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Schloß Arbaville

 

 

Das Eiserne Kreuz

 

Schloß Arbaville

eine Episode aus den Kämpfen in Belgien

 

Von W. Belka.

 

Es war an einem der letzten Septembertage. Auf eine von Regen und Sturm durchpeitschte Nacht war am Morgen die Sonne siegreich durch die schweren Wolkenmassen gedrungen.

Auf einer Chaussee, die von Lüttich über Balsourte auf Antwerpen zuführt, ritt ein größerer Trupp von Reitern, zumeist höhere Offiziere in feldgrauen Uniformen mit ihren unauffälligen Abzeichen, dahin. Es war der Kommandeur der preußischen Division, der mit dem Stabe seinen Truppen folgte, die den ihnen zugewiesenen Angriffsabschnitt gegen Antwerpen einzunehmen im Begriff waren, um dann sofort mit den Vorbereitungen für die Belagerung zu beginnen.

So oft der preußische Reitertrupp ein Dorf passierte, drängten sich hinter den Fenstern neugierige, verängstigte Gesichter von Frauen und Kindern zusammen und folgten den gefürchteten Feinden mit scheuen Blicken.

Soeben hatte man wieder ein Dorf hinter sich gelassen, alles recht schmucke Häuschen, die von einem gewissen Wohlstand zeugten, als die Aufmerksamkeit des Divisionskommandeurs jetzt durch einen von vorn heransprengenden Reiter abgelenkt wurde, der, gefolgt von drei Dragonern, nun auf den Stab zuhielt.

„Ah – unser Quartiermacher kehrt zurück,“ meinte Exzellenz, die kurze Pfeife durch ein paar Schnellzüge wieder in frischen Brand setzend. „Bin neugierig, was er ausgerichtet hat.“

Der schlanke Dragoneroffizier war mittlerweile dicht herangekommen und parierte jetzt sein Pferd vor dem Divisionär, die Hand leicht an die Mütze legend.

„Na, Herr Leutnant, wie steht’s mit der Unterkunft?“ fragte Exzellenz gemütlich.

„Anscheinend sehr gut, Ew. Exzellenz,“ erwiderte der Ordonnanzoffizier in seiner sofort für ihn einnehmenden frischen Weise.

„So –? Dann erstatten Sie mal genau Bericht.“

Oberleutnant Majewski, der zu den Reserveoffizieren des Dragonerregiments gehörte und im Privatleben seinen Kohl auf einem Gut in Pommern baute, schwenkte links neben Exzellenz ein und begann dann, während man den Weg fortsetzte, mit seiner eingehenden Schilderung des neuen Quartiers.

„Ich habe mich genau an Ew. Exzellenz Anweisungen gehalten. Schloß Arbaville dürfte allen Anforderungen entsprechen. Es liegt an dem Schnittpunkt dreier auf Antwerpen strahlenförmig zuführender Straßen, ist ein vornehmer, geräumiger Bau, mit reichlichen Autogaragen und Ställen. Das Vorgelände ist von dem Turm des Schloßes aus auf etwa drei Kilometer zu überblicken. Exzellenz sind mit dem Stab dort sehr zweckentsprechend und ebenso bequem untergebracht, soweit ich das beurteilen kann.“

„Na – nicht zu bescheiden sein, lieber Majewski,“ meinte der Divisionär lächelnd. „Im Quartiermachen stehen Sie ebenso Ihren Mann wie bei ernsteren und gefährlicheren Dingen. Wenn Sie sagen ‚Dort ist gut wohnen’ – dann wird’s auch so sein. – Hm – wie steht’s mit den Bewohnern? Auch geflüchtet vor den deutschen Barbaren?“

„Nein, Ew. Exzellenz – wenigstens nicht alle. Das Schloß gehört der Gräfin Arbaville, einer Witwe, wie mir der alte Hausmeister erzählte. Die Dame ist Französin von Geburt. Der Mann war belgischer Kolonialoffizier und ist irgendwo in Afrika vor einem Jahr gefallen. Zur Zeit befinden sich außer der Gräfin und dem Hausmeister nur noch eine Köchin und die Kammerzofe der Dame im Schloß. Alles übrige Personal hat es vorgezogen, sich hinter den Mauern Antwerpens in Sicherheit zu bringen.“

Exzellenz paffte eine dicke Rauchwolke in die Luft.

„Wäre mir lieber gewesen, wenn die Schloßherrin sich auch auf und davon gemacht hätte,“ knurrte er.

Eine Stunde später tauchte vor den Reitern über den grünen Bäumen eines ausgedehnten Parkes ein runder, aus Sandsteinquadern gemauerter Turm auf, über dem an einer Fahnenstange eine Flagge in den belgischen Farben lustig im Winde sich bauschte.

„Donner noch eins,“ entfuhr es dem Oberleutnant, der noch immer neben dem Divisionär herritt.

„Was gibt’s denn, Majewski?“ fragte der Divisionär erstaunt.

„Da oben die belgische Fahne auf dem Turm ist schuld an meiner Überraschung, Ew. Exzellenz. Denn vorhin war sie noch nicht da, das weiß ich bestimmt. Sicher ist sie erst nach meinem Wegritt auf Befehl der Gräfin gehißt worden. Vielleicht will man uns auf diese Weise zeigen, daß wir es mit glühenden Patrioten und waschechten Deutschenhassern auf Schloß Arbaville zu tun haben.“

„Kinderrei! Aber Sie werden recht haben,“ brummte Exzellenz.

Inzwischen war man nach rechts in die Auffahrt zum Schloß eingebogen, die durch ein schmiedeeisernes, mächtiges Tor und durch eine breite mit gelbem Kies gestreute Lindenallee führte.

Obwohl das Nahen der deutschen Offiziere ohne Frage bemerkt worden sein mußte, ließ sich doch keine Person erblicken. Überall an den Fenstern waren die schweren, gelbseidenen Vorhänge zugezogen. Wie ausgestorben lag das Schloß da.

Oberleutnant Fritz Majewski sprang als erster von seinem Braunen, warf seinem Burschen die Zügel zu und eilte die Freitreppe empor. Er war wütend, daß nicht einmal der Hausmeister es für nötig befunden hatte, die wenn auch nicht gerade gern gesehenen Gäste zu begrüßen. Die breite, eichene Flügeltür mit den beiden geschnitzten Wappen in den Mittelfeldern war verschlossen.

Erst rüttelte der Oberleutnant nur an dem Messingdrücker. Dann schlug er ziemlich rücksichtslos mit dem Säbelgriff gegen das harte Holz.

Da – ein Schlüssel wurde von innen umgedreht, und der eine Flügel sprang auf. Dienernd, das schwarze Käppchen in den Händen haltend, trat der in einen schwarzen Schoßrock mit silbernen Wappenknöpfen gekleidete Hausmeister heraus, ganz atemlos und mit Schweißperlen auf der faltigen Stirn.

„Mon officier, vous pardonnez, que je ne –“ stotterte er, wurde aber von dem Divisionär unterbrochen, der sporenklirrend nähergekommen war.

„Sprechen Sie Deutsch, Herr Hausmeister?“ fragte Exzellenz kurz.

„Un peu – ein wenig – ein wenig, mein Herr Offizier,“ erklärte der alte Mann ängstlich.

„Nun, dann bitte! Führen Sie uns auf unsere Zimmer.“

„Sehr wohl, mein Herr Offi –“

„Es ist Seine Exzellenz der Herr Divisionsgeneral,“ unterbrach Majewski ihn.

„Oh – pardon. – Wollen die Herren mir folgen, wenn es beliebt.“ –

So hielt der Divisionsstab seinen Einzug auf Schloß Arbaville.

Fritz Majewski hatte für sich schon bei seinem ersten Besuch als Quartiermacher ein geräumiges Zimmer im Ostflügel belegt, in dem ein Piano stand. Er liebte die Musik über alles. Und der Gedanke, einmal wieder auf einem guten Instrument sich in seine eigenen Phantasien versenken zu können, war mindestens ebenso berauschend schön für ihn wie der Anblick des breiten französischen Bettes, das dort in einem Alkoven so einladend winkte.

Der Oberleutnant hatte gerade erst unter Verbrauch von sehr viel Wasser den Staub des Marsches in der flachen, großen Waschschüssel von Oberkörper und Händen gespült, als auch schon sein Bursche den Manöverkoffer und den braunen Schuhsack hereinschleppte.

„Na, Trebius, wo sind Sie denn untergekommen?“ fragte er den intelligent aussehenden jungen Menschen, mit dem er auch ordentlich zufrieden war und den er mehr als Kameraden, wie als Untergebenen zu behandeln pflegte.

„Hier gleich nebenan, Herr Oberleutnant,“ antwortete der Bursche, indem er den Koffer in eine Ecke stellte, aufschloß und die notwendigen Sachen herausnahm. „Eigentlich ist’s ein Schrankzimmer, das mir der Hausverwalter angewiesen hat. Aber ein Bett läßt sich leicht aufstellen. Die Hauptsache bleibt, daß Herr Oberleutnant mich in der Nähe haben.“ –

Eine halbe Stunde später – Majewski hatte inzwischen die bequeme Litewka[1] angelegt – klopfte es, und der Hausmeister meldete mit tiefem Bückling:

„Frau Gräfin lassen die Herren zum Frühstück bitten.“

Der Oberleutnant vermochte sein Erstaunen doch nicht ganz zu unterdrücken. Die Dame schien sich mit der unerwünschten Einquartierung also doch auf guten Fuß stellen zu wollen. – Auch gut!

„Frau Gräfin wünscht, daß die Herren alles Konventionelle beiseite lassen und auch in beliebigem Anzug erscheinen. Wir sind im Krieg –“

„Stimmt. Sogar gegeneinander,“ meinte Majewski gutgelaunt. „Schön also, Herr Hausmeister. Ich werde mich einfinden.“

„In einer Viertelstunde bitte dann im Salon im Mittelbau, den Korridor hier geradeaus, Mitteltür der Vorhalle,“ erklärte der würdige alte Herr noch und zog sich wieder zurück.

