Von W. K.
Niemand in ganz Zethausen, ausgenommen der geistliche Herr, war so geehrt und geliebt wie die alte Bas Kathel. Bei fast allen Taufen, Hochzeiten und Firmungsmahlen mußte sie helfen kochen und backen, bei allen Kranken und Kindbetterinnen pflegen und wachen. Bas Kathel hinten, Bas Kathel vorn! Wie sollte Zethausen und eine wohllöbliche Bürgerschaft und Weiberschaft und Kinderschaft wohl bestehen, wenn einmal die Bas Kathel nicht mehr lebte?
Nur eine kleine Schwäche wird auch der nachsichtigste unter den Lebensbeschreibern der alten Jungfer beschämt eingestehn: sie war sehr neugierig. Und dieses Laster, nämlich die Neugierde und nicht die Bas Kathel, sollte sie, einmal in Schmerzen stürzen, die weit ärger waren als die einzige und düstere Krankheit der guten Base, nämlich das Zahnweh.
Der alte geistliche Herr, der sich einbildete und rühmte, an seine Bücher in der Studierstube komme nie eine fremde Hand und er staube sie immer persönlich ab, pflegte je einmal im Jahr auf länger als einen Tag zu verreisen, wenn er nämlich in Baden-Baden sein Gliederweh pflegte. Diese günstige Gelegenheit wußte dann seine Schwester, die ihm haushielt, jeweils gut zu benutzen, indem sie das Studierzimmer gründlichst putzte und lüftete, kurz „ausmistete“, wie sich der Mesner in tadelnswerter Leichtfertigkeit ausdrückte. Bei diesem heiligen Reinigungswerk durfte nun aber auch Bas Kathel alljährlich mithelfen. Belohnt wurde sie dafür nicht nur durch die menschenmöglichste Befriedigung über solche hohe Ehre, sondern auch durch einen nachfolgenden Kaffee mit Kuchen und „Schwätz“.
Also geschah es auch dieses Jahr wieder. Erst kam, wie immer, die Stube im allgemeinen dran; dann wurden die Bücher sauber herausgenommen, abgewischt und wieder genau an ihr bescheidenes Plätzchen zurückgestellt. Wie froh und dankbar glänzten und lächelten alsdann die sauberen Rücken der alten ehrwürdigen Schwarten den beiden Frauen entgegen! Das ganze Zimmer schien zu freudestrahlen, so daß es sogar dem alten Pfarrherrn bei der Heimkehr wohltuend auffiel. Aber, sagte er dann, da sehe man doch, wenn man wieder nach Hause komme, daß selbstabgestaubt am längsten hält. Ein so ordentliches Bücherbrett habe auch keiner seiner Amtsbrüder.
Allein nicht nur die würdigen Schmöker erfuhren bei dieser Gelegenheit eine Gesamtreinigung, sondern auch der verstaubte Aktenschrank. Hier mußte man allerdings vorsichtig sein und auch etwas Staub liegen lassen. Nur so das Allergröbste durfte verschwinden, damit der alte Herr nicht Argwohn faßte. Denn der Aktenschrank barg die Geheimnisse der Pfarrei. Hier standen u. a. auch die unförmigen Kirchenbücher. Wenn der Alte gemerkt hätte, daß fremde Hände und Augen in diese heiligen Geheimnisse einzudringen wagten, so hätte es einen Krieg gegeben. Aber solch ein Argwohn kam ihn gar nicht, drum pflegte er auch stets den Schlüssel ruhig hinten zwischen Schrank und Wand an einem Nagel hängen zu lassen.
Wenn Bas Kathel daran ging, die fast meterlangen Riesenbücher herauszunehmen und abzustauben, so war das der Höhepunkt des ganzen Säuberungsfeldzuges. Da zitterte ihr doch fromme Herz. Denn in diesen ehrwürdigen Bänden, dem Taufbuch, stand mit Ehren auch ihr Name, der Name all ihrer Verwandten, der Lebendigen und Toten, und in diesem Sterbebuch da sollte auch sie dereinst eingetragen werden. Hoffentlich, sagte sie sich, gleichzeitig auch in das Buch des Lebens droben im Himmel.
