Harald Harst
Band: 337
Von
Max Schraut
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 16,
Michaelkirchstraße 23a
Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1932 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16
1. Kapitel
Die fünf und der Sechste.
Als die elektrische Beleuchtung wieder aufflammte und der große Musiksalon des Herrn von Rapper in einer Fülle von Licht schwamm, klirrten die Saiten des geöffneten Bechsteinflügels noch immer leise nach.
Der scharfe, kurze, harte Knall des Schusses, durch den Günther von Rail niedergestreckt worden war, hatte sogar die Saiten des Flügels zum Klingen gebracht.
Fünf Menschen saßen oder standen mit farblosen Gesichtern wie versteinert da und konnten die weiten Augen nicht losreißen von der auf dem hellen Perserteppich niedergesunken reglosen Gestalt.
Die Überlebenden dieser unfaßbaren Tragödie erwachten erst allmählich aus ihrer starren Versunkenheit. Jeder von ihnen hatte in diesen Sekunden, die dem jähen Versagen der Beleuchtung, dem harten Knall, dem Sturz des Körpers und dem Wiederaufflammen des Lichtes gefolgt waren, denselben mißtrauisch spürenden Gedanken nachgehangen:
Wer war’s?!
An einen Selbstmord glaubte niemand, obwohl die Waffe unweit des Toten lag.
Der Hausherr faßte sich zuerst, rückte seine goldene Brille zurecht und betupfte die schweißfeuchte Stirn.
„Ein Selbstmord!“ sagte er heiser, – natürlich gegen seine Überzeugung.
Der Tote war sein bester Freund gewesen.
Gerade Günther von Rail und er hatten in den letzten Monaten geschäftlich außerordentlich viel Glück gehabt, nachdem ihre Namen bis dahin in der Finanzwelt so gut wie unbekannt gewesen. Durch sehr kühne Börsenmanöver hatten sie, zumeist im Verein mit dem mit allen Hunden gehetzten Bankier Silberham, ihr Schäflein gründlich ins Trockene gebracht.
Doktor Alfons Gehrtyl, der heute nur zufällig in diese erlesene Gesellschaft geraten war, stand mit verschränkten Armen am Prunkkamin und schien der Gefaßteste von allen zu sein.
„Ein Selbstmord ist meinen Beobachtungen nach gänzlich ausgeschlossen,“ erklärte er mit einer Offenheit, die in diesem Kreis wenig angebracht war.
Gustav Schwamm, Politiker von Ruf, verzog ärgerlich sein feistes Gesicht.
„Da bin ich neugierig, Herr Doktor!“ meinte er ironisch.
Und Herma Benk, Witwe und Erbin von Benk & Co., nickte ihm eifrig Beifall, desgleichen der dürre Herr Peter von Rank, der stets im Schlepptau des äußerlich stark dekadenten Rapper schwamm.
Der Tote schien plötzlich vergessen zu sein. Er spielte nur noch eine Nebenrolle als unangenehme Unterbrechung eines bisher durchaus harmonisch verlaufenen Abends. Der zweite Störenfried war dieser Gehrtyl, den nur ein böser Wind in die elegante Villa geweht hatte.
„Da bin ich wirklich neugierig!“ wiederholte der dicke Geheimrat Schwamm nochmals und streichelte seinen ergrauten Bürstenschädel. Seine Feinde nannten ihn stets ‚das Stachelschwein‛. Dies traf jedoch nur bedingt zu. Gustav Schwamm stach niemanden, dazu war er zu diplomatisch-feige. Aber wo es galt, goldene Äpfel aufzuspießen, hätte er sich auf den unappetitlichsten Düngerhaufen gewälzt.
Doktor Alfons Gehrtyl, ein Chemiker, der erst in späteren Jahren das Geld zum Studieren mühsam erarbeitet hatte, betrachtete die Gesichter der vier Gegner mit kühlster Gelassenheit. Er hatte sich über diese Menschen hier längst seine Meinung gebildet, auch über Frau Herma Benk, die ihm eine Erfindung abkaufen wollte und ihn heute mit hierher genommen hatte. Gehrtyl war dann auch der einzige, der nicht große Abendtoilette trug. Seinen blauen doppelreihigen Jackenanzug hielt er gerade gut genug für Kellner und Kaffeehausgeiger, obwohl er weder Kellner noch Musiker gering schätzte.
Sein Gesicht, das nur einen Augenblick die Farbe verloren gehabt hatte, war leicht gesenkt. Er betrachtete den Toten, der halb auf dem Rücken lag, mit kühlem Abwägen aller Einzelheiten und sagte dann völlig leidenschaftslos: „Der Schuß sitzt hinter dem rechten Ohr, und die Kugel ist über der Nase wieder herausgetreten. Kein Selbstmörder wählt diese Stelle zum Aufsetzen der Mündung. Außerdem hätte Herr von Rail die rechte Hand beim Abdrücken unnatürlich schräg halten müssen. Die Polizei wird mir recht geben.“
Vier mehr oder weniger energische Protestrufe wurden laut.
„Polizei?! – Das hat Zeit!“ ereiferte sich Geheimrat Schwamm.
„Noch besser – – Polizei!!“ meinte die am Flügel sitzende Witwe Benk, deren Brillantdiadem feurige Strahlen aufzucken ließ, als sie den als Pompadour weißgepuderten Kopf schüttelte.
Etwas schwächer klang des Hausherrn Protest. „Ich fürchte, wir werden uns darüber schlüssig werden müssen, was zu geschehen hat. Natürlich darf nichts übereilt werden…“
Peter von Rank, sein lebendes Echo, murmelte nur: „Nein, nichts übereilen!!“
Um Gehrtyls klugen Mund zuckte es verdächtig.
‚Seltsame Herrschaften,‛ dachte er. –
Und dann erklärte er mit allem Nachdruck: „Ich habe hier wohl auch noch mitzureden. Sollte die Polizei Mord annehmen, so lastet der Verdacht genau so stark auf mir wie auf allen andern. Die Polizei muß telephonisch verständigt werden. Ich bestehe darauf.“
Herr Rittmeister a.D. von Rapper nahm mit gewohnt gezierten Bewegungen die Brille ab und sog die Luft schnüffelnd ein, so daß seine Nase noch schmaler erschien. „Gestatten Sie mal, Herr … äh … Herr Doktor, – Verdacht gegen uns vier?! Komisch!! Sie und der arme Rail waren die einzigen, die … äh … am Kamin standen, und…“
Unter Gehrtyls warnendem Blick begann er zu stottern…
Der Chemiker blieb völlig unberührt durch die allgemeine, gegen ihn so jäh aufkeimende Feindseligkeit.
„Dürfte ich einen Vorschlag machen,“ sagte er leichthin. „Unlängst lernte ich im ‚Standard-Klub‛ den Privatdetektiv Harst kennen. Ich verlebte mit ihm und seinem Freund ein paar äußerst interessante Stunden. Wie wär’s, wenn wir erst einmal Herrn Harst hierher bitten würden‥?“
Der Erfolg dieses Vorschlages war verblüffend. Man konnte jetzt nicht mehr von Protestrufen sprechen, nein, die vier Gegner des Doktors gerieten förmlich in Wut. Man sah bleiche, verstörte Gesichter, man vernahm Ausdrücke, die fast beleidigend für Gehrtyl waren, jedenfalls beleidigend für den, der diesen merkwürdigen Entrüstungssturm entfesselt hatte: Harst! –
Es machte durchaus den Eindruck, als ob man dann schon lieber die Polizei als diesen Privatschnüffler dulden wollte…
Mitten in die erregte Szene hinein platzte der Diener des Hausherrn. Er hatte stark an die Flurtür geklopft, Rapper eilte hinaus, fauchte den Mann grob an…
„Was wollen Sie, James?“ –
Der englische Kammerdiener, eine Perle seines Faches, verneigte sich tadellos. „Zwei Herren bitten vorgelassen zu werden, Sir… Hier sind die Karten.“
Rapper griff mit unsicherer Hand nach dem silbernen Teller. Er hatte ungewöhnlich lange schmale Hände, deren Pflege jeden Morgen eine halbe Stunde Zeit erforderte.
Er hielt erst die eine Karte dicht unter die Augen, dann die andere.
Sein Gesicht wurde förmlich zur steinernen Maske. Er begriff dieses Spiel des Zufalls nicht. War’s überhaupt ein Zufall?! Hatte nicht womöglich dieser eklige Doktor, dieser armselige Emporkömmling, hier irgendwie intrigiert?!
Dann suchte er Haltung zu bewahren.
„Wo sind die Herren, James?“
„Unten in der Diele…“
„Gut, führe Sie in mein Arbeitszimmer… Ich komme sofort.“
James verschwand die Marmortreppe hinab, und Rapper lüftete wieder die schweren Vorhänge, betrat den Musiksalon, schloß die Tür und ließ die Vorhänge fallen. Er blieb dicht vor Gehrtyl stehen, fixierte ihn herausfordern und fragte mit vibrierender Stimme: „Haben Sie etwa gewagt, Harst und Schraut hierher zu bestellen, Herr‥?!“
Der Doktor verstand ihn zunächst gar nicht.
„Ich?! Hierher bestellt?! Ich wußte ja heute abend um sieben noch nicht einmal, daß mich Frau Benk hier bei Ihnen einführen würde! – Was soll Ihre Frage, Herr von Rapper?“
„Ruhe!“ mahnte Frau Herma Benk ängstlich. „Sind etwa Harst und Schraut zur Zeit hier?!“
„Mitunter sind Sie äußerst begriffsstutzig, meine verehrte Herma!“ keuchte Geheimrat Schwamm voller Hohn. „Wo stecken die Kerle, Rapper?! Schmeiß sie raus!! Basta!“
Das Stachelschwein liebte es zuweilen, ein wenig populär zu werden – in seinen Ausdrücken.
„Eine Affenschande, daß wir die Leute in den ‚Standard-Klub‛ aufgenommen haben, der weiß Gott mehr auf Exklusivität halten sollte…“
… „Guten Abend‥!!“
Alle Köpfe flogen herum. Zwischen den Portieren stand ein Herr im Frack, der genau so malitiös-überlegen hinzufügte:
„Ich scheine ungelegen zu kommen… Aber Mordtaten mit so eigenartigen Nebenumständen sind meine Schwäche… – Wir kennen uns alle vom Klub her… Wir dürfen wohl nähertreten…“
Niemand entgegnete ein Wort.
Gehrtyl lächelte wieder unmerklich…
Still und stumm als schwerste Anklage lag der Tote auf dem Teppich.
2. Kapitel
Einer der fünf ist der Mörder.
Hans von Rapper, seit kurzem Besitzer einer der elegantesten Villen auf der weit in die Havel hineinreichenden Halbinsel Schwanenwerder, bemühte sich mit geringem Erfolg, in sein bleiches Gesicht das gewohnte überlegenspöttische Lächeln hineinzuzwingen, das ihm sowie seinem Bekanntenkreis genau so eigentümlich war die manche anderen äußerlichen Besonderheiten in Haltung und Benehmen.
„Wie … wie kommen Sie gerade jetzt hierher?“ fragte er meinen Freund mit ehrlichem Erstaunen.
Harst, dessen Züge bereits wieder den gewohnt ernsten, nachdenklichen Ausdruck zeigten, entgegnete höflich: „Wir sind Gäste Ihres Nachbarn, Herr von Rapper, des Herrn Wittgenstein, dessen Grundstücksgrenze keine fünf Meter von diesem Erkerzimmer entlangläuft. Schraut und ich wollten ein wenig frische Luft genießen, – wir schlenderten drüben den Gartenweg entlang, hörten hier das Klavierspiel, sahen das Licht plötzlich erlöschen, vernahmen den Schuß und den dumpfen Fall des Körpers, sahen die Beleuchtung wieder aufflammen und hörten Ihre erregten Ausrufe… – Sie sehen, Herr von Rapper, unser Auftauchen hier ging ganz natürlich vor sich… Wenn Sie die Erkerfenster dort geschlossen hätten, würden wir nichts gehört haben. Also ein … Schicksalsfehler oder ein Zufall, könnte man sagen.“
Schwamm, der seine kleine stämmige Gestalt in einem Klubsessel versenkt hatte, meinte hastig: „Prinz Wittgenstein ist ja verreist… Und Sie wollen seine Gäste gewesen sein?!“
„Wir sind es noch,“ erwiderte Harst trocken. „Wittgenstein hat uns sein bescheidenes Heim zur Verfügung gestellt… Schraut und ich sind Angler…“
Frau Benk lachte. „Angler?! Für gebildete Leute ein unmöglicher Sport!“
„Mag sein, gnädige Frau… Aber Wissen und Bildung ist zweierlei. Jemand kann auf manchen Gebieten sehr bewandert sein und sehr viel Bildung für sich in Anspruch nehmen, – er besitzt sie trotzdem nicht.“
Frau Benk wurde rot.
Harst wandte sich an Gehrtyl. „Herr Doktor, schildern Sie uns den Verlauf der Dinge. Und Sie, Herr von Rapper, rufen die Polizei an. Von Selbstmord ist keine Rede. Hier liegt Mord vor. Teilen Sie das sofort der Kriminalpolizei mit. Der Schußkanal spricht eindeutig für Mord.“
Harst und ich standen noch immer unweit der Flurtür.
„… Wir dürfen hier also nichts anrühren, Herr von Rapper, und ich werde mich auch nur insoweit einmischen, als ich der Polizei die Vorarbeiten erleichtern will. Bitte, telephonieren Sie…“
Rapper verließ zögernd die Musiksalon, nachdem er mit seinen drei intimen Bekannten einen langen Blick gewechselt und dann ein Achselzucken angedeutet hatte.
