Das Eiserne Kreuz
ein Abenteuer an der belgischen Grenze
Von W. Belka.
Endlich – endlich zuckte durch die dicken, milchigen Nebelschwaden, die das Flußtal von Rand zu Rand ausfüllten, der erste rosige Strahl der aufgehenden Sonne. Lichter und lichter wurde jene ungewisse Dämmerung, die den Übergang der Nacht- zur Tageszeit bildet. Immer deutlicher krochen auch die entfernteren, bisher nur wie gespenstische Flecken sichtbaren Gegenstände, Büsche, Bäume, Heuhaufen und halb zerstörte Holzzäune – aus den grauen Nebelschleiern für die völlig erschöpften deutschen Infanteristen heraus, die in dem erst halb fertigen Schützengraben nach dem letzten so überaus verlustreichen Vorstoß am Abend vorher mit zusammengebissenen Zähnen und angespannten Sinnen von Minute zu Minute darauf gewartet hatten, daß der Gegner den Versuch machen würde, das verlorene Terrain, besonders aber das kaum sechs Meter breite Flüßchen, zurückzuerobern.
Von der 10. Kompagnie des aus Kriegsfreiwilligen neu gebildeten Reserveregiments, das hier an dieser Stelle nach dreitägigen Gewaltmärschen zum Angriff angesetzt und dann mit glänzender Bravour vorgegangen war, hatte der Leutnant der Landwehr Herford kaum die Hälfte durch den zum Glück kaum einen Meter tiefen Fluß hindurchbekommen. Alles übrige – fast einhundertundfünfzig Kameraden bedeckten das Terrain vor dem Fluß mit ihren jungen Leibern. Aber die Hauptsache: Man war hinüber! –
Und sofort hatte der noch junge Offizier, da der Kompagnieführer gleich zu Anfang des Sturmangriffs gefallen war, die Spaten abschnallen und auf der leichten Erhebung, wo die Wiese in festeres Erdreich überzugehen begann, Schützengraben ausheben lassen. Denn der Vorteil, den man mit so großen Opfern bezahlt hatte, mußte nun auch gehalten werden, koste es, was es wolle.
Der geschlagene, aus seinen Verschanzungen auf der östlichen Seite des Tales herausgeworfene und über den Fluß gedrängte Feind war, nachdem man ihm ein wütendes Feuer nachgeschickt hatte, in der Dunkelheit nach Westen zu verschwunden. Wann und in welcher Stärke er wieder kehren würde, wußte niemand. Und so galt es denn, die kurze Zeit nach Möglichkeit auszunutzen, die den Deutschen vielleicht bis zu einem Gegenvorstoß der Franzosen noch verblieb.
Hundert Meter weit vorgeschobene Posten sicherten die 10. Kompagnie gegen einen Überfall. Und unter dem Schutz dieser dünnen Kette von Wachen begannen die Überlebenden, stets aufs neue angespannt durch die aufmunternden Worte ihres jetzigen Führers, in aller Eile sich in die lockere Erde einzubuddeln. Aber mit achtzehn Spaten ließ sich wenig schaffen. Das sah auch Leutnant Herford bald ein. Und so schickte er denn einige der seinen zurück über den Fluß, damit sie das Schanzzeug von den Verwundeten und Toten herbeibringen sollten.
Nach einer halben Stunde kam der von dem noch sehr jugendlichen Unteroffizier v. Mackrot geführte Trupp zurück. Fünfundzwanzig Spaten, darunter gut ein Drittel der langstieligen französischen, hatten sie gefunden, so daß die Arbeit nun energischer fortgesetzt werden konnte.
Die Leute, die sämtlich in bis zur Brust durchnäßten Kleidern steckten, gruben, schon um sich zu erwärmen, mit wahrem Feuereifer und rissen einander förmlich die Spaten aus der Hand. Tiefer und tiefer wurde der Graben. Aber nur zu bald ließ nach der aufpeitschenden Nervenanspannung, die der verlustreiche Angriff mit sich gebracht hatte, die Kraft jedes Einzelnen nach. Bald versank hier, bald dort einer in den traumlosen Schlaf der Erschöpfung. Immer seltener erklang das Geräusch der vorgeworfenen Erdschollen, immer häufiger wurden dafür die Schnarchtöne der verschiedensten Klangfärbung. – Das durfte nicht sein! Die Nacht jetzt Ende Oktober wurde bereits empfindlich kühl. Und bewegten die Männer sich nicht fortgesetzt, so mußten sie sich in ihren nassen Sachen die schwersten Erkrankungen holen. So weckte denn Leutnant Herford immer aufs neue die Todmüden, wurde auch des öfteren recht energisch. Einige Unteroffiziere, die nur zu gut einsahen, wie sehr diese scheinbare Strenge des Offiziers lediglich dem Wunsch zuzuschreiben war, die Mannschaft der Kompagnie gesund zu erhalten, unterstützten in hierbei nach Möglichkeit.
So gelang es denn, stets wenigstens den größeren Teil des Trupps munter zu erhalten. Und die, die gar nicht wach zu bekommen waren und sicherlich über eine geringe körperliche Widerstandskraft verfügten, wurden fürsorglich auf Heulager gebettet und mit Mänteln und Zeltbahnen zugedeckt.
Und dann war der Tag da, das qualvolle Warten auf den Gegenstoß der Franzosen vorüber. Bei hellem Licht würden diese nicht vorzubrechen wagen, zumal sie sich sagen mußten, daß die Deutschen die Nacht sicher dazu benützt haben dürften, sich in ihren neuen Stellungen zu verschanzen.
Leutnant Herford schaute nach der Uhr. Ein halb acht war es. Und jetzt erschienen auch bereits die Krankenträger mit ihren Tragen und schafften die Verwundeten weg.
„Bis zwölf Uhr mittag ist ein Waffenstillstand vereinbart worden, Herr Leutnant,“ meldete ein Kolonnenführer vom Roten Kreuz. „Die Franzosen haben einen Parlamentär geschickt. Es darf also nicht geschossen werden. Das Schlachtfeld soll aufgeräumt werden.“
Gleich darauf kam auch der Bataillonsadjutant angeritten und überbrachte die gleiche Mitteilung.
„Die Kompagnie muß die Stellung noch bis zum Abend besetzt halten, Herr Kamerad,“ fügte er hinzu. „Dann erst werden wir durch andere Truppen abgelöst, ich glaube durch eine bayrische Brigade.“
Herford gab schnell für seine Kompagnie die entsprechenden Befehle aus. Die Leute mußten sich, soweit sie trockene Unterkleider im Tornister hatten, umziehen und durften sich dann schlafen legen, nachdem jeder noch aus der rückwärts stehenden Feldküche eine reichliche Portion heißen Kaffee erhalten hatte.
Nach einer Stunde lag alles bis auf wenige Posten, die unbedingt gestellt werden mußten, im tiefen Schlaf. Herford, obwohl zum Umsinken müde, konnte sich selbst allerdings die wohlverdiente Ruhe noch nicht gönnen. Jetzt, nachdem auch die letzten Nebelschwaden gewichen waren, vermochte er das Vorgelände genau zu überschauen. Er war froh, daß er für den Schützengraben seiner Kompagnie trotz der völligen Dunkelheit letzte Nacht eine so günstige Stelle gewählt hatte. Vor ihm lag eine weite, nur von einzelnen Baumgruppen bestandene Ebene. Auf vierhundert Meter hin hatte man freies Schußfeld. Wo der Feind sich eingegraben hatte, war nicht genau zu erkennen. Wahrscheinlich dort hinter jener leichten Bodenwelle, die sich von Nord nach Süd hinzog und etwa dreihundert Meter entfernt sein mochte.
Überall war das Feld von einzelnen Gruppen von Unbewaffneten bedeckt. Die Gefallenen wurden zusammengetragen, Verwundete fortgeschafft, Leichtverletzte zurückgeführt. Hell beschien jetzt die Sonne den blutgedüngten Boden. Schweigend verrichteten Krankenträger und Soldaten, die sich freiwillig zu diesem Liebesdienst gemeldet hatten, ihre traurige Arbeit.
Herford ging noch einmal die Postenkette ab und streckte sich dann in der Mitte der von seiner Kompanie eingenommenen Stellung auf das Lager aus, das ihm sein fürsorglicher Bursche aus Heu und zwei Pferdedecken bereitet hatte. Im Nu war er eingeschlafen.
Eine Viertelstunde später näherten sich von Süden her ein paar Offiziere: der Regimentskommandeur mit seinem Adjutanten und zwei Ordonnanzoffizieren.
Gerade vor Herfords Lagerstätte blieben die Herren stehen. Der Kommandeur schaute sich prüfend das Vorgelände an.
„Hier wird kaum ein Vorstoß des Gegners zu erwarten sein,“ meinte er zu seinem Adjutanten. „Die Stelle bietet zu gutes Schußfeld. – Freilich Artillerie vermag dafür desto bequemer die Kompagnie hier zuzudecken.“
Und dann gingen die Herren weiter. – –
Eine Viertelstunde nach zwölf, das Feld vor der deutschen Stellung war jetzt völlig menschenleer. Herford und der größte Teil seiner Männer schliefen noch immer den tiefen Schlaf der Erschöpfung.
Ein Ruf, der brüllend im Schützengraben weitergegeben wurde, ließ plötzlich schlaftrunkene Gestalten emportaumeln:
„Feindliche Flieger – feindliche Flieger!“
Zwei Eindecker waren es, die mit anerkennenswerter Kühnheit in etwa vierhundert Meter Höhe dahinschossen, einer genau auf Herfords Kompagnie zu, der andere weiter nördlich sich haltend.
Immer näher kamen die knatternden Riesenvögel.
Bei der Zehnten war längst jedermann munter geworden. Jetzt ein paar Kommandos, und dann ein rasendes Gewehrfeuer. – Aber der Erfolg blieb aus. Es mußten gepanzerte Flugzeuge sein. Und denen gegenüber waren die Nickelmantelgeschosse machtlos.