Eben hielt sie das ungeheure Taufbuch in Händen. Wo doch wohl ihr eigener Name stehen mochte? Sollte sie nicht einmal hineinsehen? Doch nein! Wie abscheulich! Solch ein Gedanke, solch eine Kühnheit! Sie schlug ein Kreuz und wischte wieder an dem Buch herum. Die Schwester des Pfarrers hatte drunten in der Küche bereits die Kaffeemühle ächzen lassen und eben stieg würziger Kaffeeduft die Treppe herauf und zeigte der Bas Kathel an, daß die Wonnestunde aller rechtschaffenden Weiber nicht mehr ferne sei.
Aber sollte es denn wirklich eine so große Sünde sein, einen Blick in das ehrwürdige Buch zu tun? Sollte Gott gesagt haben? So stand einst unser aller Stammutter Eva im Paradies vor dem Apfelbaum und schaute bald den rotbackigen Apfel an, bald blickte sie um sich, ob der liebe Gott auch hersehe. Die Sündhaftigkeit, die Neugierde, siegte hier wie dort. Klopfenden Herzens schlug Bas Kathel die Riesenflanken des Buches auseinander und las, was gerade dastand. Aber da ward ihr fast schwindlig, Nein, das konnte nicht sein! Das war Teufelstrug! So und so, den so und sovielten ist das Kind geboren und getauft. Vermutlicher Vater: Pater Incertus.
Bas Kathel las noch einmal, noch zehnmal. Sie rieb sich die Augen sie schlug ein Kreuz ums andere. Sie schaute in die dunkle Ecke des Zimmers, ob nicht der Leibhaftige sich dort aufhalte, um sie zu verblenden. Aber es stand da: Pater Incertus war der Vater des unehelichen Kindes der Agathe Beißzang.
Ein Pater, ein Mönch! Schwarz wurde es der armen alten Person vor den Augen und vor dem frommen Gemüt. Das ruchlose Mädel! Also darum wollte sie damals den Vater ihres Kindes nicht angeben? Aber der Pfarrer hat ihn doch erraten. Der Pfarrer wußte eben alles. Ihm war nichts verborgen im Himmel und auf Erden und in Zethausen!
Ein Pater! Bas Kathel biß sich auf die Zähne, leider auch auf ihren alten Erbfeind, den baufälligen linken Eckzahn, der ihr schon soviel Herzeleid bereitet hatte und der sofort durch heftige Schmerzen sowohl diese üble Behandlung erwiderte, als auch die göttliche Strafe für ruchlose Neugierde und frevelhafte Gedanken über die hochwürdigen Patres einleitete.
„Bas Kathel,“ rief es von unten, „bitte, zum Kaffee! Es ist alles fertig.“
„Es ist alles fertig. Ja, alles fertig,“ murmelte die Alte.
Schwabb, schlug sie etwas respektlos das Buch zu. Erst sank sie auf den alten Lederstuhl und nahm die Hände vor die Augen. Dann aber wankte sie auf die Treppe hinab.
Es war ein großes Glück, daß der gekränkte Zahn durch wütende Schmerzen Rache nahm. So konnte Bas Kathel ihre Schweigsamkeit und ihr verstörtes Wesen dem Zahnweh zuschieben und sich baldigst empfehlen. Was der geistlichen Schwester allerdings sehr unangenehm war; denn auch diese hatte sich auf die Kaffeestunde und die dabei zu erhoffenden Neuigkeiten jedes Jahr immer herzlich gefreut. Man muß überhaupt eimmal mit der falschen Meinung aufräumen, daß in Bezug auf Klatschsucht die gewöhnlichen Leute so wesentlich besser seien als die vornehmen ober gar die Hofkreise.