Harst zog sein dünnes Notizbuch hervor. „Herr Doktor, einige Fragen… Dieser Raum hat zwei Türen. Waren sie verschlossen, als sie Beleuchtung für etwa eine Minute versagte.“
Schwamm mischte sich bereits ein. „Verschlossen?! Weshalb sollten wir uns einschließen?! Hier wurde musiziert. Nichts weiter.“
„Es wurde ein Mord begangen, Herr Geheimrat, – nichts weiter! Im Verlauf einer Minute während der Dunkelheit.“
Das Stachelschwein hüstelte verlegen und erbost. Der Hieb hatte gesessen.
„Doktor, wollen Sie mir nun genau angeben,“ richtete Harst von neuem das Wort an den sympathischen Chemiker, „wo die einzelnen Personen hier saßen oder standen, als das Licht erlosch, – recht genau…“
Gehrtyl begann seine Erläuterungen. Harst zeichnete danach folgende Skizze:
Die 0 mit den Zahlen bezeichnen die einzelnen Anwesenden.
Im Klubsessel unweit der hohen Stehlampe saß der Hausherr, 01, Herr von Rapper.
Vor ihm, 02, saß Geheimrat Schwamm.
Den Platz 03 hatte Gehrtyl inne (an der Kaminecke).
Daneben 04 stand von Rail.
05 ist Herrn von Ranks Platz.
06, am Flügel, saß Frau Herma Benk.
Der Erschossene, Günther Freiherr von Rail, war vornüber auf den Teppich gefallen, der Kopf lag nach der Mitte des Zimmers zu. –
Die nächste Frage Harsts lautete: „Herr Doktor, wo befanden sich die einzelnen Personen, als das Licht wieder aufflammte?“
„An ihren Plätzen, wie schon angegeben.“
„Wer saß, wer stand?“
„Alle saßen außer mir, Herr Harst.“
Harald murmelte irgend etwas Unverständliches.
Er hatte Grund dazu, denn auch mir erschien es unnatürlich, daß die Herrschaften infolge des Schusses nicht von ihren Plätzen hochgeschnellt wären.
Herr von Rapper kehrte sehr eilig und sehr aufgeregt zurück. „Ein Einbrecher‥!“ rief er heiser und stürmte zum Erkerfenster. „Ich sah ihn im Flur… Ich schickte James dem Burschen nach, aber der Kerl hatte ein Motorboot… Dort fährt er von meiner Anlegebrücke davon…“
Er drehte sich um und musterte Harald äußerst mißtrauisch.
„Meine Villa scheint heute überlaufen zu werden,“ versuchte er zu witzeln… „Ich finde all das sehr merkwürdig… – Weshalb sind Sie und Ihr Freund Schraut im Frack, Herr Harst, wenn Sie hier nur angeln wollen‥?“
„Oh, wir haben Gäste, Herr von Rapper. Einige Freunde des Prinzen. Außerdem gibt es Fische, die vielleicht wert darauf legen, in großer Toilette geangelt zu werden… – Haben Sie die Polizei angerufen?“
„Selbstverständlich!“ Rapper verkniffene Augen trafen den unerschütterlich ruhigen Gehrtyl. „Herr Harst, wer kann den Schuß abgefeuert haben?“
„Jeder, der hier im Zimmer weilte … jeder! Von außen kam der Mörder nicht, weder durch die Erkerfenster noch die Flurtür oder die zweite Tür. Dazu war die Zeit zu kurz. Ich bedaure es sehr, daran festhalten zu müssen, daß einer von den hier anwesenden fünf Überlebenden der Täter sein muß.“
„Blech!“ meldete sich der Geheimrat Schwamm. „Rail war unser bester Freund.“
Frau Benk lachte hysterisch. „Die Polizei wird wohl zu einem vernünftigeren Ergebnis kommen! Es war der Einbrecher, lieber Rapper… Natürlich war es der Einbrecher!“
Peter von Rank, ein Mann von widerspruchsvollstem Benehmen, meckerte eiligst: „Einbrecher, – – selbstredend, gnädige Frau‥!“
Harst beobachtete still jeden einzelnen und machte Studien. Nur Gehrtyl ließ er aus, obwohl der Chemiker vielleicht für einen flüchtigen Beurteiler der Vorgänge am stärksten belastet erschien. Es folgte ein allseitiges, sehr ungemütliches Schweigen. Herr von Rapper hatte sich in seinem Klubsessel neben der Ständerlampe gesetzt, Frau Benk lehnte am Flügel, und erst als vom Garten her ein Schuß dröhnte, kann wieder etwas Leben in die zumeist mit ihren eigenen Grübeleien beschäftigten Anwesenden.
„James verfolgt den Einbrecher,“ erklärte Rapper selbstbewußt. „Ich habe ihm meine Pirschbüchse mitgegeben…“
„Dann hat James wohl mit Zielfernrohr geschossen,“ meinte Harst gleichmütig. „Der Flüchtling muß schon sehr weit entfernt sein. Vielleicht gehörte der Mann zu den Havelpiraten, die jetzt an dem bereits nebligen Septemberabenden den Fluß unsicher machen.“
Geheimrat Schwamm sagte ungeheuer geringschätzig:
„Havelpiraten?! Ammenmärchen!! Sensations-Titel für inhaltslose Reporterbericht!! Albern!!“
Der feiste Herr streichelte wieder seinen Igelkopf und musterte Harst mit deutlicher Nichtachtung.
„Das wird sich herausstellen, Herr Geheimrat…“ blieb Harst auf der neutralen Linie. „Genau so, wem die Waffe gehört…“
Gehrtyl hob etwas den Kopf.
„Die Pistole ist mein Eigentum…“
„Ah!! Also doch!!“ rief Rapper mit zynischer Frechheit und zeigte wieder sein fades Lächeln.
Harst sagte nur: „Hatten Sie die Pistole heute bei sich, Herr Doktor?“
„Nein. Ich erkenne sie aber… Ich habe persönlich meinen Namen in den Lauf geätzt… Der blanke Strich fiel mir sofort auf.“
„Und wie verwahrten Sie die Pistole daheim?“
„In einem Geheimfach meines Schreibtisches, Herr Harst,“ erwiderte Gehrtyl schlicht. Sie muß mir gestohlen worden sein. Heute früh besaß ich sie noch.“
„Das kann jeder sagen…“ murmelte der unleidliche Herr Gustav Schwamm.
„Nur ein Lügner, Herr Geheimrat…“ verbesserte Harst milde. „Und Doktor Gehrtyl ist bestimmt kein Lügner.“
Bald nach diesem die einzelnen Personen genügend kennzeichnendem Geplänkel traf die Mordkommission ein.
3. Kapitel
Daisy Holbers Amulett.
Im Gegensatz zu der pompösen Villa des durch allerlei Schiebungen an die Oberfläche des finanzpolitischen Lebens emporgespülten Herrn von Rapper war das Haus des Prinzen Wittgenstein ein sehr schlichter älterer Bau, dicht mit Efeu umrankt, behaglich und innen äußerst bescheiden ausgestattet. Der Prinz, der sich seit Jahren nur noch Alfred Wittgenstein nannte, war vor einiger Zeit mit einem harmlosen Anliegen zu uns gekommen, und hieraus hatte sich ein regerer freundschaftlicher Verkehr entwickelt.
Was Harst im Musiksalon angesichts des Toten behauptet hatte, traf nur bedingt zu. Gewiß, wir wohnten zur Zeit bei Wittgenstein, wir hatten auch Gäste bei uns, aber wer diese unsere abendliche Tafelrunde einigermaßen scharf unter die Lupe genommen hätte, würde unfehlbar erklärt haben, Frackanzüge seien für diese Art Gäste überflüssig.
Rail war genau fünf Minuten vor zehn erschossen worden. Anderthalb Stunden später betraten wir Wittgensteins Bibliothek, wo es sich unsere drei ‚Gäste‛ bei Wein, Zigarren und Zigaretten bequem und gemütlich gemacht hatten. Es waren dies ein älterer, korpulenter Herr mit einem speckigen Smoking namens Andreas Hubich, dessen Name in letzter Zeit in der Presse sehr oft genannt worden war, übrigens ein Mann mit vorbildlich gutmütigem und von keinem Intelligenzschimmer getrübten Gesicht, – zweitens ein gewisser Gottfried Kunkel in einem vor dreißig Jahren modern gewesenen Gehrock, auch seines Zeichens Rentner, jedoch im Gegensatz zu Hubich unendlich lang und dünn, und drittens ein semmelblonder Jüngling mit impertinenter Stuppsnase und noch frecheren vergnügten Mausäuglein, auch im Smoking, jedoch erstklassig ‚eingekluftet‛, bis zu den Lackschuhen hinab. Dieser junge Gentleman hieß Fred Steen und war unser Sekretär, Koch, Diener, Gehilfe, Freund und Mitbewohner unseres bescheidenen Heims in der Arnoldstraße, Berlin W.
Bei unserem Erscheinen unterbrachen die drei ihre angeregte Unterhaltung und blickten uns erwartungsvoll entgegen. Hubich und Kunkel hatten allen Anlaß dazu, denn sie erhofften von uns mit einer Zuversicht, die uns nur schmeicheln konnte, die Wiedererlangung gewisser Werte, die ihnen die Havelpiraten abgenommen hatten.
Wir nahmen Platz. Harst machte die Sache sehr kurz und bündig. „Fred, Bericht!!“
Steen war an diese knappe Befehlsform in dringenden Fällen schon gewöhnt. „Das Einschleichen in die Villa Rapper war leicht,“ erzählte er im Depeschenstil. „Keine Hunde, miserable Türschlösser und halb betrunkene Dienstboten. James säuft Kognak wie Wasser…“
„Trinkt, nicht säuft…“ korrigierte Harald.
„Pardon!“ bücklingte der grinsende Fred. „Ich war also von halb neun Uhr ab in der Villa. Wir wußten ja durch unsere ausgestellten Wachen, daß Frau Benk den Chemiker mitbrachte, und wir durften also mit einer in ihrem Umfang freilich noch ungewissen Katastrophe rechnen.“
Hubich und Kunkel machten dumme Gesichter.
Oder noch dümmere…
„Kürzer!“ sagte Harst. „Wer machte sich am Hauptschalter der Lichtleitung zu schaffen?“
„Niemand. Alle Lampen erloschen für eine Minute von selbst.“
Harald wandte sich an Kunkel. „Hier brannten die Lampen ohne Unterbrechung, nicht wahr?“
„Jawohl‥!“ – Gottfried Kunkel sagte es wie in strammer Haltung vor einem Vorgesetzt. Er hatte bei den Franzern gedient.
„Weiter, Fred‥!“
Steen haspelte mit fabelhafter Zungenfertigkeit sein Garn ab. „Als das Licht erlosch und der Schuß fiel, befand ich mich im oberen Korridor unweit der Flurtür des Musikzimmers. Dann bemerkte mich Herr von Rapper, ich floh zur Anlegebrücke, unser Mann im Motorboot war auf dem Posten, fuhr allein davon, ich kroch in die Büsche und…“
… Kunstpause …
„Und jetzt kommt’s, Herr Harst, – Sie werden staunen! – und wurde Zeuge, wie James Baring, dieser Verbrecher, einen Mann niederschoß und die Leiche im Wasser versenkte…“
Die Herren Hubich und Kunkel schnellten aus ihren Sesseln erbleichend hoch. „Ein Mord?!“ stießen sie im Duett hervor.
„Ein zweiter Mord,“ winkte Harst etwas zerstreut ab. „Sie beide, meine Herren, haben bisher nur Schmetterlinge, Käfer und Devisen gesammelt… Es gibt noch andere Dinge auf der Welt…“
„Schrecklich!“ stöhnte Hubich. „Zwei Morde!! Furchtbar!!“
Harald beschattete sein schmales Gesicht mit der Hand. Er lächelte nachsichtig.
„Weiter, Fred‥!“
„James hatte dem Erschossenen die Taschen mit Steinen gefüllt, bevor er den Körper von der Brücke ins Wasser gleiten ließ. Er entfernte sich dann, ich nahm einen Bootshaken, holte den Mann heraus und merkte, daß er noch lebte. Ich trug ihn schnell hier ins Haus, zog ihm die Oberkleider ab, und…“
Fred wurde puterrot…
„… und … es war eine als Mann verkleidete Frau, vielmehr ein Mädchen, – die sehr hübsche englische Sekretär von Herrn von Rapper, die uns von den bisherigen Ermittlungen in diesem kniffligen Fall längst bekannte Daisy Holber.“
Selbst Harst konnte seine Überraschung nicht verbergen.
„Das ist wider meine Theorie,“ sagte er leise. „Wie geht es dem Mädchen?“
„Gut. Es war nur ein Prellschuß, Herr Harst. Gut gezielt hatte James, aber die Holber trug über dem Herzen ein Amulett, und die Kugel glitt von der starken goldenen Kapsel ab. Jetzt befindet sich die Sekretärin im Keller unter Verschluß. Es war sehr gut, daß Sie alle Dienstboten des Prinzen für die Zeit unseres hiesigen Aufenthaltes beurlaubt hatten, Herr Harst.“
Hubich und Kunkel, die Schmetterlingssammler und gemeinsamen Besitzer eines Benzinkahns, saßen wie Salzsäulen da.
„Im Keller?!“ flüsterte der lange Kunkel entgeistert.
„Ja… Im des Prinzen Dunkelkammer auf einem Diwan,“ ergänzte Fred strahlend.
„Hat sie irgend etwas geäußert?“ forschte Harst schnell.