Auf der ganzen Linie raste das Krachen der Gewehre ohne Pause. Doch stolz und frech segelten die Flieger dahin. Nun befand sich das eine in senkrechter Linie über den Schützengraben der zehnten Kompagnie.
„Fliegerdeckung!“ befahl Herford. Man mußte sich vor den gefährlichen Bomben zu schützen suchen. Aber nur ein Teil der Leute fand in den Erdlöcher Platz. Viele der jungen Kriegsfreiwilligen hielt auch die Neugierde draußen. Hatten sie doch ein solches Schauspiel des Kampfes gegen Luftfahrzeuge noch nie miterlebt.
Herford, der aufrecht im Schützengraben stand und mit dem Glas den einen Eindecker beobachtete, sah jetzt aus dem panzerbewehrten Leib des Benzinvogels ein leichtes Staubwölkchen aufsteigen. Und wenige Sekunden später kam es von oben wie ein Hagelschauer herab: Fliegerpfeile, zwanzig Zentimeter lange spitze Geschosse, wohl an die hundert Stück.
Neben dem Offizier ein halb unterdrückter Aufschrei. Einem der Männer, der die Beine aus dem Erdloch herausgestreckt hatte, war ein Pfeil durch die Wade gefahren. Noch tief in den Erdboden hatte das Geschoß sich eingebohrt, ein Beweis, mit welcher Kraft diese kleinen, modernsten Vernichtungswerkzeuge geschleudert wurden. –
Zum Glück war dies aber auch der einzige Schaden, den der gefährliche Schlossenregen[1] angerichtet hatte
Und dann begann die deutsche Artillerie die beiden Flugzeuge zu beschießen.
Bum – bum – bum – bum bum bum –
Also eine ganze Salve! – Neben, vor, über den Flugzeugen platzten die Granaten und Schrapnells.
Wars nur das Echo der Kanonenschüsse, das da von den französischen Linien herüberschallte? Herford lauschte. Nein, der Feind schoß ebenfalls.
Das war der Auftakt zu einem allgemeinen Geschützkampf auf der ganzen Front. Die schwere Artillerie feuerte auf die gegnerischen Batterien, die leichte auf die Schützengräben. Es war das alte Programm, das beide Parteien einhielten.
Bis gegen ein halb drei Uhr nachmittags dauerte das Bombardement. Dann – Herford sah es durch sein Glas zuerst – erschienen drüben dünne feindliche Schützenketten. Immer mehr wurden sie verstärkt. Förmlich aus der Erde schienen die Franzosen hervorzuquellen. Sprungweise, mit kurzen Pausen, suchte der Gegner sich vorzuarbeiten. Doch die deutsche Artillerie verdarb ihm das Spiel.
Eine ohrenbetäubende, vielleicht fünf Minuten anhaltende Kanonade, dann fluteten die Franzosen zurück. Die Infanterie war gar nicht zum Schuß gekommen.
Wahrscheinlich aus Wut über diesen mißlungenen Angriff ließ jetzt der Feind abermals seine Geschütze spielen. Die zehnte Kompanie schien nahezu allen gegnerischen Batterien als Ziel zu dienen. Was die braven Kriegsfreiwilligen jetzt erlebten, dagegen war alles Vorausgegangene nur ein Kinderspiel gewesen. Das Platzen der Granaten und Schrapnells verschlang jedes Wort. Unmöglich war es, sich von Mund zu Mund zu verständigen. Unaufhörlich stob ein Regen von Geschoßsplittern, Schrapnellkugeln, Erde, Steinen und Grasstücken über den Schützengraben hin.
Zusammengekauert, mit weiten, mehr staunenden als entsetzten Augen starrten die Männer aus ihren Erdlöcher in das Stückchen Himmel hinaus, das sie zwischen der Decke ihres Schlupfwinkels und dem Rand des Schützengrabens zu erblicken vermochten. Die Scherzworte waren verstummt. Wie ein furchtbarer Druck lag es auf allen. Immer erstickender sammelten sich die giftigen Gase der krepierenden Artilleriegeschosse in der engen Verschanzung an. Dazu mehrten sich die Verluste in erschreckender Weise. Auch Fritz Herford hatte ein Granatsplitter den linken Arm gestreift und einen zentimeterlangen Riß zurückgelassen, den er sich sofort von seinem Burschen verbinden ließ.
Dann versank die Sonne langsam hinter jenem Waldstreifen im Westen, wo die feindliche Artillerie offenbar ihre Stellungen hatte. Noch eine Viertelstunde, dann kam der Nebel. Dick, gelbbraun kroch er aus dem Boden hervor. Erst lag er nur in einzelnen langen Schwaden über der Erde. Aber diese milchigen Fetzen schlossen sich schnell zu einem festen Ganzen zusammen.
Da schwieg auch der Donner der Geschütze. Die Stille nach all dem nervenaufpeitschenden Lärm war fast bedrückend. Andere Töne wurden laut. Vom Fluß her das Knarren von Rudern, halblaute Kommandos, das Poltern von Brettern und Balken: Pioniere schlugen eine Brücke. Zu sehen war nichts davon, nur hören tat man alles. Jetzt der dumpfe Schlag, mit dem Pfähle in das Ufer getrieben wurden, bald ein Stampfen und Trampeln über dröhnenden Brettern: Soldaten mit ihren Pferen, die die kaum vollendete Brücke passierte.
„Wir werden abgelöst,“ meinte Herford zu den drei Kameraden, mit denen er in dem Unterstand zusammensaß.
Aus der Nähe eine scharfe, an Befehlen gewöhnte Stimme:
„Wo ist der Kompagnieführer?“
Der Leutnant erhob sich, griff einen Halt suchend nach dem Grabenrand. Vor seinen Augen schwammen blutrote Nebel. Aber mit aller Energie bekämpfte er diesen durch den Blutverlust hervorgerufenen Schwächeanfall.
Und dann stand Herford vor dem Regimentskommandeur.
„Bin zufrieden mit der Kompagnie, sehr zufrieden. Hat sich gestern wie heute tadellos benommen. Ihr Name?“
„Leutnant der Landwehr Herford, Herr Oberst.“
„Sie sind verwundet?“
„Zu Befehl. Streifschuß am linken Unterarm.“
„Gut, dann können Sie ja das Kommando für die Abteilung übernehmen, die in Bysor zur Bedeckung des dortigen Lazaretts einige Zeit bleiben soll. Treiben sich dort Franktrieurs herum. Muß etwas der Gesellschaft auf die Finger gesehen werden! Jedenfalls kann ich zu dem Zweck nur Leute hergeben, die leicht verwundet sind, ohne gerade ins Bett zu müssen. Alles Gesunde ist hier an der Front nötiger.“
Der Regimentskommandeur war wegen seiner abgehackten Sprechweise schon berühmt. Viele Worte machte er nicht. Und so gab er Herford auch die weiteren Anweisungen in derselben knappen Form. – –
Eine Viertelstunde später übernahm die bereits angekündigte bayrische Brigade den Dienst in den Schützengräben. Landwehr war es, alles wetterwarte Gestalten aus den Bergen, die den jugendlichen Kriegsfreiwilligen mit einem anerkennenden ‚Brave Bua seid’s, Kam’raden!’ begrüßten. Und wieder zwei Stunden später hatte Herford in einem fünf Kilometer zurückliegenden Dorf seine aus vierzig Mann bestehende Abteilung beieinander. Leute aus allen Kompanien waren es, jeder einzelne ‚leicht angeschrammt’, zumeist durch Streifschüsse, die von einem blutjungen Feldunterarzt beim Schein von ein paar Stallaternen noch schnell verbunden wurden. Auch Unteroffizier v. Mackrot befand sich darunter. Eine Schrapnellkugel hatte ihm ein Stück der Kopfhaut an der linken Schläfe fortgerissen, so daß er vorläufig weder Helm noch Mütze tragen konnte. Dafür bedeckte jetzt ein weißer Gewebeverband seinen Schädel, so daß er aussah wie ein Student, der von der Mensur kam.
Gegen neun Uhr abends, nachdem alles aus einer ‚Bouillonkanone’ ein reichliches warmes Essen erhalten hatte, wurde aufgebrochen.
„Sehen Sie zu, wie Sie sich nach der Karte zurechtfinden. Dreiunddreißig Kilometer sind’s bis Bysor,“ hatte der Oberst gesagt. Und so marschierte die Abteilung denn auf einer Straße, die Herford für am günstigsten hielt, gen Osten zu. Der lehmige, von Geleisen zerschnittene Weg, der auf der Karte als ‚Chaussee’ gekennzeichnet war, hörte jedoch plötzlich, nachdem man kaum eine halbe Stunde in tiefer Dunkelheit unterwegs gewesen war, so gut wie vollständig auf. Die Fortsetzung war nichts als eine schmale, nicht einmal von Bäumen eingefaßte Landstraße. Zum Glück entdeckte Herford in der Nähe ein paar Gehöfte, in denen Licht brannte. Dort lag eine Landsturmkompagnie. Der graubärtige Feldwebel, der sie befehligte, klärte den Leutnant über diesen merkwürdigen Weg sehr bald auf.
„Das bessere Stück gehört noch zu Frankreich. Und da, wo eigentlich nur noch eine Wagenspuren zu sehen ist, fängt eben Belgien an. Vor einem Monat standen hier ja Grenzpfähle. Aber die haben meine Leute längst zum Ofenheizen benutzt.“
Als Herford sich dann nach dem Dorf Bysor erkundigte, meinte der Feldwebel prompt: „Kenne ich genau, Herr Leutnant. Üble Gegend. Viele Franktireurs. Alles belgisches Gesindel schlimmster Art. Wir waren dort vier Tage im Quartier. –
Der nächste Weg dorthin? Ja, das wird in der Dunkelheit schwer werden, sich zurechtzufinden.“
Er überlegte eine Weile. „Am besten, ich gebe Herrn Leutnant meinen Unteroffizier Kulmey mit. Der ist schon dreimal mit einer Roten Kreuz-Kolonne in Bysor gewesen. Richtiger wär’s aber wohl, Herr Leutnant würden hier übernachten und dann morgens den Marsch fortsetzen. Platz haben wir noch.“
Aber Herford mußte, obwohl seine Leute ebenso wie er selbst bereits mehr als übermüdet waren, unbedingt morgens acht Uhr an seinem Bestimmungsort sein. An dem Befehl des Regimentskommandeurs ließ sich nicht deuteln. So wurde denn Unteroffizier Kulmey geweckt. Er erschien mit einem keineswegs sehr frohen Gesicht, schulterte sein Gewehr und betrat mit dem Leutnant wieder die dunkle Straße. Herfords Männer hatten sich inzwischen in einem nahen Heuschober niedergelegt und schnarchten bereits in allen Tonarten. Es kostete Mühe sie zu wecken. Brummend, taumelnd vor Erschöpfung, erhoben sie sich.