Majewski benutzte diese Viertelstunde schnell noch zu einem kurzen Probespiel auf dem Piano. Wie immer, wenn er in Stimmung war, sich in die Welt der Töne zu versenken, vergaß er auch heute bald alles um sich her. Der langentbehrte Genuß, einem selten wohlklingenden Instrument das ganze träumerische Innenleben seiner Seele anvertrauen zu können in meisterhaft durchgeführten Phantasien, entrückte ihn völlig der Wirklichkeit.

Immer weiter spielte er, vergaß alles über den Tönen der Musik, bis endlich ein vorsichtiges Räuspern von hinter seinem Rücken ihn in die Gegenwart zurückrief.

Karl Trebius, sein Bursche war’s, der seinen Herrn auf diese Weise an den Ablauf der Viertelstunde gemahnte.

Der Oberleutnant schob schnell den Klaviersessel zurück und sprang auf. Dann stutzte er. In den Augen seines Burschen, dieses stillen, pflichteifrigen Menschen, glänzten Tränen.

Karl Trebius wandte sich verlegen ab.

Und schweigend verließ jetzt der Oberleutnant das Zimmer. – ‚Merkwürdiger Mensch, mein Bursche,’ dachte er, während er den Korridor eilig entlangschritt. ‚Den muß auch irgend ein geheimer Kummer drücken. Überhaupt haftet seiner ganzen Persönlichkeit so etwas Geheimnisvolles an, das mir schon manchmal aufgefallen ist. Dahinter muß ich kommen. Der Mann ist es wert, daß man sich näher mit ihm beschäftigt.’

Nun stand er vor der Tür des Salons. Drinnen hörte er leises Stimmengewirr. Vielleicht wartete man schon auf ihn. Etwas hastig öffnete er nach kurzem Klopfen die Tür.

Die Herren des Stabes, zumeist in Litewken, umringten in zwanglosen Gruppen den Divisionskommandeur, der unter dem mächtigen Kronleuchter auf dem feinabgetönten Perserteppich vor einer schlanken, schwarz gekleideten Dame von wirklich überraschender Schönheit stand und recht lebhaft auf sie einsprach. –

Jetzt verstummte die allgemeine Unterhaltung. Der Kreis öffnete sich, und der Oberleutnant bat mit knapper Verbeugung Seine Exzellenz, ihn der Dame des Hauses vorzustellen.

„Ah – da ist ja auch unser Nachzügler. – Frau Gräfin gestatten: Herr Oberleutnant Majewski, einer meiner Ordonnanzoffiziere.“

Eine leichte Neigung des Hauptes war die Antwort auf die Verbeugung des Oberleutnants, dann sagte die Gräfin mit einer seltsam verschleiert klingenden und doch überaus wohllautenden Stimme:

„Exzellenz, ich möchte die Herren nicht weiter stören. – Bitte, Exzellenz, keine Komplimente. Ich weiß, daß die Herren sich zwangloser geben können, wenn sie unter sich sind. Dort jene Tür führt in den Speisesaal. Ich hoffe, daß die Herren sich unter meinem Dach wohl fühlen werden, soweit dies zu solchen Zeiten möglich ist.“

Ein leichtes Neigen des Kopfes, und sie verließ den mit unauffälliger Vornehmheit ausgestatteten Salon durch die Mitteltür, ohne eine weitere Anrede des Divisionskommandeurs abzuwarten.

Das Frühstück, bei dem drei der Offiziersburschen bedienten, verlief trotz der hervorragenden Weine und wohlschmeckenden Speisen recht einsilbig.

Gleich nach Tisch ließ Exzellenz sich dann den Hausmeister rufen und bat ihn um Anweisung zweier größerer Räume für das Divisionsbüro.

Monsieur Jean Briol besann sich einen Moment und führte Exzellenz und dessen ersten Adjutanten darauf in den Ostflügel bis zu der letzten Tür des Korridors. Diese öffnend, ließ er die Herren zuerst eintreten.

„Hier – dies ist der sogenannte Zeichensaal des –“ eine kleine Pause, „des verstorbenen Herrn Grafen. Auf dem großen Tisch in der Mitte hatte Herr Graf immer seinen Zeichnungen für den Generalstab angefertigt.“

Es war ein länglicher, ziemlich nüchterner Raum mit drei hohen Fenstern, in dem sich nur hie und da an den Wänden ein Bild militärischen Charakters befand. Außer dem mächtigen Eichentisch in der Mitte gab es nur noch an Möbeln ein paar Polstersessel, hochlehnige Stühle und kleinere Tischchen, außerdem in einer Ecke, unweit eines riesigen Marmorkamines einen eisernen Geldschrank, dessen Tür weit offen stand und dessen Fächer sämtlich leer waren.

„Paßt großartig für uns zum Arbeiten, nicht wahr, Malten?“ meinte Exzellenz zu seinem Adjutanten.

„Gewiß. Der Raum ist hell. Und der Kronleuchter dürfte auch bei Dunkelheit für unsere Zwecke genügen, Exzellenz. Außerdem,“ fügte Malten leise hinzu, „die Fenster sind vergittert – Auch viel wert.“

Der Divisionär nickte daraufhin dem Hausmeister freundlich zu. „Gut. Nehmen wir also diesen Saal. – Wo führt drüben die Tür hin?“

Eilfertig zeigte der Alte nun auch das Nebengemach, das etwas kleiner war und in dem sich nur ein paar leere Schränke, einige einfache Tische und Stühle befanden.

„Der Flügel hier wurde nie von den Herrschaften benutzt,“ suchte der Hausmeister die Unwohnlichkeit dieses Zimmers zu erklären. „Jene Tür dort führt in den Park,“ setzte er hinzu. „Die beiden Räume haben nur die zwei Eingänge, den einen dort vom Korridor und dann diesen vom Park aus.“

„Das Divisionsbüro, wie es im Buche steht,“ lachte Exzellenz. „Hier können sich dann also unser Schreibervolk und die Fernsprecherleute häuslich einrichten, während wir den Zeichensaal für uns nehmen. – Nun noch etwas, Herr Hausmeister. Wollen Sie dem Personal des Schlosses, besser allen Bewohnern, allen, mitteilen, daß der Zutritt zu diesen beiden Räumen von jetzt ab streng verboten ist. Sollten Sie noch etwas von hier entfernen wollen, so muß das gleich geschehen. –

So – es kann alles so bleiben? – Mithin ist das erledigt. –

Dann – existiert vielleicht zu dem leeren Geldschrank hier,“ man war inzwischen wieder in den Zeichensaal zurückgekehrt, „ein Schlüssel, oder besser, wie viele überhaupt?“

„Nur einer, Exzellenz,“ erwiderte der Alte bereitwillig. „Den wird wohl die Frau Gräfin in Verwahrung genommen haben.“

„Bitten Sie dann Ihre Herrin, daß sie uns den Schlüssel für die Zeit unserer Anwesenheit freundlichst überläßt. – So – ich danke Ihnen. Und – vergessen Sie den Schloßbewohnern nicht anzusagen, daß hier vor den beiden Eingängen zu den Büros Tag und Nacht Posten stehen.“

Nachdem der Alte verschwunden war, begannen der Adjutant nochmals die beiden Räume genau zu untersuchen, prüfte die Fenstergitter, beklopfte die tapezierten Wände und rückte sogar in dem kleineren Gemach die Schränke etwas ab, um auch dort die Mauern auf das Vorhandensein etwaiger versteckter Zugänge abzuklopfen, alles Vorsichtsmaßregeln, die insofern recht angebracht waren, als bereits einmal während dieses Feldzuges in Brüssel wichtige Papiere eines Armeekorps mit Hilfe einer geheimen Tür entwendet worden waren.

„Sie sind aber auch zu ängstlich, lieber Malten,“ meinte Exzellenz schließlich, als ihm diese Untersuchung langweilig wurde. „Bedenken Sie, daß Schloß Arbaville ein moderner, kaum fünfzig Jahre alter Bau ist. Unsere Architekten verstehen sich kaum mehr auf das Anlegen von geheimen Gängen und Türen. Die findet man nur in ganz alten Gebäuden zuweilen – wie in dem Brüsseler Schloß, wo die verd… Spione die Tagesbefehle spurlos verschwinden ließen.“

„Ich bin ja selbst auch beruhigt, Exzellenz,“ erwiderte der Adjutant, indem er den letzten Schrank wieder an die Wand rückte. „Hier wird uns ähnliches nicht passieren. Man wird durch Schaden klug – auch durch solchen – den andere zu verschmerzen haben.“

* * *

Vier Tage waren seit dem Einzug der deutschen Einquartierung auf Schloß Arbaville vergangen. Die Gräfin hatte niemand mehr zu sehen bekommen. Man wußte kaum, ob sie sich noch in ihrem westlichen Flügel befand oder ob sie vielleicht bei Nacht und Nebel abgereist war. Der Divisionsgeneral hatte den Herren seines Stabes nahegelegt, sich nach der Dame des Hauses auch nicht weiter zu erkundigen.

„Sie hat uns zu verstehen gegeben, wenn auch in sehr feiner Art, daß wir für sie nichts als unerbetene, aber nicht abzuschüttelnde Eindringlinge sind,“ hatte Exzellenz gesagt. „Und unter diesen Umständen wollen wir eben auch so tun, als ob sie für uns nicht da ist.“

Im übrigen fühlten sich die Herren aber auf Schloß Arbaville bald heimisch. Der Hausmeister, dem man zur Unterstützung fünf Offiziersburschen beigegeben hatte, hielt überall musterhafte Ordnung. Das Essen blieb vorzüglich, die Weine ebenso. Ein Wunder war es nur, daß von den nach Antwerpen flüchtenden Truppen, die doch sonst bei ihren eigenen Landsleuten alles Eß- und Trinkbare geplündert hatten, gerade Schloß Arbaville so vollständig verschont worden war. Als eines Tages Oberleutnant v. Malten dieserhalb den Hausmeister ausgeforscht hatte, antwortete der Alte mit einem gewissen Stolz: „Die Frau Gräfin gehört zu den Freundinnen unserer Königin. Und aus diesem Grunde wurde das Schloß bei dem Durchzug des Heeres besonders bewacht,“ eine Erklärung, mit der der Adjutant sich auch zufrieden gab. –

Jeden Tag, zu jeder Stunde, ob Tag oder Nacht, hallte nun der Donner der gegen die äußere Fortlinie von Antwerpen in Stellung gebrachten schweren Geschütze bis zu dem stillen Herrensitz so deutlich herüber, daß zuweilen die Fenster leise klirrte und die Krähen im Park vor Unruhe selbst nachts kreischend ihre Nester umflogen.