„Nichts!! Verstockt wie ein Stockfisch.“
Harst nahm eine Zigarette, rauchte sie an und schüttelte unzufrieden den Kopf. „Meine ursprüngliche Theorie verliert ihr Fundament,“ sagte er mehr zu sich selbst. „Komm, mein Alter, steigen wir in den Keller. – Sie beide, meine Herren, können nach Hause fahren,“ wandte er sich an das etwas komische Freundespaar. „Daß Sie schweigen werden, weiß ich… Fred, geleitet die Herren hinaus. – Auf Wiedersehen…“
Er gab ihnen nicht die Hand.
Hubich und Kunkel waren nicht so harmlos, wie sie aussahen.
Wittgensteins photographische Dunkelkammer hatte eine solide Eichentür, ein Patentschloß, war recht geräumig und hatte auch elektrische Beleuchtung. Bei unserem Eintritt richtete sich Daisy Holber halb von dem Diwan auf und blickte uns ängstlich entgegen. Fred hatte ihr trockene Wäsche und Kleider des zur Zeit beurlaubten Hausmädchens gebracht und auch für Erfrischungen gesorgt.
„Wie fühlen Sie sich, Miß?“ fragte Harst liebenswürdig und zog sich einen Stuhl an den Diwan.
„Es geht…“ hauchte sie verwirrt.
Harald betrachtete das hübsche Gesicht mit eigentümlicher Schärfe.
„Sie sind dem Tode wie durch ein Wunder entgangen, Miß Holber… Einer unserer Freunde rettete Sie… Wollen Sie meine Fragen rückhaltlos beantworten?“
„Nein!“
Mit einem Schlage war ihre Unsicherheit wie fortgezaubert.
„So … so… – Sie wollen nicht… Wen möchten Sie eigentlich schonen, Miß? Ihren Bruder James, der Sie bei Rapper als ganz entfernte Verwandte einschmuggelte, oder den, der Sie veranlaßte, im Garten…“ – er machte eine Pause – „im Garten den Lichtstrom zu unterbrechen?“
Sie erblaßte plötzlich, – ich fürchtete schon, sie würde in Ohnmacht fallen. Aber sie besaß zweifellos eine erstaunliche Willenskraft.
Auch mir war bisher der Gedanke nicht gekommen, daß jemand Miß Holbers dazu bestimmt haben könnte, eine Verkleidung anzulegen und irgendwie die Hauptleitung zur Villa zu unterbrechen, wozu doch nicht nur technische Fertigkeiten, sondern sogar auch längere Vorbereitungen gehört hätten.
„Ihr Schweigen genügt mir,“ sagte Harald ohne jede Gereiztheit. „Es wäre freilich klüger von Ihnen gewesen, offen und ehrlich zu sprechen, denn ein Mord ist eine äußerst ernste Sache, zumal wenn er mit anderen Verbrechen eng verknüpft ist, die man einer … Piratenbande zuschreibt.“
Das Mädchen warf den Kopf etwas zurück. „Ich lebe ja, Herr Harst… James wußte nicht, auf wen er…“
Sie brach jäh ab.
„… auf wen er dem Schuß abgab, – das glaube ich Ihnen,“ vollendeter Harald, jedes Wort abwägend. „Trotzdem ist jemand ermordet worden, Miß Holber, und Sie haben dabei bewußt oder unbewußt geholfen…“
Sie starrte meinen Freund an. „Das … ist … nicht … wahr,“ stammelte sie.
„Leider doch – Herr von Rail wurde durch Kopfschuß getötet, als Sie, nur Sie die Hauptleitung auftragsgemäß für eine Minute unterbrachen. Die Kriminalpolizei befindet sich jetzt drüben in der Villa, und Kriminalrat Penz ist genau so felsenfest von…“
Ich sprang zu, – konnte die Sekretärin gerade noch auffangen.
– Als wir sie wieder ins Bewußtsein zurückgerufen hatten, zeigte sie sich allem gütigen Zureden Harsts gegenüber noch verstockter als bisher.
„Dann bleiben Sie eben vorläufig hier,“ erklärte Harald sehr bestimmt. „Ich will diese Dinge restlos enthüllen, und ich werde es tun. Sie kommen mir da als gute Trumpfkarte sehr gelegen, Miß…“ – er mochte seinen etwas rauhen Ton bereits wieder bedauern, – er legte dem jungen Mädchen ganz sanft die Hand auf die Schulter und fügte warmherzig hinzu: „Ich glaube, Sie haben eine große Tragödie zu verbergen, mein Kind… Seelische Konflikte sind die schlimmsten. Hoffen wir, daß sich alles auch für Sie in zufriedenstellender Weise entwickelt… – Fred Steen wir Ihnen bringen, was Sie noch brauchen… Auch Bücher… – Gute Nacht, Miß Holber.“
Die grauen Augen der Sekretärin, die einen ganz eigentümlichen vertieften Glanz hatten, schienen Harsts noch festhalten zu wollen.
„War es … Absicht?“ fragte sie kaum verständlich.
„Von der Seite war es nicht Absicht, sondern ein unseliger Zufall… Von der anderen Seite war es gemeinste Ausnutzung des zufälligen Zusammentreffens verschiedener Umstände.“
Aus dieser Antwort Harsts wurde ich nicht recht klug, aber Daisy schien ihn vollkommen verstanden zu haben. Sie faßte nach Haralds Hand und flüsterte halb weinend: „Ich danke Ihnen… Das Leben hätte keinen Wert mehr für mich gehabt, wenn mein Verdacht irgendwie bestätigt worden wäre! Jetzt erst sehe ich vollkommen klar… Sie haben recht, Herr Harst, gemeinste Ausnutzung! Man zwang mich dazu, die Verkleidung, die Perücke, den falschen Bart und die Schminke zu benutzen… Es war ein schändliches Spiel. Trotzdem muß ich schweigen, – – ich muß!“
„Des einen Jahres Zuchthaus wegen?!“ entgegnete Harald mahnend. „Ich glaube, Sie haben bereits zu häufig und sehr zur Unzeit Ihre Lippen sehr fest geschlossen… – Gute Nacht, Miß Holber.“
Auf der Kellertreppe kam uns bereits Fred Steen entgegengeeilt. „Man hat nun doch den Doktor Gehrtyl verhaftet und soeben abgeführt,“ flüsterte er sehr erregt. „Es ist ein Skandal. Nur der Pistole wegen!! Und wir wissen doch am besten, daß heute abend bei Gehrtyl eingebrochen wurde, Herr Harst!“ –
Das wußten wir allerdings, denn seit acht Tagen hatten wir eine ganze Anzahl von Leuten, die nichts davon ahnten, aufs schärfste bewachen lassen.
Harst beruhigte unseren Fred. „Kriminalrat Penz, der Leiter der Mordkommission, dürfte mit dieser Festnahme lediglich einen anderen Schachzug vorbereiten. Penz glaubt nie im Leben an Gehrtyls Schuld. Also nur kalt Blut, lieber Fred. Kümmern Sie sich jetzt um Fräulein Holber und bringen Sie ihr alles, was sie zur Nacht nötig hat… Beeilen Sie sich… Nachher fahren wir zum ‚Standard-Klub‛…“
4. Kapitel
Die Piraten unter sich.
Das Klubgebäude, im alten Tiergartenviertel Berlins gelegen, war früher unter dem Namen Radzcinsky-Palais berühmt gewesen. Gegen drei Uhr morgens hielt an einer Seitenpforte der Parkmauer ein geschlossenes Auto. Zwei Herren in Fragmänteln schlüpften heraus, der eine öffnete die kleine Tür, und gleich darauf standen wir vor dem Nebeneingang des Klubhauses im stillen Wirtschaftshof.
Wir hatten hier einen zuverlässigen Vertrauten, den alten Hausmeister Julius Ring, der mit dem neuen Klubvorstand mit Recht sehr unzufrieden war und der es keineswegs billigte, daß der ‚Standard‛ in letzter Zeit auch alle möglichen reichen zweifelhaften Ehrenmänner aufgenommen hatte.
Harald klopfte in bestimmter Art gegen die Tür, Ring, den wir telephonisch verständigt hatten, öffnete sofort und flüsterte: „Es ist noch niemand da…“ –
Dann führte er uns über eine Seitentreppe in den zweiten Stock, wo auch sechs Logierzimmer lagen. Er schloß uns in Nr. 1 ein, wünschte uns noch gutes Gelingen und entfernte sich.
Wir gingen sofort ans Werk. Wir hatten zwei Handkoffer mit dem nötigen Handwerkszeug bei uns, zogen lange weiße Staubmäntel über, rückten den großen Kleiderschrank von der Wand und schlugen den Teppich zurück.
Von Nr. 1 führte eine jetzt durch Rabitzwände verschlossene Flügeltür in das nebenan liegende Vorstandszimmer. Rücksichtslos brachen wir die Wand nach unserer Seite hin so weit auf, daß wir in den Raum zwischen den beiden Wänden hineingelangen konnten.
Ich leuchtete. Harst nahm einen Meterstock und maß genau die Stelle aus, wo der zweite Durchbruch erfolgen mußte.
Das Vorstandszimmer hatte ein Holzpaneel, das oben durch Zierschnitzereien abgeschlossen war.
Wir fegten den entstandenen Mauerschutt sehr sauber in unser Versteck, breiteten den Teppich wieder aus und zogen auch den Schrank mit Hilfe eines Stricks an die Wand zurück.
Gegen halb vier wurde es im Vorstandszimmer hell. Fünf Personen waren eingetreten: Die vier, von denen jeder der Mörder sein konnte, und ein großer feister Herr, der Bankier Siegfried Silberham.
Rapper wandte sich an seinen gefügigen Helfershelfer Rank. Er sprach gedämpft. Ohne die Schallverstärker hätten wir seiner Worte nicht verstanden.
„Rank, überzeugen Sie sich, ob das Logierzimmer leer ist. Diesen beiden Burschen traue ich nicht!“
Damit waren wir gemeint, und Rapper hatte auch allen Grund, uns alles zuzutrauen. Er hätte nur schon früher etwas vorsichtiger sein müssen.
Rapper fügte noch hinzu: „Daß in der Villa Wittgenstein noch Licht brannte und Schatten auf den Vorhängen zu sehen waren, will gar nichts besagen. Diese Schnüffler arbeiten mit Stellvertretern, man weiß das.“
Nun – das stimmte.
Herr Peter von Rank entfernte sich und betrat Logierzimmer Nr. 1, schaltete das Licht ein, öffnete den großen Kleiderschrank, bewegte sich noch eine Weile hin und her und entfernte sich. Als er das Vorstandszimmer nach diesem für uns so kritischen Minuten wieder aufgesucht hatte, meldete er achselzuckend: „Keine Seele! Ich habe sogar unter das Bett und den Diwan geleuchtet.“
Dann erst nahmen die fünf am langen Mitteltisch Platz.
Der Präsidentenstuhl, den Rapper benutzte, stand mit dem Rücken nach uns hin. Rechts von Rapper saß Frau Herma Benk, neben ihr Peter von Rank, – auf der anderen Seite Geheimrat Schwamm, das Stachelschwein, und neben diesem der stets sehr bleiche, aufgedunsene Silberham.
Die Doppeltür zum Flur hatte man abgeschlossen, ebenso die eisernen Fensterläden vorgelegt. Rapper hatte den großen, düstereleganten Raum persönlich genau durchsucht. Ein Klubdiener war mit vier Sektkühlern und Gläsern erschienen und sofort wieder hinausgeschickt worden.
Nun waren sie ganz unter sich, diese fünf Vertreter einer Gesellschaftsschicht, die wir seit Tagen ohne nennenswerten Erfolg hatten ‚beschatten‛ lassen.
Die Gesichter waren blaß, nervös, – jeder stürzte den Sekt wie Wasser hinab, – keiner sprach ein Wort… Jeder stierte vor sich hin.
Eine unheimliche nächtliche Verschwörerbande!
Hans von Rappers schmales, dekadentes Antlitz mit der allzu dünnen Nase, den großen Ohren und den affenartig beieinander stehenden Augen, war schweißbeperlt. Er betupfte sich immer wieder die Stirn.
Wir sahen ihn nur im Profil, wenn er etwas den Kopf drehte.
„Reden Sie endlich!“ begann Frau Geheimrat Benk gequält. „Das … das ist ja nicht mehr auszuhalten!!“
Die hagere, hochmütige Frau mit der Pompadourfrisur blickte Rapper herausfordernd an.
Silberham hüstelte krächzend. „Gottlob, ich war nicht mit dabei!!“
Schwamm lachte heiser. „Und doch stecken Sie mit drin, Silberham!!“ –
Das war offener Hohn.
Rapper klopfte auf den Tisch. „Ruhe!! Nur jetzt keine persönlichen Anpöbeleien!! – Wir haben uns hier versammelt, weil dies ein Ort ist, wo wir am sichersten sind…“
„Nette Sicherheit!!“ sagte der Bankier ironisch. „Vielleicht geht auch hier das Licht aus, ein Schuß knallt, und…“
„Wollen Sie wohl schweigen, Sie verdammter Narr!!“ fauchte Rapper ihn an.
Silberham duckte sich scheu zusammen.
Eine Wolke von versteckter Furcht, heimlichem Haß und quälender Gedanken lagerte über den fünf Menschen.
Rapper begann von neuem: „Das Verschwinden meiner Sekretärin beunruhigt mich am meisten, ebenso das Verhalten meines Dieners James. Der Mann war derart verstört, als Penz ihn vernahm, daß ich … ich… – na, James hat zweifellos ein schlechtes Gewissen.“
Geheimrat Schwamm, der für gewöhnlich wie vom Katheter herab sprach, meinte bissig: „Weshalb mußten Sie auch James Ihre Pirschbüchse mitgegeben, Rapper, Penz hat auf dem Steg am vordersten Pfahl am Nagel eine Männerperücke gefunden und in Miß Holbers Zimmer Schminke, Bartwolle und Klebstoff. Vielleicht war der Einbrecher gar Miß Holber, und James hat sie niedergeknallt und in den See geworfen… Penz argwöhnt dies wahrscheinlich auch.“
Frau Benk trank das vierte Glas Sekt. „All das ist zunächst nebensächlich,“ erklärte sie gereizt. „Wer erschoß Rail? Wer?! Diese Frage sollte hier erörtert werden!“
„Also bilden wir einen Detektivklub!!“ witzelte Silberham.