„Kinder, so leid es mir tut, es muß sein!“ redete der Offizier ihnen gut zu. „Ich weiß ja, welche Strapazen ihr schon hinter euch habt. Dafür sollt ihr aber auch in Bysor euch ausschlafen können, solange ihr wollt.“
Der Landsturmunteroffizier bildete dann mit dem Leutnant die Spitze. Eine Zigarre, die Herford seinem Führer anbot, machte den Mann, der im Zivilberuf Gärtner auf einem pommerschen Rittergut war, schnell gesprächig. Herford erzählte, welch furchtbare vierundzwanzig Stunden er mit seiner Kompagnie im Schützengraben zugebracht hatte. Diese Erzählubgen verwandelten den von Natur äußerst gutmütigen, nur etwas bequemen Kulmey vollständig.
„Herr Leutnant,“ meinte er plötzlich, „die reichlich zwei Dutzend Kilometer bis Bysor können wir uns vielleicht bequemer machen. Da vor uns im Wald liegt auf einer Lichtung ein Pachthof, und der Besitzer hat noch ein paar leidliche Gäule im Stall, auch zwei Leiterwagen. Wie wärs, wenn wir die requirierten?“
Herford war sofort einverstanden. Und wirklich hatte er dann eine Stunde später seine Leute glücklich auf den mit Stroh und Heu ausgepolsterten beiden Wagen untergebracht und sogar noch für sich und Kulmey Reitpferde besorgt. Freilich – der Belgier, der merkwürdigerweise nicht geflohen war, lamentierte in frechster Weise und riß den von dem Leutnant ausgefüllten Requisitionsschein wütend in Stücke. Erst ein kräftiger Rippenstoß Kulmeys brachte ihn zur Vernunft. Aber die haßsprühenden Augen, mit denen er den Deutschen nachschaute, besagten nichts gutes. Er war ein leidlich gebildeter Mann, aber verhetzt und voreingenommen gegen die fremden Eindringlinge wie alle Belgier.
Gegen zwei Uhr morgens, erklärte Kulmey dann, daß man sich jetzt in nächster Nähe von Bysor befinden müsse. Allerdings war Herford hinsichtlich der Ortskenntnis des Landsturmoffiziers etwas mißtrauisch geworden, da man ein paarmal recht weit vom Weg abgekommen war und sich nur mit Mühe wieder zurechtgefunden hatte.
Der Weg, den man gerade verfolgte, führte durch ein Tannengehölz. Kulmey schwor Stein und Bein, daß es bis zu dem Dorf kaum mehr achthundert Meter sein könnten. So wollte er zum Beispiel einen umgestürzten Wegweiser bestimmt wiedererkennen.
„Freilich, Herr Leutnant,“ fügte er kleinlaut hinzu, „so ein wenig in die Runde gefahren sind wir allerdings. Denn anstatt von Westen her kommen wir jetzt direkt von Norden nach Bysor hinein.“
Und er behielt wirklich recht. Bald verließen die Wagen das Gehölz und lenkten auf eine weite Ebene hinaus, in deren Mitte dunkle Flecken mit einigen Lichtpünktchen dazwischen das Vorhandensein von Gebäuden verrieten.
Aber so ganz ohne Zwischenfall sollte der Einzug in Bysor doch nicht vonstatten gehen. Kaum hatten die Wagen nämlich einen kurzen Hohlweg dicht hinter dem Wald passiert, als rechts vom Weg ein paar kurze Pfiffe erschallten, die in der Ferne beantwortet wurden. Gleichzeitig zuckten in nächster Nähe dreimal hintereinander weiße Lichtstrahlen auf, die offenbar von einer elektrischen Taschenlampe herrührten und nur ein Signal bedeuten konnten, da auf Kulmeys mehrfachen Anruf sich niemand meldete.
„Die Geschichte ist brenzlich, Herr Leutnant,“ meinte der Landsturmmann und starrte nach Westen zu in die Dunkelheit hinaus, wo jetzt alles in tiefem Frieden zu liegen schien. „Wenn hier nicht wieder die schuftigen Franktireurs herumspuken, will ich nicht mehr Johann Kulmey heißen. Jedenfalls – sicher ist sicher! – Wollen wir die Leute auf den Wagen wecken. Vielleicht besorgen Herr Leutnant das. Ich werde inzwischen mal ein Stück da nach rechts ins Feld hineinreiten.“
Kulmey entsicherte sein Gewehr und legte es schußbereit querr über den Sattel. Dann drängte er seinen mageren Fuchs durch den Straßengraben und tritt Schritt für Schritt, öfters auch halt machend und lauschend, vorwärts. Nun war es ihm, als ob vor ihm plötzlich eine Gestalt aufsprang und davonhuschte. Unbekümmert um etwaige Hindernisse gab er seinem belgischen Klepper die Sporen und stürmte hinterdrein. Jetzt – wahrhaftig – das war ein Mensch, der da stolpernd über die Schollen des gepflügten Bodens rannte.
„Halt – oder ich schieße!“
Keine zwanzig Schritt waren es. Das Kunststück im scharfen Trab zu feuern, brachte Kulmey jedoch nicht fertig. So ließ er es bei der Drohung. – Da – verd… – jetzt war die Gestalt verschwunden. Ein scharfer Zügeldruck, und der Gaul stand. Aber vergebens suchte der Landsturmmann weiter vorzudringen. Ein Drahtzaun, gute zwei Meter hoch mit sechs straff gespannten Drähten, versperrte ihm den Weg. Also runter von dem Klepper.
Schon hatte Kulmey den rechten Fuß aus dem Steigbügel genommen um abzuspringen, als eine Kugel mit singendem Pfeifen an seinem Ohr vorbeizischte und gleichzeitig der scharfe, kurze Knall eines Gewehrschusses ertönte.
Den steifbeinigen Fuchs herumreißen und im Galopp zurückjagen bis an den Weg, war eins.
„Herr Leutnant,“ rief Kulmey schon vorn weitem, „lassen Sie Ihre Leute ausschwärmen und die Ränder des Hohlweges besetzen. Da haben wir gute Deckung. Der Schuft, der auf mich feuerte, ist sicher nicht allein. Sonst hätte er den Schuß nie gewagt.“
Die Wagen ließ man stehen, und dann ging’s im Marsch Marsch in den Hohlweg zurück, dessen beide Ränder den besten natürlichen Schützengraben abgaben.
Herford war ebenso wie der Landsturmmann abgestiegen und hatte seinem Burschen die Zügel zum Halten gegeben.
„Unteroffizier v. Mackrot,“ rief er jetzt leise.
Der junge, schlanke Mensch kam herbeigelaufen.
„Nehmen Sie sich zwei gewitzte Leute und schleichen Sie mal nach Westen zu vor. Und Sie, Kulmey, klären mit zwei Mann in gleicher Weise in der Richtung nach dem Dorf auf. – Zum Donner – was ist das..!“ entfuhr es ihm dann. „Ein richtiger Überfall –“
Eine wahre Kugelsaat war plötzlich vom Wald her durch den Hohlweg der Länge nach dahingepfiffen. Ein Glück, daß die beiden Pferde für die drei mitten auf der Straße stehenden Deutschen einen lebenden Kugelfang bildeten. Die Gäule mußten getroffen sein, keilten aus, rissen sich los und jagten ein paar Schritte vorwärts, um dann mit einem fast menschlich klingenden Stöhnen umzusinken.
Kulmey hatte sich sofort lang hingeworfen und auch den Fahnenjunkerunteroffizier v. Mackrot mit kurzem Ruck umgezerrt. Herford stand noch als Einziger aufrecht da. Auch sein Bursche kauerte längst im Graben.
„Hinlegen, Herr Leutnant!“ mahnte Kulmey. Da kam auch schon eine zweite unregelmäßige Salve dahergefegt. Aber Herford hatte Glück. Er blieb auch jetzt unverletzt. Ruhig klangen nun seine Kommandos.
„Auf den Waldrand hinter uns – Standvisier – lebhaftes Schützenfeuer –“
Er kniete dann neben Kulmey nieder und erteilte diesem einen Befehl, worauf der Landsturmmann mit sechs Leuten nach rechts in der Dunkelheit verschwand, um den Gegner in der Flanke zu fassen.
Doch dessen Kampfesmut schien sich mit den beiden heimtückischen Salven vollständig ausgetobt zu haben. Nur die Schüsse von deutscher Seite durchschnitten noch mit scharfem Knall die nächtliche Stille. Beantwortet wurden sie nicht. Da ließ dann auch Herford bald das Feuer einstellen, zumal es ja die reinste Munitionsverschwendung war, auf gut Glück einen unsichtbaren Gegner zu beschießen.
Gleich darauf erklang auch Kulmeys kräftiger Baß von Wald her: „Die Kerls sind ausgerissen. Aber einen Burschen, der offenbar schwer verwundet ist, haben wir doch gefaßt.“
Zwei Mann brachten den Menschen angeschleppt. Er steckte in Zivilkleidern, trug eine blaue Schirmmütze mit Ledersturmband unter dem Kinn und stöhnte jämmerlich. Eine Kugel war ihm schräg durch die Brust gegangen.