Doch es fehlt noch ein erklärendes Wort über obige Agathe Beißzang. Sie war eine nahe Verwandte der Bas Kathel. Jung-Agathe zeichnete sich von Jugend auf durch große Begabung, Schönheit und Stolz vor allen Mädchen von Zethausen aus. Sie hatte eine Zeitlang in Mannheim gedient und war dann, wie es ja leider ab und zu vorkommt, in äußerst betrüblichem körperlichen und geistigen Zustand wieder nach Hause gekommen. Bald darauf aber trat der Grund besagter Betrübnis in Gestalt eines prächtigen kleinen Buben zum Greuel und Entsetzen, zu Kummer und Scham der ehrenwerten Familie ungescheut an das Licht der Öffentlichkeit, zur innigsten Freude aller Feinde und Feindinnen des stolzen Mädchens und — ihrer Sippe. Natürlich hatte auch die Bas Kathel herben Schmerz empfunden, aber doch das arme Mädchen mit mehr als mütterlicher Sorgfalt gepflegt.
Bei ihrer Neugierde wollte sie natürlich sofort wissen, wer der Mannheimer Missetäter sei. Aber Agathe verweigerte schroff jede Auskunft. Sie drohte mit dem Schlimmsten, wenn man sie noch ferner durch Fragen quäle. Daran änderte keine Einrede der Familie auch nur das geringste. Aber so war die stolze Agathe immer gewesen: immer anders als andere Mädchen. Sie klagte nicht, sie weinte nicht, sie fragte nichts. Verschlossen starrte sie vor sich hin.
Diese Ungewißheit hatte der Neugierde der guten Bas Kathel natürlich recht qualvolle Stunden bereitet; von der sonstigen menschlichen und verwandtschaftlichen Anteilnahme gar nicht zu reden. Aber da war einstweilen nichts auszurichten; so hart es die gute Alte auch ankam, nicht zu wissen, wer der Vater des Buben sei.
Und nun hatte das alte Taufbuch den Schleier gelüftet. Entsetzlich! Ein Pater! So etwas konnte noch nicht geschehen sein, seit es Patres in der Welt gibt. Wenigstens Bas Kathel war davon fest überzeugt. Ob sich nicht vielleicht der Antichrist als Pater maskiert hatte? Noch entsetzlicher! Aber ein natürlicher Pater konnte das doch nicht gewesen sein! Und wenn doch? Dann wankten die Säulen der Welt.
Das Wirrnis war für den alten Kopf zu schwer. Daher konnte er nichts Besseres tun als verrückt zu werden. Und dies schien sich dann die gute Base auch wirklich vorgenommen zu haben; bereits begann sie mit den seit altersher erfolgreichsten Vorübungen dazu; sie aß nicht, trank nicht, schlief nicht, murmelte nur so vor sich hin; sie redete irr. Sie sagte: Bring mir den Schorsch her, wenn sie den Wasserkrug meinte, u. dergl. Auch weigerte sie sich, in der heiligen Osterzeit zu beichten, obwohl sie damit noch rückständig war. Ein unerhörter Fall in ihrem frommen Leben.
Der Pfarrer hörte von der betrübenden Sache und wollte die arme alte Person aufsuchen. Allein als er sich mit seinem großen Spazierstock in den Hof hineinklopfte, in dem Bas Kathel wohnte, hörte diese den wohlbekannten Ton des geistlichen Steckens und floh zur Küchentüre hinten hinaus. Sie versteckte sich stundenlang hinter dem Misthaufen.
Die Sache wurde bereits an allen Brunnen des Dorfes verhandelt mit Für und Gegen, Anträgen und Abstimmungen; ja es bildeten sich bereits Parteien für und gegen die alte Base; einmal fiel sogar das Wort: besessen und verhext.
Das konnte nicht länger so weitergehn. Der Familienrat beschloß also etwas zu tun, was sicher helfen und nicht viel kosten sollte. Denn man wollte doch das Vermögen der Base nicht in einer teuern Anstalt aufzehren! Aber wohin? Diesen Stein der Weisen wußte in ganz Zethausen lange niemand zu finden.
