsache: Wir haben gestern nacht noch die bewußten Lackschuhe als Paket fertiggemacht und in den einen Schuh einen getippten Brief für Knast hineingeklebt – unter die Einlegesohle – und den greisen Schäfer für heute abend zehn Uhr hier auf diesen selben Platz bestellt, wo sich Mylady einfinden würde – oder ein Abgesandter von ihr. Dieser Abgesandter werde ich sein. Das Paket ist heute früh abgegangen und wird Knast als Eilsendung noch heute zugestellt werden. Er sollte also kommen. Ihr beide werdet euch schon um neun hierher begeben und euch verstecken, damit ihr mir nötigenfalls beispringen könnt. Ihr dürft nie vergessen, daß die Mitglieder dieses fragwürdigen Vereins ‚Kimme und Korn‛ überall, auch hier ihre Spione haben und daß es uns dreien sehr leicht genau so ergehen kann wie Lady Farstal: Man läßt uns verschwinden! Also doppelte und dreifache Vorsicht! – So, nun mag sich Fred zuerst davonschleichen, dann du, mein Alter, zuletzt ich… Wiedersehen heute abend…“ –

Wiedersehen?!

Wenn wir geahnt hätten, wie dieses Wiedersehen ausfallen würde, hätten wir uns nicht mit so frohem Händedrücken getrennt.

Wir hatten ja dank Haralds geistiger Rührigkeit schon so allerlei erreicht, aber – – jemand anderes war uns denn doch vorläufig sehr gewachsen, sehr – – zu sehr.

Auf dem Rückweg zum Wirtshaus überprüfte ich das merkwürdige Problem nochmals gedanklich in allen Einzelheiten. –

Wer war der Gefangene im Schloß? Wirklich Lord Farstal?! Oder vielleicht ein Liebhaber Lady Farstals, den der Herr Bodo von Rindenkerg aus irgend welchen Gründen haßte?

Als ich dann die Brücke über den Reue-Bach erreicht hatte, lehnte dort am Geländer ein schlanker Herr im schlichten Sportanzug, hatte die Hände leicht über der Brust verschränkt und blickte mir aus dunklen, großen Augen beängstigend starr entgegen.

Plötzlich lächelte er. Es war ein bezaubernd belustigtes Lächeln, ein ganz wenig selbstbewußt, ein ganz wenig ironisch…

Dann schaute er zur Seite und betrachtete mich nicht weiter. –

Ich traf einen Dorfbuben. „Sage mal, wer ist der Herr dort, mein Junge?“

„Wo? Welcher? Ich sehe keinen…“

Ich drehte mich um. Die Brücke war leer.

„Der Herr stand am Geländer der Brücke… Hier hast du eine Mark, Junge…“

Das half.

„Ach – – der!! Der?! Das war der Enkel vom alten Knast, der Herr Hilbert ten Leer‥!! Oh, – den mögen wir alle gern, alle… Nur die nicht, die mit zu den Aasjägern und Sauschützen gehören, zum Verein, – – oh, den Verein hassen wir, aber der Herr Hilbert wird es ihnen schon zeigen!!“

Der Bengel strahlte…

Auch ich hatte den Eindruck gewonnen, daß dieser ten Leer sehr zu fürchten war.

 

 

4. Kapitel

Spieler und Gegenspieler.

Da es in unserem Programm lag, einander nicht zu erkennen, und da Harst und ich äußerlich gründlich verändert waren, blieb mir nach dem Mittagessen und einem kurzen Schläfchen im Gras nichts anderes übrig, als allein mich hier genauer umzusehen. Ortskenntnis schadet nie. Ich begegnete im Potemkin-Dorf wieder meinem Freund vom Vormittag, dem kleinen aufgeweckten Bengel, und da gerade Schulferien waren und er nichts zu tun hatte, nahm ich ihn als Führer mit. Er gehörte zu einer kinderreichen Familie, die in einem der jammervollen Häuschen wohnte, zehn Personen in zwei Stuben. Er hieß Hans Triebsch und sah wie ein kleiner Strolch aus.

Meine Absicht war, den Schäfer Knast, eine für Reubnick gewichtige Persönlichkeit, irgendwie unauffällig kennenzulernen. Hans Triebsch schaute mich pfiffig an, als ich ihn fragte, wo man denn hier seine Schuhe in Ordnung bringen lassen könnte.

„Bei Vater Knast, Herr… Wollen Sie zu ihm?“

„Ja… Mein linker Stiefel drückt…“ –

Eine faule Ausrede.

Wir waren bereits bis zum Seeufer gelangt. Hans Triebsch deutete auf eine flache, mit Kiefern und Gestrüpp bestandene Insel mitten im See.

„Die gehört Vater Knast…“

Ich war ehrlich verblüfft.

„Dja, – die hat er vom alten gnäd’gen Herrn geschenkt bekommen, bevor der jüngere Herr hier das Maul so voll nahm,“ erklärte der Bube altklug. „Was meinen Sie, Herr, was der Sauschützenkönig so alles angestellt hat, um Knast’en wegzulocken! – Hat sich was!! – Also los, rudern wir hinüber… Da ist Knasts Boot…“

Im Röhricht hing ein breiter Bretterkahn an einer Kette, vier Ruder lagen in dem Boot. Wir stiegen ein, und als wir offenes Wasser erreicht hatten, erzählte der Junge voller Respekt, daß der Schäfer hier der Arzt für Menschen und Vieh sei, außerdem verstände er vieles andere. Die Patienten ruderten immer zur Insel hinüber, und Knast verdiene viel Geld.

All das machte mich immer neugieriger.

Plötzlich tat Hans Triebsch dann in anderem Zusammenhang eine Äußerung, die mich aufhorchen ließ.

„Herr, vieles wäre hier besser, wenn nicht damals, als der Lord sich erschoß, die dummen Redereien aufgekommen wären… Ein Teil des Dorfes glaubte an die Schuld der Lady, der andere nicht, – es wäre beinahe zu Mord und Todschlag gekommen, und der alte gnädige Herr wurde dadurch so krank, daß er nun immer im Rollstuhl gefahren werden muß, und der Herr Bodo soll… – – na, ich will nicht zu viel aus–plaudern…“

Ich hielt den Atem an. „Sage mal, Junge, wird denn noch einer der Schloßbewohner im Wagen gefahren?“

„Nee! Wer denn wohl?! Das Schloß steckt immer voller Gäste, und die sind alle so vom selben Kaliber wie der feine, hochnäsige Herr Bodo, der angeblich nun Pächter ist…“

Meine Gedanken kreisten in tollem Wirbel…

War es denn möglich?! Sollte der ‚Gefangene‛ etwa Herr Anton von Rindenkerg sein?! Sperrte man ihn deshalb von aller Außenwelt ab, um den riesigen Besitz nach Möglichkeit für die Zwecke dieses ‚Schützenvereins‛ ausschlachten zu können?! –

Es mußte so sein… Es gab keine andere Lösung. –

Hans Triebsch plapperte weiter, aber was er sagte, hatte Hand und Fuß, der Junge besaß eine verblüffend scharfe Beobachtungsgabe.

„… Herr, es schadet gar nichts, wenn diese dunklen Geschichten hier an die Öffentlichkeit kommen. In den Zeitungen soll es auch schon gestanden haben…“

Von der Insel ertönte ein schriller, eigentümlicher Pfiff. Der Knabe, der ebenfalls gerudert hatte, schnellte herum. Ich desgleichen, – und sah, daß im Erlengestrüpp des Ufers ein grelles, grünes Licht aufleuchtete.

„Was war das, Hans?!“

Der Junge ließ die Ruder schleifen…

Ich dachte an die Lichtsignale für die Wilddiebe.

„Weiß nicht…“ murmelte der Bengel. Er war wie ausgewechselt. Seine pfiffigen Augen musterten mich mißtrauisch. „Vielleicht hat Vater Knast Besuch. Wir werden ja sehen…“

Er blieb maulfaul, drehte sich immer wieder um, und plötzlich erklärte er: „Es hat keinen Zweck… Der Knast hat Patienten… Wir müssen umkehren… Da steht die alte Louise, seine Wirtschafterin, und winkt uns ab…“

Was war geschehen? Weshalb dieses verbissene Schweigen des Jungen?! Weshalb lehnte er sogar die eine Mark ab, die ich ihm als Geschenk anbot, nachdem wir wieder gelandet waren? Weshalb hatte er es so eilig, sich fast ohne Gruß zu entfernen?!

Ich war allein, schlenderte am See entlang, bog dann in den Wald ein und erreichte die Parkmauer. Die vier klobigen Türme des uralten Herrensitzes ragten hoch über den dichten Baumbestand hinaus. Von keiner Seite war von dem Schloß mehr zu sehen als diese Türme.

Ein leises Pfeifen ertönte über mir. Ich schaute empor, eine Leine glitt durch das Blattgewirr der mächtigen Buche, und Harsts Stimme befahl hastig:

„Nach oben!! Flink!!“

Mein Freund Harald hockte im Wipfel auf einem Ast und hatte das Fernglas umgehängt.

„Du kommst mir gerade recht,“ begrüßte er mich. „Eigentlich müßte ich dir gründlich den Kopf zurechtsetzen, weil du so eigenmächtig handeltest. Aber das hat uns doch Nutzen gebracht. Ich sah das grüne Signal… Hier gibt es nicht nur einen Sauschützen-Verein, sondern auch eine straff organisierte Gegenpartei, das ist mir nun bereits klar geworden. Gut drei Viertel der Dorfbewohner halten zu Hilbert ten Leer, beziehungsweise zum alten Knast…“

„Harald…“ – ich konnte meine Neugier gar nicht schnell genug loswerden – „der Gefangene hier ist nicht der Lord, sondern…“

„… der Herr Anton von Rindenkerg, Helgas Großvater, – das weiß ich längst. – Nun blicke gefälligst mal nach rechts… Das Haus da an der Parkmauer ist Lady Farstals Gefängnis… Es ist ebenso alt wie das Schloß, und der Eckturm… – –

Hallo, – – bemerkst du das Gesicht hinter den Gittern des großen Turmfensters droben? Das – – war sie – Mylady!“

… Es war ein wundervoller klarer Julitag, nicht zu heiß, etwas windig… Das Haus drüben stand auf einer Parklichtung. Soeben sah ich vier Herren im Haupteingang verschwinden.

Harald, das Glas an den Augen, murmelte bissig:

„Der Herr Bodo in Begleitung von drei Spezialisten!! Also das beabsichtigt er!“

„Was denn?!“ irgend etwas würgte mir in der Kehle. Ich ahnte, was Harald mit ‚Spezialisten‛ gemeint hatte.