Der Verwunderte, der etwa dreißig Jahre alt sein mochte, wurde auf einen der Wagen gepackt. Unteroffizier v. Mackrot mußte dann die beiden angeschossenen Pferde, die noch immer qualvoll mit den Beinen um sich schlugen, durch ein paar Kugeln abtun. Nun erst wurde der Weitermarsch angetreten.
In dem Dorf waren inzwischen infolge der zahlreichen Schüsse eine ganze Menge Fenster hell geworden. Und als die Kolonne sich näherte, wurde sie von einem deutschen Posten angerufen, der die Landsleute dann aber sofort passieren ließ.
Zehn Minuten später hielten die beiden Wagen vor der kleinen Dorfkirche, die ebenso wie die anderen Baulichkeiten noch völlig unversehrt war, da der Feind seinerzeit sowohl Bysor wie zwei Nachbardörfer ohne Kampf aufgegeben hatte.
Längs von der Kirche lag ein größeres Gehöft, das mit seinem Wohnhaus und den beiden Scheunen als Lazarett hergerichtet war. Rechts stand die Schule, ein ganz stattlicher Neubau, der gleichfalls mit dreißig Betten für Verwundete belegt war.
Die nach der Straße gelegenen Räume der Lazarettgebäude waren sämtlich erleuchtet. Überall an den Fenstern standen Lampen und Kerzen, so daß vor den Häusern eine immerhin ausreichende Helle herrschte, um sich zurechtfinden zu können.
Vor der Tür der Schule traf Herford mit dem Stabsarzt zusammen.
„Doktor Merker,“ stellte der sich vor.
In kurzer Zeit hatte der Leutnant dann mit Hilfe des Stabsarztes seine Mannschaften in einem nahen Haus untergebracht. Und bald saß er selbst in dem ganz behaglich ausgestatteten Wohnzimmer des Schullehrers neben Doktor Merker auf einem altehrwürdigen Sofa, schlürfte eine Tasse Fleischbrühe, verzehrte ein paar belegte Brote und ließ sich dabei von dem Chefarzt alles nötige erzählen. So erfuhr er denn, daß das Lazarett im ganzen über neunzig Betten verfügte, die zurzeit sämtlich mit nicht transportfähigen Verwundeten belegt waren, daß weiter außer Doktor Märker hier noch fünf jüngere Ärzte, acht Schwestern und ein Dutzend Krankenpfleger vom Roten Kreuz tätig seien.
„Und welche Freude an unserer Arbeit könnten wir haben,“ fügte der Stabsarzt ingrimmig hinzu, „wenn dieses ekle Gesindel von Franktireurs nicht wäre! Aber die Bande läßt uns ja keine Nacht in Ruhe. Jede Stunde sind wir sozusagen alarmbereit. In der ersten Woche nach Errichtung des Lazaretts ging es noch. Da spielten uns die bösen Geister nur hie und da einen Schabernack. Dann jedoch wurden sie von Tag zu Tag frecher und blutdürstiger. Unsere Posten wurden in der Dunkelheit beschossen, und selbst die mit der Roten Kreuz-Flagge gekennzeichneten Gebäude hier erhielten verschiedentlich aus weiterer Entfernung Salvenfeuer. Die zwanzig Infanteristen unter Führung eines Vizefeldwebels, die zu unserem Schutz kommandiert waren, langten natürlich nicht einmal dazu, die Dorfstraße mit Wachen zu besetzen. In der vergangenen Woche wurde es dann ganz böse. Zwei Posten knallten uns die Kerle im Morgennebel nieder, einer meiner Ärzte erhielt am Tage eine Kugel durch die Mütze. Zwei Zentimeter tiefer, und er wäre hin gewesen. Da schickte die Division uns endlich eine halbe Kompanie für zwei Tage, um hier mal strenges Gericht zu halten. Alle verdächtigen Dorfbewohner – die Hälfte ist ja allerdings geflohen – wurden einem strengen Verhör unterzogen. Sogar die Nachbarorte suchte man ebenfalls nach Waffen und Munition ab. Nichts kam dabei heraus, gar nichts. Natürlich verhielten sich die Banditen während der zwei Tage mäuschenstill. Aber kaum war die Strafexpedition wieder abgerückt, als der alte Tanz auch schon abermals losging, obwohl es allen Bewohnern, auch denen der beiden nächsten Dörfer, streng verboten worden war, nach Einbruch der Dunkelheit ihre Häuser zu verlassen. Freilich – diese Schutzmaßregel hätte nur einen Zweck gehabt, wenn wir in der Lage gewesen wären, die Ortschaften auch gelegentlich unangemeldet revidieren zu können. Mit unserem paar Mann war das ausgeschlossen. Und daher blieb alles beim Alten. Die Leute hier in Bysor tun natürlich so, als ob sie keinen Wässerchen trüben könnten, stecken aber ohne Frage mit den Franktireurs unter einer Decke. Ich könnte Ihnen so verschiedene Geschichten erzählen, aus denen klar hervorgeht, daß die Bande hier irgendwo einen geheimen Schlupfwinkel haben muß.
Nur ein Beispiel. Vorgestern früh trafen hier von Mouscrom zwei Bagagekolonnen ein, die eigentlich nach Chatelet sollten, aber den Weg verfehlt hatten. Zwei Stunden später – der Morgennebel hatte sich noch nicht verzogen, versuchten einige fünfzig von den belgischen Halunken einen Überfall, fraglos nur zu dem Zweck, um die mit Kriegsmaterial beladenen Wagen in ihre Gewalt zu bringen. Zum Glück waren die Führer der Kolonnen jedoch sehr vorsichtige Herren gewesen und hatten rings um das Dorf Posten ausgestellt, so daß die Franktireurs bald von allen Seiten Feuer erhielten und schnell spurlos verschwanden. –
Ich betone: spurlos! Denn das Merkwürdige bei diesem Angriff war eben, daß die Bande ganz plötzlich mitten im Dorf auftauchte, trotz der Postenkette, und dann auch wieder verduftete, obwohl sie völlig eingekreist war. –
Sie werden mir recht geben: fünfzig Mann können sich unmöglich ungesehen durch einen ziemlich engen Kreis von Feinden hindurchschleichen und dabei noch ihre Verwundeten mitnehmen. Und Verwundete haben sie gehabt! Wir fanden ja sogar die Blutspuren. –
Ähnliche Vorfälle spielten sich wie gesagt des öfteren ab. Und stets entkamen die Schufte uns, als ob sie durch die Luft davongeflogen wären. Nun hat uns endlich das Divisionskommando auf meinen dringenden Antrag hin eine Verstärkung der Schutzwache geschickt. Hoffentlich gelingt es Ihnen, Herr Leutnant, einmal den Burschen ordentlich eins auszuwischen. Verdient haben sie’s reichlich.“ –
Noch eine Viertelstunde blieben die beiden in ernstem Gespräch beieinander. Dann geleitete der Stabsarzt den jungen Offizier in das Dachstübchen hinauf, das man für Herford in aller Stille hergerichtet hatte.
Fest und traumlos schlief dieser bis in den hellen Vormittag hinein. Nachdem er gefrühstückt und ein lang ersehntes Bad im Lazarettbaderaum genommen hatte, war sein erstes, daß er seine gesamte Mannschaft auf dem Platz vor der Kirche antreten ließ und den Posten- und Patrouillendienst neu einteilte. Mit den vier Unteroffizieren und zweiundsechzig Leuten, die ihm zur Verfügung standen, ließ sich schon etwas ausrichten.
Als er dann mit Doktor Merker und den anderen Ärzten zusammen Mittag gegessen hatte, wollte er sich Bysor einmal in Ruhe genauer ansehen. In der Dorfgasse traf er den Landsturmunteroffizier Kulmey, der bei dem Vormittagsappell als nicht zu Herfords Abteilung gehörig, nicht zugegen gewesen war.
Der Unteroffizier, der sein Gewehr über die Schulter gehängt hatte, grüßte stramm und wollte vorübergehen. Herford, dem der ebenso schlaue wie mutige Pommer recht gut gefiel, rief ihn jedoch an und fragte, wo er denn so gewappnet herkäme.
„Habe mich mal hier so’n bißchen umgeschaut, Herr Leutnant,“ meinte Kulmey in seiner bedächtigen Art. „Vorläufig muß ich mir hier ja so gut es geht die Zeit vertreiben, da ich allein nach dem Quartier meiner Kompagnie nicht zurück darf – der Franktireurs wegen, die mich ja sicher abschießen würden. Und vielleicht gibt’s hier was Interessanteres zu erleben als bei unserem Etappendienst.“
Herford horchte auf. Irgend etwas in dem Ton, wie Kulmey das Letzte gesagt hatte, machte ihn aufmerksam.
„Wie begründen Sie denn diese Hoffnung auf ein etwaiges Abenteuer?“ fragte er gespannt. Er dachte sich schon, daß der Unteroffizier jene Äußerung in Hinsicht auf die Franktireurs getan hatte.
Kulmey zögerte einen Augenblick. Dann erwiderte er leise: „Gestatten Herr Leutnant, daß ich ein Stück mitkomme. Es ist doch wohl besser, daß ich ehrlich damit herausrücke, was ich auf dem Herzen habe.“
So gingen sie denn weiter die Dorfstraße entlang nach Westen zu. Kulmey erzählte, wie ihm der Feldwebel, der bisher die kleine Lazarettschutzwache befehligt hatte, heute Vormittag so alles Mögliche über das Franktireursunwesen hier in der Gegend mitgeteilt habe. Und dann fügte er hinzu: „Jedenfalls sind die Überfälle hier, bei denen die Angreifer stets so spurlos nachher verschwanden, nur so zu erklären, daß –“
„daß die Franktireurs einen geheimen Schlupfwinkel in Bysor haben müssen, wo sie sich längere Zeit verbergen können,“ ergänzte Herford den angefangenen Satz. „Das hat mir der Herr Stabsarzt auch schon auseinandergesetzt. Nach diesem Schlupfwinkel ist jedoch bisher vergeblich gesucht worden.“
Kulmey nickte wieder etwas unmilitärisch mit seinem dicken Pommerschädel. Und dann sagte er: „Gut – Herr Leutnant sind also unterrichtet, wie ich sehe. Nur – hm – einen Irrtum hinsichtlich der Annahme eines solchen Schlupfwinkels möchte ich aber doch richtigstellen. Aus dem, was mir der Feldwebel erzählte, geht nämlich meines Erachtens noch mehr hervor: Es kann sich hier nicht lediglich um einen gut angelegtes Versteck handeln, sondern – um irgend einen geheimen Verbindungsweg, der aus ziemlicher Entfernung nach Bysor hineinführt. Dreimal sind ja die Franktireurs plötzlich mitten im Dorf aufgetaucht und zwar in größerer Anzahl, ohne daß unsere enge Postenlinie auch nur das Geringste von der Annäherung, besser dem Durchschlüpfen verdächtiger Gestalten etwas bemerkt hätte.“
Sie waren inzwischen bis über die letzten Häuser hinausgelangt und standen nun vor einer verfallenen Steinmauer, die einige Ruinen von Gebäuden umgab.