„Benehmen Sie sich anständig!“ brüllte Rapper und schüttelte die Fäuste. – – „Sie haben gut lachen, Silberham! Aber wir vier – – nette Patsche, in der wir bis zum Hals stecken! Gehrtyls Verhaftung messe ich gar keine Bedeutung bei, ich kenne Penz. Auf einem von uns vieren bleibt der Verdacht liegen!“
Er rauchte übernervös und schwitzte noch stärker.
Silberham ließ ein lautes „Ah – – Gehrtyl!!“ hören. „Davon wußte ich ja noch gar nichts! Also Gehrtyl war auch da.“ Er blickte Frau Benk an. „Sie verehrte gnädige Frau, wollten dem Chemiker doch seine neueste Erfindung abkaufen…“
In diesen Worten lag eine versteckte Verdächtigung.
„Das hat doch mit Rails Ermordung nichts zu tun!“ sagte die Geheimrätin eifrig.
„Wer weiß!“ murmelte Schwamm allzu deutlich. „Wer weiß, liebe Herma…“
Sie erhob sich jäh. „Schwamm, Sie … Sie … sind ein feiger Intrigant‥! Ich…“
„Ruhe!“ Rapper zischte es über den Tisch. „Seid ihr denn alle verrückt geworden?! Wißt ihr nicht, worum es geht?! Sehnt ihr euch so nach dem Zuchthaus?!“
Silberham meckerte frech. „Spaß – – Zuchthaus? Mein Flugzeug ist jede Minute startbereit, außerdem haben wir ja noch den Nautilus, – ist zwar etwas eng, der Kahn, aber…“
Rapper stand auf… „So kommen wir nicht weiter, – ich rede jetzt und verbitte mir jeder Zwischenbemerkung. – Es darf niemand von uns auch nur die geringste Vorbereitung zur Flucht treffen. Auf die Polizei pfeife ich. Aber diese verfl… Spürhunde dort in Wittgensteins Villa werden uns nicht aus den Klauen lassen. Ich bin überzeugt, Harst weiß mehr, als uns dienlich ist. Er und Schraut und dieser Bengel Fred Steen müssen verschwinden. Das können wir nur erreichen, indem wir die drei weglocken. Einer von uns muß also anscheinend zu flüchten suchen, und…“
„Natürlich Sie selbst, Rapper!“ höhnte Schwamm. „Natürlich Sie‥!! – Ach nein, mein Lieber, das gibt es nicht… Da denken Sie sich nur etwas Besseres aus. – Ich habe einen Gedanken… Morgen abend locken wir die Kerle auf den Fluß, und dann… – – Schluß!!“
Wieder meckerte Silberham dazwischen.
„Locken?! Locken?! – Schwämmchen, das möchte ich sehen, wie Sie das anfangen wollen…“
„Durch Lichtsignale‥!“ sagte das Stachelschwein großartig.
„Hm – nicht schlecht!“ nickte der Bankier. „Wenn nur die Strompolizei nicht wäre, die schwärmt jetzt auf der Havel umher wie … wie Wasserflöhe… Na, versuchen kann man’s ja… – – Und der Mörder?“ fragte er grob. „Wer erschoß Rail? Wer hatte ein Interesse daran?“
„Niemand!“ stellte Rapper mit allem Nachdruck fest. „Niemand von uns vieren jedenfalls… Rail war mein bester Freund, und…“
Der unleidliche Bankier kicherte. „Rapper, – ein netter Detektivklub sind wir!! Freundschaft?! Was heißt Freundschaft?! Seid doch ehrlich: jeder von euch vieren traut dem andern den Schuß zu.“
Lähmendes Schweigen folgte. Keiner schaute den andern an.
Dieser Silberham war mir beinahe sympathisch.
Dann erhob sich die Geheimsrätin Benk abermals.
„Ihr werdet die Zwecklosigkeit dieser Unterredung nun wohl eingesehen haben‥!“ erklärte sie schrill. „Ich fahre nach Hause… Meine Nerven streiten… Tut was ihr wollt…“
Siegfried Silberham meinte harmlos: „Ob Sie jetzt wohl, wo Gehrtyl verhaftet ist, die Erfindung billiger bekommen, verehrte gnädige Frau?“
Die hagere Dame blickte ihn verächtlich an.
„Sie … Sie sind ein … Prolet!“ –
Und sie verließ das Zimmer.
Die Zurückbleibenden starrten ihr nach.
Dann stand auch Schwamm auf. „Ich … ich muß ins Bett… Um neun Uhr kommt mein Masseur, um halb zehn die Maniküre…“
Fünf Minuten später befanden sich nur noch Rapper und Rank im Vorstandszimmer.
Rapper schritt ruhelos hin und her. Rank war halb betrunken und gähnte immer wieder.
Dann blieb Rapper stehen.
„Rank eine Frage…“
„Bitte…“
„Eine Frage auf Ehrenwort, Rank: Trauen Sie mir den Mord zu? Ja oder nein?“
Rank hüstelte und zögerte…
Dann sagte er verlegen: „Sie können doch nicht leugnen, Rapper, daß Sie die Daisy Holber in den Garten an den bestimmten Baum im Gebüsch geschickt haben und daß Sie ihr die Verkleidung beschaffen… Wenn die Polizei merkt, wie der Lichtstrom unterbrochen wurde, und wenn Harst und Schraut, die doch zu der kritischen Zeit im Nebengarten waren, gesehen haben, wie Sie…“
„… Sie sind ein Narr!! Gute Nacht!!“ Rapper schmetterte die Tür ins Schloß.
Peter von Rank grinste… In seiner Trunkenheit sprach er halblaut mit sich selbst…
„Du … du hast mich immer so … so als deinen Schuhputzer behandelt‥! Pfui Deubel!! Eine feine Gesellschaft seid ihr!! Beim ersten Anzeichen von Gefahr platzt ihr auseinander!“
Er lachte etwas blöde. Er war noch jung, der Jüngste von allen… „Hätte ich mich nur nie mit ihnen eingelassen‥!! Aber das verfluchte Geld und … das feudale Leben … und das Faulenzen, – – Schäm dich Peter Rank! Du bist ein jämmerlicher Bursche!“
Dann trank er noch ein Glas Sekt und schritt unsicher zu Tür…
Das Licht ließ er brennen. Ein Klubdiener kam, räumte die Sektkühler und Gläser weg, verschwand, knipste die Beleuchtung aus und schloß das Zimmer ab.
Harst flüsterte mir zu: „Wir haben diese Zeit fast zwecklos geopfert. Daß, was wir wissen wollten, haben wir doch nicht erfahren. Nur eins wollen wir uns merken, das Motorboot dieser seltsamen Flußpiraten heißt ‚Nautilus‛.“
Als wir den Schrank von der Wand abgerückt hatten und das Licht meiner Taschenlampe auf den Diwan fiel, saß dort behaglich schmunzelnd der stämmige Kriminalrat Penz.
„Guten Morgen, ihr Schleicher!!“
Er wickelte die Schnur seines Hörverstärkers zusammen. „Ja, ich habe auch gelauscht… War ganz interessant… Feine Familie!!“
Er drückte uns die Hand. „Setzt euch…. Machen wir es uns gemütlich…“
Wenn Penz jovial wurde, bekamen alle Gauner eine Gänsehaut.
5. Kapitel
Die Vorgeschichte der Flußpiraten.
„Also, mein lieber Harst,“ begann Penz, an seiner Zigarre saugend… „Nun wollen wir mal auspacken. Ich bin euch gefolgt, das seht ihr. Meine Leute hatten mir gemeldet, daß Hubich und Kunkel, diese Opfer der neuesten Auflage der Havelpiraten, die Villa Wittgenstein verlassen hatten. Außerdem – – eine Frage: Wer steckt da unten im Keller?“
Er lachte pfiffig. „Meine Leute hatten nämlich ganz bestimmte Anweisungen, nachdem ich durch die telephonische Meldung über den Mord erfahren hatte, daß ihr drei, Steen mit eingerechnet, dort eure Angelhaken auswerft… Mithin hegtet ihr Verdacht gegen Rapper. Das Kellerfenster war schlecht abgedichtet. Das Mädchen dort kann nur Daisy Holber sein.“
Harald gab es auf, Dinge abzustreifen, die offenkundig waren.
„Es ist die Sekretärin… Und Hubich und Kunkel waren allerdings einer Aufforderung zu einer Rücksprache mit uns in die Villa Wittgenstein gefolgt.“
Penz nickte zufrieden. „Also als Ihre Klienten, Harst. Dieser Perücke, die das Fräulein Daisy Holber getragen hatte, hing an einem rostigen Nagel der Anlegebrücke. – Lieber Harst, ich besitze nicht Ihre Phantasie, aber ich folgte oder aus dem Perückenfund, aus dem Auftauchen des ‚Einbrechers‛ bei Rapper und aus dem Schuß, den Mr. James Baring im Garten abgab, doch wohl das Richtige. Ihr Fred war der Einbrecher, James erschoß die verkleidete Daisy und…“ – es war erstaunlich, wie treffend Penz kombinierte. „Ja, – ich hätte diese Schlußfolgerungen vielleicht nicht so leicht aus dem Handgelenk schütteln können, wenn James Baring bei der Vernehmung des Personals nicht so verstört gewesen wäre, als das Fehlen der Sekretärin plötzlich festgestellt wurde. Niemand wußte etwas über ihren Verbleib. In ihrem Zimmer entdeckte ich dann so einiges, – – Schminke, Bartwolle, Klebstoff… – Und dann kam die Meldung, daß hier im Keller ein Mädchen eingesperrt worden sei… – So, Harst, das sind Tatsachen. Ich frage daher: Was wird in der Feudalvilla Rapper gespielt? Weshalb erschoß man Herrn von Rail? Daß es der Chemiker Gehrtyl nicht getan hat, weiß ich. Seine Verhaftung, die ich durch die Pistole neben dem Toten begründen konnte, war unter uns gesagt Bluff. Aber der Mörder und seine drei Komplizen sollen sich recht sicher wähnen, die Herrschaften fingen die Geschichte reichlich plump an, sie belasteten Gehrtyl nicht gerade, aber ein Blinder mußte es mit dem Stock fühlen, daß die vier wie Pech und Schwefel zusammenhielten – gegen den Chemiker! – Was wird da gespielt, Harst?!“
„Ich weiß es nicht,“ erklärte Harald mit Nachdruck. „Ich kenne auch den Täter nicht. Wir haben die Auswahl zwischen vier Personen, die ihrer Stellung nach über jeden Verdacht erhaben scheinen. Der ganze Fragenkomplex, lieber Penz, ist ein heilloses Durcheinander, – vorläufig! – Ich möchte mit nichts mehr zurückhalten. Hören Sie also genau hin, ich will Ihnen die überaus interessante und widerspruchsvolle Vorgeschichte erzählen.
Vor etwa einer Woche tauchten die ersten Zeitungsmeldungen über die ‚Havelpiraten‛ auf. Motorboots- und Jachtbesitzer waren spät abends von einer flinken Jacht zumeist hier in der Nähe auf dem Fluß angehalten und ausgeplündert worden. Zwei der Überfallenen erschossen sich und ließen Briefe zurück, in denen sie betonten, sie hätten durch die Piraten ihr ganzes Vermögen eingebüßt. –
Dies fiel mir auf. Wer schleppt sein Vermögen stets mit sich herum?! Das war für mich der springende Punkt. Dann kamen Hubich und Kunkel zu uns, auch zwei der Opfer, – auch sie hatten, was sie uns ehrlich eingestanden, jeder etwa hunderttausend Mark bei sich gehabt.“
Penz machte große Augen. „Donnerwetter!! – – Na, und weiter?!“
„Ich nahm den Auftrag der beiden an, obwohl sie mir höchst unsympathisch waren. Ich witterte bereits hinter alledem eine ganz große Sache. Die Havelpiraten existierten, daß unterlag keinem Zweifel mehr. Diese ganz modernen Freibeuter mußten irgendwie ihre Opfer durch Helfershelfer bewogen haben, zu den späten Fahrten auf dem Fluß größere Geldsummen mitzunehmen. Wie aber?! Diese Frage rückte dadurch in ein noch eigenartigeres Licht, daß die Ausgeplünderten vor der Polizei zunächst alle es als Zufall hingestellt hatten, daß sie so reichlich mit Geld versehen gewesen. Die beiden Selbstmörder und Hubichs und Kunkels Angaben erbrachten den sicheren Beweis für die Arbeitsmethode der Bande, obwohl Hubich und Kunkel noch jetzt ableugnen, sich verabredungsgemäß mit so hohen Summen versehen oder auf dem Fluß ein Zusammentreffen mit Unbekannten verabredet gehabt zu haben.