Am Morgen des fünften Tages brach Exzellenz mit seinem Stab zeitiger als sonst auf, um die vordere Gefechtslinie abzureiten.

Man kam durch verlassene Dörfer, in denen jetzt deutsche Landwehr lag, durch einzelne Gehöfte, die von Truppen wimmelten. Auf den Straßen endlose Munitions- und Bagagezüge, marschierende Regimenter, vorbeiratternde Artillerie mit Geschützen jedes Kalibers. Überall das gleiche Bild: ein unaufhörliches Drängen nach vorwärts auf Antwerpen zu, Siegeszuversicht auf den Gesichtern der Wehrmänner, der Offiziere und der höheren Vorgesetzten.

Lauter und lauter wurde das Brüllen der schweren Belagerungskanonen, je näher man der vorderen Linie kam.

Dann hielt der Stab bei der ersten Batterie am äußersten linken Flügel. Der Hauptmann, der hier kommandierte, meldete sich vorschriftsmäßig bei dem Divisionsgeneral und erstattete Bericht über die Vorgänge der verflossenen Nacht. Er hatte bereits telephonisch gemeldet, daß der Feind sich auf die Batterie, doch diese am Tage vorher ihre Stellung gewechselt und eine vorzügliche Deckung gefunden hätte, schon in der Nacht wieder tadellos eingeschossen und sogar ein Geschütz außer Gefecht gesetzt habe.

Exzellenz hörte aufmerksam zu.

„Ich kann mir das nicht anders erklären,“ sagte er dann. „Die Belgier müssen Spione haben, die unsere Batteriestellungen verraten. Wir müssen besser auf die scheinbar harmlosen Dorfbewohner aufpassen, die sich hier, wenn auch nicht sehr zahlreich, noch herumtreiben. Jeder Verdächtige soll sofort festgenommen werden. – Sie sind nämlich nicht der einzige Batteriechef, Herr Hauptmann, der mir eine solche Meldung erstattet hat. Heute in aller Frühe haben noch vier andere Herren das Divisionsbüro angerufen und über ähnliche Geschichten geklagt. Das muß anders werden. – Notieren Sie sich, Malten, daß ich noch diesbezügliche Befehle gebe,“ wandte er sich an seinen ersten Adjutanten. – „Und Sie, Herr Oberleutnant Majewski, reiten mal zu den betreffenden Batterien hin und stellen dort das Nötige fest. Ich werde mir indessen unsere Schützengräben vorn ansehen. Ihren Bericht können Sie nachher im Schloß abstatten.“

Die Haubitzenbatterie, bei der der Stab gerade hielt, feuerte jetzt eine neue Salve ab. Das Krachen war so ohrenbetäubend, daß die Pferde der Offiziere sich bäumten und nach rückwärts drängten.

Exzellenz klopfte seinem Rappen beruhigend den Hals.

„Na, daran hättest du dich auch schon gewöhnen können, alter Achilles!“ brummte er.

Dann in weiter Ferne ein paar dumpfe Schläge. Und gleich darauf in der Luft das heulende Sausen sich nähernder Granaten. Die Antwerpener Forts beantworteten den ehernen Gruß in gleicher Weise.

Der heulende Ton verstärkte sich. Kurz hintereinander nun schon furchtbare Detonationen ganz dicht vor den Herren des Stabes. Sand, Rasenstücke, Holzsplitter, Eisenteile flogen durch die Luft. Und dann die wütende Stimme des Divisionskommandeurs.

„Da soll doch gleich! Wieder ein Geschütz hin! Die Kerle schießen ja unverschämt gut. Das geht nicht mit rechten Dingen zu – niemals!“

Fünf brave Kanoniere wälzten sich in ihrem Blut. Das feindliche Geschoß hatte den Lauf der Haubitze getroffen, ein Stück herausgeschlagen und einen Teil der Bedienungsmannschaften durch seine Splitterwirkung niedergemäht. Auch das Pferd des Generaloberarztes, der mit zum Stabe gehörte und eben abgestiegen war, um den Sattel fester anziehen zu lassen, war so schwer am Kopf verletzt worden, daß es auf der Stelle zusammenbrach, und die beiden an den Sattelgurten sich abmühenden Ordonnanzen kaum Zeit fanden zur Seite zu springen.

Oberleutnant Majewski war sofort nach erhaltenem Befehl, der ihn zu den übrigen Artilleriestellungen hinführen sollte, davongesprengt und hatte sich schon einige hundert Meter von der Haubitz-Batterie entfernt, als dort eine der Bomben des Forts so schweren Schaden anrichtete. Teils im Trab, teils in gestrecktem Galopp durchritt er die unbesetzten Strecken zwischen den einzelnen Batterien, oft genug der Gefahr ausgesetzt, von Granatsprengstücken zerrissen zu werden. Gerade heute schienen die Verteidiger Antwerpens durch eine überaus lebhafte Kanonade, durch die sie die deutschen Geschütze niederzukämpfen suchten, einen Ausfall vorbereiten zu wollen.

Sein Weg führte den Oberleutnant an den verschiedensten Bildern des Schreckens vorbei, wie nur die Kriegsfurie sie zu schaffen vermag.

Überall in der Nähe der Batterien war der Boden aufgewühlt von den schweren Artilleriegeschossen. Trichterförmige Löcher, oft bis zu fünf Meter tief, hoben sich schon von weitem wie schwarze Flecken von der Umgebung ab. Pferdeleichen zerschossene Munitionswagen, hie und da ein einfaches Holzkreuz im Boden – ein Soldatengrab, rauchende, zerstörte Gehöfte, Bäume, deren Kronen ein Volltreffer in den Stamm weggefegt hatte, in Talsenkungen und hinter verwüsteten Gebäuden Landwehrkompagnien, die hier zum Schutz der Artillerie zurückgelassen waren. Das war das sich stets wiederholende Bild des Krieges, demgegenüber die Sinne des Soldaten nur zu schnell abgestumpft werden, so daß er die Zeichen der Vernichtung kaum mehr sieht.

Zwei Stunden dauerte dieser Ritt von Batterie zu Batterie. Was dem Oberleutnant hier von den Kommandeuren mitgeteilt wurde, bestätigte immer mehr die Vermutung des Divisionärs, daß der Feind mit einer vorzüglichen organisierten Spionage arbeitete. Alle Batteriechefs klagten fast gleichmäßig über die Unmöglichkeit, für ihre Geschütze Stellungen zu finden, die die Belgier nicht schon einen Tag später tadellos genau erkundet hatten. Feindliche Flieger kamen hier nicht in Frage, da bisher nicht ein einziges gesichtet worden war. Exzellenz mußte mit seiner Vermutung recht haben, daß die Reste der nicht geflüchteten Bevölkerung ihre Hand im Spiele hatte. Ohne Frage führten unterirdische, noch nicht entdeckte Telephonleitungen nach Antwerpen hinein, die es den Spionen leicht machten, jederzeit eine Stellungsveränderung der deutschen Belagerungsartillerie nach der Festung zu melden. –

Im Schritt kehrte Fritz Majewski jetzt nach dem Schloß zurück. Allein ritt er durch das weite Land, tief in Gedanken versunken. Er grübelte beständig darüber nach, wie man diesem schädlichen Treiben der Spione wirksam begegnen könne. Etwas mußte geschehen. So ging das nicht weiter. Darüber war er sich klar geworden. Und Exzellenz würde sicher ebenso denken und mit größter Energie vorgehen, wenn er jetzt noch all die Einzelheiten und die neuen, recht unangenehmen Tatsachen über die Verluste der weiteren Batterien erfuhr.

Wenn der Oberleutnant eines der halb verlassenen Dörfer passierte, ließ er die Blicke argwöhnisch umherschweifen. War doch letzten hier in der Nähe ein Meldereiter aus dem Hinterhalt vom Pferde geschossen worden, ohne daß die Schuldigen entdeckt worden wären. Gewiß, das Gehöft, aus dem die tödlichen Schüsse gefallen waren, hatte man schon am nächsten Tag als warnendes Beispiel dem Erdboden gleichgemacht. Aber zu trauen war der belgischen Landbevölkerung auch trotz dieser schnellen Vergeltung nicht.

Vor Majewski tauchte jetzt das langgestreckte Dorf Torneby auf. Dieses im Bogen zu umreiten und dann weiter querfeldein auf Schloß Arbaville zuzuhalten, erschien dem Oberleutnant nur zu richtig. Gerade in Torneby bot sich etwaigen Franktrieurs leicht Gelegenheit, einen einzelnen Feind wegzuputzen, da dort keine deutschen Truppen lagen und dies aus den einfachen Grunde, weil der Ort typhusverdächtig war. Zu wichtig schienen Majewski die Meldungen, die er mitbrachte, um sich heimtückisch Kugeln unnötig als Zielscheibe zu bieten.

So bog er denn nach links von der Landstraße ab und ritt am Rande eines Baches entlang, der sich später in ein schmales Wäldchen hineinschlängelte, dessen letzte Ausläufer bis an den Park von Arbaville heranreichten. Das Gehölz, dessen Bäume ziemlich dicht standen und das nur stellenweise dichtes Unterholz hatte, zu durchqueren, bot keine Schwierigkeiten, wie Majewski bereits auf einem Spazierritt am Tage vorher festgestellt hatte. So lenkte er jetzt unbekümmert in das Wäldchen ein, dessen weicher Moosboden die Tritte des Pferdes vollkommen dämpfte.

Tannen und junge Buchen wuchsen hier bunt durcheinander. Die würzige Luft, die Einsamkeit und das fröhliche Lied einiger gefiederter kleinen Sänger in den Zweigen lenkten des Oberleutnants Gedanken schnell ab von den ernsten Dingen, mit denen er sich bisher beschäftigt hatte. Gerade diese Umgebung, der leichte Harzgeruch, der Duft des Mooses und die feierliche Stille ringsum, die nur durch das ferne Grollen der Geschützte zeitweise gestört wurde, rief unwillkürlich Erinnerungen in ihm wach an eine Episode seines Lebens, die ihn zu dem gemacht hatte, was er heute war, ein Träumer, ein Mensch, der von der Zukunft nichts mehr erhoffte als das beglückende Bewußtsein strenger Pflichterfüllung und eifrigen Schaffens. –

In genau so einem kleinen Gehölz in seiner pommerschen Heimat war es gewesen, wo er eines Tages das Mädchen, das er heimlich mit jeder Faser seines goldehrlichen Herzens liebte, in vertrautem Stelldichein mit einem für leichtfertig bekannten und wegen seiner galanten Abenteurer fast berüchtigten Herrn angetroffen hatte, dasselbe Mädchen, das seine stille Werbung gern entgegenzunehmen schienen und ihn schon durch manchen heimlichen Händedruck ermutigt hatte. Da war ihm mit einem Male die Binde von den Augen gefallen, da erkannte er, daß die Geliebte es nicht auf seine Person, sondern seinen Reichtum abgesehen hatte. Fortan war Fritz Majewski ein anderer. Den Frauen ging er ängstlich aus dem Wege. Und keine hatte ihm mehr auch nur ein geringes Interesse einzuflößen vermocht.

Keine?! – Der Oberleutnant ertappte sich plötzlich selbst bei allerlei Zweifeln, ob dieses ‚keine’ wirklich noch zutraf. Vor seinem geistigen Auge war ein Bild aufgetaucht, das einer schlanken Frauengestalt in schwarzem Gewand mit edelgeschnittenem Gesicht und mandelförmigen Sphinxaugen. Nur einmal hatte er wenige Sekunden der Gräfin Yvonne Arbaville gegenübergestanden, und doch hatte er sie nicht vergessen können, wie er soeben zu seiner eigenen Unzufriedenheit merkte.

Weg mit den törichten Gedanken! Das fehlte noch, daß er sich hier in die Fremde, die Feindin vergaffte. –

Und wie immer, wenn er seinem Denken durch einen kleinen Notbehelf eine andere Richtung geben wollte, holte er jetzt seine Zigarrentasche hervor und wollte sich eine der langen Holländer, sein Lieblingskraut, anzünden. Mit dem Wölkchen des Rauchens würde er auch die dummen Gedanken hinausblasen in die frische Luft dieses restlichen Herbsttages. –

Da – eine kleine Ungeschicklichkeit – das Benzinfeuerzeug entglitt seinen Händen und fiel auf den Waldboden hinab. Als er dann seinen Braunen angehalten hatte und abgestiegen war, mußte er erst eine Weile suchen, bevor er es in dem Moos wiederfand. Nun hielt er es zwischen den Fingern, neben seinem Pferd stehend, nun wollte er das Stahlrädchen in Drehung versetzen, um durch die Funken den dünnen Docht zu entzünden. Da – kein Zweifel – vor ihm Stimmen. Er lauschte, sich regungslos haltend. Ein langer Gebüschstreifen versperrte ihm jedoch die Aussicht, so daß er die Personen, die dort langsam im Gespräch vorüberschritten, nicht sehen konnte.

Aber diese Stimme, die kam ihm so seltsam bekannt vor. Plötzlich die Erinnerung: Gräfin Yvonne! Ein Irrtum war ausgeschlossen.

Und jetzt hörte er ein tiefes, männliches Organ, verstand auch einzelne Worte.

„– les batteries – ordres sekrets – telephon –“

Alles andere, die verbindenden Worte, entgingen ihm, da der Mann lebhaft und sehr schnell sprach.

Der Oberleutnant zauderte nicht lange. Ein ungewisser Argwohn war plötzlich in ihm aufgezuckt.

Er ließ sein Pferd ruhig stehen, da er wußte, daß es sich nicht vom Platz rühren würde. Dann schlich er den ihm noch immer unsichtbaren Personen nach. Das weiche Moos begünstigte sein lautloses Vorwärtshuschen. Jetzt bog er um die linke Ecke des Gebüschstreifens, prallte aber wieder sofort zurück.

Die Gräfin und ihr Begleiter, ein Mann in bäuerlicher Tracht, waren stehen geblieben. Keine fünfzehn Schritt vor ihm befanden sie sich auf einer kleinen Lichtung in eifrigster Unterhaltung. Und erst nach ein paar Minuten setzten sie ihren Weg in der Richtung auf das Dorf Torneby fort, bald hinter den Bäumen verschwindend.

Fritz Majewski aber bestieg wieder seinen Braunen und ritt gedankenvoll weiter. Besonders das eine Wort ‚Telephon’, das er aufgefangen hatte, schien ihm gerade unter diesen Verhältnissen recht bedenklich. Sollte etwa die Gräfin bei dieser so vorzüglich arbeitenden Spionage mitbeteiligt sein? Sollte sie etwa absichtlich ihr Schloß nicht verlassen haben, um ihrem Vaterlande im geheimen zu dienen? –

Der Oberleutnant sann und sann. Freilich – es konnte auch ein Zufall sein, daß die wenigen von ihnen erlauschten Worte sich so leicht zu einem verdächtigen Satzgefüge ergänzen ließen. Trotzdem – ob es nicht seine Pflicht war, diesen Vorfall Seiner Exzellenz zu melden? Oder war es nicht richtiger, die Gräfin zunächst noch heimlich zu beobachten und weiteres Belastungsmaterial zu sammeln? –

Schließlich entschied er sich für das Letztere. Und einen Plan hatte er auch schon entworfen, wie er die schöne Yvonne unter ständige Bewachung stellen wollte.

Als er dann im Schloß anlangte, kurz nach zehn Uhr vormittags war’s, erklärte ihm der vor der Terrasse auf und abwandernde Posten, daß Exzellenz noch nicht zurück sei.

In seinem Zimmer angekommen, rief er seinen Burschen herbei, der auch sofort erschien. Mit Trebius einmal über dessen persönliche Verhältnisse zu sprechen, wie er sich dies am Tage ihres Einzugs auf Schloß Arbaville vorgenommen hatte, dazu hatte er im Drang der dienstlichen Geschäfte noch nicht die Zeit gefunden.

Jetzt hielt er die Gelegenheit für günstig, mit seinem gewandten und offenbar recht gebildeten Burschen einmal ein offenes Wort zu sprechen. Er tat dies denn auch in einer so herzlichen Art, daß der junge Mensch sich durch dieses weitgehende Interesse kaum verletzt fühlen konnte, fragte nach dem Stande der Eltern, nach seinem Beruf und sagte dann zum Schluß, als er schon das Meiste erfahren hatte, was er wissen wollte, mit aufrichtiger Anteilnahme:

„Sie machen so den Eindruck, Trebius, als ob Sie ein großer, geheimer Kummer drückt. Wenn ich Ihnen vielleicht irgendwie helfen kann, ich täte es sehr gern. Ich habe ja gleich, nachdem Sie mir als Bursche zugeteilt worden waren, herausgemerkt, daß Sie eine gute Erziehung genossen haben mußten. Und nun erfahre ich, daß sie wirklich ein paar Semester Chemie studiert haben, Ihr Vater Amtsgerichtsrat und wohlhabend ist. Wie kommt es da –“

In Karl Trebius etwas blassem Gesicht arbeitete es schon minutenlang in mühevoll zurückgedrängter Rührung. Jetzt unterbrach er seinen gütigen Herrn mit halb erstickter Stimme. Hastig kam Wort auf Wort über die schmalen Lippen, und schließlich war dann die Beichte zu Ende, eine Geschichte eines Entgleisten, die den Oberleutnant tief erschütterte.

Trebius hatte als junger Student einem Kollegen im Laboratorium der Universität ein teures Instrument entwendet und dieses verkauft, weil er von Hause mit Geld allzu knapp gehalten wurde, obwohl sein Vater, die Mutter war frühzeitig gestorben – recht vermögend war. Eine unbezähmbare Genußsucht hatte ihn dazu verführt. Die Sache kam heraus, er wurde mit einer Woche Gefängnis bestraft, verlor die Berechtigung zum Einjährig-Freiwilligen-Dienst, versuchte sich nach beendeter Militärzeit in der Kaufmannslaufbahn, als Kellner und in vielen anderen Berufszweigen und war zuletzt vor der Mobilmachung in einer Auskunftei als Schreiber beschäftigt. Die Seinen hatten sich von ihm völlig losgesagt. Er erfuhr nichts mehr von ihnen, hatte auch nie den Versuch unternommen, sich ihnen wieder zu nähern.

„Das ist meine Geschichte, Herr Oberleutnant,“ fügte er nun zum Schluß hinzu. „Einen Augenblick sträflichen Leichtsinns habe ich so unendlich bitter büßen müssen. Aber das kann ich Herrn Oberleutnant ehrlich versichern, nie wieder bin ich vom rechten Wege abgewichen – nie wieder! Ich habe den Hunger und das Elend kennen gelernt in furchtbarster Gestalt, da bin ich ganz ehrlich.“

Majewski reichte ihm jetzt die Hand. „Ich glaube Ihnen, Trebius! – Und nun – Kopf hoch! Sie werden sich wieder emporarbeiten – mit meiner Hilfe. Ich werde auch andere Menschen für Sie interessieren. Das, was Sie gefehlt haben, ist gesühnt.“

Tränen stiegen den jungen Menschen in die Augen.