Kulmey deutete mit der Hand auch die halbeingestürzten Häuserreste und sagte bedeutungsvoll: „Wissen Herr Leutnant auch, was da mal gewesen ist?“
„Nun? – Es sieht wie eine ehemalige Fabrikanlage aus.“
„Was ähnliches – ein Bergwerk war’s; es sind die Grubenbaulichkeiten des einstmals berühmten Kohlenbergwerkes von Bysor, wie mir der Feldwebel zu berichten wußte. Seit zwanzig Jahren liegt die früher sehr reiche Grube unbenutzt da. Sie soll eben völlig ausgeschlachtet sein. Der Besitzer hat, als die Kohleförderung nicht mehr lohnte, den Betrieb eingestellt und alles verwahrlosen lassen. – Ja, hm, – und zu einem Bergwerk gehören doch auch unterirdische Gänge, Stollen nennt man’s wohl, und die sollen sich manchmal kilometerweit hinziehen, – hm ja!“
„Donnerwetter!“ entfuhr es Herford. „Und nun meinen Sie, daß –“
„Ja, daß die Franktireurs vielleicht diese Stollen benutzen, um hier so urplötzlich mitten im Dorf auftauchen zu können. – Allerdings sollen ja die Schächte, in denen früher die Arbeiter nach unten gelangten, vermauert und die Aufzüge oder Förderkörbe längst unbrauchbar geworden sein. Aber – ich denke, es dürfte doch ganz lohnend sein, sich mal auf dem verwahrlosten Platz da hinter der Mauer ein wenig umzusehen. Vielleicht – vielleicht finden meine Jägeraugen – denn ich bin da oben in Pommern ja auch gleichzeitig Gutsförster – etwas, wo der Feldwebel nur Schutt und Trümmer bemerkt haben will.“ – –
So kam es, daß Herford gemeinsam mit dem Landsturmmann an einer eingestürzten Stelle der Mauer die aufgegebene Kohlengrube betrat. Eine ganze Stunde kletterten sie in den Gebäuden umher, schauten sich besonders genau das Haus an, wo einstmals mit Maschinen die Förderkörbe hinabgelassen und hochgewunden wurden. Drei Schächte gab es im ganzen zu diesem Zweck. Aber sämtlich waren sie oben mit Balken vernagelt, auf denen dicke Staubmassen vieler Jahre lagen.
Endlich ließen sie von den weiteren Nachforschungen ab. Die unberührten Schichten auf allen Gegenständen zeigten deutlich, daß sie hier nie und nimmer ein Zugang zu dem verlassenen Bergwerk vorhanden sein konnte. Etwas enttäuscht kehrten sie in das Dorf zurück.
„Und doch spielt das Bergwerk bei den Schurkenstreichen, die hier verübt worden sind, irgend eine Rolle,“ sagte Kulmey hartnäckig, als sie sich dann vor der Kirche trennten.
Herford schüttelte ungläubig den Kopf. „Sie müssen sich irren,“ meinte er. „Bedenken Sie, daß eine Kohlengrube, in der nicht ständig für frische Luftzufuhr gesorgt wird, sehr schnell von gefährlichen Gasen angefüllt wird, die einen Aufenthalt in den Stollen unmöglich machen. Daran dachte ich vorhin nicht. Wir hätten uns das Nachsuchen sparen können.“
Die erste Nacht, die die neue angekommene deutsche Abteilung ganz in Bysor verlebte, verlief ohne jede Störung. Am folgenden Morgen traf dann vom Divisionskommando, an das Herford einen eingehenden Bericht über den letzt Überfall der Franktireurs und über die Gefangennahme des einen Verwundeten geschickt hatte, ein Befehl ein, in Zukunft seien sämtliche Franktireurs sofort zu eingehender Vernehmung an das Armeekorpskommando zu schicken, wie überhaupt dem schändlichen Treiben der bewaffneten Landesbewohner mit äußerster Strenge zu begegnen sei.
Dieser von einer Kavallerie-Patrouille überbrachte Befehl veranlaßte Herford, sich bei dem Stabsarzt nach dem Ergehen des Gefangenen zu erkundigen, den er ja pflichtgemäß nach erfolgter Genesung an das Generalkommando abliefern mußte.
Doktor Merker kam dem jungen Landwehroffizier bereits im Flur des Lazarettgehöftes offenbar in großer Aufregung entgegen. –
So unglaublich es auch schien, der Gefangene war in der vergangenen Nacht entflohen, natürlich mit Hilfe von Landsleuten, wie die nähere Besichtigung des Stübchens, in dem man den Belgier untergebracht hatte, ergab. Dieses Stübchen lag im Stallgebäude zu ebener Erde. Der Stabsarzt, der es, da der Verwundete bei dem hohen Fieber völlig ungefährlich erschien, verabsäumt hatte, den Mann besonders bewachen zu lassen, war in recht gedrückter Stimmung. Er fürchtete nicht zu Unrecht, daß er wegen dieser Versäumnis einen bösen Wischer ‚von oben’ erhalten würde. –
Jedenfalls mußte der Verwundete von mehreren Personen fortgetragen worden sein. Wie diese ihn jedoch durch die Postenkette hindurchgebracht hatten, blieb ein Rätsel. Die Wachen bekundeten bei ihrer Vernehmung durch Herford übereinstimmend, daß sie nichts Verdächtiges bemerkt hätten und daß es ausgeschlossen sei, daß die Männer mit dem Gefangenen ungesehen die Postenkette hätten passieren können.
Da unter diesen Umständen der Verdacht nahelag, der Verwundete sei vielleicht in einem der Häuser des Dorfes versteckt worden, ließ Herford durch vier verschiedene Trupps, die jeder unter Führung eines Unteroffiziers standen, sämtliche Gehöfte aufs Genaueste durchsuchen, eine Arbeit, die dadurch wesentlich erleichtert wurde, daß die Hälfte aller Anwesen leer stand. Die zurückgebliebenen Bewohner, unter denen sich nur etwa zwanzig noch rüstige Männer befanden, wagten keinerlei Widerstand.
Herford selbst hatte sich dem Trupp des Unteroffizieres v. Mackot angeschlossen, der den Dorfteil westlich der Kirche absuchen sollte. Vom Keller bis zu den Wohnräumen hinauf wurde jedes Haus sorgfältig durchstöbert. Selbst die Stallungen vergaß man nicht. Wände wurden beklopft, hie und da auch versuchsweise in die Mauern mit der Spitzhacke Löcher geschlagen, um zu prüfen, ob dahinter vielleicht verborgene Gelassse lagen.
Mackrot war gerade mit dem vierten Anwesen links von der Kirche fertig geworden und marschierte mit seinen sechs Männern zum nächsten Gehöft hinüber, als der Leutnant noch einen etwa zwanzig Meter von dem Stall entfernten, niedrigen kleinen Ziegelbau bemerkte, auf den er den Fahnenjunkerunteroffizier jetzt aufmerksam machte.
„Es ist nur ein verfallener, leerer Kartoffelkeller,“ meinte ein Gefreiter an Stelle Mackrots. „Ich habe schon hineingesehen, Herr Leutnant. Auch dort ist nichts zu finden.“
Trotzdem schritt Herford auf das nur wenig über die Erde hinausragende Bauwerk zu, um sich selbst nochmals von dessen Harmlosigkeit zu überzeugen. Mackrot aber verschwand mit seiner Mannschaft in dem Eingang des benachbarten Hauses.
Der Leutnant ging gemächlich über den unbebauten Ackerstreifen auf den Kartoffelkeller zu. Dessen Eingang bildete eine Holztreppe mit etwa acht Stufen. Die Brettertür hing nur noch in einer Angel und war geöffnet.
Nachdenklich betrachtete Herford jetzt einen deutlich bemerkbaren, festgetretenen Pfad, der von der obersten Stufe der Treppe über das Feld in Richtung auf das soeben durchsuchte Anwesen hinführte. Dieser schmale Gang sah ganz so aus, als ob dort noch kürzlich eine ganze Menge Personen entlanggeschritten waren. Stiefelabsätze, hie und da auch die Ränder von Sohlen hatten sich in den herbstlich feuchten Boden scharf eingedrückt.
Ein unbestimmter Verdacht zuckte plötzlich in dem jungen Offizier auf. Daß die deutschen Posten diesen Pfad benutzt hatten, war ausgeschlossen. Die Stiefelspuren endeten ja hier vor dem Kellereingang. Und was hatten die Wachen dort in dem leeren Gelaß zu tun?! –
Jetzt fielen Herford auch des Landsturmoffiziers Worte wieder ein: ‚Und doch spielt das Bergwerk bei den Schurkenstreichen irgendeine Rolle!’ – Sollte Kulmey wirklich recht behalten? –
Nun, er wollte sich schnell selbst einmal überzeugen, ob dieser harmlose Kartoffelkeller irgend etwas Verdächtiges enthielt. Der Gefreite hatte ihn sicher nur oberflächlich besichtigt.