„Sie werden die blutjunge Witwe entmündigen,“ – seine Stimme war unnatürlich rauh. „Die drei waren sehr bekannte Ärzte, Psychiater…“

„Schufte!“ entfuhr es mir.

Harald lachte hart. „Derlei Dinge geschehen alle Tage … vielleicht in nicht so grobschlächtige Art wie hier… – – Still… Ganz still!“ Er zischelte nur noch und schaute nach unten.

Gerade unter uns schlich lautlos Hilbert ten Leer dahin…

„Kennst du ihn?“ fragte ich leise.

Seine Antwort hätte mich stutzig machen müssen. Aber in dem damaligen Stadium des Falles ‚Lackschuh‛ und eigentlich bis zur restlosen Klärung war ich so völlig einseitig gegenüber diesen Geschehnissen eingestellt, daß mir das Verständnis für Harsts feine Andeutungen fehlte, zumal er zu jenem Zeitpunkt selbst noch halb im Dunkeln tappte.

Er erwiderte nur: „Ich kenne ihn vom Sehen, nur das. Ich weiß, daß er genau wie sein Großvater Knast den Lindenbergs unendlich viel verdankt und vielleicht auch dankbar ist – über das gewöhnliche Maß hin–aus. – Nimm bitte nicht alles so sehr für ernst, was ich zu diesem Problem äußere. – – Ah, dort taucht ten Leer wieder auf‥! Gib acht, was geschieht…“

Ten Leer stand auf einem freien Fleck neben der verwitterten hohen Parkmauer und war durch Büsche nach allen Seiten hin gedeckt.

Zunächst konnte ich nicht recht erkennen, was er dort trieb. Dann sah ich genau, daß er einen kleinen Ballon aus Seidenpapier mit dem Mund aufblies, daß er eine kleine Stahlflasche hervorholte, den Ballon mit Gas füllte und unten zuband.

Der blaugraue Ballon, etwa vierzig Zentimeter Durchmesser, stieg empor. Unten hing ein langer Faden. Der Wind trieb ihn über den See genau auf die Insel zu. Kurz vor der Insel geriet er jedoch in eine andere Luftströmung und drohte abzutreiben. Da ertönte aus dem Ufergestrüpp der Insel ein schwacher Knall, der Ballon fuhr zur Seite, sank und blieb im Uferbüsche hängen.

„Schrotschuß!“ sagte Harald atemlos. „Sollte man es glauben, daß hier mit solchen Mitteln operiert wird!! In einem Dorf!“

Auf der Insel erschien ein graubärtiger Mann, löste den Ballon, der nur noch schlaffes Papier war, von dem Ast und verschwand wieder.

Als wir nach ten Leer ausschauten, war er nicht mehr zu finden. Harst schickte mich fort. „Klettere hinab, es bleibt bei unserer abendlichen Verabredung. Überschätze bitte das eben Geschaute nicht nach der falschen Seite, mein Alter, – die Mahnung gebe ich dir mit auf den Weg! Dieser Ballon kann ebenfalls ein … Potemkin-Dorf gewesen sein… Ich bin an vielem irre geworden, was ich als erwiesen betrachtete. Eine derartige Nachrichtenübermittlung ist zu … gesucht, zu unsicher, zu überflüssig und kann leicht bluffen… –

Also auf Wiedersehen‥!“

Ganz benommen kehrte ich zum Wirtshaus zurück, holte mein Angelzeug und warf an der Anlegebrücke meine Angeln aus. Der Lackschuh der Lady Farstal bereitete mir böse Schwierigkeiten. Harst war mir gänzlich unverständlich, und der peinliche Eindruck, daß ten Leer möglicherweise etwas von einer Hochstaplernatur besäße, wollte nicht weichen.

 

 

5. Kapitel

Doktor ten Leer und die Irrenärzte.

Fred Steen hat es mir nachher erzählt.

Er hätte es mir gar nicht zu erzählen brauchen. Mir ging es genau so.

Es war inzwischen Zeit geworden, mich zum vereinbarten abendlichen Treffpunkt zu begeben. Der lange Fred hatte schon vor Minuten den Wirtshausgarten verlassen. Als ich in die Nähe der Westecke des Burggrabens gelangte, sah ich eine alte Bäuerin, die tief gebückt Blaubeeren sammelte. Ich rief ihr einen Gruß zu, aber es ging mir mit ihr genau wie mit den Leuten aus dem verwahrlosten Dorfteil, die meine Grüße nur mit finsteren Blicken erwidert hatten: Sie würdigte mich nicht, überhörte mein freundliches ‚Guten Abend, Mutter…‛ –

Die Dorfbewohner waren gegen uns eingenommen, sie mißtrauten uns, ja sie zeigten schlecht verhehlte Feindseligkeit.

Würde ich schon damals die Dinge besser überschaut haben, dann wäre ich nicht so blindlings in die Falle getappt. Aber dieser sonderbare Fall ‚Lackschuh‛, dessen Grundmotiv man unmöglich sofort durchschauen konnte, war nur zu sehr geeignet, auch die klarsten Augen mit Blindheit zu schlagen.

Wirklich völlig ahnungslos schritt ich an der alten unfreundlichen Bäuerin vorüber, ich war kaum zwei Meter weit gekommen, als wahrhaft eiserne Fäuste meinen Hals umkrallten und eine zweite Person mir ebenso von hinten ein stark süßlich duftendes Tuch vor das Gesicht preßte. Die ehernen Klammern um meine Kehle lockerten sich, ich wollte um Hilfe rufen, holte tief Luft. Die Sinne schwanden mir, und als ich wieder zu mir kam, schlug mir ein ekler Modergeruch entgegen, aber mein Kopf war klar, ich verspürte nichts von den Nachwehen der Betäubung, fühlte mich nur etwas matt und hatte sofort die letzten bewußten Augenblicke wieder in der Erinnerung – den Überfall – und das riß mich hoch. Ich setzte mich aufrecht, starrte ungläubig um mich und blinzelte völlig geblendet in das ruhige, kalte, grelle Licht einer Karbidlaterne.

Allmählich konnte ich die Einzelheiten dieser ungewohnten Umwelt genauer unterscheiden. Ich saß auf einem Strohsack, ringsum an den feuchten Mauern standen und hingen verrostete Rüstungen, alte Schwerter, Hellebarden, uralte Luntenflinten und sogar zwei ebenso antike Bronzekanonen.

Ein Trost bei alledem: Ich hatte Leidensgefährten!

Neben mir lagen Harald und Fred, gleichfalls auf Strohsäcken, und an dem kleinen Tischchen, auf dem die Lampe brannte und die weißen Schimmelpilze der Mauern förmlich aufleuchten ließ, saßen Hilbert ten Leer und ein weißbärtiger Greis eins in ländlicher Tracht und beobachteten mich still.

Auch Harst regte sich.

Ten Leer sagte höflich: „Wir sind einem Irrtum zum Opfer gefallen. Genauer: die Opfer waren Sie, meine Herren. Ich habe Ihnen dreien bereits Gegenmittel eingegeben. Entschuldigen Sie unser brutales Vorgehen, Ihre Verkleidung war zu gut, ich hielt Sie für Gegner. Ihre Papiere klärten mich auf…“

Kein Wort zu viel, kein Wort zu wenig, – solche Leute liebe ich.

Harst hüstelte etwas. Die feuchtkalte Moderluft dieses Kellers reizte die Kehle.

„Herr ten Leer, diese Zusammenkunft verargte ich Ihnen um so weniger, als ich sie hätte verhindern können,“ meinte er genau so höflich. „Der plötzliche Stimmungsumschlag der Dorfbevölkerung mir gegenüber bewies mir, daß sie irgend etwas vorbereitete, und das bisher hier Erlebte hatte mir gezeigt, daß Ihr Spionagesystem oder Ihr Nachrichtendienst, wie wir es nennen wollen, außerordentlich vielseitig ist…“

„Mag sein,“ nickte ten Leer etwas zurückhaltend.

„Am meisten imponierte mir der Ballon,“ fügte Harst hinzu. „Haben Sie, Herr ten Leer, Ihren Großvater Knast durch den Ballon Mitteilung über Bodo Rindenkergs gelehrte Besucher gemacht, die im Parkhaus eine gemeinsame Konsultation abhalten wollen?“

Ten Leer stutzte merklich.

„Konsultation?!“

„Ja. Es waren drei Psychiater…“

Auch Schäfer Knast, der mit seinem braungebrannten Gesicht, der scharfen Hakennase und den blanken Augen nichts von Greisenhaftigkeit verriet, beugte sich neugierig vor.

„Also … Irrenärzte!“

Dabei warf er seinem Enkel einen schnellen fragenden Blick zu.

„Ich kenne die Ärzte von Ansehen,“ erklärte Harst und erhob sich langsam von seinem raschelnden Strohsack. Er schritt auf den morschen Brettertisch zu und setzte sich auf einen der leeren Schemel.

Ten Leer starrte ihn groß an.

„Was folgern Sie aus dieser Anwesenheit der drei Psychiater, Herr Harst?“

„Jedenfalls sind meine Schlußfolgerungen anders als die, die Sie jetzt beschäftigen,“ meinte Harald mit Nachdruck. „Ich merke, daß Sie über gewisse Ereignisse der verflossenen Nacht nicht unterrichtet sind. Sie glauben, der Besuch der gelehrten Herren gilt dem Gefangenen von Reubnick – das ist jedoch falsch. Der alte Herr Anton von Rindenkerg wird im Schloß in strengster Abriegelung von der Außenwelt gehalten. Im Parkhaus befindet sich jemand anderes, der dem Schützenverein ‚Kimme und Korn‛ genau so unbequem, wenn nicht gefährlich erscheint.“

Sowohl ten Leer wie Knast machten jetzt aus ihrer Verblüffung kein Hehl. „Sie sind ja weit besser informiert, als wir es ahnten,“ sagte ten Leer eifrig, aber immer noch mit deutlicher Vorsicht in der Wahl der Worte. „Also – wem galt dieser beunruhigende Ärztekongreß? Allerdings glaubte ich in dem einen Herrn den Geheimrat Binsenschneider wiederzuerkennen…“

„Es war Binsenschneider,“ bestätigte Harald und schaute sich dann nach Fred um, der sich soeben arg fluchend aufrecht gesetzt hatte. „Fred, halten Sie gefälligst Ihren vorlauten Mund‥! Sie befinden sich hier nicht in einem Pseudoathletenklub, sondern in einer Gesellschaft, die den rüden Ton nicht liebt…“

„Verzeihung,“ murmelte Fred. „Es stinkt hier aber wirklich ganz fürchterlich, und…“

Harst drehte ihm wieder den Rücken zu. „Herr ten Leer, unser Famulus ist nicht immer so ungezügelt in seinen Temperamentsausbrüchen… Das macht nur die Kellerluft hier… Die weißen Schimmelpilze erinnern ihn wohl an eine flüchtige Episode in seinem Leben, in der er sich für die glorreiche wertlose Athletik begeisterte. – Wo sind wir hier?“

Ten Leers kluges, beherrschtes Gesicht hatte sich nachdenklich tiefer gesenkt.

„In einem geheimen Raum der alten Burgmauer dicht über dem Burggraben,“ erwiderte er zerstreut.

Dann richtete er sich straffer auf.

„Herr Harst, ist etwa Lady Farstal hierher verschleppt worden?“

Harald schüttelte ablehnend den Kopf. „Zunächst sagen Sie mir einmal, was hier in Reubnick eigentlich vor sich geht. Sie können doch nicht verlangen, daß ich Ihnen Vertrauen entgegen bringe, wo ich doch weit mehr weiß als Sie‥! Nein, Ehrlichkeit gegen Ehrlichkeit‥!“

Ten Leer lehnte sich weiter zurück, schob die Lampe beiseite und erwiderte sehr bestimmt: „Ich bedaure, Herr Harst, – die Dinge hier dürfen nicht an die Öffentlichkeit dringen – – niemals! Ihre geistige Wendigkeit in Ehren, aber auch ich bin nun im Bilde. Das heute bei meinem Großvater eingetroffene Lackschuhpaar ist von Ihnen abgeschickt worden, mithin ist…“

Harald winkte kurz ab.

„Sparen wir uns diese … Anzapfungen, Herr ten Leer! Handeln wir also nach der Parole: Getrennt marschieren, vereint schlagen!! Unser Gegner ist Bodo Rindenkerg samt seinem Schützenverein. –

Wir dürfen uns nun wohl entfernen, es ist Mitternacht, und das Dorfwirtshaus dürfte trotz des heutigen Vereinsabends bereits geschlossen sein.“

Ten Leer schaute Harst wieder in seiner eigentümlich durchdringenden Art an.

„Ihren Entschluß bedaure ich,“ sagte er sehr laut. „Hallo, – – näher heran, ihr da hinten! Ihr wißt, worum es geht…“

Eine im Hintergrund bisher unsichtbare Tür schwang auf und zwölf Bauernburschen, die sich durchlöcherte Tücher vor die Gesichter gebunden hatten und die zumeist alte Trommelrevolver in den Händen hielten, kreisten uns schnell ein.

Ten Leer erklärte frostig: „Sie, meine Herren, verlassen das Versteck nur unter Bedeckung und mit verbundenen Augen.“

„Wie Sie wünschen…“ Harst war die harmloseste Liebenswürdigkeit in Person. „Ich möchte nur noch eine Zigarette rauchen…“

„Bitte‥!“

Dann rauchte mein Freund und musterte die strammen Gestalten der zwölf Dörfer. „Ihre Garde, Herr ten Leer? – Natürlich Ihre Garde‥! Und wie steht es mit dem Schützenverein?“

Ten Leer entgegnete belustigt: „Oh, – zunächst sind die Herrschaften in der Minderzahl. Außerdem dürfte ihr Anhang schnell auseinanderlaufen. Freilich, ihre Bewaffnung ist besser.“

Harst betrachtete das geistvolle, schlichte Gesicht ten Leers wie erstaunt. „Würden Sie es denn auf einen Gewaltstreich ankommen lassen?!“

„Ja!!“ Und diese knappe Bejahung klang so fest und unerschütterlich, daß Harald sich zunächst jeder Gegenäußerung enthielt. Ten Leer fügte denn auch von selbst hinzu: „Mißverstehen Sie mich nicht! Es handelt sich nur darum, dem alten Herrn einmal die Rückseite der Prunkfassade zu zeigen, eben die Wahrheit! Die Kulissen von Pappe dort an der Chaussee, mögen sie auch Ziegelbauten sein, sind gemeinster Betrug. Wir werden eine günstige Stunde benutzen und den Rollstuhl des alten Herrn von Rindenkerg mit Gewalt über den Reue-Bach schieben und ihm das Elend zeigen, in dem die meisten der Dorfbewohner leben und leben müssen, denn wo fänden sie heute andere Arbeit?!“

Abermals verzichtete Harald auf eine Erwiderung. Ten Leer blickte ihn fragend an, er mochte eine Antwort erwartet haben. Dann gab er seinen Leuten einen Wink, man verband uns die Augen, und wenig später stiegen wir in ein Boot, das lautlos davonruderte… Mindestens eine Viertelstunde verstrich, bevor man uns aufforderte, eine Treppe recht still emporzusteigen, und erst nach wiederum einer Viertelstunde eiligen Fußwegs durch den Wald nahm man uns die Binden ab. Unsere Begleiter verschwanden schleunigst, wir selbst befanden uns am Rand des Wassergrabens vom Schloß in einem kleinen Birkengehölz.

 

 

6. Kapitel

Der Gefangene.

Der vorlaute Fred flüsterte geringschätzig: „Schwindel!! Wir sind niemals in einem Geheimraum des Walles, sondern auf Vater Knasts Insel gewesen!“

„Schweigen Sie!!“

Harst zischte es Fred so drohend zu, daß unser Famulus sich verängstigt zurückbeugte.

„Da – – ein Boot! Achtung!!“

Bleiches Mondlicht glitzerte auf dem mit Seerosen bedeckten Wasser des Wallgraben, der rechts von uns einen scharfen Winkel hatte. Um diese Biegung plätscherte jetzt ein weiß gestrichenes Boot unter dem kräftigen, aber geräuschlosen Ruderschlag eines Mannes in grüner Schützenuniform. Der phantastische Federhut à la Wallenstein hätte diesen Mann nicht so lächerlich erscheinen lassen wie die mit Orden besäte Brust, die er uns nun zukehrte, als er sich hastig umdrehte, um nach irgend etwas Ausschau zu halten.

„Hinlegen, – – leise!“

Harald kroch dann vorwärts, bis er durch die hohen Gräser wieder auf den Wallgraben hinabschauen konnte.

Der Mann im Boot war der jüngere Rindenkerg, hinten am Steuer saß ein ähnlich herausgeputzter Herr, nur mit weniger Orden, dafür aber mit einem glitzernden Monokel.

Das Boot fuhr ohne Antrieb noch eine Strecke weiter und blieb dann kaum vier Meter entfernt zwischen den Seerosen liegen.

Bodo Rindenkerg äugte immer wieder scharf umher…

„Stailing, hier stimmt etwas nicht!“ sagte der Vater der Lady Farstal mit gedämpfter Stimme. „Seit dieser Wicht von Doktor, dieser minderwertige Schäfers Enkel wieder auf der Insel weilt, müssen wir doppelt vorsichtig sein. Dieses Boot ist unweigerlich vor ganz kurzer Zeit benutzt worden, – denke an den Zigarettenstummel, den wir hier fanden und an die frisch geschmierten Dollen… Der Kerl bekommt es fertig, sogar unser Boot zu benutzen und hier zu spionieren. Außerdem, – – sieh dort die losgerissenen Wasserrosenblätter… Womöglich steckt der Bursche noch innerhalb des Walles… Ein Glück, daß ich soeben bei der Heimkehr von der Feier im Dorfwirtshaus noch die veränderte Lage der Ruder im Boot bemerkte. Oh, man lernt das Sehen, wenn man… – Hallo, was war das da rechts an Wall, dort bei den wilden Rosenbüschen‥?! Nimm deine Büchse, Stailing, und wenn… – – Teufel, ein Mann!! Stailing, schießen!! Brenn ihm eins auf den Pelz!! So schieß doch!!“

Freiherr von Stailing, der Intimus Rindenkergs, meinte ärgerlich: „Es war ein Busch, der sich bewegte, nichts weiter! Teufel nochmal, nach sechs Flaschen Sekt solltest du deine Nerven auch besser in der Gewalt haben! Außerdem danke ich ergebenst, dafür einen Menschen niederzuknallen, – was doch nur in deinem Interesse geschehen würde.“

Rindenkerg hatte bereits nach den Rudern gegriffen, der Kahn schrammte an der Innenseite der Mauer des Walles entlang, ein Bootshaken half Rindenkerg beim Emporklimmen, und mit wenigen Sätzen hatte er die Stelle erreicht, wo auch ich soeben undeutlich eine menschliche Gestalt wahrgenommen hatte. Gerade dort lag das Mondlicht sehr klar auf einer kleinen Lichtung, und wir drei Beobachter hier auf der anderen Seite des Grabens hielten unwillkürlich den Atem an, als urplötzlich hinter den Büschen eine hohe, breitschultrige Greisengestalt hervortrat, die sich schwer auf einen Krückstock stützte. Soweit ich unterscheiden konnte, trug der Greis einen dunklen Schlafrock, ein Käppchen mit Troddeln und ein dunkles Halstuch, daß er über das Kinn emporgezogenen hatte.

Bodo Rindenkerg prallte zurück…

Seine alkoholheisere Stimme kreischte in zügelloser Wut:

„Vater, – – du hier?! Was treibst du hier?! Kehr um, ich…“

Blitzartig wie Schatten tauchten neben dem alten Mann drei, vier Diener auf… Ihre Livreeknöpfe blinkten, – sie warteten keinen Befehl ab, packten zu, die Gruppe verschmolz zu einem wirren Durcheinander, dann entschwanden die Gestalten, nur der jüngere Rindenkerg stand noch am selben Fleck und lauschte offenbar den sich entfernenden Schritten. Nach einigen Minuten kehrte er um und kletterte schwerfällig wieder in das Boot hinab. Seinen prächtigen Wallensteinhut mit der weißen langen Feder hatte er verloren, sein Gesicht war bleich und verstört, und als Stailing ihn fragte, was denn eigentlich geschehen sei, zischte er den Freund grimmig an…

„Was geschehen ist?! Ein Fluchtversuch!! Er war es… Und natürlich steckt dieser verdammte ten Leer dahinter!! Aber – jetzt ist damit Schluß!! Jetzt werde ich dafür sorgen, daß der alte Knast die Insel räumen muß! Was heißt da Schenkungsurkunde?! Was bedeutet es, daß Knast die Insel in fruchtbares Ackerland verwandelt und dort ein kleines Gartenparadies geschaffen hat?! Diese Volksbeglücker müssen verjagt werden, ich kenne jetzt keine Rücksicht mehr, und…“

Sein ‚Freund‛ Stailing unterbrach ihn etwas scheu: „Bodo, nichts übereilen, ich warne dich! Es steht zu viel auf dem Spiel! Unterschätze ten Leer nicht, er hat…“

„Ah, – – also auch du wie die anderen!“ lachte Rindenkerg verbissen. „Diplomaten, Ränkeschmiede, Intriganten, – – aber etwas wagen, – nein, dann zieht ihr euch zurück! – Vergiß nicht,“ fügte er drohend hinzu, „daß ihr alle genau so schuldig seid wie ich!“

Er ruderte davon.

Stailing saß ängstlich zusammengeduckt am Steuer.

Der Lord glitt um die Biegung, und unser Fred holte hörbar tief Atem. „Verflucht, – – ist das eine Bande, Herr Harst! Man müsste die Polizei verständigen, der alte Mann wird ja wie ein Zuchthäusler behandelt!“

Harald erwiderte nur: „Die Polizei verständigen?! –

Mein lieber Fred, weder Knast noch ten Leer noch Bodo wünschen es, mit der Polizei in Berührung zu kommen. Diese nächtliche Szene gehört vielleicht zur Hälfte mit zu einem sehr sorgfältig ausgearbeiteten Programm, uns dreien Sand in die Augen zu streuen. Genau wie der Ballon, genau wie ten Leers Erstaunen über die Anwesenheit der drei berühmten Kollegen… – Es gibt hier noch einige sehr wichtige Punkte, die ich allein aufklären möchte. Zum Beispiel hat sich Lord Emmery Farstal hier im Park erschossen, und ob Bodo Rindenkerg nicht diesen Todesfall weit tragischer nahm, als es den Anschein hat, bleibt vorläufig dahingestellt. So plump, wie Sie diesen Kriminalfall lösen möchten, läßt er sich nicht entwirren, der vielleicht auch nur dann ein Kriminalfall wäre, wenn der Gefangene Strafantrag gegen Rindenkerg wegen Freiheitsberaubung stellt, und das wird er nicht tun. Vergessen Sie auch den Krankenstuhl nicht, in dem der Gefangene umhergefahren wird!! – Ich betonte schon einmal: Weshalb ruft Herr Anton von Rindenkerg nicht Hilfe herbei, sobald man ihn ins Freie bringt, – immer nur abends, Fred, – – und daß dieser geheimnisvolle Gefangene noch genügend Körperkräfte besitzt, die Dörfler zu alarmieren, bewies ja die Szene da drüben! Der Greis ist nicht so gelähmt, daß er einen Rollstuhl braucht. – –Kehren wir einzeln heim… Denkt euch eine Ausrede für euer spätes Erscheinen aus. Fred geht als erster…“

– Im Gasthof ‚Zum märkischen Leu‛ herrschte noch Festjubel. Niemand kümmerte sich um uns. Es war halb zwei morgens, als ich den finsteren, drohenden Ring der Bewohner des Potemkin-Dorfes passierte, die alle, alle mit höhnischen Gesichtern dem Lärm der uniformierten Musikkapelle lauschten.

 

 

7. Kapitel

Das Inselparadies.

Einschlafen?! –

Ich wälzte mich im Bett hin und her. Ich suchte meine aufgepeitschten Nerven zu beruhigen, ich suchte mir einzureden, daß der ganze Fall ‚Lackschuh‛ im Grunde etwas sehr Alltägliches sei, daß derartige Tragödien schon so und so viele Romanschreiber angeregt hätten, daß in kleinerem Maßstab die Frage der sogenannten ‚Altsitzer‛ oft durch … Arsenik gelöst worden war, daß so und so viele Bauernsöhne nach Übernahme des Bauernhofes ihre Eltern als lästige Anhängsel betrachtet und weit schändlichere Mittel angewandt hatten, um völlig frei zu sein.

Gewiß, raunte mir eine kritische Stimme zu, gewiß, das mag wohl richtig sein. Aber hier handelte es sich nicht um schlichte Bauern, hier spielten Leute ein verbrecherisches Spiel, deren Intelligenz, Vernunft und Name zu strengster Einhaltung gesetzlicher Wege verpflichteten. Und was taten sie?! Sie umgingen diese Gesetze, sie fühlten sich erhaben über die landläufige Moral…

Aber wie ein versöhnender Ton in einer grauenvollen Disharmonie tauchte vor mir Lady Helga Farstals reines, keusches Gesicht auf…

Sie, eine geborene Rindenkerg, hatte dieses Treiben hier nicht länger ertragen können, sie war entflohen, sie hatte den Weg zum Volk, zum alten Knast, ihrem treuen Berichterstatter, zurückgefunden gehabt und sich losgelöst von denen, die ihr die Nächsten waren, von ihren Eltern, der Heimat, dem Heimatboden…

Ich sah sie wieder droben im Mansardenstübchen auf dem Bettrand sitzen und die Schuhsohle zurechtschneiden… Den Lackschuh hatte sie im Schoß liegen gehabt und plötzlich scheu aufgeblickt… Sie hatte die schleichenden Schritte ihres Vaters gehört…

Unvergeßlich dieses Bild!

Jetzt noch eindrucksvoller für mich, nachdem ich die Zusammenhänge kannte.

In Gedanken an Helgas holde Lieblichkeit schlief ich ein. – –

Um zehn Uhr vormittags saß ich im Wirtshausgarten beim Frühstück. Der Tag war genau so schön wie der gestrige. Meine ‚Mitangler‛ Harald und Fred waren nicht sichtbar…

Ich schlenderte nachher wieder mit meinem Angelzeug zur Anlegebrücke hinab, löste einen Kahn von der Kette, ruderte auf den See hinaus, umrundete Knasts Insel und legte dort an der Nordseite an, schlich durch die Büsche und Tannen und sahen nun Knasts Inselchen vor mir.

Ich war überrascht, – eine Schäferhütte?! Nein, ein Haus im Alpenstil mit Steinfundament, mit buntbemalten Balkenwänden, blitzenden Fenstern inmitten eines prächtigen Gartens. Linker Hand wogten Kornfelder, rechter Hand weidete Vieh in einer Umzäunung. Ein Pumpwerk, dessen Motor taktmäßig puffte, holte das Wasser aus dem See empor und spendete die nötige Feuchtigkeit.

Staunend verharrte ich unter den Bäumen. Auf der Haupttreppe lag ein großer Schäferhund… An der Hauswand standen zahllose moderne Bienenkörbe.

Der Hund hob den Kopf, blaffte laut.

Die Tür öffnete sich und Hilbert ten Leer erschien auf der Schwelle. Vom Südufer nahten sechs Personen, darunter zwei Landjäger.

Ten Leer lehnte am Treppenpfosten.

„Sie wünschen?!“

Die sechs waren verlegen, fühlten sich unbehaglich. Der eine sagte nun zögernd: „Herr Doktor ten Leer, ich bin…“

„Der Gerichtsvollzieher – – ich weiß!“

„Ja, – – ich habe hier eine Verfügung des Amtsgerichts, nach der ihr Großvater die Insel sofort zu räumen hat… Die Schenkung ist ungültig, da…“

Ten Leers Augen brachten den Sprecher aus dem Konzept.

„Raubritter!“ sagte ten Leer verächtlich. „Zeigen Sie mir die Verfügung.“

„Bitte, bitte, Herr Doktor…“

Ten Leer überflog den Wisch und zerriß ihn in Fetzen.

„Kehren Sie um!“ meinte er gleichmütig. „Herr Bodo von Rindenkerg hat es ja heute sehr eilig gehabt, diese Verfügung zu erwirken, aber ich hatte es noch eiliger, sie unwirksam zu machen… Das Landgericht wird diese Verfügung gewiß aufheben. Mein Anwalt telegraphierte mir, daß morgen spätestens der Widerruf erfolgt also bitte – – gehen Sie, warten Sie bis morgen… – Hier ist die Depesche…“

Die sechs Gestalten schienen aufzuatmen und verabschiedeten sich in aller Höflichkeit. Als sie außer Sicht waren, tauchte Harst in der Haustür auf.

Ten Leer drückte ihm die Hand. „Ich bin Ihnen Dank schuldig… Ich hätte nie geglaubt, daß diese Schützenrotte das wagen würde! Das hätte ihnen so passen können, meinen Großvater von hier zu verdrängen, wo er zehn Jahre sich abgemüht hat, aus Sand fruchtbaren Boden herzustellen…“

Freund Harald rief jetzt meinen Namen.

„Komm nur her, wir haben dich längst bemerkt…“

Ten Leer begrüßte mich sehr herzlich, führte uns ins Haus, und wir fanden in dem schlich und gediegen eingerichteten Studierzimmer auch den alten Knast vor.

Wir setzten uns.

Der Schäfer mit dem kühnen Wilderergesicht meinte trocken: „Wir wurden vorhin durch das Gebell des Hundes unterbrochen, Herr Harst. Sie sprachen gerade davon, daß Sie Ihren Fred nach Eberswalde geschickt hätten…“

Ten Leer reichte uns Zigarren und Zigaretten, und die alte Wirtschafterin brachte erfrischende Zitronenlimonade.

Harald nickte. „Ja, Fred soll in Eberswalde eine Luftbüchse und Bolzen kaufen…“

Wir schauten ihn überrascht an.

„Wozu das?!“ fragte Knast kopfschüttelnd.

„Das werden Sie heute abend sehen, Vater Knast.“

Ten Leer stand mit verschränkten Armen an dem mächtigen Kachelofen. Sein Blick suchte den Harsts.

„Abends?!“ sagte er bedächtig. „Wann?“

„Wann wird der alte Herr von Rindenkerg an die Luft geführt?“

„Meist gegen neun…“

„Täglich?“

„Ja – fast täglich…“

„Und man fährt seinen Rollstuhl stets bis an die Chaussee?“

„Ja, Herr Harst. – Verzeihen Sie, was soll das alles?!“ ten Leer ließ kein Auge von Haralds ernsten Zügen.

Eine vorläufig noch schlau geheim gehaltene Gegnerschaft schien zwischen den beiden Männern aufzukeimen.

Harald lächelte trotzdem ganz harmlos.

„Mit einer Luftbüchse kann man Bolzen in ein Turmgemachs schießen,“ sagte er leichthin. „Und zwar Bolzen mit einem Zettel in dem Wollbüschel unten… Für eine solche Nachricht an Lady Farstal ist die Abendstunde wohl am geeignetsten, wenn der alte Herr seine Ausfahrt macht…“

Ten Leer und Knast wechselten einen merkwürdigen Blick.

„Kein schlechter Gedanke,“ meinte der alte Schäfer zerstreut.

Es klang genau so, als ob er überhaupt nur etwas hatte äußern wollen.

Ten Leer fragte geradezu: „Sie möchten Lady Farstal befreien, Herr Harst?“

„Sie nicht?!“

Erst schwieg ten Leer. Dann nickte er eifrig: „Natürlich! Ich auch!“

Aber seine Antwort hatte etwas Gequältes, Unaufrichtiges an sich.

Harald wechselte das Thema. „Wie war das eigentlich mit Lord Farstals Selbstmord? Wo erschoß er sich? Man sagt, es geschah in Gegenwart seiner Frau. Im Park irgendwo‥?“

„Ja, – auf dem Wallgraben,“ erklärte ten Leer hastig. „Die Waffe fiel ins Wasser und wurde nie gefunden, Sie versank im sumpfigen Boden… –

Interessieren Sie diese längst abgetanen Geschichten, Herr Harst?!“

„So etwas…“

Ten Leer blickte zu Boden.

Eine sehr ungemütliche Pause entstand.

Irgend etwas stimmte hier nicht, das fühlte ich… Diese Todeswaffe, die da angeblich im Schlamm des Wallgrabens für immer versunken sein sollte, weckte in mir ernsteste Zweifel an einer völlig einwandfreien Aufklärung dieses ‚Selbstmordes‛.

Der alte Knast hüstelte kräftig. „Herr Harst, – ich warne Sie nochmals vor Bodo Rindenkerg… Der Mann ist nicht so, wie er scheint…“

„Ja, – vielleicht besser, als man glaubt, Herr Knast… – Jetzt wollen wir uns aber verabschieden.“

Ich ruderte als erster mit meinem Angelkahn davon, legte gegenüber dem Schloß im Röhricht an und hatte in kurzem drei stramme Hechte am Haken.

Aber Schäfer Knast sollte doch recht behalten.

Bodo war gefährlich. Eine kleine Motorjacht rauschte heran, stoppte… Rindenkerg, Freiherr von Stailing und ein dritter Herr beäugten mich scharf.

„Haben Sie eine Angelkarte?“ rief Rindenkerg etwas höhnisch.

„Bestellt und schon bezahlt, – hier ist die Quittung…“

Es war eine kitzliche Situation. Ich wurde mir nicht so recht darüber klar, ob Rindenkerg mich nicht trotz meiner Verkleidung erkannte.

„Ohne Angelkarte und Angelschein dürfen Sie nicht angeln… – Wer sind Sie? Haben Sie Papiere bei sich, die über Ihre Person mit Sicherheit Aufschluß geben?“

„Leider nein… Aber ich wohne im Wirtshaus und…“

Rindenkerg winkte herrisch. „Wir werden Ihren Kahn ins Schlepp nehmen… Sie kommen mit!“

Hatte er wirklich Verdacht geschöpft?!

Wenn wir drei als die entdeckt wurden, die wir wirklich waren, konnte Harsts ganzer Plan zu Wasser werden.

Was also tun?!

… Plötzlich hörte ich Ruderschläge hinter der Jacht. Ein kleiner Nachen tauchte auf, und in dem Bretterkahn saßen ten Leer und mein kleiner Freund Hans Triebsch.

Rindenkerg schaute ten Leer kaum an. Aber er hatte die Farbe gewechselt, er war nervös geworden, und als Hans Triebsch mir zwei Karten hinüberreichte, fuhr er gereizt auf:

„Das hilft dem Herrn gar nichts! Wir nehmen ihn trotzdem mit. Selbst wenn sich gewisse Leute rechtzeitig einmischen, die besser ihre ärztliche Praxis versehen würden, anstatt hier…“

Doktor ten Leer unterbrach ihn. Die Blicke der beiden Todfeinde kreuzten sich. Rindenkergs unstete Augen wichen zur Seite. „Wir haben jetzt hier einen Überfluß an Ärzten in unserer einsamen Gegend, Herr von Rindenkerg… Sogar Spezialisten von Berlin werden eingeladen. Weshalb wohl?! Mein Großvater ist nur ein Schäfer, aber seine Kuren an Ochsen, Schafen, Rindvieh und Menschen sind berühmt… Wir brauchen hier wirklich keine Geheimräte…“

Bodo von Rindenkerg ließ schnell den Motor anspringen, und schon sauste die Jacht davon.

„War das nicht unvorsichtig, Herr ten Leer?!“ meinte ich etwas beklommen. „Wenn man nun die bewußte Dame anderswohin schafft?!“

„Das ist ausgeschlossen… Das Parkhaus wird bewacht… – Auf Wiedersehen…“

So blieb ich denn mit meinem Angelkahn, mit Angelkarte und Angelschein im Röhricht allein zurück. Ten Leers Spionagedienst und sonstigen Maßnahmen imponierten mir.

Aber ein anderer hatte die Hauptregie fest in der Hand: Mein Freund Harald Harst!

Er wußte mehr, als wir alle.

Was wußte er?! Wozu die Luftbüchse?!

… Als ich um ein Uhr zum Wirtshaus zurückkehrte, fiel mir noch etwas anderes ein: die Zigarette!

Jetzt war mir plötzlich klar, weshalb Harald in dem geheimen Raum im Wall die Zigarette geraucht hatte, weshalb er den Stummel dann in das Boot geworfen hatte, wo Rindenkerg ihn fand.

Harald hatte das Boot, mit dem man uns fortschaffte, kennzeichnen wollen. Und dieses Boot gehörte zum Schloß, zum Wassergraben, – also gab es einen versteckten Raum in der Ufermauer des Schloßgrabens! –

Ein unschuldiger Trick war es gewesen…

Trotzdem sollte dieser Trick noch besondere Folgen haben.

 

 

8. Kapitel

Herr Markwart fährt aus.

Das Verdauungsschläfchen nach dem Mittagessen im schattigen Wirtsgartens dehnte sich bis gegen halb vier aus. Dann pilgerte ich, wieder mit Angelzeug versehen, die Dorfstraße hinab, kam über den plätschernden Reue-Bach, an dessen Rändern ein paar Frauen Wäschestücke ausspülten, und bog nachher in den Wald ein…

Unversehens erschien neben mir wie aus dem Boden gewachsen der kleine sommersprossige Hans Triebsch, mit dessen Gefühlen mir gegenüber nun wieder eine Wandlung zum Besseren vor sich gegangen war. Er streckte mir die braune, etwas fragwürdig saubere Hand hin und meinte pfiffig: „Herr Schraut, ich bin einer von den Lehrburschen, – – das heißt: Leer-Burschen, – – Sie verstehen! Ich habe Wache.“

„Des Parkhauses wegen?“ fragte ich ebenso leise.

„Ja… – Wollten Sie dorthin?“

„Allerdings… – Also hat Herr ten Leer dir meinen richtigen Namen genannt?“

„Ja, Herr Schraut…“

Der Junge blieb neben mir…

Fünfzig Meter weiter trafen wir einen älteren, aber noch kräftigen Mann, der Tannenzapfen sammelte. Hans Triebsch blieb stehen.

„Was Neues, Vater Rust?“

„Alles in Ordnung hier… Aber sie telephonieren andauernd. Peter meldete es und brachte die Zettel weg…“

Wir schritten mehr nach rechts, und unweit des Waldweges, neben dem die Telephonmasten für die Leitung zur Postagentur des Dorfes standen, lag ein ganzer Berg abgeholzter kranker Kiefernstämme, in denen der verderbliche Kiefernspinner wütete und die man deshalb dick mit Chlorkalk bestreut hatte.

Der kleine gewitzte Bengel blieb wieder stehen.

„Vorsicht, Herr Schraut… Ich muß erst die Vögel beobachten…“

Es gab hier zahlreiche Spechte, Meisen, Eichelhäher und Finken. Hans Triebsch, von Jugend an als Dorfjunge mit der Natur eng verwachsen, horchte angespannt und nickte dann befriedigt.

„Alles in Ordnung, Herr Schraut… – Passen Sie auf!! Und dann flink!!“

Er riß einen Grashalm ab, klemmte ihn zwischen die aneinandergelegten Daumen und entlockte dieser Flöte ein paar schrille Vogelrufe.

„Da – – jetzt ducken!! Rein mit uns!!“

In der Mitte der Längsseite des Haufens toter Stämme, die hier zum Verfaulen bestimmt schienen, öffnete sich eine Art Pforte. Hans Triebsch übersprang einen Streifen Dornen, und ich folgte ihm. Die Balkentür schlug zu, und der Chlorkalk rieselte herab.

Ich sah, daß die Stämme so gelegt waren, daß im Inneren eine Höhlung entstanden war. Dicke Stützen sorgten dafür, daß die Stämme sich nicht verschoben. In dem engen Raum brannte eine Petroleumlaterne auf einer Art Tisch, auf der ein neuer Telefonapparat stand. Neben dem Tisch saß Harst, den Hörer am Ohr, und außer ihm befand sich noch ein Dorfbursche in dieser durch Ölleinwand abgedichteten Telephonzelle.

Hans Triebsch grinste. Er freute sich über meine Überraschung, reckte sich hoch und raunte mir zu: „Herr Harst hat die Anzapfung der Telephonleitung zum Schloß vorhin entdeckt… Eigentlich sollte dies Versteck geheim bleiben.“

Harald schrieb eifrig. Er hatte mich nur flüchtig angesehen. Dann schien das Gespräch zu Ende zu sein und er reichte mir den Zettel. Ich trat näher an den Lampenschirm heran und las:

Ferngespräch mit Berlin, Auskunftei Schimmelhengst.

R.: Ich bitte, daß Sie genauestens feststellen, ob die drei noch in der Arnoldstraße sind.“

Sch.: Mehr kann ich nicht tun, als ich getan habe, Herr von Rindenkerg. Das Haus ist nicht leer, meine Leute beobachten Personen hinter den Fenstern schon stundenlang.

R.: Ich weiß, daß der bewußte H. häufig, wenn er seine Abwesenheit verbergen will, zuhause Beamte bei sich einquartiert. Ich muß unbedingt wissen, ob erst samt seinen beiden Helfern bestimmt in Berlin weilt. Ihre Arbeitsmethoden, Herr Schimmelhengst, sind mehr als nachlässig. Bezahle ich Sie deshalb so gut, daß Sie sich einfach mit flüchtigen Beobachtungen begnügen?!

Sch.: Gut – in einer Stunde rufe ich wieder bei Ihnen an… Sie sollen zufrieden sein, Herr von Rindenkerg…

Donnerwetter!! Also hatte Bodo doch Verdacht geschöpft!!

Ich blickte Harald fragend an. Der lächelte beruhigend… Die Leute, die uns vertraten, waren sorgfältig ausgewählt und versahen dieses ‚Amt‛ nicht zum ersten Mal.

Harst griff schnell nach dem Hörer. Die Telephonglocke hatte wieder leise geschnurrt.

Er schrieb eifrig, horchte, legte den Bleistift weg und starrte mich groß an.

„Raubritter!!“ murmelte er…

Er legte den Hörer auf die Gabel zurück.

„Das war ein Gespräch mit dem Parkhaus… Sehr vorsichtig gehalten… Aber ich wittere Unrat… –

Wir müssen hin, – dort bereitet sich etwas vor,“ – wandte er sich an meinen pfiffigen Freund Hans, „wie sieht die Frau Markwart aus, – die aus dem Parkhaus, Herrn Bodos frühere Sekretärin?“

„Groß, dick, Brille, graues Haar…“

„Und ihr Mann? – Schnell!“

„Mittelgroß, hager, rötlicher Vollbart, etwas bucklig, auch Brille…“

„Laßt uns hinaus… Gebt scharf auf das Telephon acht und notiert jedes Gespräch…“

Wir schlüpften in den Wald, Harald begann zu laufen, und nur brockenweise klärte er mich auf…

Die ersten Telephongespräche wurden mit dem Amtsgericht der Verfügung wegen geführt… Rindenkerg hat gegen ten Leer Anzeige wegen Vernichtung einer Urkunde erstattet… Dann sprach er mit der Polizei in Eberswalde der Wilddiebe wegen… Er würde vielleicht heute abend mehrere Beamte brauchen… Sein Ferngespräch mit Berlin hast du gelesen… Der letzte Anruf bei Frau Markwart, seiner Vertrauten, deren Mann auch dem famosem Schützenverein angehört, war wohl auf zwei Ursachen zurückzuführen. Ersten darauf, daß ten Leer so unvorsichtig oder so vorsichtig gewesen ist, meine Luftbüchse Bodo gegenüber zu erwähnen, und zweitens darauf, daß ein ganz bestimmter Schwindel unbedingt aufrecht erhalten werden soll. Die ganze famose ‚Telepfonzelle‛ war nämlich genau so Bluff wie der Ballon, wie der Überfall auf uns, wie unser Transport zum Rand des Wallgrabens, wo Herr Bodo rechtzeitig von uns belauscht werden sollte, und wie die gerichtliche Verfügung…“

Ich war starr. Ich glaubte mich verhört zu haben.

War denn ten Leer gar nicht Bodos Gegenspieler?!

Harald fügte nur noch hinzu: „Selbstverständlich machen wir diesen Schwindel mit und spielen die Ahnungslosen. Also richte dich danach in allem.“

Wir hatten inzwischen bei diesem Dauerlauf drei neue Wachtposten passiert, die uns auf das Paßwort ‚Leer-Burschen‛ ohne weiteres vorübergelassen hatten.

Jetzt mäßigte Harst sein Tempo und wurde vorsichtiger. Das Parkhaus hatte seinen besonderen, wenig benutzten Waldweg zum See hinab und auch eine besondere Mauerpforte und Einfahrt.

Kaum hatten wir ein Gestrüpp neben diesem Weg erreicht, als das Holztor der Parkmauer von Frau Markwart geöffnet wurde. Wir sahen vor dem Haus einen Einspänner stehen, auf dem der zweifelhafte Herr Markwart saß. Die Frau kletterte auf den Vordersitz, trieb das Pferd mit der Peitsche an, und das Wägelchen rollte zum Tor hinaus und weiter den holprigen Weg entlang.

Meines kleinen Freundes Hans Triebsch’ wenig schmeichelhafte Bemerkung über die beiden einzigen Bewohner des einsamen alten Gebäudes war nicht übertrieben gewesen. Das Ehepaar sah direkt verkommen aus, – unsauber, schmierig, verwildert, – die roten Nasen und die Wangenröte deuteten auf starke Vorliebe für Spirituosen hin.

Harst beobachtete scharf die Umgebung. –

Das Tor war offen geblieben, der Wagen näherte sich… Da der Weg sehr schmal war und die Baumkronen sich darüber wölbten, lag er vollkommen im Schatten.

Dann kreischten die Angeln des Tores, – es schlug zu, man bemerkte jedoch niemanden, der es geschlossen hätte. Der Wind schien es zugeworfen zu haben.

Harst lachte leise…

„Dummköpfe!“

Ich betrachtete mir das Ehepaar genauer. Markwart saß allein hinten auf dem Polstersitz und schien zu schlafen. Sein schmieriger Filz war ihm tief ins Gesicht gerutscht, sein Kopf schlackerte hin und her.

Nun war der Wagen vorüber.

Harald schnellte hoch, sprang vorwärts, schwang sich behutsam auf den Gepäckhalter des Wägelchens und packte Markwart, riß ihn hoch, ließ ihn zurückfallen und hielt dem weiblichen Kutscher, der sich entsetzt umgedreht hatte, die Pistole vor die Stirn.

„Umkehr!! Sofort!! – Schraut, klettere über das Tor! Hinein ins Haus, bevor der echte Markwart telephonieren kann!“

Ich brauchte mich nicht anzustrengen.

Das Tor ging auf, und Hilbert ten Leer stand vor mir.

„Alles in Ordnung, Herr Schraut!“ sagte er heiser vor Erregung. „Diese Banditen!! Ich hätte mich wirklich täuschen lassen… Lady Farstal war tadellos als Markwart herausstaffiert.“

In der Diele des Parkhauses standen zwei von den ‚Leer–Burschen‛ und hielten den schlotternden Säufer fest.

Das Wägelchen fuhr an der Tür vor, wir trugen Lady Farstal ins Haus, – sie war betäubt, sie war an die Rücklehne des Wägelchens leicht angebunden gewesen. Wir konnten sie getrost ten Leers Fürsorge überlassen, „denn,“ so sagte Harst zu Bodo Rindenkergs scheinbarem Gegner, „glauben Sie keineswegs, daß Rindenkerg den Abtransport der Lady nicht beobachten läßt. Hier im Park und im Wald wird er Ihre Wachen längst bemerkt haben, aber draußen am See, wo der Weg zum nächsten Dorf abbiegt, stecken seine Spione, und die müssen wir täuschen. Frau Markwart wird uns verraten müssen, wohin Helga Farstal geschafft werden sollte, und den Trunkenbold Markwart werden Sie zwingen, die Abfahrt des Wagens telephonisch nach dem Schloß zu melden.“

 

 

9. Kapitel

Lady Farstals Umzug.

Zum Rittergut Reubnick gehören drei Vorwerke. Eins davon hatte der jüngeren Rindenkerg aufgegeben. Die Gebäude standen leer, waren baufällig, und nur im Verwalterhof wohnte noch ein Gutsförster, ein jüngerer Mann, der seinem Herrn blind ergeben und natürlich auch Mitglied des Schützenvereins war, dessen einfachere Mitglieder es sich neben allem anderen zur hohen Ehre anrechneten, einmal einen Händedruck von altadliger Hand zu erhalten. Im übrigen muß betont werden, daß einige benachbarte Standesgenossen Bodo Rindenkergs sich in letzter Zeit geradezu auffällig von ihm zurückgezogen hatten, so besonders auch Graf Bellendorf, dessen Besitzungen bis dicht an das Vorwerk Kappenrade heranreichten. –

Gutsförster Eicher litt noch jetzt beträchtlich unter dem Kater des Schützenfestes, und als das Wäglein auf den verwahrlosten Hof gerumpelt kam, erhob er sich fluchend von seinem eisernen Feldbett und torkelte übelgelaunt ins Freie.

„Na, endlich!!“ rief er der blassen Frau Markwart zu. „Nette Schweinerei, diese Geschichte‥!! Wenn die Sache herauskommt, fliegen Sie ins Loch!“

Trotzdem lachte er zynisch, als er sich nun ‚Herrn Markwart‛ betrachtete. „Fein herausgeputzt habt ihr die Lady, verdammt noch mal!!“

Die verängstigte Markwart schwieg. Sie wußte nur zu gut, was geschehen würde. Sie kletterte schwitzend vom Bock herunter, und ihre rotgeäderten, scheuen Augen wichen denen des Försters dauernd aus. Aber plötzlich belebten sich ihre Blicke, – hinter der alten windschiefen Scheune waren der Freiherr von Stailing und ein Diener des Schlosses aufgetaucht, die sich nun schnell näherten. Sie schöpfte neuen Mut, vielleicht konnte alles doch noch gut werden, und ihren dicken Lippen entrang sich ein halblautes ‚Gott sei Dank!‛, während sie ihren ‚Gatten‛ jetzt höhnisch anfeixte.

Da kam in die schlaffe Gestalt auf dem Rücksitz mit einem Schlage Leben, Bewegung und bedrohlicher Tatendrang. Die ‚Lady‛, die weder Markwart, noch Farstal, sondern Harst hieß, schnellte empor… Beide Arme fuhren nach vorn, zwei Pistolenmündung predigten eindringlichst von Buße und Friedfertigkeit.

„Hände hoch!!“

Oh – ich kann mir vorstellen, wie Harst dies unmißverständliche Kommando damals abgegeben hat! Er hat mir die Szene eingehend geschildert, und der betonte, daß er in einem bestimmten Augenblick für sein Leben keinen Pfifferling gegeben hätte.

„Hände hoch!!“

Erst waren die vier nur verdutzt, aber die messerscharfe Männerstimme hatte etwas unheimlich Zwingendes an sich.

Und sie gehorchten…

Und gerade da erschien eine Person auf dem Schauplatz, mit der Harst nie gerechnet hatte.

Hinter ihm ertönte ein ähnliches messerscharfes Kommando…

„Lassen Sie die Pistolen fallen, oder ich drückte ab!“

Nun, der junge Graf Bellendorf hielt zwar seine Pirschbüchse im Anschlag, aber als diese Vogelscheuche von Markwart sich jetzt halb umdrehte und ihm zurief: „Hier Harst, Berlin‥! Ich warne Sie!!“ da näherte sich Bellendorf im Sturmschritt…

„Herr, sind Sie wirklich Harst?! Was soll die Maskerade?!“

Der kritische Augenblick war glücklich überwunden.

Harst entgegnete trocken: „Ich stelle zur Zeit die verkleidete Lady Farstal vor, die hierher verschleppt werden sollte…“

Bellendorf lachte nicht, nein, er pfiff nur laut durch die Zähne.

„Ach so, – mir geht ein Licht auf!! Die blassen Gesichter der vier Herrschaften reden eine sehr klare Sprache. – Und Sie auch wieder mit von der Partie, Stailing?! Pfui Deubel!! – Herr Harst, was soll geschehen?“

„Binden Sie die vier … – und bitte, wer sind Sie?“

„Graf Bellendorf… – Binden? Wird gemacht, ist mir sogar ein Vergnügen!“

Wenig später saßen die Herrschaften unten im Keller, nachdem der Freiherr von Stailing noch das Schloß hatte anrufen müssen: ‚Der Transport ist gut angelangt, und er würde vorläufig hier bleiben.‛

Harald hatte damals dem Grafen so ziemlich reinen Wein eingeschenkt – nicht ganz. Bellendorf war nicht weiter überrascht, die unglaublichen Zustände in Reubnick waren ihm kein Geheimnis. Inzwischen hatten sich dann auch zwei von den ‚Leer-Burschen‛ zur Bewachung der Gefangenen eingefunden, und Harst und Bellendorf trennten sich mit kräftigem Händedruck, wobei der Graf beim besten Willen ein Schmunzeln nicht unterdrücken konnte, denn Harald als nunmehr dicke Frau Markwart sah in der Tat zum Stein erweichen schön aus.

‚Frau Markwart,‛ fuhr mit dem leeren Wägelchen also heimwärts zum Parkhaus, traf dort um halb sieben ein, wurde von uns weidlich angestaunt und erklärte uns nur, – ten Leer und mir: „Ihr hättet diese Raubritter nur winseln hören sollen!! Der Monokel-Stailing benahm sich am schäbigsten. Er wollte mir alles verraten, wenn ich ihn laufen ließe…“

Wir standen während dieses Gesprächs in der Diele. Eine der Türen öffnete sich, und Lady Helga Farstal, in einen langen Mantel gehüllt, trat zu uns und streckte Harst mit bitterem, aber dankbarem Lächeln beide Hände entgegen.

„Ich weiß nicht, wie ich Ihnen dies jemals vergelten soll, Herr Harst… Herr ten Leer erzählte mir, wie geistvoll Ihre Schlußfolgerungen gewesen sind, die Sie von einem Lackschuh bis hierher führten. Nur um eins bitte ich Sie: Schonen Sie meinen Vater, obwohl … obwohl er kaum Schonung verdient… Ich als sein Kind bin wahrlich nicht berechtigt, über ihn den Stab zu brechen, aber andererseits bin ich ein zu gerecht denkender Mensch, als daß ich ihn irgendwie in Schutz nehmen könnte. – Denn er schreckt vor nichts zurück, vor nichts!!“

„Das mag sein, Mylady. Was in meinen Kräften steht, wird geschehen, um die Vorkommnisse hier so zu klären, daß alle Teile zufriedengestellt sind… Ganz einfach ist diese Aufgabe nicht, da sogar nicht einmal Sie wissen, was Freund und was Feind darstellt…“

„Freund … und Feind?!“ wiederholte Helga Farstal sichtlich bedrückt. „Es … es wäre entsetzlich, wenn ich sogar…“ – sie brach jäh ab und fuhr ganz unvermittelt fort: „Ich bin hier in Sicherheit, das fühle ich, Herr Harst, – – das danke ich Ihnen! Auf Wiedersehen … später.“

Sie neigte nur etwas den Kopf zum Gruß und schritt in das Zimmer zurück.

Doktor ten Leer schaute ihr nach, als ob er sie am liebsten zurückgerufen hätte.

Ich glaubte zu ahnen, wie es um seine Gefühle für Helga Farstal bestellt war. Um so trostloser mußte ihm zumute sein, daß er hier eine so undurchsichtige Rolle spielte, und da er sich von der Frau, die er liebte, halb durchschaut sah.

Einzeln verließen wir dann das Parkhaus, obwohl diese Vorsichtsmaßregel ganz unnötig war.

Ebenso lächerlich wie dieses Versteckspiel erschien mir das große Aufgebot von Wachen, die ich auf dem Weg zum Dorf antraf. Die braven Burschen ahnten nicht, daß hier in Reubnick nur ein künstlicher Gegensatz zwischen den Dorfbewohnern geschaffen und klug verstärkt worden war: Die einen, der Schützenverein und Anhang, waren vielleicht die, die an Helga Farstals Schuld am Tod ihres Gatten glaubten, die anderen mochten für Helga eintreten und gehorchten blindlings ten Leers Anordnungen und Befehlen, die wohl nur den einen Sinn und Zweck von Anfang an gehabt hatten, offene Zwistigkeiten zu vermeiden und den Fall Emmery Farstal durch schlau geförderte Unzufriedenheit auf ein totes Gleis zu schieben oder auf ein Nebengleis, das die sozialen Gegensätze verschärfte und hierdurch Lady Helga zur Märtyrerin umstempeln half.

So weit glaubte ich das Problem ‚Lackschuh‛ nun doch begriffen zu haben.

Aber ob diese, meine Vermutung zutraf, blieb zweifelhaft…

Mit geringem Appetit aß ich im Wirtsgarten einsamen mein sehr delikates ‚Bauernfrühstück‛, und der Gedanke, wie die Sache eigentlich auslaufen würde, ließ mir keine Ruhe.

Dann geschah etwas, was mich mit einem Schlage wieder auf eine schnelle, gründliche Lösung all der dunklen Widersprüche offen ließ.

Ich hatte schon vorhin Harst beobachtet, der nun ganz offen seitwärts von den gedeckten Tischen sich einen Scheibenstand hergerichtet und eifrig die Luftbüchse erprobt hatte.

Von ungefähr flog ein Bolzen in das schlaff herabhängende Tischtuch meines idyllischen Plätzchen.

Harst lief herbei, entschuldigte sich, nahm den Bolzen mit, – – und ich behielt das Papierröllchen in der Hand, das in dem Wollbüschel festgebunden gewesen.

Fünf Minuten darauf las ich unten am Seesteg folgendes:

Daß Bodo und ten Leer Verbündete sind, aber alles nur Erdenkliche getan haben, uns dies nicht wissen zu lassen, mußt du eingesehen haben. Wir werden scharf bewacht. Sieh zu, daß du um halb neun vor dem Parktor in anderer Verkleidung dich einfinden kannst. Den Schloßkastellan, der neben dem Tor wohnt, habe ich bestochen. Er ist zuverlässig. –

H.

 

 

10. Kapitel

Der Mann im Rollstuhl.

In der landläufigen Art von Detektiverzählungen kämpft stets das gute Prinzip gegen das schlechte. Hieraus ergeben sich die für die Spannung der Handlung notwendigen Verwicklungen.

In unserem ‚Lackschuh-Fall‛ habe ich eines der wenigen Kriminalprobleme gebracht, die aus dem oben angedeuteten Rahmen völlig herausfallen.

Gegen halb neun schlenderte ein älterer Bauer die Chaussee entlang, von der eine breite Lindenallee bis zum Parktor hinablief, hinter dem sich zehn Meter weiter der alte Wallgraben mit seiner Zugbrücke anschloß.

Vor der Zugbrücke stand der hagere Schloßkastellan in seiner dunklen Livree und rauchte seine Abendpfeife. Ohne Zögern durchschritt ich das Tor, bekam von dem Kastellan auf mein Zeichen hin einen hastigen Wink und verschwand hinter der Buchsbaumhecke, die das Torwärterhäuschen verdeckte.

Hier in dem kleinen Gärtchen rief mich Harst aus einem hohen Heckenrosengebüsch an, das über ein Gerüst von Stäben als winzige Laube dicht an der Buchsbaumhecke im Halbkreis gezogen war.

Ich schlüpfte hinein, und Harald, der ein ähnliches Kostüm wie ich gewählt hatte, fragte besorgt:

„Bist du auch nicht beobachtet worden?“

„Nein, ich habe mich im Angelkahn im Schilf umgekleidet…“

„Wie ich! – Sehr gut so, mein Alter…“

Neben ihm lehnte die Luftbüchse, und auf einem Bogen Papier lagen vier Bolzen mit roten Wollbüscheln.

„Was soll nun eigentlich werden?!“ fragte ich ungeduldig. „Wird der greise Schloßherr hier gefangen gehalten oder nicht?! Je mehr ich über die ganze Geschichte nachdenke, desto unsinniger erscheint sie mir.“

„Unsinnig?! – Sage besser tragisch! Am meisten bedauere ich ten Leer, der nur aus Liebe zu Helga Farstal diese Komödie mitmacht. – Ja, Herr Anton von Rindenkerg wird hier jetzt gefangen gehalten – jetzt‥! Er ist zur Unzeit aufgetaucht.“

„Aufgetaucht?! – Würdest du nicht endlich so gütig sein, und nicht nur delphische Orakelsprüche von dir geben?! Mein Geduldsfaden ist bereits verdammt dünn geworden, und…“

„Still! Hörst du das Motorrad knattern!! Wie herrlich lärmt die alte Maschine! Zehn Mark Bestechungsgeld hat es mich gekostet, und…“

„Der Kastellan winkt, Harald!“

„Ah, – es wird Zeit!“

Die Bambushecke hatte verschiedene dünne Stellen, und wir konnten die Allee bis zum Tor, ja bis zur Zugbrücke hin gut überblicken. Außerhalb des Tores sammelten sich jetzt, während die Sonne immer tiefer sank und der Weg vor uns im Dämmerlicht dalag, eine große Anzahl Dorfbewohner an, – der beste Beweis dafür, daß der Schloßherr seine gewohnte Ausfahrt unternehmen würde.

Und da tauchte jenseits der Zugbrücke, wo ein zweiter Torbogen sich befand, ein eigentümlicher Zug auf, – man hätte was sagen können eine feierliche Prozession.

Voran schritten zwei Diener in langsamstem Schritt, sehr würdig, sehr selbstbewußt, dann folgte der von einem dritten Diener geschobene Rollstuhl mit dem alten Herrn Rindenkerg, neben dem sein Sohn mit eisernem Gesicht ebenso langsam und feierlich dahinwanderte, – hinterher wieder drei Diener…

Der alte Herr von Rindenkerg saß weit zurückgelehnt in dem mit einem kleinen Sonnendach versehenen Rollstuhl. Er trug eine graugrüne Jagdjoppe, einen breitbandigen Jägerhut, einen grünen Augenschirm und eine graue Brille. Seine Beine bis zum Schoß waren in eine leichte Seidendecke gehüllt, seine Hände steckten in grauen Wildlederhandschuhen und waren im Schoß gefaltet.

Als der Rollstuhl über die Bohlen der Zugbrücke ratterte, wandte er den Kopf und blickte den Wallgraben entlang, erwiderte den strammen Gruß des Parkwächters durch ein Kopfnicken und eine schwache Handbewegung und schaute wieder geradeaus.

Der entscheidende Augenblick war da.

Harst hob die Luftbüchse, zielte, drückte ab…

Ich sah genau, daß der Bolzen dem alten Herrn in den linken Oberarm fuhr und dort stecken blieb. Aber der Betroffene nahm keine Notiz davon.

Blitzschnell hatte Harst wieder geladen. Dieser zweite Bolzen traf das linke Handgelenk und blieb ebenfalls stecken.

Der Getroffene nahm nicht die geringste Notiz davon.

Sein blasses, im Schatten liegendes Gesicht mit dem eisgrauen Spitzbart, durch Augenschirm und Brille halb verborgen, zuckte nicht, zeigte keinerlei Äußerung des Schmerzes.

Ich war starr vor Staunen.

Jetzt erhob sich draußen das begeisterte Begrüßungsgeschrei der Dorfbewohner…

Das Motorrad knallte und knatterte noch immer.

Harst schoß zum dritten Mal…

Gerade als der Rollstuhl dicht vor uns war…

Der Bolzen flog dem alten Herrn in den Augenschirm, riß diesen beiseite.

Trotzdem nickte und winkte der greise Schloßbesitzer den Dörflern freundlich zu – – wie ein gefühlloser Automat.

Bodo Rindenkerg, der jetzt erst den roten Bolzen in dem verrutschten Augenschirm seines Vaters bemerkte, fuhr herum und starrte mißtrauisch auf die Buchsbaumhecke, rief dann plötzlich den Dienern zu, sie sollten sich entfernen, packte selbst den Schiebegriff des Rollstuhls und brachte diesen in wilder Hast in das Gärtchen des Kastellans.

Harst war bereits ins Freie getreten und nickte dem jüngeren Rindenkerg ernst zu.

„Sehr verständigt, – erledigen wir die Sache ohne Zeugen… Ihr Automat da ist vorzüglich… Aber – wo befindet sich Ihr Herr Vater?“

Bodo musterte uns beide mit kalter Feindseligkeit.

„Mein Vater erlebte durch Lord Farstals Selbstmord einen schweren Nervenzusammenbruch und weilt seitdem in einem Sanatorium,“ erwiderte er schroff.

Harst schüttelte leicht mißbilligend den Kopf. „Weshalb dieser gehässige Ton, Herr von Rindenkerg?! Dazu liegt wirklich keinerlei Veranlassung vor, da ich imstande bin, die Hauptfrage zweifelsfrei zu lösen, die hier all dieses Unheil anstiftete – – die Frage: Mord oder Selbstmord? – Verhehlen Sie mir nichts, und dieser Tag wird für Reubnick eine bessere Zeit einleiten. –

Wo ist Ihr Herr Vater?“

Bodo Rindenkerg kämpfte noch mit sich. Dann sagte er ehrlich: „Mein Vater, Herr Harst, hat nie an Helgas Schuldlosigkeit glauben wollen und hat in seinem stark ausgeprägten Gerechtigkeitsgefühl sogar seine eigene Enkelin nicht schonen wollen. Sie wissen, daß mein Schwiegersohn Farstal sich angeblich oben auf dem Burgwall erschossen haben soll. In Wahrheit verübte er den Selbstmord in dem Geheimkeller im Wall, den Sie kennen. Helga war dabei, als die Tat geschah, Sie lief entsetzt davon, teilte mir das Unheil mit, und als wir Lord Farstal tot auffanden – fehlte die Waffe. Helga versicherte mir, sie habe die Pistole nicht entfernt, und da ich sofort erkannte, daß gerade dieses Verschwinden der Waffe mein Kind in dringenden Verdacht der Täterschaft bringen könnte, schaffte ich Farstal mit Doktor ten Leers Hilfe schnell oben auf den Wall…“

„Ja, – – und die Waffe blieb unten, – – ich wußte das alles schon. Und dann hat Ihr Vater durch den schweren Gewissenskonflikt, daß der Polizei ein Selbstmord oben auf dem Wall vorgetäuscht wurde und daß er seine Enkelin eigentlich als Täterin anzeigen müßte, den Nervenzusammenbruch erlitten und ging heimlich in ein Sanatorium, während Sie hier mit Hilfe treuer Diener und weniger zuverlässiger Freunde in Rücksicht auf die Dorfbewohner … die Wachspuppe abends spazieren fahren ließen und auch sonst alles Mögliche taten, um Ihr eigenes Kind zu schützen, von deren Schuldlosigkeit auch Sie nicht so felsenfest überzeugt waren, sonst wäre Lady Helga wohl kaum nach Berlin entflohen, – es war eine Flucht, es war ein Schritt der Verzweiflung, und lediglich Schäfer Knasts Briefe und Doktor ten Leers unerschütterlicher Glauben an Lady Helgas Unschuld mögen die Ärmste seelisch aufrecht erhalten haben…“

Bodo Rindenkerg nickte unmerklich.

„Ja, – es war so… – Und ich selbst?! Ich war ein innerlich zerbrochener Mensch, ich hatte für nichts mehr Interesse, ich lebte dauernd in der Furcht, die Polizei könnte die Untersuchung des Falles nochmals aufnehmen… Ich hatte den Teil des Dorfes an der Chaussee schon vorher erneuern lassen, – ich beließ es dabei, und so entstand das, was Sie ten Leer gegenüber Potemkin-Dorf genannt haben… – Und gerade Sie, Herr Harst, nur Sie waren und sind die Ursache, daß jetzt wahrscheinlich alles an den Tag kommen wird, denn … wie wollen Sie den unglücklichen Beweis für meines Kindes Schuldlosigkeit erbringen?! Das ist unmöglich‥!“

Harald streckte Rindenkerg warm die Hand hin.

„Ich kann es‥! Vertrauen Sie mir‥! Vorher aber nur noch eins… – In der verflossenen Nacht ist Ihr Vater wider Erwarten heimgekehrt, da Hinrich Knast ihm telegraphiert hatte, Lady Helga drohe Gefahr – – durch mich. Wir sahen Ihren Vater… Und das hatten Sie nie befürchtet, – das verdarb Ihnen und Doktor ten Leer das Spiel. – Wo ist Ihr Herr Vater jetzt?“

„In dem Geheimkeller des Burgwalles,“ erklärte Bodo Rindenkerg etwas scheu.

„Also doch! – Etwas anderes – nur als Bestätigung für mich: Sie entführten Ihr Kind aus Berlin, weil Sie glaubten, Lady Helga wolle meine Hilfe in Anspruch nehmen, da sie mir gegenüber sich eingemietet hatte? – Es ist so?!! – Und Sie wünschten meine Einmischung nicht, weil Sie eben an Helgas Schuldlosigkeit insgeheim zweifelten und in der Angst lebten, Helga wolle auch mich täuschen und ich könnte die Wahrheit aufdecken… – Nun, die Wahrheit ist … aufgedeckt! Merken Sie sich das Wort. – Kommen Sie, ich will Ihrem Herrn Vater, Ihnen und manchen anderen nun noch die Befreiung von all den Zweifeln geben…“

Der durch Rankengewächse verhüllte Eingang zu dem uralten Gelaß im Wallgraben lag dicht über dem Wasserspiegel und bestand aus einer rostigen Eisentür, die man mauerartig angestrichen hatte.

Wir kletterten an einem Seil hinab…

An den kleinen, morschen Tisch, den ich bereits kannte, saßen der greise Schloßherr und der an Jahren nicht viel jüngere Hinrich Knast.

Die Karbidlampe brannte ganz hell und beleuchtete auch die Personen im Hintergrund, bei deren Anblick Bodo Rindenkerg erstaunt den Kopf hob. Es waren Helga, ten Leer und unser langer Fred Steen, den Harald zweifellos beauftragt hatte, die Hauptmitspieler dieser Tragödie rechtzeitig herbeizuholen.

Der alte Schloßherr schaute meinen Freund ein wenig zaghaft an. „Herr Harst, Ihr Famulus erklärte uns, es würde sich nun alles zum Guten wenden… Sprechen Sie, sprechen Sie, – ich will Gewißheit haben…“

„Sofort, Herr von Rindenkerg… – In der vergangenen Nacht bin ich heimlich nochmals hierher zurückgekehrt und habe diesen Raum genau untersucht, da ich aus Hinrich Knasts sehr vorsichtig gehaltenen Briefen an Lady Farstal entnommen hatte, daß Lord Emmery sich hier erschossen hätte, nicht oben auf dem Wall. – Ich wollte die Waffe suchen, und ich suchte nicht blindlings, denn ich wußte bereits, daß Wasserratten hier die Steinplatten des Fußbodens teilweise unterwühlt und aus ihrer Lage gebracht hatten.“

Harst schaltete seine Taschenlampe ein und schritt nach der Seitenwand hin, wo eine der uralten Kanonen stand…

Er beleuchtete den Boden, trat auf die eine Ecke einer der Steinplatten, sie wippte empor, und in dem Erdloch darunter lag eine verrostete Pistole.

„Bitte – das ist die Waffe, Herr von Rindenkerg, deren Verschwinden so viel Unheil anrichtete. Als Lord Farstal sich hier nach einer wohl sehr erregten Aussprache mit seiner Gattin erschoß – zu dieser Aussprache war Lady Helga mehr als berechtigt! – muß er auf dieser Platte und der Nachbarplatte gestanden haben. Nach dem Schuß rutschte sein Fuß vorwärts, die Platte kippte hoch, die Waffe fiel in das Loch, der Lord stürzte seitwärts zu Boden, die Platte klappte wieder herab, und – – die Waffe war verschwunden. – Dieser Beweis für Lady Helgas Schuldlosigkeit ist vollkommen einwandfrei. Die Pistole ist stark verrostet – ich fand sie halb mit Erde bedeckt vor, und all das nehme ich auf meinen Eid.“

– Was auf diese Sätze Harsts folgte, gehört mehr in eine rührselige Geschichte hinein.

*

Ein Lackschuh, ein Lederstück und eine Schere liegen neben mir‥: Andenken an einen Kriminalfall, der gewiß ganz ungewöhnliche Züge trägt.

Wir blieben damals noch acht Tage als Gäste auf Schloß Reubnick, wir machten noch das große Schützenfest mit, an dem das ganze Dorf teilnahm und dessen Folgen für manchen an Spirituosen nicht gewöhnten Bauernschädel einfach verheerend waren: Riesenkater – –Tage lang!

Wir sahen noch die Armee von Maurern und Zimmerleuten anmarschieren, die das Potemkin-Dorf niederreißen und neue freundliche Wohnhäuser errichten sollten…

Wir sahen auch Helga und Doktor ten Leer Arm in Arm durch den Park wandern und freuten uns über die strahlenden Augen der beiden Rindenkergs, Vater und Sohn…

Und dann fuhren wir heim und schlugen uns mit anderen Herrschaften in heißem Kampf herum…

Aber das ist eine andere Geschichte … ohne Lackschuh, ohne Lady Helgas glückliches Lächeln…