Bis endlich ein Vetter, gleichfalls ein alter Lediger, der viel in allerhand Büchern las, verkündigte: Wenn man in Gefahr stehe, verrückt zu werden, so müsse man auf Reisen gehn. Entweder werde es dann besser oder schlimmer oder es bleibe, wie es war. Aber auf alle Fälle gebe es eine Änderung und wisse man, woran man sei. Auf Reisen gehn! Das gefiel schließlich auch der Bas Kathel. Allerdings kam hier nicht Ägypten oder die Riviera in Betracht, auch nicht Asien oder gar Europa. Denn an allen diesen Orten war noch kein Zethäuser gewesen und wohnten auch keine Verwandten. Also schrieb die Familie mit vereinten Kräften unter lebhaften grammatikalischen und orthographischen Händeln einen gewaltigen Brief an eine Verwandte, die in Ludwigshafen an einen Monteur verheiratet war: die Bas Kathel komme am Sonntag auf Besuch. Und ehe noch Antwort eintreffen konnte, saß die Alte schon auf der Eisenbahn und streckte ihren Eckzahn trübsinnig zum Fenster hinaus.
In Ludwigshafen am Bahnhof wurde die Reisende freundlich empfangen von ihrer Base und deren Sohn, einem hübschen jungen Menschen, einem Techniker. Er sah aber etwas gedrückt und scheu aus und machte sich auffallend viel mit der Pappschachtel zu schaffen, in welche Bas Kathel ihre Reisewäsche gepackt hatte; so daß sie kaum das hübsche Gesicht des jungen Vetters zum Anschauen bekam.
Man wanderte schwatzend heimwärts, durch rauchige, staubige, heiße Straßen, durch Millionen (so kam es der Bas Kathel vor), durch Millionen von schreienden und spielenden Kindern. Der Genuß des Neuen heiterte die Alte auf und sie kam schon unterwegs recht ins Erzählen über die wichtigsten Ereignisse von Zethausen. Nur der junge Mann blieb stumm. Aber manchmal schaute er gar aufgeregt und ängstlich zur Base hinüber. Zu Hause, beim dampfenden Kaffee, ging der Bas Kathel Mund und Herz noch weiter auf und schließlich war sie bei ihrem wunden Punkt angelangt, bei der Agathe und ihrem Unglück. Der junge Mann stand auf und trat ans Fenster, so daß man sein Gesicht nicht sehen konnte. Und bei der dritten Tasse eröffnete die gute Bas mit zitternden Lippen das furchtbare Geheimnis von der Untat des Pater Incertus!
„Das ist nicht wahr!“ rief der junge Mann vom Fenster her. Seine Stimme bebte. Bas Kathel fuhr zusammen.
„Aber es steht doch so im Taufbuch.“
„Dann steht eine Lüge im Taufbuch.“ Das war denn doch wohl etwas stark.
„Eher glaube ich, daß Er lügt, Herr Vetter, als das Taufbuch! Der Herr Pfarrer wird seine Sache wohl besser verstehen als Er, und besser wissen, was er in das Buch hineinzutun hat. Oder will Er vielleicht gescheiter sein als der geistliche Herr, der Gott weiß wie lang Schulen genossen und für sein Studium Geld verzehrt hat?“
Da trat der junge Vetter vom Fenster weg und näherte sich dem Tisch.
„Was hast du, Fritz?“ fragte die Mutter erstaunt. Denn der Sohn war totenbleich geworden und sah seltsam verstört aus. Dieser aber raffte sich zusammen.
„Es muß ein Irrtum sein. Kein Vater, er mag heißen, wie er will, kann hier in Betracht kommen.“
„Meint Er nicht auch?“ fragte Bas Kathel erfreut. „Gelt, das wird halt doch ein Irrtum sein vom alten Herrn. Er ist manchmal so vergeßlich und bringt allerhand Sachen durcheinander. Ja, ja, so wird’s sein.“
Der junge Mann verließ das Zimmer und die Mutter sandte ihm einen langen strengen Blick nach.