Jetzt stand Herford in dem mannshohen Raum, der etwa drei Meter breit und fünf Meter lang war. Das Licht seiner elektrischen Taschenlampe – es war eine von den größeren Lampen mit zweiundfünfzigstündiger Brenndauer – durchzuckte mit weißem Strahl das feuchtkalte, modrig riechende Gelaß. Auf dem festgestampften Lehmboden lagen noch ein paar halbverfaulte Kartoffeln umher, während im Hintergrund ein niedriger Haufen Kartoffelkraut aufgeschichtet war. Mit dem Fuß warf der Leutnant das trockene, braune Zeug auseinander. Nichts wie der Lehmboden war darunter. Trotzdem wollte Herford sichergehen und scharrte den Krauthaufen nach vorn, um auch in den hintersten Winkel hineinsehen zu können.
Da – war es ihm nur so, oder hatte sich wirklich der Boden unter seinen Füßen ein wenig bewegt? –
Jetzt trat er mit dem einen Stiefel fest auf. – Ein leiser Pfiff drängte sich unwillkürlich über seine Lippen – das klang hohl – ohne Zweifel.
Schon kniete er sich nieder und beäugte Zentimeter für Zentimeter den Boden. Und nun bemerkte er beim Schein seiner Lampe, daß sich dort, wo noch soeben der Krauthaufen gelegen hatte, vier Rillen, die ein Quadrat von einem Meter bildeten, in der Lehmschicht undeutlich abzeichneten. Und dieses Quadrat gab an der einen Seite merklich nach, als er mit der Hand stark auf eine Ecke drückte.
Herford stieg ordentlich das Blut zu Kopf vor Erregung über diese Entdeckung. Und er suchte weiter, suchte nach einem Griff, mit dessen Hilfe sich diese mit einer Lehmschicht schlau überzogene Falltür hochheben ließ.
Aber er fand nichts. –
Kurz entschlossen zog er seinen Säbel aus der Scheide und zwängte die Spitze in die eine Ecke der zusammenlaufenden Furchen, die offenbar nicht ganz fest auflag. Nach einiger Mühe wuchtete er dann wirklich den aus starken Brettern bestehenden Deckel soweit hoch, daß er mit den Händen den unteren Rand anpacken konnte.
Und jetzt war er am Ziel! Die Falltür, die nur in einen Holzrahmen lose hineingelegt war, stand seitwärts an die Wand des Kellers gelehnt. Der Strahl der Lampe glitt in das dunkle Loch hinab. Das erste, was Herford erblickte, waren die obersten Sprossen einer Leiter. –
Wieder pfiff er leise durch die Zähne, wieder dachte er an den tüchtigen Pommern. –
Denn daß die Leiter den weiteren Zugang zu einem Stollen des Bergwerks bildete, daran zweifelte er jetzt keinen Augenblick mehr.
Eine Weile überlegte der junge Offizier, ob er es wagen solle, allein in den engen Schacht hinabzusteigen. Aber die Neugier, was er da unten finden würde, war stärker als die kühle Vernunft, die ihm zuraunte, wie böse dieses Wagnis für ihn auslaufen könnte. Schließlich beschwichtigte er seine Bedenken dadurch, daß er seine Pistole aus der Ledertasche zog und sie zwischen die geöffneten Knöpfe seines Waffenrockes steckte, wo er sie sofort griffbereit hatte.
Die erste Leiter endete in einem mit Balken und Brettern ganz bergwerksmäßig abgestürzten Raum, der völlig leer war und aus dem eine zweite Leiter weiter in die Tiefe führte. Noch zwei Mal wechselte Herford die Steigleitern, dann stand er auf der Sohle eines breiten gut zwei Meter hohen Ganges, der, soweit er die Richtung im Kopf hatte, ungefähr parallel mit der Dorfstraße verlief. Die Luft hier war zwar dumpf, aber keineswegs schlecht. Als der Leutnant dann den Boden ableuchtete, bemerkte er in der dicken Schicht von feinem Kohlenstaub die Spuren zahlreicher Füße, ein Beweis, daß noch vor kurzem Menschen diesen Gang benutzt hatten.
Die drückende Stille ringsum, die tiefe Dunkelheit, die nur durch das auf kurze Entfernung wirkende Strahlenbündel der elektrischen Lampe zerrissen wurde, mahnten den jungen Offizier zur Vorsicht. Schrittweise drang er nach Westen vor. Öfters blieb er auch stehen und lauschte. Jetzt vernahm er etwas wie ein leises, in regelmäßigen Zwischenräumen sich wiederholendes Pochen. Bald hatte er die Ursache für dieses Geräusch entdeckt. Wassertropfen waren es, die von den Kalksteinwänden herabtropften. –
Und weiter ging er den dunklen Weg, der immer geradeaus führte. Zuweilen zweigte sich, bald zur Rechten, bald zur Linken, von dem Hauptstollen ein Nebengang ab. Ein paar Mal traf er auch auf größere Hallen, in denen noch Stapel verwitterter Grubenhölzer, ja sogar Feldbahnschienen und kleine, eiserne Wagen, Hunde genannt, lagen.
Dann stockte plötzlich sein Fuß. – Und blitzschnell hatte er den Einschalthebel seiner Lampe zurückgedreht. Finstere Nacht war jetzt um ihn. Er lauschte angestrengt. Stimmen hörte er, aus weiter Ferne zwar, aber es blieben menschliche Laute. Und nur heimtückische Feinde konnten es sein, denen er hier begegnete. Also zurück dorthin, woher er gekommen war. Aber ohne Licht durfte er nicht hoffen sich zurücktasten zu können. So bedeckte er denn die dicke Glaslinse mit der flachen Hand und ließ nur einen dünnen Strahl zwischen den Fingern hervor auf den Boden fallen. Eilig schritt er dahin, oft über Geröll stolpernd.
Nun mußte er ungefähr an jener Stelle des Ganges angelangt sein, wo die Leiter durch den Schacht in die Decke ihn wieder an die Oberfläche bringen sollte. Er suchte und suchte – nichts, nichts. Und dann sah er über sich die gähnende Öffnung des Schachtes, sah noch die Eindrücke, die die schwere Leiter mit ihren Enden in dem mit Schutt und Staub bedeckten Boden zurückgelassen hatte. Aber die Leiter selbst war verschwunden.
Ein eisiges Gefühl des Schreckens kroch ihm zum Herzen. Jetzt ein höhnisches Kichern, das aus dem Schacht hervorzuquellen schien; ein paar Worte, die er nicht verstand, folgten – dem Tone nach eine Verwünschung. –
Stille ringsum. –
Das Bergwerk von Bysor hatte das deutsche Opfer belgischer Hinterlist verschluckt wie ein unheimlicher, gefräßiger Drache.
* * *
Stunden waren vergangen. Oben im Dorf Bysor suchte man den verschwundenen Leutnant. Der gemütliche Stabsarzt drohte dem Maire[2], er würde alle männlichen Einwohner erschießen lassen, wenn der Offizier nicht bis zum Abend gefunden würde.
Der Dorfbeherrscher, ein kleines, vertrocknetes Kerlchen, zuckte die Achseln. Aber in seinen listigen Augen lag hämischer Triumph. Und geduldig ließ er sich als Geisel in den Keller der Schule einsperren. Seine Antworten blieben sich stets gleich: er wisse nichts, sei unschuldig. –
Das beteuerten alle abgefaßten Franktireurs, selbst wenn sie mit den Waffen in der Hand ergriffen wurden.
Fünf Stunden hatte man gesucht, im ganzen Dorf das Unterste zu oberst gekehrt. Leutnant Herford war nirgends zu entdecken.
Auch der Kartoffelkeller hinter dem Stall war durchsucht worden. Denn den wollte ja der Offizier, wie Mackrot auszusagen wußte, nochmals sich ansehen gehen. Nichts fand man darin als hinten etwas verstreutes Kartoffelkraut.
Wo Herford hingeraten sein könne, blieb ein Rätsel. Zuerst hatte man ihn am Mittagstisch vermißt. Das fiel noch nicht weiter auf. Als dann aber Stunde um Stunde verrann, ohne daß er sich sehen ließ, packte alle bange Sorge. Man wußte ja, welch heimtückische Feinde ringsum lauerten. Die im Kreis um das Dorf aufgestellten Posten wurden befragt, ob der Leutnant etwa über die Linie der Wachen hinausgegangen sei. Niemand hatte ihn bemerkt. Und jetzt am hellen Tag hätte er unmöglich ungesehen das Dorf verlassen können. Außerdem – was sollte er auch allein draußen in den dichten, die Ebene von Bysor einschließenden Wäldern?!
So verstrich auch der Nachmittag. Immer wieder durchstöberten die deutschen Soldaten die Gehöfte nach ihrem Führer. Irgendwo mußte er ja sein – irgendwo. Eine nervöse Unruhe hatte die Schutzwache, die Ärzte und das Pflegepersonal erfaßt. Das Gefühl der völligen Machtlosigkeit gegenüber der Tücke der Feinde wurde stärker und stärker. –
Fünf Uhr war’s. Die Sonne schien gerade noch mit ihren letzten Strahlen durch die Gipfel der Wälder im Westen. Dann kehrte Unteroffizier Kulmey mit der Kavalleriepatrouille zurück, die noch andere Befehle nach dem nördlich gelegenen Städtchen Saumaire überbracht hatte und nun ins Quartier des Divisionßtabes heimreiten wollte. Kulmey hatte sich den Dragonern angeschlossen gehabt, da er für sein Leben gern einen Gaul zwischen den Schenkeln hatte. Und Herford hatte ihm ja die Erlaubnis zu diesem Ausflug ohne weiteres gegeben.
Nun erzählte ihm Mackrot das inzwischen Vorgefallene. Und als er alles berichtet hatte, brummte der Landsturmunteroffizier vor sich hin:
„Wäre schade um den Leutnant. War ein besonders freundlicher Vorgesetzter. – Hm – also in dem Kartoffelkeller da draußen hinter dem vierten Gehöft von der Kirche an gerechnet, wollte er Nachsuche halten? – So, so! Und nachher hat in niemand mehr gesehen?!“
„So ist es,“ bestätigte Mackrot traurig. Denn auch er hatte ebenso wie die meisten anderen Kameraden wenig Hoffnung, daß man den Offizier noch lebend auffinden würde – falls man ihn eben überhaupt fand.