Die Piraten arbeiten also dergestalt, daß sie ihre Opfer mit Geld auf den Fluß bestellen. Dann überfallen sie sie und rauben sie aus. Es bleibt zu erörtern: Wodurch wurden die Opfer bewogen, solche Summen spät abends mit sich zu führen? –Antwort: Doch wohl nur durch die Aussicht auf ein glänzendes Geschäft, das ihnen von Leuten insgeheim vorgeschlagen wurde, denen sie absolutes Vertrauen schenken! Dieses ‚glänzende Geschäft‛ steht natürlich mit den Strafgesetzen in schärfstem Konflikt. Daher das hartnäckige Schweigen der Geprellten. – Für mich war dieser Tatbestand nach den ersten Unterredungen mit Hubich und Kunkel über jeden Zweifel erhaben. Wo aber sollte ich diese modernen Flußpiraten suchen?! Ich wählte den einfachsten Weg.
Wir haben Hubich und Kunkel tagelang aufs genaueste beobachtet. Der Erfolg? Die beiden bierehrlichen Rentner, üble Wucherer und Geizhälse, begaben sich dreimal in das Bankhaus ‚Silberham & Co.‛, dessen Teilhaber seit einiger Zeit Herr von Rank, der Freund Rappers, und Herr von Rail sind oder waren, – denn Rail ist nun tot. Von diesen Besuchen bei Silberham kehrten die beiden Ausgeplünderten stets mit blauroten Köpfen und sehr erregt auf die Straße zurück – wie Leute, die mit dem Bankier schwerste Auseinandersetzungen gehabt haben mußten. Trotzdem diese Fährte sehr ungewiß war, bewog ich Wittgenstein dazu, für einige Zeit zu verreisen, und seit Tagen hausen wir nun hier in diesem bescheidenen Heim.“
„Glänzend!!“ lobte Penz. „Weiter also!“
„Inzwischen hatten wir auch den engen Freundeskreis des Herrn von Rapper, bei dem Silberham dauernd aus- und eingeht, aufs Korn genommen, was um so leichter war, als wir Mitglieder desselben Klubs sind…“
„Der ‚Standard-Klub‛, – – ja, äußerst vornehm,“ nickte Penz zweideutig.
„Äußerlich vornehm… Dort lernten wir Gehrtyl kennen. Der Doktor ist berühmt, seine Erfindungen bringen ihm viel Geld ein, – er erwähnte, er wolle nun ein chemisches Rezept, das Millionen werte sei, an eine deutsche Firma verkaufen. Daß diese Firma nur die chemischen Werke Benk & Co. sein konnten, war nicht schwer zu erraten. Also ließ ich auch Gehrtyl und Frau Herma Benk überwachen. Heute, als Gehrtyl abends eine Besprechung mit der Erbin der Benk-Werke hatte, wurde … bei Gehrtyl um sieben Uhr eingebrochen.“
Penz richtete sich mit einem Ruck kerzengerade auf. „Ah – – die Pistole!!“
„Natürlich die Pistole!“ Harst blieb kalt sachlich. „Frau Benk nahm dann Gehrtyl mit zu Rapper. Wir ahnten, daß auch dies Absicht sei, wir hatten Hubich und Kunkel herbestellt, sie störten uns nicht, ich rechnete mit irgend einem gemeinen Streich – niemals aber mit einem Mord. – Und nun das Letzte, Penz. Dieser Mord war bis ins einzelne vorbereitet. Das Licht erlosch für eine Minute. Rapper gab das Signal dazu. Er saß vor der Ständerlampe, deren beide Birnen brannten. Er hob den Arm, schaltete die zwei aus – und dann erlosch die gesamte Beleuchtung in der Villa, der Schuß knallte, wir hörten auch den Körper Rails zu Boden schlagen… – Wer unterbrach für eine Minute den Hauptstrom zur Villa? Daisy Holber tat’s. Sie heißt gar nicht Daisy Holber, sondern Daisy Baring und ist James Barings … Frau. Über dieses Ehepaar wäre auch noch einiges zu sagen. Ich bin bei meinen Ermittlungen recht gründlich gewesen.
James Baring war von jeher Kammerdiener, dann wurde er wegen schweren Diebstahls zu einem Jahr Zuchthaus verurteilt. Rapper brachte ihn aus London vor drei Monaten mit, und James verstand es, seine Frau, die er stets als seine Schwester ausgab, als Daisy Holber hier bei Rapper einzuschmuggeln. Rapper bestimmte Daisy dazu, heute abend die Verkleidung anzulegen und im Garten den Strom zu unterbrechen, – und Rapper schickte James mit der Büchse auf die Suche nach dem ‚Einbrecher‛. James sah eine Gestalt in den Büschen, rief sie an, schoß, glaubte einen Fremden getötet zu haben und versenkte ihn vom Steg aus in See. – – So, nun machen Sie sich aus alledem einen Vers.“
Penz paffte mächtige Wolken in die Luft.
„Der Vers würde lauten: Die Piraten kennen wir, sie saßen vorhin dort im Vorstandszimmer und sagten sich gegenseitig sehr unangenehme Dinge. Rapper dürfte der Piratenkapitän sein. Er kann Rail erschossen haben – kann. Motiv noch unbekannt. Rapper hat jedenfalls den Mord vorbereitet und hat auch Daisy durch James erschießen lassen wollen, weshalb gab er ihm sonst die Pirschbüchse mit.
Motiv? Vorläufig unbekannt. Genau so unbekannt ist uns das Lockmittel geblieben, durch das die feinen Herrschaften ihrer Opfer auf das Glatteis, Pardon, auf den Fluß mit größeren Barsummen bestellten. – Alles in allem ist das kein Vers, sondern ein Knittelreim, eben ein ganz niederträchtiger Fall, der um so übler und schwieriger zu bearbeiten ist, als es sich um sogenannte feine Herrschaften handelt… Man kann sich da leicht die Finger verbrennen, und noch niemals habe ich daher Ihre Mitarbeit so warm begrüßt wie diesmal, lieber Harst.“
Was wir noch weiter mit Penz vereinbarten, kann ich hier weglassen. Jedenfalls verließen wir drei das Klubhaus auf demselben Weg mit Hilfe des Hausmeisters, der auch den Kriminalrat eingelassen hatte und der unten an der Hoftür nur ganz bescheiden fragte: „Herr Harst, soll ich die Rabitzwand wieder ausflicken?“
„Tun Sie es, lieber Ring… Wir danken Ihnen.“
„Verzeihung, – haben Sie Wichtiges gehört?“
„Ja… Herr von Rail ist erschossen worden…“
Der alte Mann taumelte zurück.
„Rail?! Erschossen?!… Lieber Gott, nun wird die Wahrheit nie an den Tag kommen.“
Penz blickte auf und musterte ihn durchdringend. „Wie meinten Sie das, Ring?! Reden Sie!“
Der bleiche Hausmeister flüsterte stockend: „Ich … ich halte Rail für … für sehr gefährlich, Herr Rat… Er wußte wohl alles … alles… – Das ist … sehr bitter, daß er … zu schnell starb…“
Der Mann war uns ein Rätsel. Leider ein neues Rätsel… –
Hiermit beginnt nun ein neuer Abschnitt des Falles ‚Flußpiraten‛. Blitzartig folgten jetzt grelle abwechslungsreiche Bilder, die uns Schlag auf Schlag der Lösung des unheimlichen Problems entgegenführten.
6. Kapitel
James B. A. Ring.
Wir fuhren wieder gen Schwanenwerder zur Villa des Prinzen zurück. Es hatte leicht zu regnen begonnen, es war auch nicht völlig dunkel. Die Chaussee zwischen den Vororten Zehlendorf und Nikolassee lag völlig verlassen da. Nebelschwaden trieben von den Feldern zwischen den Regenschnüren über die Straße, und unser Fred mußte mehr als einmal die Geschwindigkeit mindern, da die Scheinwerfer gegen dieses Gebräu fast vergeblich ankämpften. Harst war still und schien zu schlafen. Penz hatte sich sofort in der Nähe des Klubhauses von uns verabschiedet und uns herzlicher denn je die Hände gedrückt. Ich rauchte in meiner Wagenecke und ging die Ereignisse in Gedanken noch einmal durch. An der Schuld der feinen Herrschaften war nicht mehr zu zweifeln, sie waren die ‚Havelpiraten‛, aber – wer hatte Rail getötet? War es wirklich Rapper gewesen?! Und weshalb hatte Daisy Holber sterben sollen?! Konnte man nicht auch, was ihre Person betraf, zu Trugschlüssen gelangen?! Durfte man bloße Indizien hier gelten lassen?! Konnte nicht selbst Rappers Signal für Daisy mit der Ständerlampe eine ganz andere Bedeutung haben?!
… Ich hörte hinter uns das Schnurren und Rattern eines Motorrades.
Harst regte sich plötzlich. Er hatte nicht geschlafen.
„Vorsicht, mein Alter! Niederknien!! Wir müssen jedem mißtrauen!“
Er rutschte vom Sitz. Im Wagen war es dunkel. Beide Türfenster waren herabgelassen.
Der Motorradler verringerte sein Tempo, gab Signal und fuhr rechts an uns vorüber, blieb dabei einen Augenblick mit und in einer Höhe und hob ein wenig die linke Hand zu einer eigentümlich ruckartigen Bewegung.
Im selben Moment griff Harald zu… Irgend etwas Blankes – wie eine Glaskugel – fing er geschickt auf und schleuderte das Ding sofort zum anderen Fenster hinaus.
Das Schiebefenster nach vorn zum Fahrersitz stand halb offen.
„Fred, – Achtung! Allmählich langsamer fahren!! Den Wagen etwa schleudern lassen, – dann innehalten und den Bewußtlosen spielen!“
Unser Famulus Fred war alles andere als begriffsstutzig.
„Wird gemacht, Herr Harst…“
„Wo ist der Motorfahrer?“
„Dreißig Meter vor uns…“
„Gut, es bleibt bei meinem Befehl…“
… Der Wagen hielt… Wir beide lagen im Inneren quer übereinander…
Mein Herz hämmerte… Wer konnte nur dieser Gasbombenwerfer sein, der uns hier aufgelauert hatte? Etwa Rapper?!
Da – das Motorrad knatterte, stoppte neben uns, und ein Mann mit einer Gasmaske riß die Tür auf.
Das war aber auch alles…
Eine Hand mit einer Pistole schnellte vor…
„Bleiben Sie stehen!“ drohte Harst. „Fred, – aussteigen! Binden Sie den Kerl!“
Als Harald dem Mann die Gasmaske abnahm, erkannten wir den Diener Baring, obwohl er sich einen Schnurrbart vorgeklebt und tadellos zurechtgeschminkt hatte.
Harst sagte nur: „Also doch! Sie suchen wohl Ihre Frau, James?! Steigen Sie ein… Steen wird Ihre Maschine hinten befestigen.“
James Baring war ein schlanker, gut aussehender Mensch von vielleicht fünfunddreißig Jahren. Er gehorchte wortlos, und eine Viertelstunde darauf befanden wir uns in Wittgensteins Bibliothek. Unsere drei ‚Stellvertreter‛ meldeten, daß inzwischen nichts von Wichtigkeit geschehen sei und daß die Kriminalbeamten vor fünf Minuten ihre Posten vor dem Haus verlassen hätten. –
Penz hatte also sehr prompt gearbeitet.
James Baring saß müde und gleichgültig im Sessel und starrte vor sich hin. Erst als er ein großes Glas Portwein getrunken hatte, lebte er etwas auf.
„Baring,“ begann Harald sehr nachsichtig, „Sie wollten Ihre Frau befreien… Woher wußten Sie, daß sie hier im Keller eingesperrt war?“
„Ich hatte es mir zusammengereimt, Herr Harst.“
„Und wie wollten Sie sie befreien?“
„Ich … ich ahnte, daß ich auf – – Daisy geschossen hatte… Ich suchte heimlich mit dem Bootshaken nach ihr im Wasser… Mir wurde allmählich klar, daß nur Herr Steen der Einbrecher gewesen sein konnte und Daisy sofort wieder herausgeholt hatte… Ich war verzweifelt, kopflos und … halb betrunkene…“
„Leider, leider… Sie trinken zu viel, Baring… Deshalb haben Sie sich auch mit Ihrer Frau entzweit.“
Unser Gegenüber nickte stumpf. „Ich muß trinken, Herr Harst, ich muß… Ich … ich wollte … etwas in mir betäuben, das vielleicht einmal Gewalt über mich gewonnen hätte.“
„Ihre Vergangenheit!!“
Baring zuckte zusammen. „Ja – – meine Vergangenheit, – – ein Jahr Zuchthaus – – schuldlos, schuldlos!!“ Er stierte Harst aus glasigen Augen an. „Wer … wer einmal unschuldig und nur durch infamste Schurkereien in die Räder der Gesetzesmühle geraten ist, der … sollte sich eine Kugel vor den Schädel knallen… Der ist ja doch innerlich zerbrochen, der wird den Zuchthausgeruch nicht mehr los…“
Er bedeckte plötzlich das Gesicht mit den Händen, und sein Körper wand sich die in Krämpfen.
Harst beobachtete ihn unausgesetzt.
„Armer Kerl,“ sagte er leise. „Und wie hofften Sie Ihre Frau befreien zu können?“
Barings Hände fielen matt herab. „Ich … ich wollte Ihnen Ihren Ausweis abnehmen, Herr Harst, und Ihren Stellvertretern hier vorlegen, ich sollte in Ihrem Auftrag die Gefangene nach der Stadt bringen.“
„Ach so, – nicht schlecht, Baring. – Nun, die Sache ist vergeben und vergessen, nennen eins wird nichts geschehen. Sie schossen also so blindlings darauf los, weil … weil Sie betrunken waren?“
„Ja … angetrunken… Es war entsetzlich… Ich handelte wie … wie im Fieber, als ich den anscheinend Toten im Wasser versenkte…“
„Das glaube ich Ihnen… – Sind Sie eigentlich gebürtiger Engländer?“
Baring stutzte und zögerte. „Nein… Ich … ich kniff mit elf Jahren von zu Hause aus und war zuerst Matrose, dann Steward, später Diener. Ich bin Deutscher von Geburt.“
Harald betrachtete ihn nachdenklich. „Haben Sie noch Verwandte in Deutschland?“
Baring senkte schnell den Kopf. „Herr Harst, ich … ich möchte Sie nicht belügen.“
„Das gefällt mir. – Jetzt sollen Sie noch Ihre Frau sprechen, aber nicht lange. – Fred, führen Sie Herrn Baring in den Keller. Auf Wiedersehen also…“
„Sie … Sie sind unendlich gütig,“ stammelte James bewegt. „Wenn ich Ihnen noch irgendwie dienen dürfte, Herr Harst… Haben Sie etwas zu fragen?“
„Ja. Kennen Sie den Nautilus?“
„Nautilus? Nein!“
„Sehr schade… Ich kenne ihn auch nicht. Ich glaube aber, wer ihn kennt, ist verblüfft. – Also … auf Wiedersehen, Baring…“
Als Fred und der seltsame Diener die Bibliothek verlassen hatten, wandte sich Harald mir zu und meinte halblaut: „Baring ist keineswegs irgendwie Helfershelfer seines Herrn… Nein, mit den Flußpiraten hat er nichts zu tun. – Hast du dir seine Nase angesehen, mein Alter?“
„Nase?!“
„Ja. Eine gut geformte Nase mit einer Rille auf der Spitze. Manche Leute behaupten, diese Rille deute auf Temperament hin. Und der alte Hausmeister Julius Ring hat dieselbe Nase. Außerdem heißt Baring mit Vornamen James, Barty, Arthur…– B arty A rthur Ring – Baring… Sehr einfach.“
„Wie, der Hausmeister wäre sein Vater?“
„Ja. – Hätte der alte Ring uns sonst wohl so viel Entgegenkommen gezeigt?!“
– Als ich nachher in Morgengrauen schlafen ging, beschäftigte mich am allermeisten das Motorboot der Piraten, der Nautilus. –
Penz hatte suchen lassen wollen, Harst hatte dazu erklärt, ‚Vollkommen zwecklos‥! Das Boot finden Sie nicht.‛
Weshalb sollte man ein Boot nicht finden?!
… Darüber schlief ich ein.
7. Kapitel
Der Prunkkamin.
Mittags um zwölf Uhr ließ sich Herr von Rapper melden und begrüßte uns mit vorbildlich erheuchelter Herzlichkeit. „Mein verehrtester Herr Harst, ich komme mit einer großen Bitte… Sie wissen wohl, daß meine Sekretärin verschwunden ist. Könnten Sie sich nicht so etwas der Sache annehmen?“
Zu meiner Überraschung war Harald sofort dazu bereit.
„Ich hätte mir ohnedies Ihre Villa gern einmal genauer angesehen. Gehen wir hinüber.“
Es war heute ein klarer sonniger Septembertag, und in dem Musiksalon, wo Herr von Rail ein so jähes Ende gefunden hatte, lagen breite Sonnenbahnen auf dem kostbaren Perserteppich, dessen eine Kante ein paar dunkle Flecken zeigte. Dort hatte Rails Kopf gelegen.
Harst betrachtete diese Flecken scheinbar sehr gründlich. Rapper stand teilnahmslos dabei und meinte nur: „Hängt denn Miß Holbers Verschwinden mit dem Mord zusammen, Herr Harst?“
Harald blickte auf und Rapper so gerade in die Augen.
„Weshalb schalteten Sie beide Birnen der Ständerlampe aus, Herr von Rapper?“
„Oh, – – es war hier ohnedies hell genug.“ Rapper wurde auch nicht die Spur verlegen. Nur in seinen Augen flackerte es etwas: Haß, Vernichtungswille!!
Hatte Harald ihn absichtlich reizend wollen?! Vielleicht deshalb, um das für den Abend vorgesehene Attentat auf uns bestimmt herbeizuführen?
Harald wandte sich jetzt dem großen Prunkkamin zu, der in der Tragödie der verflossenen Nacht eine stumme, aber bedeutsame Nebenrolle gespielt hatte
„Herr von Rapper, diese Villa gehörte doch noch vor kurzem dem nunmehr zu Gefängnis mit Bewerbungsfrist verurteilten Großschieber Sabart, der sie sich kurz nach der Inflation bauen ließ. Ich kenne nun ja die meisten Räume, aber selbst unten im Speisesaal fand ich keinen Prunkkamin von dieser Größe. – Ist Ihnen das nie aufgefallen?“
„Nein…“ entgegnete Rapper etwas verständnislos…
Harst beugte sich jetzt zum offenen Fenster hinaus. –
Ich bitte die Skizze des Zimmers zu betrachten. Das lange dreiflügelige Fenster links vom Kamin war gestern abend geschlossen gewesen.
„Bitte, Herr Rapper… Eine Feuerleiter läuft dort rechts vom Dach bis zur Erde hinab. Nur ein kühner Sprung kann jemanden von diesem Fenster und allen anderen nächstliegenden bis zu dieser Leiter bringen. Sie ist also höchst unpraktisch angebracht.“
„Da haben Sie recht, Herr Harst. Auch das ist mir bisher entgangen.“
„Begreiflich‥! Ihr Vorbesitzer wußte ja auch genau, daß er allzeit mit einem Fuß im Zuchthaus stand. Solche Glücksritter und Volksschädlinge sichern sich stets eine Hintertür zum Entschlüpfen. Einen ähnlichen Fall erlebten wir noch unlängst. –Ich fürchte, Sie verstehen mich nicht ganz, Herr von Rapper. Dieser Kamin ist solch eine Hintertür. Ich will einmal versuchen, wie die Geschichte zu handhaben ist… Wahrscheinlich wird das Marmorfeld hier links neben der Feuerung beweglich sein… – Ah – – da haben wir’s… Sehr fein ausgeklügelt! Eine Drehung dieses Eckknopfes am Kaminsims genügt… Die Tür ist offen…“
Rapper starrte verblüfft in das schwarze Loch hinein. Dann leuchtete Harsts Taschenlampe auf, und die Öffnung, die einem gebückten Mann gerade Raum genug bot, enthüllte ihre weiteren Geheimnisse. Zunächst lag da im Staub der Bodenplatten, in dem sich verwischte frische Fußspuren zeigten, eine Repetierpistole. Dann zeigte die Außenwand eine ovale Vertiefung, die in Größe und Lage genau einem Medaillon aus Marmor entsprach, das die Villenseite an dieser Stelle zierte.
Harst kniete bereits am Boden, betrachtete die Spuren, hob die Pistole mit seinem Taschentuch auf und reichte sie mir. „Nicht berühren, der Fingerabdrücke wegen!“
Dann erst stieg er in die Öffnung hinein und befühlte die Medaillonvertiefung. Plötzlich klappte das große Medaillon nach außen auf, und Rapper und ich konnten ein Stück der Feuerleiter sehen.
„Davon hatte ich keine Ahnung,“ sagte Rapper ganz laut.
Harst schloß den Notausgang aus der Villa wieder. „Daran zweifle ich nicht, Herr von Rapper. Wie sollten Sie auch?! Ihr Vorbesitzer Sabart war eben ein vorsichtigerer Mann als Sie.“
Er ließ auch die Marmorplatte wieder zufallen und fügte achselzuckend hinzu: „Wie man sich doch täuschen kann! Ich hielt Sie für Rails Mörder. In der vergangenen Nacht stiegen mir dann die ersten Bedenken auf, jetzt weiß ich, daß Sie nicht als Täter in Frage kommen, obwohl…“
Er hüstelte…
Rapper sagte schnell: „Bitte, was sollte auf das ‚obwohl‛ folgen?“
Harald blickte ihn scharf an. „Obwohl … ein Mord beabsichtigt war…“
Rapper wurde blaß.
„Von wem?! – Doch nicht von mir!“
„Die Frage erörtern wir später… Schraut, gib mal die Pistole her… Ein englisches Modell…“ Er ließ den Patronenrahmen herausschnellen. „Eine Patrone im Lauf, acht im Rahmen… Gut geölte Waffe…“
Zu meinem Erstaunen nahm er jetzt gar keine Rücksicht mehr darauf, daß Fingerabdrücke vorhanden sein könnten. Mir schien es sogar, als ob er absichtlich die Waffe immer wieder in seinen Händen hin und her drehte, als wollte er weit eher Fingerabdrücke unkenntlich machen.
Schließlich schob er die Pistole in die Tasche. „Penz wird sich dafür interessieren – ich weniger. –
So, nun wäre ich hier mit meiner Arbeit fertig, Herr von Rapper. Meine Entscheidung über die Frage ‚Wo ist Ihre Sekretärin?‛ lautet: Nach England abgereist, – jedenfalls ist sie zur Zeit in einem kleinen photographischen Atelier tätig… Sie werden sicherlich von ihr hören.“
Rapper schaute Harst mißtrauisch an. „Scherzen Sie?!“
„Fragen Sie Schraut. Er wird zu genau denselben Schlußfolgerungen gekommen sein wie ich: Photographisches Atelier!“
„Allerdings,“ erklärte ich harmlos. „Harst verleiht hier nur meiner Ansicht Ausdruck. Wie wir zu dieser Ansicht gelangt sind, Herr von Rapper, ist Berufsgeheimnis. Daisy Holber lebt und entwickelt Platten.“
Rappers Züge verrieten lediglich maßloses Nichtverstehen… Wie sollte er auch ahnen, daß das photographische Atelier unten im Keller bei Wittgenstein sich befand.
Er bedankte sich verwirrt, läutete nach James, und James Baring ließ uns mit gemessenem Bückling, aber mit heimlichem vertraulichem Augenzwinkern hinaus.
„Fred,“ sagte Harst ‚drüben‛ zu unserem famosen Famulus, „Fragen Sie unseren Gast, ob wir zu einer Rücksprache willkommen sind.“
„Sofort…“
Ja – – sofort kam Fred wieder nach oben gestürzt…
„Herr Harst, sie ist weg… Die Dunkelkammer ist leer… Die Tür steht offen… Und das Patentschloß ist doch tadellos!“
Harst biß sich in die Unterlippe.
„Welche Torheit!!“
Dann eilten wir hinab. Wir konnten unschwer feststellen, daß Daisy Baring wieder die Männerkleidung vom Abend vorher angelegt und einige der Frauensachen mitgenommen hatte.
„Fred, wo steckten Sie, als wir bei Rapper waren?“ fragte Harst den niedergeschmetterten Steen.
„In der Küche… Ich bin hier doch auch Koch, und…“
„Schon gut. Ich möchte wetten, Baring hat seiner Frau heute nacht Dietriche hiergelassen… Wer weiß, was sie verabredet haben. Das gefällt mir gar nicht, das kann uns alles verderben.“
Da Daisy mindestens eine halbe Stunde Vorsprung hatte, war eine Verfolgung zwecklos. Sie hatte das leichte Ruderboot Wittgensteins vom Steg losgekettet und war darin über den Fluß entflohen. Auch Wittgensteins Villa hatte Wasserfront.
Harald war übelster Laune.
„Sie hätte uns jetzt zweifellos alles eingestanden,“ sagte er bei Tisch zu Steen und mir. „Nun können wir warten, bis wir die Herren Havelpiraten im Netz haben.“
Fred, der von mir in die Vorgänge bei Rapper eingeweiht worden war, meinte pfiffig: „Lange wird das nicht mehr dauern… – Was halten Sie von der Feuerleiter, dem Kamin, den Geheimtüren, den Spuren und der Pistole, Herr Harst?“
„Genau dasselbe wie Sie, Fred, – falls Sie kein Dummkopf sind.“
„Schade, – dann bin ich einer!“ seufzte der semmelblonde Jüngling wehleidig. –
Bis zum Anbruch der Dunkelheit angelten wir am Rande des Schilfgürtels, der die Halbinsel Schwanenwerder dicht und breit umgibt. Harst sprach über den Fall Rail und die Flußpiraten nicht ein Wort. –
Was bedeutete die Pistole, aus der kein Schuß abgegeben worden war?!
Dann kam die Dunkelheit…
Und um halb neun schrillte das Telephon in der Bibliothek…
8. Kapitel
Frau Barings Ehe.
„Hier Wannsee 201…“
„Hier Rapper… – Herr Harst, ich wollte Ihnen nur etwas mitteilen, das mir verdächtig vorkommt… Ich gebe zu, ich bin sehr nervös, Kriminalrat Penz hat mich nachmittags eine Stunde Zeit verhört, und ich war etwas erstaunt, daß er mich offenbar noch immer verdächtigt, obwohl Sie ihm die Pistole schickten und betont haben, der Mörder könnte auch über die Feuerleiter eingedrungen sein… –Vorhin bemerkte ich auf dem Fluß Lichtsignale… Ich nahm ein Fernrohr, konnte jedoch nichts entdecken – kein Boot, nichts… Es war sehr sonderbar, in der Tat… Vielleicht passen Sie einmal auf, was dort vorgeht… Wittgenstein hat ja ein kleines Motorboot, und…“
„Danke, gern… Ich glaube aber, Sie sehen bei Ihrer Nervosität Gespenster, Herr von Rapper… Was waren es denn für Lichter?“
„Grün und intensiv blau…“
„Nun, ich werde aufpassen… – Wiedersehen…“
Harald hängte ab.
Er lächelte Fred und mich vielsagend an.
„Merkt ihr was!! Wir drei sollen unbedingt geschnappt werden! Der Nautilus wartet auf uns! Will uns ersäufen! Muß ein fixes Motorboot sein, dieser Nautilus. – Gut, beobachten wir… Zieht euch unter den Mäntel Korkwesten über… Bis jetzt ist der Fluß nebelfrei… Der Nebel kommt erst gegen acht Uhr… Vorwärts also.“
Wir standen dann mit Ferngläsern ganz vorn auf Wittgensteins Bootsteg, hatten links den Wannsee mit seinen Ufervillen und vielen Lichtern vor uns, geradeaus aber die Havel, die nur wenig belebt war.
Daß Rapper uns belauerte, war selbstverständlich. Wahrscheinlich gab auch er nach dem Fluß hin Signale, die wir nicht sehen konnten.
Eine halbe Stunde verstrich.
Ein eisiger Nordost fegte über den dunklen Strom. Ein paar Dampfer und Schleppzüge fuhren in der Ferne vorüber.
Dann gewahrte ich ein einzelnes Boot, das etwa dreihundert Meter vor uns trieb. Es schien leer zu sein.
„Harald, Achtung!!“
„Ich sehe… – Fred, unser Motorboot bereithalten… Taue loswerfen, damit wir nur hineinzuspringen brauchen…“
„Wird gemacht, Käpten!“
Jetzt gewahrte ich rechts von dem Boot auf dem Wasserspiegel zwei grüne und zwei blaue Lichter, jedoch keinerlei Fahrzeuge.
„Harald, – was bedeutet das?!“
„Nautilus!! – Schnell, – spring ab‥!“
Der Bootsmotor schnurrte, und wir sausten auf die Lichter zu…
Wir waren noch keine dreißig Meter von Steg ab, als über die stille Wasserfläche ein gellender Schrei sich fortpflanzte, – das kleine anscheinend leere Ruderboot kenterte, eine Frauengestalt fiel ins Wasser und rief nochmals um Hilfe.
„Astrid Baring!“ sagte Harald etwas erregt.
„Astrid?! Wer ist denn das?!“ –
Fred Steen hatte es gerufen.
„Das ist Daisy… Ihr habt die Londoner Auskünfte nicht gelesen… Daisy Astrid Helga Holber ist Frau Barings Mädchenname… Sehr einfach…“
„Ja – die übliche Geheimniskrämerei!“ meinte ich gereitzt.
„Ein zweites Boot!“ brüllte Fred… „Eine Polizeibarkasse… Die Lichter sind weg!“
Das Polizeiboot war schneller als wir, einer der Insassen sprang jetzt über Bord und erfaßte die Frauengestalt.
Ein zweiter Mann in Uniform beugte sich hinab und nahm ihm die reglosen Frau Baring ab.
Astrid tat, als wäre sie ohne Bewußtsein… Wir waren bereits heran, und als Harst die Verunglückte jetzt anrief, schlug sie sofort die Augen auf…
„Ah, – – Sie, Herr Harst‥! Ich glaubte…“
„Was glauben Sie?“ fragte der zweite Mann in Uniform etwas rauh. –
Es war Penz…
„Nichts!“ erklärte Astrid Daisy Baring, vor Kälte zitternd. Sie wurde schnell in die kleinen Kajüte der Barkasse gebracht. Von dem Ruderboot war nichts mehr zu sehen, es war gesunken.
Wir hüllten die Gerettete in Decken, und nachdem sie noch ein Glas Kognak getrunken hatte, bestand Harst darauf, daß wir sie zu uns an Bord und mit in die Villa Wittgenstein nähmen. Penz widersprach nicht. Aber er stieg mit zu uns hinüber, und die Barkasse sauste weiter.
Inzwischen war Nebel aufgekommen. In aller Stille brachten wir Astrid-Daisy in das Haus, wo unser Fred wieder Kammerzofe spielte. Während wir in der Bibliothek auf Astrids Erscheinen warteten, fragte Penz den mit halb geschlossenen Augen vor sich hin grübelnden Harst zum zweiten Mal: „Wer ist nun also der Mörder Rails?“ Und er fügte jetzt ergänzend hinzu: „Unter Berücksichtigung der Feuerleiter und des Kamins und der Pistole… Letzte haben Sie leider sehr unsachgemäß behandelt, wir werden nur Ihre Fingerabdrücke finden.“
Das klang sehr bissig.
Harald hob den Blick. „Vielleicht liegt im Grunde überhaupt kein Mord vor.“
„Na nu?!“ Penz zerkaute nachdenklich seine Zigarre. „Wie meinen Sie das, Harst?“
„Ein Mordplan war vorhanden. Das beweist ja schon der Diebstahl der Waffe Gehrtyls.“
„Und das Erlöschen des Lichtes,“ betonte Penz.
„Hm, – ob diese Einzelheit mit dazu gehört, steht durchaus nicht fest. – Warten wir auf Frau Baring.“
Penz brummte unzufrieden.
Als die schlanke, hübsche Frau, die indessen trockene Sachen angelegt hatte, eintrat, erhob sich Harst und führte sie zur einem der Klubsessel, breitete eine Decke über ihre Füße und schenkte ihr eine Tasse Tee ein.
Daisy-Astrid war etwas verschüchtert. Haralds Fürsorge für ihre Person zerstreute diese ängstliche Zurückhaltung.
„Frau Baring oder besser Frau Ring,“ begann Harst in knappen Worten, „die Dinge liegen jetzt so, daß Sie nicht länger schweigen dürfen. – Zunächst einmal das Verhältnis zu Ihrem Gatten. Sie lieben ihn, Sie sind drei Jahre verheiratet und Sie blieben ihm treu, selbst als er vor anderthalb Jahren zu einer Zuchthausstrafe verurteilt wurde. Dann kamen Sie unter Ihrem Mädchennamen hierher. James trank, Sie waren unglücklich darüber, und Rapper verstand es, Ihr Vertrauen zu gewinnen. Er spielte den mitfühlenden Freund. Frauen sind gerade in dem Punkt sehr leichtgläubig. – War es so?“
„Ja…“
Sie hielt den Blick gesenkt.
„Sie ahnten und ahnen nicht, weshalb Ihr Gatte sich dem Trunk ergeben hatte. Als er verurteilt wurde, verschwieg er seine Ehe, um Sie zu schonen. Verheiratete erstklassige Kammerdiener nimmt niemand gern. – Nun zu Rapper und den Ereignissen der Mordnacht, – nein, wir wollen Sie nicht Mordnacht nennen. Wodurch bewog Rapper Sie dazu, an dem bewußten Baum im Garten, einer hohlen Kastanie, wie wir wissen, auf das Signal mit der Ständerlampe hin den Hauptstrom zu unterbrechen?“
Astrid-Daisy hob den Kopf. „Herr Harst, ich bin Rapper blind ins Netz gegangen. Rapper ist … ist … ein … unfairer Charakter. Er sagte mir, einer seiner Freunde pflege im Musiksalon wichtige Papiere zu verbergen, die ihm – Rapper – gestohlen seien. Die Papiere wären nur wiederzuerlangen, wenn das Licht in Musikzimmer ausginge, denn der Dieb der Papiere sei sehr vorsichtig, und nur durch Überraschung sei ein Gelingen gewährleistet. Ich glaubte ihm, und ich handelte vollkommen nach seinen Anweisungen. Das ist die volle Wahrheit.“
„Ich glaube Ihnen,“ meinte Harald herzlich. „Wann begannen Sie an Rappers moralischen Qualitäten zu zweifeln?“
„Als ich erfuhr, daß er James mit einer Büchse in den Garten auf die Einbrecherjagd geschickt hatte. Sie selbst, Herr Harst, zerstreuten mein Mißtrauen, James könnte gewußt haben, auf wen er feuerte. Gott sei Dank, – James steht rein da…“
„Und weshalb flohen Sie von hier und wagten sich vorhin wieder auf den Fluß?“
Jetzt zauderte sie längere Zeit. Sie kämpfte mit sich. Harald kam ihr zu Hilfe. „Wollten Sie feststellen, ob Rapper zu den Havelpiraten gehörte? Hatten Sie auch in diesem Punkt gegen ihn Verdacht geschöpft? Wahrscheinlich ja.“
„Es ist so,“ bestätigte sie leise.
„Auf welche Weise kenterte Ihr Boot vorhin?“ fragte Harst genau so kurz und sachlich weiter.
Astrid-Daisy schüttelte leicht den Kopf. „Das weiß ich nicht… Ich nehme an, daß ein Mann, der sich mir schwimmend genähert hatte, das Boot umkippte. Es ging alles so schnell…“
„Ein Mann?!“ – Harald lächelte ein wenig. „Der ‚Mann‛ hat einen sehr bekannten Namen. Man findet diesen Namen schon bei Jules Verne… Ich werde Ihnen nun ein Zimmer anweisen, Frau Baring… Schraut, begleitete uns. – Lieber Penz, entschuldigen Sie mich ein paar Minuten…“
Penz knurrte wieder mißmutig, ohne einen Einwand zu erheben… Fred Steen erzählte ihm schleunigst eine gepfefferte Geschichte, die sehr harmlos begann, aber dann … und Penz gab sich zufrieden.
9. Kapitel
Der Nautilus stirbt.
In dem einzigen Logierzimmer Wittgensteins fand ich zu meiner Überraschung James Baring vor. Er trug Mantel, Hut, – neben ihm standen zwei Koffer.
Das Ehepaar umarmte sich herzlich, Astrid weinte, aber Harald drängte zum Aufbruch.
„Baring, nehmen Sie Wittgensteins Auto und benutzen Sie beide dann ein Flugzeug. – Keinen Dank! Kein überflüssiges Wort mehr… Hier haben Sie ein Schreiben von meiner Hand, falls die rundum postierten Kriminalbeamten Sie anhalten sollten. Beeilen Sie sich… Und nachher fahren Sie wie ein Teufel. Sie wissen, warum…“
Baring hatte Tränen in den Augen. „Herr Harst, ich werde Sie niemals…“
„Glückliche Reise, – hoffentlich nicht auf Wiedersehen‥!“
Noch ein paar herzliche Händedrücke, und wir kehrten in die Bibliothek zurück, wo Harst sofort Wittgensteins Radioapparat anstellte. „Penz, ich brauche erheiternde Ablenkung durch Tanzmusik… Sie doch auch!“
„Scheußlich!! Aber – meinetwegen! – Was soll nun werden, Harst?“
„Das Programm steht fest… Ich erwarte nur noch eine Chiffredepesche aus London, die etwas lang ausfallen dürfte… – Ah, – Fred, es läutet…“
Es war Depesche.
Harald dechiffrierte sie sofort und las uns dann den Text vor:
Harst, Wannsee-Schwanenwerder, Berlin, Villa Wittgenstein. –
Freiherr Günther von Rail vor zwei Jahren hier in London bekannter Lebemann, Spieler und Klubbesucher. Verkehrte in den besten Kreisen, auch bei Lord Warding, einem alten Sonderling, bei dem James Baring Diener war. Warding hatte eine Abneigung gegen Banken, hielt stets viel Bargeld im Haus. Eines Tages großer Raub bei ihm. Verdacht lenkte sich gegen Baring, da in seinem Zimmer Duplikate des Tresorschlüssels des Lords gefunden worden. Beute von 120000 Pfund blieb verschwunden, Baring erhielt ein Jahr Zuchthaus. –
Rail trat vor Gericht aufs wärmste für Angeklagten ein. –
Gruß Oberinspektor Mattison, Scotland Yard
Penz machte Riesenaugen.
„Das ist ja…“ –
Er verstummte … horchte…
„Hallo, fuhr da nicht soeben ein Auto davon?“
„Irrtum!“ sagte Harst kaltblütig. –
Der Lautsprecher brüllte gerade Fortissimo.
Penz blieb mißtrauisch. „Harst, haben Sie etwa Frau Baring weggeschickt?“
„Nein. Nicht Frau Baring, sondern…“ – er schaltete den Radioempfänger ab – „sondern beide Barings, lieber Penz. – Bleiben Sie sitzen! Die Gesetzesmühle hat Baring bereits einmal unschuldig ins Zuchthaus geschickt, der Mann war ein Opfer der Ränke anderer… Ich trage diese Verantwortung gern. Ein glückliches Ehepaar ist mir mehr wert als diese geseuchten Ungetüme von Paragraphen…“
Penz zog die buschigen Augenbrauen ganz tief herab. „Oh – bei mir dämmert’s, Harst… –
Solch ein Schuft!!“
„Das war er in der Tat, Penz… – Jetzt wollen wir jedoch die nächsten Programmnummern folgen lassen: Wir sollen ersäuft werden!! Das klingt häßlich, ist aber wahr. Wenn Sie mitkommen wollen – bitte… Der Nebel ist dick wie Brei…“
Wittgensteins Motorboot lenkte auf den Fluß hinaus. Trotz des Nebels sahen wir vor uns wieder die strahlend hellen grünen und blauen Lichter, aber kein Fahrzeug.
Harst deutete rückwärts…
„Bitte, Rapper signalisiert… Der Tanz wird gleich losgehen… Hat der Barkassenführer genaue Anweisungen?“
Penz bejahte, ohne das Glas von den Augen zu lassen.
… Vom Turm der Feudalvilla zuckten grelle Funken durch den Nebel
Jagdfieber!! Wie oft hatte ich’s schon kennengelernt! Heute stellte es sich verstärkt ein.
Langsam schlich unser Motorboot weiter…
Die grünen und blauen Lichter erloschen…
Wir näherten uns der westlichen Fahrrinne des Flusses… Eine große Boje schaukelte träge, – auf ihr saßen dicht bei dicht Möven.
„Signal!“ rief Harald dem langen Fred zu.
Die Sirene des Bootes heulte…
Die Töne gingen durch Mark und Bein…
Harst hob etwas von Deck auf…
„Nehmen Sie ebenfalls eine Handgranate, Penz… Der Nautilus darf nicht zu nahe heran.“
Wir warteten…
Jeder beobachtete nach einer Seite hin. Harst stand am Steuer.
Penz fluchte leise…
„Ich alter Esel hätte auch früher darauf kommen sollen, was mit dem Nautilus los ist. Lord Warding ließ ihn bauen – so als Privatspaß! Verrückter Kerl! Und Rail wird das Ding gekauft haben! Unglaublich!“
… Wir warteten …
Harald sagte eindringlich:
„Gebt genau auf die Bewegungen auf der Wasseroberfläche acht – – genau! Der Nebel ist gefährlich!“
Fred Steen beugte sich weit über Bord.
„Ich höre die Barkassen… Es sind zwei…“
„Drei!“ sagte Penz heiser und schmiß seine Zigarre über Bord.
Wir stierten in die trübe Flut‥.
Wir fieberten…
Penz fluchte wieder.
„Harst, diese Minuten werde ich nicht vergessen!! Teufel noch eins, man wird nervös! Wenn die Bande uns rammt, ersaufen wir! Dafür werden sie schon sorgen. Frau Baring hat Glück gehabt.“
Ein Windstoß zerriß den Nebel…
„Achtung!!“ zischelte Fred. „Dort rechts – ein Schaumstreifen, – – er kommt näher – – wie ein Torpedo!“
Harald zog seine Handgranate ab…
Dann schleuderte er sie kaltblütig dicht vor den Schaumstreifen…
„Signal, Fred!!“
Die Sirene heulte eine neue Melodie.
Die Handgranate fuhr ins Wasser, explodierte, – eine Fontäne sprang hoch, – drei Barkassen schossen herbei, und aus der Tiefe der Fahrrinne tauchte langsam ein spindelförmiges Boot mit niedrigem Mittelturm auf…
Dicht vor dem Turm waren die Stahlplatten des Decks zerbeult und gerissen. –
Die Turmluke des winzigen U-Bootes flog empor, und der dicke Geheimrat Schwamm kreischte in Todesangst:
„Wir ergeben uns… Das Boot ist leck… Wir ergeben uns!“
Einer nach dem andern kam zum Vorschein: Schwamm, das Stachelschwein, – dann der fette Silberham, – gefolgt von Frau Benk und schließlich noch zwei neue Mitspieler, freilich nur Nebenfiguren, die Monteure des Nautilus!
Penz strahlte.
„Meine Herrschaften, ich heiße Sie alle herzlich willkommen… Die Polizei wird sich Ihrer liebenswürdigst annehmen. Wir haben drei Barkassen zur Verfügung… Bitte, – in der Villa Wittgenstein erfolgt die Schlußabrechnung… Der Nautilus wird…“
Schwamm rief dazwischen: „Der Nautilus wird in einer Minute in die Luft fliegen… Weg von diesem Platz!!“
Der kleine Nautilus starb mitten auf der Havel durch Dynamit. Der Knall der gewaltigen Explosion war meilenweit zu hören…
Wir hatten uns schleunigst entfernt, trotzdem flogen uns noch Wrackstücke um die Ohren, und Fred Steen erhielt ein Stück Stahlblech gegen die Schwimmweste, die seine Brust umspannte…
Er hat es sorgfältig aufbewahrt. Es ist kaum anzunehmen, daß je wieder Havelpiraten mit einem U-Boot von neun Meter Länge in den Berliner Gewässern ‚arbeiten‛ werden. Derartige stählernen Andenken soll man heilig halten – wenn’s auch nur Blech ist. –
Eine kleine Flotte fuhr zu Wittgensteins Anlegesteg.
Die feinen Herrschaften vom ‚Standard-Klub‛ sahen sehr käsig aus und trugen nette Armbänder.
In der Bibliothek durften sie den noch bleicheren Rapper begrüßen, der inzwischen verhaftet worden war.
Dann kam die Schlußabrechnung.
Einer fehlte ja: Peter von Rank!
Und das war Pech und Witz zugleich.
10. Kapitel
Schlußabrechnung.
Die Herrschaften saßen in einer Reihe nebeneinander auf Holzstühlen. Wir in Klubsesseln – und wir trugen keine Handschellen.
Da war Rapper, neben ihm Schwamm, die Pompadour-Geheimrätin, Silberham und die beiden Monteure.
Alles Havelpiraten…
Und dann trat etwas atemlos der Mann ein, der diesen feudalen Banditen beinahe ins Garn gegangen wäre: Doktor Alfons Gehrtyl!
Penz schmunzelte…
„So, nun sind wir bis auf Rank und das Ehepaar Baring vollzählig… Ich bitte Sie aber inständig, Harst, – machen Sie die Sache kurz. Fangen Sie nicht bei Jules Verne und seinem Roman ‚Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer‛ an, in dem das Phantasieboot Nautilus die Hauptrolle spielt. Ersparen Sie sich auch alle psychologischen Mätzchen, – heute trägt ohnedies jeder Verbrecher sozusagen den §51 in der Tasche, den juristischen Freifahrschein! – Also los…“ und er zitierte: „Der Staatsanwalt hat das Wort…“
Harald nahm eine frische Zigarette und betrachtete die Reihe der Sünder mit stillem Ernst.
„Ich möchte eingangs bemerken,“ hub er an, „daß wir Sie im Vorstandszimmer des Klubs belauscht haben. Leugnen ist also zwecklos. Sie haben durch Silberham wohlhabende, geizige, habgierige Personen, die eine Inflation und Verlust ihres Geldes fürchteten, ausgeplündert. Sie versprachen ihren Opfern währungssichere Auslandspapiere. Zwei der Ärmsten erschossen sich, zwei kamen zu mir, – und die Dinge gerieten in Fluß… – Die eigentliche Piratenangelegenheit wäre hiermit abgetan. Dieser Kriminalfall hat jedoch noch gewisse Seitentriebe: Rails Tod und der Mordversuch gegen Frau Baring und uns…“
Geheimrat Stachelschwein war einer Ohnmacht nahe. Fred reichte ihm einen Kognak.
„… Außerdem ist auch noch Doktor Gehrtyl zu berücksichtigen… – Sie, meine Herrschaften, haben andere betrogen und haben sich untereinander belogen und betrogen. Herr Schwamm und Frau Benk wollten Gehrtyls neue Erfindung recht billig erwerben, und Rapper angelte nach demselben Objekt. Rapper wußte, daß Gehrtyl die wichtigsten Zeichnungen und Berechnungen stets bei sich trug. Er wollte sie ihm abnehmen. Er hatte zweifellos Frau Benk dazu bestimmt, Gehrtyl zu dem Abend mitzubringen, und er hatte seine Vorbereitungen getroffen. – Das Licht sollte erlöschen, er wollte den Doktor schnell niederschlagen und ihm die Papiere abnehmen. Doch die Sache klappte nicht wie geplant. Gewiß, Rapper verließ blitzschnell seinen Sessel und … schlug auch mit einem Gummiknüppel zu, traf jedoch nur Herrn von Ranks Hand, der an der Tür gesessen, und der für Frau Benk etwas Ähnliches hatte ausführen sollte, da er an der Tür den Lichtschalter neben sich hatte. Rank prallte zur Seite und stieß dabei gegen einen Arm, der eine Pistole hielt… Die Waffe entlud sich… Rail stürzte tot zu Boden. Ich betone: Diese Waffe gehört Herrn Gehrtyl und war ihm am selben Abend gestohlen worden…“
Gustav Schwamm rutschte bewußtlos zu Boden…
„Ja, – der hatte die Pistole, der, Herr Schwamm!“ fuhr Harst schärferen Tones fort. „Der sollte schießen, sollte Gehrtyl erledigen, und der Verdacht sollte auf Rank fallen. Es kann nur so gewesen sein. Rank stieß gegen Schwamms Arm, der Schuß ging los, die Kugel traf Rail. – Dieser Verlauf der Dinge wurde nur durch das ineinanderfließen verschiedener Zufälle möglich. Die eine Gruppe der Verschworenen, Frau Benk, Schwamm und Rank, wußten nicht, daß Rapper ähnliches plante. Gerade als Rank das Licht ausschalten wollte, ging dies von selbst aus…
Rank hielt den rechten Augenblick für gekommen, ebenso Schwamm, wie auch Rapper… Der Schuß scheuchte die drei auf ihre Plätze zurück. Da flammte das Licht wieder auf… Der Getötete war Rail, nicht Gehrtyl… Nun ergriffen die vier gegen Gehrtyl Partei. Nachher im Vorstandszimmer des Klubs gerieten sie jedoch aneinander. Jämmerliche Feigheit trieb sie dazu, sich gegenseitig zu verdächtigen… Nur einer zog aus der Sachlage die einzig richtige Konsequenz: Peter von Rank! – Er, der noch ein Quäntchen Anstandsgefühl besaß, durchschaute wohl halb und halb das abscheuliche Spiel, und – er rächte sich… Vorhin schon wurde mir telephonisch gemeldet, daß Rank, ein bekannter Sportflieger, mit Ihrer Maschine, Herr Silberham, auf und davon ist… Unter Mitnahme der Kasse der Havelpiraten, fürchte ich…“
„Schurke!“ kreischte Frau Benk… „Das Geld lag in meinem Wandtresor!“
„Ja, und der Tresor ist jetzt leer, Frau Benk. Aber – – Schurke?! Nein, so wollen wir Rank doch nicht bezeichnen! – Rank ist ein Gescheiterter, gewiß, er wird jedoch bestimmt ein anständiger Mensch werden – – schon aus Dankbarkeit.“
„Gegen wen?!“ fragte Rapper mit verzerrtem Grinsen.
„Die Frage steht hier nicht zur Debatte,“ erklärte Harst eisig. „Herr Kriminalrat, lassen Sie die Leute abführen… Das Nähere wird die gerichtliche Untersuchung ergeben.“
Wir drei waren mit Penz allein. Es blieb eine Weile totenstill in der Bibliothek. Der Kriminalrat hatte eine Zigarre in den Händen, deren Deckblatt etwas beschädigt war. Mit unendlicher Sorgfalt spielte er ‚Zigarrendoktor‛ und überklebte die brüchige Stelle mit Zigarrenheftpflaster.
Ganz unvermittelt fragte er dann: „Daran glauben Sie ja selbst nicht, Harst! Ihr gutes Herz ist wieder mit Ihnen durchgegangen.“
„Ja,“ nickte Harald, „das kann stimmen.“
Penz warf ihm einen eigentümlichen Blick zu: „Ich überkleisterte hier brüchige Stellen, – Sie haben etwas Ähnliches getan. Sie haben zwar das Treiben dieser Havelpiraten erbarmungslos enthüllt und ebenso erbarmungslos – mit Recht! – die Handgranate geschleudert, durch die der kleine Nautilus auch sofort hätte wegsacken können, aber Sie sind andererseits mit denen sehr milde ins Gericht gegangen, die moralisch noch zu retten waren. Sie ließen Peter van Rank mit der Bundeskasse entwischen, Sie verhalfen Barings oder Rings zur Flucht, obwohl Baring damals nachts ebenfalls Herrn von Rail oder besser nur er Herrn von Rail erschießen wollte – – aus Haß, aus Rache. Baring wußte, wem er das Jahr Zuchthaus zu verdanken hatte: Nur Rail, dem wahren Dieb!“
„Allerdings, – das trifft wohl zu,“ meinte Harald etwas verlegen. „Aber ich denke, wir lassen dieses Thema fallen und…“
„Sie sind ein merkwürdiger Mensch, lieber Harst. Sobald man Ihr gutes Herz erwähnt, lenken Sie ab… – Nein, diese Dinge müssen jetzt hier unter uns geklärt werden. Wie war der wirkliche Vorgang?“
Harald blickte auf seine Stiefelspitzen. „Quälgeist, Sie‥!! All das sind doch nur Kombinationen, die…“
„… die schon richtig sein werden… – Also?“
Harst blieb bei seinem Entschluß, nur ‚Vermutungen‛ preiszugeben. „Ich nehme an, daß James wußte, daß seine Frau den Hauptstrom unterbrechen sollte. Er mag gehorcht haben. Was er nicht wußte, war die Tatsache, daß Daisy-Astrid dies verkleidet tun würde.
Hier nun sah er, der von Haß und Rache blinde Trinker, die günstige Gelegenheit, beide zu bestrafen. Nicht Rank brachte Schwamms Pistole zur Entladung, sondern James, als er, aus dem Kamin hervortretend, seinen Arm vorstreckte…“
Penz rieb ein Zündholz an…
„Und Rapper? Sollte James seine Frau erschießen?“
„Vielleicht…“
„Ach was – – vielleicht, er sollte!! Weshalb gab Rapper ihm sonst die Büchse mit?!“
Harst rührte in seiner Teetasse… „Sind Sie nun fertig, Penz?! – Dann können Sie mal telephonieren, Fred… Rufen Sie den alten Ring im Klub an, und sagen Sie wörtlich: Es ist alles in bester Ordnung! – Der alte Mann wird sich freuen und sehr bald Deutschland verlassen und verreisen – – zu seinen Kindern, nach… – Doch nein, das will ich besser verschweigen… Sehen Sie, Penz, Ihre ausgeflickte Zigarre brennt tadellos… Man soll leicht beschädigte Dinge und Charaktere nicht einfach bei Seite werfen. Zuweilen lohnt es, sie zu kurieren … zuweilen… Aber auch dabei muß man sorgsam wählen. Was wirklich brüchig ist, heilt nicht mehr…“
Penz murmelte etwas vor sich hin…
Unser Fred kam strahlenden Gesichtes zurück.
„Der alte Ring hat am Telephon geweint, Herr Harst. Er ist überglücklich…“
Wir schwiegen…
Ein Engel der Nächstenliebe und Versöhnung schien durch das Zimmer zu schweben…