„Der Teufelsbub! Er hat sie noch nicht vergessen!“
„Was denn? Wen denn?“
Die Mutter erzählte nun zögernd eine sehr lange Geschichte, wobei ausführlich zu Tage kam, was alle daran Beteiligten gedacht, gesagt, nicht gedacht, nicht gesagt, getan und nicht getan hatten. Der Sinn war der: Agathe kam, als sie zu Mannheim im Dienst stand, gelegentlich in das Haus der Ludwigshafener Verwandten und zufällig befand sich damals gerade der Techniker, ihr Sohn Fritz, daheim: sonst hatte er in Worms eine sehr gute Stellung. Es war aber der Mutter gleich aufgefallen, daß der Sohn die Augen nicht mehr von dem auffallend hübschen und gescheiten Mädchen wegbrachte und daß auch Agathe mehr als notwendig errötete, so oft sie den schönen schwarzen Burschen betrachtete. Aber die Mutter, die dergleichen Gesichterspiel richtig zu deuten wußte, hatte das Mädchen wohlweislich nicht um Wiederkommen aufgefordert und nachher den Herrn Sohn tapfer ins Gebet genommen: „Daß du mir keine Sachen machst! Es ist ein armes Dienstmädchen und du brauchst eine reiche und gebildete Frau! Merk dir’s! Ich brauche dir’s nicht zweimal zu sagen!“ Sie sagte es aber mehr als hundertmal.
Nun, Fritz war nun einmal ein gehorsamer Sohn und hatte vor der willensfesten Mama einen heilvollen Respekt. Widerspruch gab’s da nicht, weder bei ihm noch bei dem Papa Monteur, der daheim seinen Mund überhaupt nur zum Essen, Trinken und Schnarchen öffnen durfte.
So wurde denn an jenem Abend mit der Bas Kathel die Angelegenheit der Agathe und noch andere Zethäuser Geschichten weidlich durchgeknetet, bis der Papa Monteur heimkam und die Sache von neuem und von vorn anging. Später erschien auch der Sohn wieder und verabschiedete sich von den Eltern und der Base. Er mußte zurück nach Worms.
Bas Kathel sah und erlebte tags darauf viel Wunderbares und Neues in Mannheim, am Rheinhafen, auf der hohen Rheinbrücke, auf dem Dampfboot, sogar im Theater. Das gab ihr wohl Stoff zum Staunen und Berichten auf nahezu zwanzig Jahre hinaus. Kein Wunder, daß sie über alledem ihren Kummer fast vergaß. Nur ab und zu huschte die Paterkutte flüchtig durch ihre Seele.
An jenem Montag nun, während die Bas Kathel in Mannheim ihre Entdeckungsfahrten verübte, ging in Zethausen Agathe morgens auf das Feld, um etwas Gras für die väterlichen Geißen zu holen. Auf einmal blieb sie stehn wie Lots Weib, einer Salzsäule gleich; denn wer kam da durch die Äcker daher? Fritz, der Techniker aus Worms. Und warum blieb sie stehn? Warum blieb sogar ihr Herz stehn?
Das werden wir gleich sehn.
Denn auch Fritz machte es wie Agathe und Ihr Herz. Auch er blieb stehn samt seinem Herzen.
Doch da ein solches Festgewurzeltsein nicht bis an den jüngsten Tag dauern kann, so mußte eines von beiden wenigstens die Zunge wieder in Bewegung setzen.
„Was willst du hier? Fritz, ich bin elend genug. Mach mich nicht noch elender! Ich will meinen Jammer allein tragen. Du sollst frei sein und nicht mit mir zugrund gehen. Für unser Kind wird Gott sorgen. Ich weiß, wohin es mit mir treiben muß!“
„Wohin es mit dir treiben muß? Ich bin entschlossen; an den gleichen Ort wird es auch mich treiben. Entweder ins Leben zurück oder den Tod. Aber ich halt’s nicht länger mehr aus. Ich geh gleichfalls zugrund.“
„Fritz, tu mir die Liebe und komm nicht näher! Die Leute sehen uns und passen auf. Geh wieder heim! Laß mich! Es kann nichts draus werden. Ich tu’s nicht. Nie und nimmer dränge ich mich deinen Eltern als Schwiegertochter auf und laß mich von ihnen dann verachten und verwünschen. Wir haben wohl beide gefehlt, aber ich am meisten. Ich hätt’ als armes Mädchen besser auf mich achten sollen. Denn dir macht es nichts, mir aber kostet’s das Leben. Das habe ich nicht bedacht. Drum will ich allein büßen. Ich möchte deinen Eltern den Kummer ersparen; vor allem deinem guten Vater.“
„Dem Vater? Kummer, wenn wir uns heiraten? Pah, der wäre mit dir noch froher als mit irgend andern. Denn du würdest ihn glücklich machen. Aber die Mutter? Agathe, hör, was ich dir sage: heute nacht bin ich ein Mann geworden. Ich weiß, was ich zu tun habe. Ich weiß aber auch, daß ich ein feiger Tropf gewesen bin, als ich dich allein hieher ziehen ließ in deinem Elend und deiner Schande; nur weil ich mich vor der Mutter fürchtete. Denn die kann wüst tun, daß es einem davor graut. Aber das merke dir: Jetzt wird’s anders. Ich sage der Mutter: So und so steht’s, ich heirate die Agathe. Und wenn du, Mutter, nicht willst, so hast du einen Sohn gehabt und bist kinderlos. Darum wird ein Mensch Vater und Mutter verlassen und seinem Weibe anhängen. Zu lang habe ich mich samt meinem Vater geduckt wie Buben vor der Rute. Jetzt ist’s Zeit, daß wir als Männer auftreten. Agathe!“
„Fritz“
„Agathe, aber noch eins muß ich wissen: Was hast du mit dem Pater Incertus gehabt?“
Agathe staunte.
„Vater In…? Ich habe mit keinem Pater etwas gehabt.“
„Aber wie kommt denn das ins Taufbuch?“
„Ins Taufbuch? der Pater?“
„Ist der Herr Pfarrer schon zu sprechen? Ich geh sofort zu ihm.“
„Was willst du?“
„Den Pfarrer sprechen.“
„Um’s Himmels willen! Mach keinen Spektakel! Das Geschwätz ist schon schlimm genug im Dorf.“
„Ich geh’ zum Pfarrer! Lebwohl! In einer Stunde bin ich bei dir im Haus. Und dann wird die Sache zu Ende gebracht. So oder so! Ich will wissen, was zwischen dem Pater und dir los ist.“
Und weg war er!
*
Der geistliche Herr stand in seinem Garten und trieb, was er um diese Jahreszeit schon seit zwanzig Jahren getrieben hatte; er okulierte Äpfel auf Quitten. Noch nicht ein einziges Auge war ihm jemals angewachsen. Aber er wollte es dennoch erzwingen. Einmal mußte es ja glücken. Und war es einmal geglückt, so war die Frage grundsätzlich erledigt. Das wollte, das mußte er noch vollbringen, ehe er sich von seinem Garten trennte und, ledig des Predigtamts, nach Freiburg zog.
Da trat durch die Gartentür, die auch zum Hause führte, hastig ein junger hübscher Mann: Fritz. Er stellte sich höflich vor und bat um eine Unterredung. Beide begaben sich in das Arbeitszimmer.
„Herr Pfarrer, ich möchte gerne wissen, wer im Taufbuch als Vater des Kindes der Agathe Beißzang angegeben ist.“
„Mein lieber guter Freund, das ist Dienstsache. Hierüber kann ich keinem Fremden Auskunft geben.“
„Ich bin kein Fremder.“
„So? Wieso?“
„Ich bin… ich bin… ein Verwandter der Agathe. Sie ist meine Nichte.“
„Nichte? He? Ihre Backen brennen ja wie eine Heuscheuer. He?“
Wenn man jemand, der vor Verlegenheit die rote Flagge aufzieht, auf diese Färbung aufmerksam macht, so pflegt er nur noch mehr zu flammen. Bei Fritz, der ein ehrlicher Junge war und sich nicht im geringsten verstellen konnte, nahm die Verlegenheit den Ausdruck höchster, peinlichster Hilflosigkeit an. Dem Geistlichen ging daher sofort eine Ahnung des wahren Sachverhalts auf. Halb ernst, halb spöttisch zog er die Augenbrauen hoch.