Kulmey tat ein paar Züge aus seiner kurzen Tabakspfeife und fragte dann wieder:
„Nun – und was hat der Feldwebel als Vertreter des Leutnants Herford angeordnet, um Licht in die Sache zu bringen?“
Mackrot erwiderte eifrig: „Der Feldwebel mußte sich heute Vormittag wegen seines Rheumas krank melden und wurde sofort ins Bett gesteckt. Da hat denn Herr Stabsarzt Merker alles Nötige befohlen. Und es ist auch nichts verabsäumt worden, nichts, um unseres Leutnants wieder habhaft zu werden. Ich sagte ja schon, daß der Maire als Geisel eingesteckt –“
„Schon gut,“ unterbrach Kulmey den Fahnenjunker kurz. „Der Herr Stabsarzt mag ja in seinem Beruf ein sehr tüchtiger Herr sein. Aber hier – hier handelt es sich um eine rein militärische Angelegenheit. Und ich werde jetzt den Befehl über die Schutzwache als rangältester Unteroffizier übernehmen. Da wollen wir doch mal sehen, ob wir nicht mehr ausrichten. Sagen Sie das jedenfalls den Leuten an, verstanden. Ich gehe zum Herrn Stabsarzt und will dem mitteilen, wie ich die Sache zu fördern gedenke.“ –
Doktor Merker war froh, als er die Verantwortung durch das Eingreifen des offenbar recht energischen Unteroffiziers los wurde. –
„Selbstverständlich haben Sie völlig freie Hand hinsichtlich Ihrer Entschließungen,“ sagte er in seiner gemütlichen Art zu Kulmey. „Eigentlich darf ich der Schutzwache ja auch gar nichts befehlen. Also, mein Lieber, versuchen Sie Ihr Bestes –“
Die Einwohner von Bysor merkten schon eine Viertelstunde später, daß jetzt ein anderer Wind hier wehte. Denn der Landsturmoffizier ließ alle bewohnten Häuser gleichzeitig von kleinen Trupps umstellen und sämtliche Männer des Dorfes verhaften, die dann mit dem bereits als Geisel zurückbehaltenen Dorfoberhaupt in einen geräumigen Keller des Schulhauses, der leicht zu bewachen war, eingesperrt wurden. Die Weiber und Kinder aber, etwa einhundertundfünfzig an der Zahl, mußten mit den notwendigen Betten und Kleidern ausgerüstet in die Kirche übersiedeln, so daß die Deutschen nunmehr sicher waren, daß von Seiten der Bewohner Bysors die Franktireurs in der Nachbarschaft keinerlei Nachricht mehr erhalten konnten.
Sowohl die Gefangennahme der Männer wie auch der Umzug des anderen Teiles der Bevölkerung ging natürlich nicht ohne erregte Auftritte, Jammer und Wehklagen ab. Aber Kulmey ließ mit sich nicht spaßen. Als einer der jüngeren Burschen ihn mit der Faust zu bedrohen wagte und ihn mit wüsten Schimpfreden überschüttete, gab der Unteroffizier ein paar Leuten einen Wink, die den aufsässigen Menschen dann auch sofort fesselten und gegen die Mauer des nächsten Hauses lehnten. Und wie sich nun noch sechs Gewehrmündungen gegen die Brust des jählings Erblaßten und vor Todesangst wie Espenlaub zitternden Burschen richteten, – der Befehl zum Feuern folgte allerdings nicht, weil es nur ein Einschüchterungsmittel sein sollte, da war’s mit der Widersetzlichkeit mit einem Mal vorbei.
Kulmey aber lachte ingrimmig hinter den unter Bedeckung davonschleichenden Kerlen her. „Mit der deutschen Gutmütigkeit ist’s hier jetzt aus,“ knurrte er. „Und den Leutnant werden wir auch noch finden. Habt ihr Schufte ihm aber auch nur ein Haar gekrümmt, so sollt ihr alle baumeln, so wahr ich Johann Kulmey heiße.“ –
Nachdem man dann die Gefangenen und auch die Weiber und Kinder untergebracht und beiden Gruppen mitgeteilt hatte, daß jeder, der einen Fluchtversuch wage, erschossen werden würde, suchte der Landsturmunteroffizier sich aus den Mannschaften zwei Kriegsfreiwillige heraus, die ihm schon als besonders eifrig aufgefallen waren.
Ausgerüstet mit elektrischen Taschenlampen, die die Ärzte gern zur Verfügung stellten, begaben die drei sich nach dem Kartoffelkeller hin, der Kulmey deswegen recht verdächtig vorkam, weil Leutnant Herford dort zum letzten Mal gesehen worden war.
Unterwegs erzählte der brave Pommer den Begleitern von seiner Vermutung hinsichtlich einer Benutzung der Gänge des Bergwerks durch die Franktireurs, eine Ansicht, der die Kriegsfreiwilligen sofort beipflichteten, da ihnen die Gründe, die der Unteroffizier für seinen Verdacht nannte, durchaus einleuchtend erschienen.
Und wieder zehn Minuten später – inzwischen war es bereits völlig dunkel geworden – ließ Kulmey die Tür des als Gefängnis dienenden Kellers öffnen und nahm den Maire mit nach oben in dasselbe Zimmer, in dem der Stabsarzt mit Herford damals gleich nach der Ankunft der Abteilung in Bysor beieinander gesessen hatten.
Zwei Petroleumlampen beschienenen das runzlige Antlitz des Dorfoberhauptes hell genug, um jede Veränderung des Gesichtsausdrucks sofort wahrnehmen zu können. Mackrot spielte den Dolmetscher, der Kulmeys Worte ins Französische übertrug.
„Besitzen Sie ein paar Grubenlampen?“ mußte der Fahnenjunker den Maire fragen, dessen Augen deutlich eine ungewisse Angst ausdrückten.
Mackrot, dem das französische Wort für Grubenlampen nicht gegenwärtig war, umschrieb den Ausdruck sehr geschickt durch ‚Laternen, wie sie in Bergwerken gebraucht werden’.
Bei dem Wort ‚Bergwerk’ quollen dem alten, listigen Fuchs von Maire die Augen förmlich aus dem Schädel heraus. Sein Blick wurde stier, sein Gesicht nahm eine aschgraue Färbung an, und wie ein Zittern ging’s durch seinen Körper. So bot er ein Bild des höchsten Entsetzens.
Kulmey lachte wieder ingrimmig in sich hinein.
„Ja, Schurke, wir haben den geheimen Eingang entdeckt! Schlottere nur, Kanaille, mit all deinen verd… Gliedmaßen. Sicherlich steckt unser Leutnant da unten! – Grubenlampen muß ich also haben, sofort. Und beschafft der Kerl sie mir nicht in fünf Minuten, so lasse ich ihn erschießen. Sagen Sie ihm das, Mackrot!“
Die Drohung half. Von zwei Mann begleitet, trottete der Maire nach seinem Haus hin und holte hinter einer losen Kachel eines riesigen Ofens ein ganzes halbes Dutzend tadellos in Ordnung befindlicher Grubenlampen hervor.
„So,“ meinte Kulmey, als er sie in Empfang nahm, „nun können wir den Abstieg beginnen. – Ob Sie mit dürfen, Mackrot? – Nein, das geht nicht. Sie sind mir während meiner Abwesenheit für die Gefangenen verantwortlich. – Auf Wiedersehen.“
Und dann begaben sich der Landsturmunteroffizier und die beiden Kriegsfreiwilligen Weber und Warnak – es waren Studenten, der eine Jurist, der andere Chemiker – nach dem Kartoffelkeller zurück, wo sie vorhin bei der sorgfältigen Durchsuchung des Raumes sehr bald die so klug verborgene Falltür entdeckt hatten. Mit umgehängten Gewehren, die brennenden Grubenlampen mit einer Hand haltend, kletterten sie die Leiter hinab.
Eine halbe Stunde verstrich. Noch immer suchten die drei Deutschen unten in den Gängen des Bergwerks nach ihrem verschwundenen Leutnant, wobei sie sehr aufmerksam vorgehen mußten, um sich nicht in den weitverzweigten Stollen zu verirren. Unwillkürlich hatten sie ebenfalls die Richtung nach Westen eingeschlagen, geradeso wie dies auch der junge Offizier getan hatte. Jetzt machten sie auf Kulmeys Vorschlag hin kehrt, um dem Hauptgang auch einmal nach Osten hin zu verfolgen. Und wirklich, kaum waren sie nach dieser Richtung etwa fünfzig Schritt über die aus dem Schacht herausragende Leiter vorgedrungen, als sie zwischen Gerölltrümmern halb verborgen eine elektrische Taschenlampe mit dunkelbraunem Lederbezug fanden, die die beiden Studenten sofort als ihrem Leutnant gehörig wiedererkannten. Und hier entdeckten sie in der Staubschicht auf dem Boden des breiten Ganges ganz frische Spuren von mehreren Personen, kamen dann auch an eine Stelle, wo der schwarzgrauen Staub wie in breiter Bahn förmlich weggefegt war.
Nachdenklich betrachtete Kulmey sich diese fast drei Meter lange staubfreie Fläche. Ganz tief hielt er seine Grubenlampe, bückte sich jetzt noch mehr und tippte mit dem Finger auf ein flaches Kohlenstück, auf dem er einen verschwommenen Fleck von ganz besonderer Farbe bemerkt hatte.
Schweigend hielt er seinen Begleiter den Finger hin, dessen Spitze sich rötlich gefärbt hatte.
„Blut,“ entfuhr es dem Chemiker entsetzt.
„Unser armer Leutnant!“ meinte Kulmey mit verbissener Wut. – Sie verstanden sich alle drei nur zu gut.