„Herr Oberleutnant, wie soll ich Ihnen nur danken! Sie sind so gut zu mir, wie es lange keiner mehr gewesen ist.“

„Lassen Sie das, Trebius. Es ist Pflicht jedes, der die Möglichkeit dazu hat, einem einmal Gestrauchelten die Wege zurück wieder zu ebnen. –

Etwas anderes. Zunächst jedoch, bevor ich Sie ins Vertrauen ziehe, müssen Sie mir versprechen, zu keinem Menschen ein Wort davon zu erwähnen, was hier jetzt zwischen uns verhandelt wird. – Schon gut. Ich weiß, daß Sie schweigen werden. – Und nun hören Sie, was ich Ihnen zu sagen habe.“

Karl Trebius lauscht aufmerksam, während sein Oberleutnant ihm mit vorsichtig gedämpfter Stimme seine Verdachtsgründe gegen die Gräfin mitteilte und ihn dann damit beauftragte, den westlichen Flügel des Schlosses möglichst unauffällig zu beobachten und der Schloßherrin überallhin zu folgen, falls diese einmal ihre Gemächer verließ.

Trebius nickte eifrig. „Es ist mir sehr lieb, daß Herr Oberleutnant von dieser Sache heute selbst angefangen haben,“ sagte er ernst. „Ich hätte sonst Herrn Oberleutnant wohl erst nach einigen Tagen das zu berichten gewagt, was ich hier im Schloß, selbst an unauffälligen Dingen bereits zufällig bemerkt, zum Teil auch bewußt festgestellt habe.“

Majewski starrte seinen Burschen, der jetzt in bescheidener Haltung am Fenster lehnte, ganz entgeistert an. –

„Wie – Sie haben ebenfalls so einiges entdeckt, das meinem Verdacht neue Nahrung geben könnte? Heraus mit der Sprache, Mann! Sie können sich denken, wie neugierig ich bin.“

„Herr Oberleutnant sollen alles erfahren,“ erklärte Karl Trebius gelassen. „Es ist eine ganze Menge von an sich belanglosen Beobachtungen, die aber, wenn man sie aneinanderreiht, doch recht verdächtig erscheinen. –

Am Tage unseres Einzuges hier auf Schloß Arbaville bat mich der Divisionsschreiber, der Feldwebel Werner, ich möchte doch beim Einräumen der Bürosachen etwas helfen. Da ich nichts zu tun hatte, kam ich der Aufforderung bereitwilligst nach. Auf diese Weise war mir Gelegenheit geben, mich in den beiden Räumen, die der Hausmeister Jean Briol Exzellenz für die Büros zur Verfügung gestellt hat, etwas umzusehen. Ich möchte noch eine Bemerkung einflechten, bevor ich fortfahre. Herr Oberleutnant wissen vielleicht, daß die großen Auskunfteien ihre Informationen sich bisweilen auch auf dem Weg heimlichen Beobachtens von bestimmten Personen besorgen müssen. Es ist dies gewissermaßen eine Detektivarbeit, zu der nicht jeder verwendet werden kann, da dazu offene Augen und schnelle Auffassungsgabe, auch ein wenig Kombinationstalent gehört. Ich selbst bin nun bisweilen für meine Auskunftei auch auf diesem Gebiet tätig gewesen, obwohl mir diese Art von Beschäftigung nicht zusagte. Aber die Verhältnisse waren stärker als ich. Ich mußte derartige Aufträge übernehmen, wenn auch nur selten, um meine Stellung nicht zu verlieren. Dabei habe ich nun sozusagen die Anfänge der Detektivkunst praktisch gelernt, verstand bald mit meinen beiden Augen mehr zu sehen als ein Dutzend Durchschnittsmenschen. –

So, und nun zu meinen Beobachtungen. Ich will mich dabei möglichst kurz fassen und die Tatsache und die von mir daraus gewonnenen Folgerungen gleichzeitig nennen. –

Auf dem Linoleumbelag des Korridores hier vor der Tür von Herrn Oberleutnants Zimmer befanden sich eine Menge frischer, tiefer Kratzer, als wir ankamen. Jetzt sind diese Kratzer durch das Einreiben mit Bohnermasse etwas verdeckt, aber doch noch ziemlich deutlich zu erkennen. Sie ziehen sich den ganzen Korridor des Ostflügels entlang und setzen sich auch über den Parkettfußboden der Vorhalle sowie ein Stück in den Korridor des Westflügels fort; ebenso lassen Sie sich bei einiger Aufmerksamkeit wieder auf dem Parkettboden der beiden Büroräume erkennen. –

Es sind mithin meines Erachtens kurz vor unserer Ankunft schwere Möbelstücke von einer ungenügenden Anzahl von Personen – daher die Schrammen überall – aus dem sog. Zeichensaal und dem Nebengemach heraus und andere dafür hineingeschafft worden. –

Daß ein Wechsel der Möbel und ebenso der Bilder stattgefunden hat, geht auch aus dem folgenden hervor. In den beiden Räumen zeichnen sich die Stellen, wo vorher andere Einrichtungsgegenstände: Schränke, Tische, Gemälde usw., gestanden beziehungsweise gehangen hatten, noch genau auf dem Fußboden und an den Wänden, hier durch hellere Flecken auf den Tapeten, überall ab. Hingegen sind die Stellen, an die die neuen Möbel hingekommen sind, in keiner Weise kenntlich. Die Frage, zu welchem Zweck dieser Austausch der Einrichtungsgegenstände erfolgt ist, möchte ich dahin beantworten, daß die Schloßbewohnern diese beiden Gemächer eben recht bequem schon vorher für Bürozwecke herrichteten, das heißt Seine Exzellenz veranlassen wollten, gerade diese Räume, die der Verwalter, besser der Hausmeister, auch gleich zuerst zeigte, auszuwählen. Hier drängt sich einem nun wieder die Frage auf, weshalb gerade diese Erdgeschoßgemächer des Ostflügels Seiner Excellenz so schlau aufgeschwatzt wurden. –

Ich denke, man wollte eben den westlichen Flügel ganz für sich behalten, um dort ungestört zu sein. Denn sämtliche Herren Offiziere und alle Ordonnanzen usw. haben ja auch hier im Ostflügel ihre Zimmer und Stuben erhalten. – So, das wäre der eine Punkt.

Weiter habe ich dann an den beiden letzten Abenden gegen neun Uhr, ich war in den Park gegangen, um hier etwas Fallobst aufzusammeln, einen einfach gekleideten Mann beobachtet, der aus der Richtung des lang gestreckten Dorfes da im Norden –“

„Tornedy heißt es, nicht wahr?“ ergänzte der Oberleutnant.

„Richtig, also aus der Richtung von Torneby kam der Mann und schlich vorsichtig bis zur Tür des an den Westflügel angebauten Wintergarten, in dem er sofort verschwand. Wie gesagt, beide Male geschah dies gegen neun Uhr, als die Herren Offiziere bei Tisch saßen und die Unteroffiziere, die Ordonnanzen und wir Burschen gleichfalls unsere Abendmahlzeit erhielten. Die Stunde war also sehr klug für diesen Besuch gewählt, da der Unbekannte zu der Zeit vor Überraschungen so gut wie sicher war. Daß ich ihn vorgestern zum erstenmal erblickte, war ein reiner Zufall, da ich gleich als erster gegessen hatte und sehr schnell mit den belegten Butterbrötchen fertig wurde. Dann wollte ich mir eben etwas Nachtisch einsammeln, und da traf ich den Menschen, der wie ein Bauer der hiesigen Gegend gekleidet war. Gestern bin ich dann absichtlich schon von halb neun an im Park gewesen und lag in dem Gebüsch neben der Buchsbaumallee auf der Lauer, nicht umsonst, wie ich schon erwähnte.

Das Auffallende ist nun, abgesehen von der Heimlichkeit dieses Besuches, der Umstand, daß der Mann nicht etwa ein Liebhaber der Köchin oder der Kammerzofe der Gräfin ist, sondern von dieser selbst an der Glastür des Wintergartens erwartet wurde, wie ich gestern bei dem ziemlich hellen Sternenlicht deutlich bemerkte.

„Donnerwetter, das ist ja alles höchst verdächtig,“ entfuhr es Majewski jetzt. „Haben Sie denn noch mehr zu berichten, Trebius?“ sagte er dann ganz aufgeregt.

„Allerdings, Herr Oberleutnant, zu berichten und – zu fragen. Zunächst, der Unbekannte ist gestern bis nach Mitternacht, es mag so ungefähr eins gewesen sein, meine Uhr war leider nicht aufgezogen, im Schloß geblieben. Ich habe so lange geduldig auf seine Rückkehr gewartet und bin dann erst schlafen gegangen.

Punkt zwei ist auch erledigt. Also zu dem nächsten. Wir Burschen helfen täglich dem alten Hausmeister beim Aufräumen der jetzt in Benutzung genommenen Zimmer. So hatte ich Gelegenheit, mich in den Gesellschaftsräumen im Mittelbau umzusehen. Dabei fiel mir nun auf, daß die Gräfin, die doch, ich selbst habe sie ja nur gestern undeutlich in der Tür des Wintergartens zu Gesicht bekommen, sie aber doch an der schlanken, mir von Jean Briol so viel gerühmten Gestalt erkannt, die mit den derberen Figuren der Köchin und der Zofe nichts gemein hat, als selten schöne Frau fraglos Gemälde und Photographien von sich besitzen dürfte, anscheinend all diese Bilder hatte entfernen lassen. Denn ich habe weder im Salon noch in dem anstoßenden sogenannten japanischen Teeraum, weder im Tanzsaal noch in den kleinen Gemächern solche entdeckt. Dafür konnte ich aber feststellen, daß zum Beispiel im Salon über dem Rotmahagoniumbausofa und im Teeraum an vier Stellen noch vor kurzem größere Gemälde gehangen haben müssen, wie die scharf sicher hervorhebenden helleren Vierecke auf den Ledertapeten beweisen. Zu welchem Zweck die Bilder der Gräfin beziehungsweise ihres Mannes fortgeschafft wurden, vermag ich nicht zu ergründen. Die Vermutungen, die ich hege, sind so ungewisser Natur, daß ich sie noch für mich behalten möchte, zumal diese Sache für die Spionageangelegenheit, die ich hier zu wittern glaube, nicht sehr ins Gewicht fällt. So, Herr Oberleutnant, das wäre alles.“

Majewski, der sich in einen der Klubsessel bequem zurückgelehnt hatte, schaute jetzt seinen Burschen nachdenklich an.

„Mir fällt da eben ein,“ meinte er nach einer Weile, „daß wir bei unserer Ankunft hier einige Zeit warten mußten, bevor der Hausmeister uns die Tür öffnete. Der alte Mann war ganz außer Atem und sein Gesicht derart erhitzt, als ob er vorher noch recht schwer gearbeitet hätte. Nun haben wir ja eine Erklärung dafür, er wird mitgeholfen haben die Möbel auszuwechseln – natürlich ist es so! Im übrigen aber, lieber Trebius, ich danke Ihnen schon heute herzlich für die wertvollen Dienste, die Sie uns für die recht verdächtig erscheinenden Feststellungen geleistet haben. Das hier im Schloß die Sache nicht mit rechten Dingen zugeht, unterliegt für mich jetzt keinem Zweifel mehr. Jedenfalls werde ich noch heute Seiner Exzellenz eingehenden Bericht erstatten, und Exzellenz wird dann das weitere schon veranlassen. Wir müssen um jeden Preis Klarheit gewinnen, was für Leute es sind, die nachts hier im Schloß heimlich aus- und eingehen.“

Karl Trebius war jetzt vor seinen Herrn hingetreten. „Würden Herr Oberleutnant mir vielleicht einige Fragen beantworten?“ bat er leise. „Das, was Herr Oberleutnant mir vorhin von dem offenbaren Verrat unserer Artilleriestellungen anvertraute – alles war mir ja völlig neu – hat nämlich einen noch weitergehenden Verdacht in mir auftauchen lassen. Von Herrn Oberleutnant Auskunft wird es abhängen, ob dieser neue Argwohn tatsächlich eine Berechtigung hat.“

„Fragen Sie nur zu, lieber Trebius. Einer so nützlichen, gewandten Personen wie Ihnen darf ich auch getrost einige Dienstgeheimnisse mitteilen.“

Karl Trebius wollte über Verschiedenes Aufschluß haben. Und sein Herr ließ ihm diesen auch in zusammenhängender Form zuteil werden.

„Unsere Batteriestellungen werden natürlich durch rückwärtige, oft eineinhalb Kilometer zurückliegende Postenketten gegen die Annäherung von Fremden geschützt. Leicht ist es also nicht, sich den Batterien soweit zu nähern, um sich ihre Standorte genau einzuprägen. Bisher haben wir ja leider auch nicht eine einzige verdächtige Person abfassen können. Trotzdem müssen Spione in außerordentlich geschickter Weise die verdeckten Stellungen sehr schnell ausgekundschaftet haben, wofür ja die feindlichen Geschütze durch ihr genaues Feuer den Beweis liefern. Ihre nächste Frage kann ich dahin beantworten, daß der Divisionstab eine genaue Karte unseres Angriffsabschnittes gegen Antwerpen besitzt, die in größtem Maßstab entworfen ist und in die jeder Baum, jeder Strauch eingezeichnet ist. Auf dieser Karte werden die Stellungen unserer Truppen je nach den stattgehabten Veränderungen jeden Abend von einem Herrn des Stabes neu eingetragen. Sogar Regimentsnummern, Stärkeverhältnisse usw. stehen daneben. Natürlich fehlen auch die Batteriestandorte, die Anzahl der Geschütze, ihre Kaliberweite usw. auf dieser Karte nicht, die es Seiner Exzellenz jeden Augenblick ermöglicht, einen genauen Überblick über seinen Angriffsabschnitt zu gewinnen. Eine Person, also ein Spion, der Einsicht in diese Zeichnung nehmen könnte, wäre daher imstande, unserem Gegner die Batteriestellungen aufs Genaueste mitteilen zu können. Aber das ist eben deswegen völlig ausgeschlossen, weil diese Karte ebenso wie alle wertvollen Papiere, Befehle, Meldungen usw. stets in dem eisernen Geldschrank verschlossen gehalten werden, der in dem sogenannten Zeichensaal steht und dessen einzigen Schlüssel Exzellenz stets bei sich trägt. Außerdem stehen ja auch Tag und Nacht vor den Eingängen zu den beiden Räumen Posten. Ferner wird die Tür nach dem zweiten Gemach, dem eigentlichen Divisionsbüro, jeden Abend verschlossen, gerade so wie die Tür, die hier vom Ende des Korridores in den Zeichensaal führt. Die beiden Schlüssel der schweren, eichenen Türen nimmt der erste Adjutant stets an sich. Ein weiterer Schutz gegen Spione sind dann auch die beiden Telephongefreiten, die ihm Divisionsbüro schlafen und etwaige nächtliche Meldungen entgegennehmen müssen. – Sie sehen also, daß die geheimen Karte kaum besser bewacht sein kann.“

„Noch etwas, wenn Herr Oberleutnant gestatten,“ sagte Trebius langsam. „Ist die Anfertigung solcher Karten eines Angriffsabschnittes auf Festungen Vorschrift?“

Majewski nickte.

„So – dann weiß ich genug,“ meinte der junge Mensch darauf in fast heiserem Flüsterton. „Herr Oberleutnant – wir haben es hier mit einem der gefährlichsten und raffiniertesten Spionagekomplotte zu tun, die je eingefädelt sein dürften. Ich bin meiner Sache jetzt ganz sicher. –

Folgendermaßen ist diese Überlistung unseres Divisionsstabes hier zu Stande gekommen. – Als ein deutscher Offizier auf Schloß Arbaville für den Divisionsstab Quartier belegt hat, wurde sofort von den Bewohnern, deren treibendes Element natürlich die Gräfin ist, mit den Vorbereitungen für das geplante Spionieren begonnen. Zwei Räume werden schleunigst zweckmäßig mit Tischen, Schränken, ja sogar einem Geldspind, neu hergerichtet. Der Panzerschrank, für den angeblich nur ein Schlüssel existiert, ist vielleicht der genialste Gedanke dieses ganzen Planes. Nachdem werden die Räume von der deutschen Einquartierung natürlich als überaus geeignet sofort mit Beschlag belegt, – was die Akteure dieses Schauspiels, das bald ein Drama werden dürfte, auch erwartet hatten. Exzellenz läßt dann auch um den Schlüssel zu dem Geldspind bitten, da dieses vorzüglich zur Unterbringung der Geheimpapiere paßt. Auch hierauf rechnete man im Schloß. –

Nun konnte das Spionieren beginnen! Was helfen Wachen vor den verschlossenen Türen, was helfen Stahlplatten eines Panzerschrankes, wenn – nun kommt der Hauptwitz der Geschichte – es zu dem sogenannten Zeichensaal einen – geheimen Zugang gibt, und die Schloßherrin einen – zweiten Schlüssel zu dem Stahlspind besitzt! Dann konnte man – wahrscheinlich der Mann, den ich jetzt zwei Mal bei seinen abendlichen Besuchen beobachtet habe und der sicherlich ein verkleideter Offizier ist, nachts ruhig durch eine Geheimtür den Zeichensaal betreten und ungestört Einsicht in alle Papiere nehmen, die er nur sehen wollte. –

So und nicht anders werden unsere Stellungen verraten, Herr Oberleutnant! Und von irgend einem Gehöft hier in der Nähe dürfte eine verborgene Telephonleitung nach Antwerpen führen, die die Spione dort zur Weiterbeförderung ihrer Nachrichten benutzen.“

Majewski war aufgesprungen, hakte sich jetzt den Kragen seines feldgrauen Waffenrockes auf. Ihm war ordentlich heiß geworden bei dieser Unterredung, bei diesen haarscharfen, logischen Kombinationen des Mannes, der, durch einen einzigen Fehltritt aus seinen Kreisen verdrängt, jetzt bei ihm Bursche spielte, seine Stiefel reinigte und Uniformen klopfte.

Wieder streckte er ihm die Hand hin. „Ohne Zweifel, Trebius, – so wird es sein, genau so. – Nochmals meinen Dank. – Und nun hin zu Seiner Exzellenz. Der wird Augen machen.“

„Einen Moment, Herr Oberleutnant!

Karl Trebius sprach lange und eindringlich auf seinen Vorgesetzten ein. Und dieser erwiderte dann kopfnickend:

„Ja, ja – Sie haben recht. Es ist besser, wir erledigen die Sache allein. Nur Herrn v. Malten will ich noch verständigen. Sie müssen für alle Fälle Hilfe in der Nähe haben. Außerdem – Malten hat auch die Türschlüssel! Nur – wie stelle ich es an, um mich vom Abendessen freizumachen, ohne daß es auffällt? Denn ich muß meinen Posten in dem Gebüsch vor dem Wintergarten doch spätestens um halb neun beziehen?!“

„Vielleicht schützen Herr Oberleutnant eine leichte Unpäßlichkeit vor und lassen sagen, Herr Oberleutnant wären schon zu Bett gegangen. Ich werde dann schon aufpassen, daß niemand der anderen Herren etwa Herrn Oberleutnant noch besuchen will, indem ich angebe, Sie schliefen schon. Meinen Posten brauche ich ja erst zu weit späterer Stunde einnehmen.“ –

Der Zufall wollte es, daß Majewski um diese Notlüge herumkam, da der Divisionskommandeur das Abendessen heute ausnahmsweise bereits für sieben Uhr befahl, um nachher noch recht lange mit seinen Herrn vom Generalstab arbeiten zu können.

Am Nachmittag fand der Oberleutnant dann auch Gelegenheit, den ersten Adjutanten ins Vertrauen zu ziehen. Herr v. Malten war sofort einverstanden, auch seinerseits alles Nötige zum Gelingen des von Karl Trebius entworfenen Planes beizutragen. Die Gründe Majewskis, weswegen der Divisionsgeneral erst später von der Sache etwas erfahren sollte, erkannte er als schwerwiegend genug an. Denn die Möglichkeit, daß Trebius Vermutungen unrichtig waren, lag ja immerhin vor, wenn diese Möglichkeit auch recht gering schien gegenüber all den Tatsachen, die sich hier zu einer so festen Beweiskette vereinigten. Sollte der junge Mensch aber dessen ungeachtet falsch kombiniert haben, so war es besser, daß Exzellenz vorher nicht unnötig mit der Angelegenheit behelligt wurde. –

Dieser Tag verlief im übrigen wie all die Tage seit dem Einzug auf Schloß Arbaville. Die Gräfin ließ sich wieder nicht blicken, und der ehrwürdige Monsieur Jean Briol sorgte in ebenso eifriger Weise für das Wohl der deutschen Gäste wie bisher.

Nach dem Abendessen zog sich Exzellenz mit den höheren Offizieren des Stabes sofort in den Zeichensaal zurück, wo bei dicht verhängten Fenstern und wie immer bewachten Türen die laufenden Geschäfte erledigt wurden. Die dienstlich nicht in Anspruch genommenen Herren blieben in dem Spielzimmer zusammen, rauchten ihre Verdauungszigarren und tranken dazu einen leichten Moselwein. Der Generaloberarzt mußte sich heute für seine Skatrunde freilich einen Ersatzmann an Stelle Majewskis suchen, der erklärte, er hätte noch etwas dringendes vor und sei nicht abkömmlich.

Um ein Viertel neun bereitete der Oberleutnant sich für seinen nächtlichen Lauscherposten in der Weise vor, daß er sich recht warm anzog, ein Paar Stiefel ohne Sporen – die hätten ihn durch ihr Klirren verraten können – anlegte und seine Pistole sowie eine elektrische Taschenlampe zu sich steckte.

Auf Umwegen schlich er dann, nachdem er seinem braven Trebius noch mit einem ‚Viel Glück!’ die Hand gedrückt hatte, unter Ausnutzung jeder Deckung und alle Augenblicke vorsichtig lauschend zu dem Gebüsch an der Buchsbaumallee, in dem er gleich darauf, auf allen Vieren kriechend, verschwand. Er war überzeugt, daß er nicht bemerkt worden sein konnte. Hatte sich doch der Himmel gegen Abend mit dichten Wolken teilweise bedeckt, die mitunter das Sternenlicht so gut wie ganz absperrten. Und einen solchen Moment völliger Dunkelheit hatte er benutzt, um in sein Versteck hineinzukriechen.

Nun lag er lang ausgestreckt auf der bereits mit welken Blättern bestreuten Erde. Die Pistole und die Taschenlampe hatte er griffbereit neben sich gelegt. Und er wartete und wartete. Die Minuten schlichen förmlich. Tiefe Stille ringsum. Nur hin und wieder raschelte es irgendwo in den Sträuchern, als ob ein kleines Tier bei der nächtlichen Jagd auf Beute hin und hereilte. Jetzt wieder vor ihm in einem Blumenbeet dieses eilfertige Huschen. Und nun trat der vierbeinige Jäger vorsichtig auf den kiesbestreuten Weg hinaus, der zur Tür des Wintergartens hinführte. Ein Igel war’s. Wie eine Halbkugel sah der kleine Bursche mit seinem gedrungenen Körper und dem stachligen Pelz aus. Regungslos hockte er jetzt mitten auf dem Weg, – eine ganze Weile. Dann war er blitzschnell verschwunden. Und zu gleicher Zeit vernahm der Oberleutnant nun auch leise Schritte, die sich in seinem Rücken näherten.

Der Unbekannte in der bäuerischen Kleidung – ohne Zweifel! Majewskis Augen durchbohrten begierig das Halbdunkel vor seinem Versteck. Zum Glück war der Wolkenschleier am nächtlichen Firmament gerade jetzt so weit gelichtet, daß der Sternenschein dem heimlichen Lauscher die Tür des Wintergartens ziemlich deutlich erkennen ließ.

Das leise Kreischen einer Türangel. In dem halb geöffneten Eingang zeichneten sich die dunklen Umrisse einer schlanken Frauengestalt verschwommen ab. –

Ein leiser Pfiff von der Tür her, mehr ein Zischen. Wie das einer Schlange, dachte Majewski. – Und nun lief blitzschnell ein Mann über den Weg und verschwand im Wintergarten. Wieder kreischte die Türangel. Ein Schlüssel wurde im Schloß gedreht, dessen Riegel sich schnappend vorschob.

Der Oberleutnant atmete auf. So war denn der Unbekannte auch heute abermals erschienen. Und – was würde nun wohl der weitere Verlauf dieser Nacht an Überraschungen bringen.

Majewski war jedenfalls fester denn je davon überzeugt, daß Karl Trebius in jedem Punkt das Richtige vermutet hatte. Aber gerade diese Zuversicht, daß sich schon nach wenigen Stunden hier auf Schloß Arbaville recht bewegte Szenen abspielen würden, steigerte nur seine nervöse Ungeduld. Und dabei wußte er nur zu gut, welch harte Geduldsprobe er noch vor sich hatte. Doch – es mußte sein, er mußte hier ausharren, um dem Fremden für alle Fälle den Rückweg verlegen zu können.

So suchte er sich denn eine möglichst bequeme Lage auf dem harten Boden aus, stützte den Kopf in die Hände und wartete – wartete.

* * *

Karl Trebius saß inzwischen in dem Zimmer seines Herrn und las eine belgische Zeitung, die ihn der Hausmeister gegeben hatte. Die Nummer war allerdings schon acht Tage alt – aber was schadete das! Es war doch immer besser wie nichts.

Kurz vor elf Uhr hörte er dann Exzellenz mit den Offizieren über den Korridor gehen. Die festen, strammen Schritte, das feine Klirren der Sporen und das Geräusch der Stimmen entfernten sich schnell.

Dann – noch ein einzelner Schritt, der jetzt vor Majewskis Zimmer halt machte. – Es klopfte.

Trebius sprang auf und öffnete. Der lange Adjutant, Herr v. Malten, stand vor ihm.

„Sind Sie bereit, Trebius?“ flüsterte er hastig.

„Jawohl. Vollständig.“

„Viel Glück denn!“ Malten reichte dem jungen Menschen die Hand. „Und nun vorwärts. Die Tür habe ich nur angelehnt!“

Trebius huschte in seinen Stiefeln, über die er zwei Paar dicke wollende Socken gestreift hatte, in den kein fünf Schritt entfernten Zeichensaal, der in tiefer Dunkelheit dalag. Hinter ihm betrat Malten den großen Raum, ging noch ein paar Mal mit lauten Schritten darin auf und ab, als wenn er noch etwas suche und verließ ihm dann wieder, die schwere Eichentür hinter sich verschließend.

Wie er nun den Schlüssel in die Tasche gleiten ließ, sagte er zu dem Mann, der gerade Posten stand, es war ein Einjährig-Freiwilliger mit zahlreichen Schmissen im Gesicht:

„Böhnert, der Bursche des Herrn Oberleutnants Majewski, den ich da eben im Büro eingeschlossen habe, bleibt auf meinen Befehl diese Nacht dort. Sie selbst werden vorläufig nicht abgelöst werden. Ich werde dem Wachthabenden noch das Nötige mitteilen. Ich brauche heute hier vor der Tür einen Menschen, auf den ich mich unbedingt verlassen kann. – Nun geben Sie genau acht! Ich bleibe in dem Zimmer des Oberleutnants Majewski, da, die erste Tür links – Sie wissen Bescheid – nicht wahr? – Gut denn. – Sobald Sie nun den Trebius da drinnen rufen oder ein viermaliges Klopfen an die Tür hier hören, kommen Sie sofort zu mir und holen mich. – Verstanden?!“

„Zu Befehl!“

„Und zu niemandem ein Wort von alledem, Böhnert! Und – nicht etwa einschlafen!“

Malten begab sich hierauf zunächst in die im Nebengebäude in einer leeren Autogarage eingerichtete Wachtstube und sagte dem Unteroffizier Bescheid.

„Der Einjährige Böhnert bleibt heute so lange auf Posten vor der Tür des Hauptbüros, bis ich ihn ablösen lassen. – Gute Nacht!“

Als Malten verschwunden war, meinte der Unteroffizier kopfschüttelnd zu seinen Leuten, die es sich schnell wieder auf ihrem Strohlager bequem machten:

„Böhnert wird wohl was ausgefressen haben. Das schmeckt sehr nach Strafwache.“

Die Wahrheit ahnte niemand.

Inzwischen war Malten in den ersten Stock des Schlosses hinauf geeilt, wo die Zimmer Seiner Exzellenz lagen.

Der Adjutant klopfte, erhielt dann aber von dem ihm öffnenden Burschen den Bescheid, daß Exzellenz bereits schlafen gegangen sei.

Nun erst war Malten sein eigener Herr.

Langsam stieg er wieder die Treppe hinab. In der Vorhalle begegnete er dem Gefreiten, der regelmäßig nach elf Uhr die Lampen in den Korridoren – das Schloß hatte eine eigene Acetylengasbeleuchtung – niedriger schrauben mußte. Ganz durften sie nicht gelöscht werden, auch eine der Vorsichtsmaßregeln, die man hier im feindlichen Land anwenden mußte.

In Majewskis Zimmer angelangt, machte der Adjutant es sich in einem Klubsessel bequem, zündete sich eine Zigarre an und begann Briefe zu schreiben. Das würde ihn am leichtesten munter erhalten. Die Tür hatte er nur ins Schloß gedrückt, so das der Einjährige sofort zu ihm gelangen konnte.

Karl Trebius war bereits, als Herr v. Malten noch sporenklirrend und scheinbar etwas Vergessenes suchend, im Zeichensaal auf und ab gegangen war, hinter einen der Fenstervorhänge geschlüpft und zwar den des Mittelfensters, wo der Adjutant verabredungsgemäß einige Sofakissen für ihn heimlich zurechtgelegt hatte.

In dem langgestreckten Gemach herrschte vollkommene Finsternis. Die schweren, seidenen Vorhänge ließen von der spärlichen Helle dieser Nacht auch nicht einmal einen schwachen Dämmerschein in den Raum hinein.

Trebius, den Rücken gegen die Wand gelehnt, saß auf den weichen Kissen recht bequem. Die Pistole, die ihm der Adjutant geliehen hatte, steckte entsichert in der rechten, die elektrische Lampe in der linken Tasche seines Rockes. Mehrmals versuchte er, ob sich der Vorhang auch geräuschlos beiseite schieben ließ und ob es ihm selbst möglich war, ebenso geräuschlos aufzustehen. Bei einiger Behutsamkeit gelang beides zu seiner Zufriedenheit.

Jetzt schlug in einem der Zimmer des ersten Stockes eine Standuhr mit tiefem Gongton die Mitternachtsstunde.

Trebius gähnte lautlos. – Aber der noch halb geöffnete Mund blieb ihm vor leisem Schreck noch eine ganze Weile offen. Ein deutliches Geräusch, ein anhaltendes Scharren, war an sein Ohr gedrungen. Es kam aus der Richtung des Riesenkamins an der gegenüberliegenden Wand.

Also doch der Kamin! Auf den hatte er gleich Verdacht gehabt, obwohl er mit seinen halb verbrannten Scheiten in der Feuerungsöffnung so harmlos aussah. Gewiß, der Adjutant hatte ihn heute in seinem Eifer gleich untersuchen wollen, wovon Trebius aber dringend abgeraten hatte, da die Spione dadurch zu leicht hätten gewarnt werden können. So war es denn unterblieben.

Vorsichtig schob er nun den Vorhang zurück. Das Scharren hatte aufgehört. Dafür durchzuckte jetzt aber aus der Richtung des Kamins ein feiner, weißer Lichtstrahl die Dunkelheit. Und gleich darauf wurde hinter dem großen Eichentisch in der halben Dämmerung, die jetzt durch das Licht der elektrischen Lampe in der Mitte des Raumes hervorgezaubert war, die Gestalt einer Frau sichtbar.

Der weiße Strahl wanderte plötzlich, jeden Winkel kurz ableuchtend, langsam im Kreis herum. Dann schien die Frau sich sicher zu fühlen.

Die Taschenlampe mit der rechten Hand halb bedeckt, glitt sie lautlos auf den Geldschrank zu. Dann ein feiner, metallischer Ton. – Die Tür des Panzerspindes stand offen.

Karl Trebius hatte den Kopf jetzt weit vorgeschoben. Er kniete auf dem Kissen, stützte sich mit den Händen auf den Boden, zusammengekauert wie ein sprungbereites Raubgier.

Papier raschelte. Das Innere des Geldschrankes war hell erleuchtet, während der Saal selbst im Dunkeln blieb. Mit einer großen, weißen Rolle kehrte die Frau nun zu dem Mitteltisch zurück, stellte sich mit dem Rücken nach dem Kamin hin und strich das Papier glatt auf der Tischplatte aus, dabei die Taschenlampe wieder völlig verdeckt haltend.

Plötzlich überflutete ein anderer weißer Lichtstrahl ihre Gestalt. Sie fuhr empor. Ein wilder Schrei entrang sich ihrer Kehle. Aber nur der erste schrille Ansatz dazu kam mit voller Lungenkraft heraus. Dann umklammerte eine eiserne Faust ihren Hals, hielt fest, so sehr sie sich auch wand und um sich schlug.

Gleich darauf stürmten auch schon Malten und der Einjährige herein. In wenigen Sekunden hatte man dem schlanken Weibe die Hände auf dem Rücken gefesselt und ihr einen aus einem Taschentuch gedrehten Knebel in den Mund geschoben.

„Also wirklich!?“ sagte Malten ironisch. „Dieses gefährliche Spiel dürfte Ihnen teuer zu stehen kommen, Frau Gräfin.“

Widerstandslos ließ die ertappte Spionin sich in Majewskis Zimmer führen, wo der Einjährige zu ihrer Bewachung zurückblieb. Malten war indessen auf die Terrasse geeilt und rief dem dort stehenden Posten einige Befehle mit halber Stimme zu. Geräuschlos wurde das Schloß von den Wachmannschaften in wenigen Minuten umzingelt. Dann kehrte der Adjutant, dem sich der nun von seinem Lauscherposten erlöste Oberleutnant anschloß, in das Hauptbüro zurück, wo Karl Trebius die wertvolle Zeichnung mittlerweile wieder in den Panzerschrank zurückgelegt und diesen danach verschlossen hatte.

Schweigend reichte Trebius dem Adjutanten den Schlüssel des Geldspindes, schweigend deutete er auf den Kamin, dessen Feuerungsöffnung mit den inneren, rauchgeschwärzten Seitenwänden verschwunden war. Dafür gähnte an jener Stelle ein breites, gut ein Meter hohes, viereckiges Loch, das jetzt von den Strahlen zweier Lampen beleuchtet war. Dahinter wurde eine Treppe von wenigen Stufen sichtbar, die in einen schmalen, gemauerten Gang führte.

Leise sprach Malten jetzt auf Karl Trebius ein. Der antwortete ebenso leise: „Wirklich, es ist besser, wenn ich allein gehe. Die Herren mit ihren Stiefeln können nicht so lautlos sein wie ich mit meinen zwei Paar Socken über den Sohlen.“

Dann verschwand er in dem Kamin, in der Linken die Lampe, in der Rechten die Pistole haltend.

Der Gang verlief zunächst eine ziemliche Strecke geradeaus und endete schließlich vor einer Wendeltreppe, die etwa sechs Meter sich emporwand.

Karl Trebius stieg vorsichtig Schritt für Schritt, Stufe für Stufe empor. Nun war er oben angelangt. Die Treppe mündete vor einer kleinen Tür, die nach der anderen Seite zu halb offen stand. Dahinter gähnte tiefe Dunkelheit.

Trebius lauschte erst eine Weile. Deutlich hörte er jetzt ein leises Hüsteln. Mit einem Satz war er durch und ließ nun argwöhnisch das Licht seiner Lampe durch den mittelgroßen Raum gleiten. Das Schlafzimmer einer Dame war’s. Und um die Wände lief bis zu zwei Meter Höhe ein geschnitztes, dunkles Holzpaneel. Die geheime Tür war ein Teil dieses Paneels.

Und dann von links durch einen halb gerafften Vorhang aus dem hellen Nebenraum eine Männerstimme:

„Schon zurück, Fanchette?“

Ein Besinnen gab’s hier nicht. Wenige Schritte, und Trebius stand dem Unbekannten in der Bauerntracht gegenüber. Der war aufgesprungen, stierte den deutschen Soldaten wie eine Erscheinung an. Nun ein blitzschneller Griff unter das auf dem Tisch liegende Zeitungsblatt, in dem der Fremde gelesen zu haben schien. Zwei Schüsse knallten fast gleichzeitig. Karl Trebius fühlte etwas wie einen Schlag an der linken Schläfe, dann brach er bewußtlos zusammen. –

Erst nach Stunden erwachte er. Er lag in den Bett seines Oberleutnants, ausgekleideten, mit verbundenem Kopf. Im Zimmer roch es nach Jodoform. Und draußen schien die helle Sonne.

Da beugte Majewskis sich über ihn. Er hatte vor dem Bett auf einem Stuhl gesessen.

„Liegen Sie still, ganz still, lieber Trebius. Der Streifschuß an der Schläfe hat nichts auf sich. In vierzehn Tagen sind Sie wieder frisch und munter. Jedenfalls hat Ihre Kugel besser getroffen. Der andere ist tot – mitten durch die Stirn.“

„Und die Frau? Der Mann nannte sie Fanchette?“ flüsterte der Verwundete.

„Sie sollen alles erfahren. Der Hausmeister hat es vorgezogen, ein offenes Geständnis abzulegen. Alle Ihre Vermutungen sind richtig gewesen, nur – die Gräfin Arbaville sieht in Wahrheit ganz anders aus und weilt seit Wochen in London. Unsere jetzige Gefangene heißt Fanchette Briol, ist eine Nichte des alten Fuchses von Hausmeister und treibt Spionage für unsere Feinde. Beim Anrücken der deutschen Truppen wurde sie hier nach dem Schloß geschickt, um sich auf ihren Spezialgebiet nützlich zu machen. Als dann die Einquartierung gemeldet wurde, ließ sie schnell die beiden Räume herrichten, von denen sie den einen stets ungesehen betreten konnte. Sie hat dann auch unsere Artilleriestellungen ausgespäht. Der Mann, den Sie erschossen haben, war ein verkleideter belgischer Artilleriehauptmann, der die wichtigen Nachrichten stets sofort nach dem Dorf Torneby weiterbeförderte, wo von einem Keller unter einem Holzstall eine geheime Telephonverbindung nach Antwerpen hergestellt war. –

So, mein Lieber, und nun, wo Sie alles wissen, versuchen Sie zu schlafen. Eine Freude kann ich Ihnen aber doch noch bereiten! Exzellenz hat heute morgen für Sie das Eiserne Kreuz beantragt, Sie ferner zum Unteroffizier befördert und – die Hauptsache – an Ihren Vater ein längeres Telegramm geschickt, in dem Ihre Verdienste um unser Vaterland voll gewürdigt sind und in dem auch drinsteht, daß das Eiserne Kreuz Ihnen sicher ist!“ –

Der Zufall wollte es, daß die Ordensauszeichnung und ein längerer Brief des alten Amtsgerichtsrats an einem Tage eintrafen. Der Vater hatte dem Sohn verziehen. Kein Wunder, daß es in jener Stunde keinen glücklicheren Menschen gab, als den Unteroffizier Karl Trebius. Alle gratulierten ihm, alle. Selbst Exzellenz schüttelte ihm immer wieder kräftig die Hand. –

Drei Tage später fiel Antwerpen. Fanchette Briol vergiftete sich im Militärgefängnis in Brüssel, wohin sie zu ihrer Aburteilung geschafft worden war. Ihre Helfershelfer, der alte Hausmeister, die Köchin und die Zofe, wurden zu langen Zuchthausstrafen verurteilt.

* * *

 

 

Anmerkung:

  1. (poln.) früher: bequemer Uniformrock.