„Nun, mein junger Herr, was also wünschen Sie eigentlich? Sie scheinen mit Agathe offenbar in persönlichen Beziehungen zu stehn. Welcher Art sind diese? Und was kann ich dabei tun?“
„Wenn Sie erlauben, so möchte ich, wie gesagt, vom Taufbuch Einsicht nehmen.“
„Ach so! Richtig! Ja, mein lieber Herr, das geht nicht so ohne weiteres. Vor allem müßte ich zuerst wissen, was Sie zu diesem Wunsch bewegt und worauf Sie hinaus wollen.“
„Ich möchte gerne wissen, mit Ihrer gütigen Erlaubnis, ob wirklich, wie mir gesagt wurde, Agathe jemand als Vater ihres Kindes angegeben und eintragen hat lassen.“
„Wie Ihnen gesagt wurde? ich bin starr. Wer hat Ihnen da etwas vorgeschwindelt? Wissen Sie: In mein Taufbuch hat kein Mensch einen Einblick getan. Das kommt nie in eine fremde Hand. Nicht einmal abstauben lasse ich meine Bücher von einem andern Menschen. Nicht einmal von meiner eigenen Schwester. Nicht einmal irgendein anderes Buch meiner Bibliothek. Solange ich Bücher habe, pflege ich sie ganz allein selbst zu reinigen. Und gar Bücher, die im verschlossenen Registraturschrank stehn! Wer ist so dreist zu sagen, er habe jemals da auch nur hineingeschaut?“
„Ja! So? Ja! Und doch, Herr Pfarrer…“
„Was? Heraus mit der Sprache!“
Der Alte wurde so erregt, daß ihm die Augen funkelten.
„Verzeihen Sie, aber es soll im Taufbuch der Name des Vaters angegeben stehn.“
„Das ist nicht wahr. Verzeihen Sie! Aber da sind Sie gründlich angelogen worden. Wer soll denn der Vater sein?“
„Ich schäme mich fast, es zu sagen, Herr Pfarrer. Ein gewisser Pater Incertus. Aber das kann nicht wahr sein.“
Wer schon gesehn hat, wie Sonnenschein und Sturm einander am Himmel herumjagen, der kann sich ein Bild von dem Gesicht machen, das jetzt der Herr Pfarrer darbot.
„Pater Incertus? Da hört denn doch alles auf.“
„Also ist es nicht wahr?“
„Freilich ist’s wahr. Das steht drin.“
„Herr Pfarrer! Das ist nicht möglich. Das ist falsch! Kein Pater der Welt kann der Vater des Kindes sein. Denn ich bin es selbst.“
Nun siegte am Himmel des behäbigen Pfarrersgesichts der Sonnenschein der Belustigung.
„Das habe ich gleich an Ihrer Nase angesehn. Denn Sie haben die nämliche wie der Bub der Agathe. Aber wie ist denn so etwas möglich? Mein Taufbuch? Ach, dummes Zeug. Sehen Sie selbst, Sie großer Kindskopf!“
Der Pfarrer eilte an den mächtigen Schrank, schlug kopfschüttelnd auf und zog ein ungeheures Buch hervor. Nachdem er es auf den Tisch geschleppt, schlug er es auseinander und zeigte mit dem Finger auf eine Stelle.
„Hier steht’s: Pater Incertus. Zu Deutsch: Der Vater ist unbekannt. Und nun lassen Sie den Pater Incertus hübsch in Ruh und wenden Sie sich lieber an den Pater Peccavi. Den haben Sie jetzt nötiger. Und den werden Sie wohl bereits auch kennen.“
„Wenn das so ist, Herr Pfarrer, dann bedaure ich sehr, Sie bemüht zu haben. Nun ist alles klar.“
„Nichts ist klar. Vor allem die Hauptsache nicht, wer nämlich an meinem Schrank herumgeschnüffelt hat. Das hätte ich meiner Schwester nicht zugetraut. Und daß sie es gar noch ausschwatzt! Na, ich werde Ihr das nötige sagen.“
„Bitte, Herr Pfarrer. Es war nicht Ihre verehrte Frau Schwester, sondern Bas Kathel.“
Aber nun war es höchste Zeit, daß der Pfarrer nach der Stuhllehne griff.
„Herr meines Lebens! Was wird denn heute noch alles an den Tag kommen? Ich falle ja in Ohnmacht! Die Bas Kathel war an meinem Aktenschrank? Welcher Deihenker weiht das alte Frauenzimmer in meine Dienstgeheimnisse ein?“
„Ja, sie staubt doch alle Jahre Ihre Bücher ab?“
„Meine Bücher? Die Bas Kathel? Na, diese Weiber können doch eher das Schnaufen unterlassen als das Unheilanstellen. Wartet!“
Der Alte ballte die runde Faust noch der Tür hin und stellte damit ein hochnotpeinliches Verfahren gegen Unbekannt in Aussicht. Das konnte also gut werden!
„Und nun, bitte, setzen Sie sich und erzählen Sie mir aufrichtig die ganze Geschichte mit der armen Agathe!“
Das geschah und gab eine Generalbeichte so gründlich wie jeweils das Abstauben der Bücher durch Bas Kathel war.
Wir können es kurz machen: Der junge Mann hatte sich schleunigst in die schöne Agathe verliebt, hatte sie heimlich aufgesucht, war mit ihr heimlich alle Sonntage zusammengetroffen, auch bei Tanzvergnügungen, und der Rest war nicht Schweigen, sondern Schreien des kleinen Buben. Jetzt wollte Fritz aber Schluß und Hochzeit machen, und wenn die Mama in die Lüfte gehe.
„Die nehme ich auf mich. Ich kenne sie wohl noch vom Unterricht und der Christenlehre her. Es wundert mich gar nicht, daß sie mit ihrem Hochhinauswollen am ganzen Unglück die Hauptschuld trägt. Es wird mir eine Genugtuung und ihr wohltätig sein, ihr nach so langer Zeit wieder einmal wegen ihres Hochmuts den Kopf zu waschen. Aber nun gehn Sie zur armen Agathe. Sie leidet auch unterm Hochmut. Das liegt in der Familie. Hätte sie Ihrer Mutter ein gutes Wort gegeben, anstatt sich aufs hohe Roß zu setzen… na, sie ist gestraft genug. Gehn Sie! Wenn Sie mich wieder brauchen, bin ich da. Leben Sie wohl!“
Damit schob er Fritz zur Tür hinaus. Dann aber strich er im Taufbuch vom Incertus das große I weg und malte ein kleines drüber, entschlossen, mit der alten schwungvollen Pfarrbücherschreibweise zu brechen.
Der Hinkende kann versichern, daß alles gut ausging und durch baldige Hochzeit trotz Mamas anfänglichen Schnaubens und Tobens ein glückliches Paar zuweg gebracht wurde. Der Vater Monteur hätte seine Einwilligung gar zu gern gegeben und wollte dazu schon den Mund öffnen. Aber auf einen furchtbaren Blick der gestrengen Mama hin klappte er ihn schnell wieder zu und begnügte sich mit einem sehr zufriedenen Grinsen. Denn die Agathe hatte er schnell in sein stilles Herz geschlossen.
Der Hinkende fügt noch folgendes hinzu, was kein Leser erwarten sollte: Ihr Buben, lernt Latein, was in eure Haut hineingeht! Dann kann euch nicht Hinkende meint ein Hereinfall natürlich nur begegnen wie dessen Irrtum dem guten Fritz. Der mit dem Pater Incertus. Denn gegen das andere hat auch das Latein schon manchmal versagt.
*
Als die Bas Kathel zum erstenmal wieder dem Pfarrer auf der Gasse begegnete, wurde sie rot wie ein achtzehnjähriges Mädchen, das am Gartenhag mit ihrem verbotenen Schatz erwischt wird. Der geistliche Herr warf ihr aber auch einen gar zu strengen Blick zu. Als er aber ihre christliche Reue wahrnahm, zog er die Friedensfahne auf. Er lächelte und drohte mit dem bekannten Stecken.
Und trotz alledem durfte Bas Kathel wieder abstauben. Doch den Schlüssel zum Aktenschrank fanden die Frauen nicht mehr beim Nagel an der Wand. Den hatte sich der Pfarrer mit der eigenen geistlichen Hand an die Hosenträger angesteckt, als er wieder ins Bad reiste.
Ende