Weiter ging’s den Spuren nach in der Richtung auf Osten zu. Mit einem Mal bog die deutlich sichtbare Fährte nach links in einen engeren Seitenstollen ab. Noch dreißig Schritt, dann hatten sie ihren Offizier gefunden.
Auf dem harten Boden lag er mit starren, gebrochenen Augen.
Der Landsturmoffizier faßte nach der Hand des Toten. Sie war bereits kalt und steif.
Traurig standen die drei vor der Leiche. Und dann sagte Kulmey leise: „Du sollst gerächt werden, Kamerad!“ Wie ein Schwur klangen diese Worte.
Warnak, der Chemiker, knöpfte dem so heimtückisch beseitigten Leutnant die Uniform auf. –
„Erstochen – mitten ins Herz. Hier ist ja auch der Schnitt im Stoff des Rockes zu sehen.“
Nach kurzer Beratung kehrten sie nun in den Kartoffelkeller zurück, schlossen die Falltür und schichteten auch das Kraut wieder darüber.
Vor der Schule stießen sie auf den Fahnenjunker, der sie schon erwartet zu haben schien. Mackrot erzählte, daß vor einer Viertelstunde ein Belgier namens Passarette von einem der Leute der Wache zu ihm gebracht worden sei. Dieser Passarette sei derselbe Pachthofbesitzer gewesen, von dem man die Wagen und die Pferde auf dem Marsch nach Bysor requiriert habe. Der Mann wäre im Besitz eines vom Etappenkommando ausgestellten Passierscheins gewesen, damit er sich seine Gäule und die beiden Wagen zurückholen könne. Als er dann aber durch eine zufällige Bemerkung des Stabsarztes erfahren habe, daß sämtliche Dorfbewohner vorläufig eingesperrt worden seien, bis das Verschwinden des Offiziers sich aufgeklärt habe, da sei er sofort wieder davongeritten, indem er angab, er würde am nächsten Tag die Wagen und die Pferde mitnehmen. Jetzt sei es schon zu dunkel. –
„Ich fürchte nun, daß ich eine Dummheit gemacht habe, als ich den Mann ruhig fortließ,“ meinte der Fahnenjunker mit ehrlicher Betrübnis zum Schluß. „Denn es wäre doch leicht möglich, daß dieser Passarette uns nun eine Bande Franktireurs auf den Hals schickt, um die männlichen Bewohner zu befreien.“
Aber Kulmey klopfte ihm, anstatt in zu tadeln, beinahe vergnügt auf die Schulter. „Sie haben recht, Mackrot! Die Halunken werden sicher in dieser Nacht wieder einen Überfall wagen. Aber sie sollen nur kommen. Jetzt kennen wir ja die Art und Weise, wie sie es fertigbringen, hier so plötzlich mitten im Dorf auftauchen zu können. Jedenfalls war es ein sehr glücklicher Gedanke von mir, die Dorfbevölkerung komplett hinter Schloß und Riegel zu setzen, da den Franktireurs der Umgebung nun nicht verraten worden sein kann, daß wir den Zugang zu dem Bergwerk gefunden haben. Vielleicht gelingt es uns jetzt, die ganze Bande auf einmal festzusetzen.“
Bei dem Kriegsrat, der dann gehalten wurde, fand Kulmeys Plan auch die volle Billigung des Stabsarztes, den man von dem fraglos vorstehenden Angriff verständigt hatte. So wurde denn den Außenwachen für die Nacht größte Aufmerksamkeit eingeschärft, sonst aber hinsichtlich ihrer Aufstellung nichts geändert, um die Franktireurs nicht argwöhnisch zu machen. Gegen neun Uhr abends begaben sich dann die beiden Kriegsfreiwilligen Weber und Warnak mit noch zwei Mann in aller Stille durch den Schacht in das Bergwerk hinab, während Kulmey den Rest seiner Leute, einige dreißig Mann, in weitem Kreis um den Kartoffelkeller gut versteckt verteilte. Auch die Ärzte und die dienstfreien Krankenpfleger nahmen an diesem Kesseltreiben, das wenn nicht gerade unvorhergesehene Zwischenfälle eintraten, notwendig glücken mußte, teil.
Kurtz nach Mitternacht war’s, als der Mann, den Kulmey im Kartoffelkeller an der geöffneten Falltür postiert hatte, unten im Schacht drei leise Pfiffe hörte. Das war das mit den Kriegsfreiwilligen vereinbarte Signal, wodurch das Anrücken der Franktireurs gemeldet werden sollte. Sofort wurde nun die Falltür in den Rahmen gelegt, und der Krauthaufen darüber geschichtet. Der Posten aber verließ darauf den Keller und gesellte sich zu seinen Kameraden.
Wenige Minuten später tauchten dann auch schon in dem ungewissen Dämmerlicht der sternenklaren Nacht vor dem Kellereingang eine Anzahl mit Gewehren bewaffnete Gestalten auf, die sich zunächst dicht nebeneinander auf dem Feld niederlegten. Immer neue Franktireurs kamen zum Vorschein. Lautlos glitten sie am Boden hin, duckten sich nieder und schienen nun auf weitere Befehle ihres Anführers zu warten.
Kulmey, der etwa dreißig Meter von dem Kellereingang entfernt neben dem Stabsarzt hinter einer niedrigen, aus Felssteinen aufgeschichteten Gartenmauer lag, bemerkte jetzt, daß sechs Franktireurs in Richtung auf die Dorfstraße davonkochen, offenbar um erst einmal zu rekognoszieren.
Da hielt er die Zeit für gekommen. Mit einem donnernden „Halt – wer da?“ gab er das verabredete Zeichen. Als nun auch der zweite Anruf unbeantwortet blieb, vielmehr die Franktireurs Miene machten sich nach allen Seiten zu verteilen, feuerte Kulmey den ersten Schuß ab, dem unmittelbar eine unregelmäßige Salve folgte, die unter den heimtückischen Feinden gehörig aufräumte.
Schreiend und fluchend drängten die Franktireurs, die sofort merkten, daß sie völlig umzingelt waren, nach dem Kellereingang zurück. Hier aber entstand, da jeder zuerst seine eigene Haut in Sicherheit zu bringen suchte, ein Menschenknäuel, der den Deutschen ein vorzügliches Ziel bot. Kugel auf Kugel fuhr in den Haufen hinein. Das Strafgericht, das sich hier abspielte, war furchtbar.
Dann hatten endlich die unverwundet Gebliebenen sich in den schützenden Keller gerettet. In wilder Hast stiegen die ersten die Leiter hinab. Da – ein neues Stutzen. Die beiden nach unten weiterführenden Leitern fehlten. Und aus der Tiefe zu alledem noch eine helle Stimme, die den völlig kopflos gewordenen Franktireurs irgend etwas zurief und ihnen zeigte, daß ihnen auch der Rückweg durch das Bergwerk abgeschnitten sei.
Kulmey hatte indessen die bereit gehaltenen, mit Öl und Petroleum getränkten Strohbündel mit Stangen bis dicht vor den Eingang des Kartoffelkellers wälzen lassen. Gleich darauf schlug eine züngelnde Flamme hoch, und der leichte Wind trieb den erstickenden Qualm gerade auf die Kellerpforte zu.
Wenige Minuten nur brauchten die Deutschen zu warten. Dann ergaben sich die Franktireurs. Einer nach dem anderen kam unbewaffnet zum Vorschein und wurde sofort abgeführt. Fünfundzwanzig Unverletzte, vierzehn Verwundete und elf Tote fielen den Soldaten in die Hände. Es war so gekommen, wie der wackere Pommer gehofft hatte: Nicht einer von der Bande entkam. –
Am folgenden Tag wurde Leutnant Herford feierlich beerdigt. Die Franktireurs, auch die gefangenen Dorfbewohner von Bysor, brachte man nach dem Städtchen S., wo sich das Generalkommando des Armeekorps befand. Vor dem Kriegsgericht gelang es dann auch, die Mörder des jungen Offiziers zu überführen, da einige der Belgier, um ihr Leben zu retten, die Verräter spielten.
Die Seele der ganzen Franktireursbewegung in diesem Bezirk war der Pachthofbesitzer Passarette gewesen, dem man leider nichts mehr anhaben konnte, da er sehr bald an den Folgen des vor dem Kellereingang erhaltenen Lungenschusses starb. Er hatte sich gerade an jenem Vormittag, als Leutnant Herford die sämtliche Häuser in Bysor durchsuchen ließ, bei seinem Freund, dem Maire, aufgehalten, war aber noch zur rechten Zeit mit seinen zwei Begleitern durch den geheimen Schacht in das Bergwerk entkommen, wo er warten wollte, bis die Deutschen die Nachsuche beendet hätten. Der junge Offizier aber war von dem Maire beobachtet worden, wie er in den Keller verschwand. Und der Maire hatte dann mit Hilfe seines Schwiegersohnes die eine Leiter hochgezogen und Herford so den drei Franktireurs in die Hände gespielt, die ihn, nachdem er sich ihnen durch den Lichtschein seiner Lampe verraten hatte, überwältigten und durch einen Dolchstoß stumm machten. Angeblich sollte Passarette ihn ermordet haben.
Vom Kriegsgericht wurden außer dem Maire noch zwölf weitere Franktireurs zum Tode, die anderen aber sämtlich zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt. Diese strenge, in diesem Fall aber durchaus gerechtfertigte Justiz bewirkte, daß in dem Grenzgebiet um Bysor herum für längere Zeit allen Belgiern die Lust verging, es weiter mit dem Kleinkrieg gegen die deutschen Eroberer zu versuchen.
Johann Kulmey aber durfte schon drei Tage nach dem so gelungenen Kesseltreiben auf die Franktireurs den Offiziersäbel anlegen. Er war in Anerkennung der von ihm bewiesenen außerordentlichen Umsicht zum Vizefeldwebel befördert worden. Und wieder eine Woche später trafen dann in Bysor vier Eiserne Kreuze ein, die für den Stabsarzt, den Vizefeldwebel Kulmey und die beiden kriegsfreiwilligen Weber und Warnak bestimmt waren.
Anmerkungen: