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Die Seemine

 

 

Das Eiserne Kreuz

 

Die Seemine

ein Abenteuer aus den Kämpfen an der belgischen Küste

 

Von W. Belka.

 

„Alte Geschichten – diese besonderen Aufträge haben es meist ‚in sich’, wie man zu sagen pflegt!“ knurrte Unteroffizier Karl Baluweit, indem er das Fernglas einstellte und eifrig das Vorgelände, über dem bereits die Dämmerung des heraufziehenden Abends lag, absuchte.

Leutnant Hermstadt hatte sich neben seinem Untergebenen auf die Grasnarbe des Dammes, der die mit einzelnen Strauchwerkinseln bedeckten weiten Wiesen in Richtung nach Norden zu durchschnitt, lang hingestreckt und suchte sich auf der Karte zurechtzufinden, wobei er die in der Ferne hie und da sichtbaren Kirchtürme mit den in die Karte eingezeichneten Ortschaften ihrer Lage nach verglich.

„Das da vor uns könnte das Dorf Blanscheern sein,“ meinte er jetzt, ohne Baluweits ärgerlichen Zwischenruf irgendwie zu beachten.

„Könnte – könnte!“ brummte der Unteroffizier. „Damit kommen wir nicht weiter, Herr Leutnant. Eine Stunde noch, dann ist es stockfinster. Und eigentlich sollten wir uns längst auf dem Rückweg nach Brügge befinden. Ich sag’s ja: dieser ganze Befehl ist für uns die richtige Mausefalle.“

Der Pionieroffizier, ein noch jugendlicher, blonder Herr mit einem liebenswürdigen und offenen Gesicht, nickte verstimmt. –

Am frühen Morgen war er mit vierzehn Mann und einem Unteroffizier von Brügge aufgebrochen, um die große Kanalbrücke bei Bleharies zu sprengen. Hoffte doch das Oberkommando, auf diese Weise die Reste der Besatzung von Antwerpen, die sich noch in dem nördlichen Zipfel Belgiens bei West-Capelle aufhielten, von der weiteren Flucht nach der französischen Grenze hin abzuschneiden und auf holländisches Gebiet hinüberzudrängen. Dieser Auftrag hatte jedoch weit größere Schwierigkeiten, als dies von der höchsten Kommandobehörde vorausgesehen werden konnte. Zunächst zeigte es sich sehr bald, daß belgischerseits alle die kleinen Übergänge über die zahlreichen Kanäle vernichtet worden waren, so daß die deutsche Abteilung sich immer wieder zu Umwegen gezwungen sah, daß die Entfernung bis Bleharies, das man bis Mittag zu erreichen gedacht hatte, verdoppelten, ja fast verdreifachten. Dann aber trieben sich überall noch kleine versprengte Trupps des Feindes umher, mit denen Leutnant Hermstadt sich regelmäßig erst eine Weile herumschießen mußte, bevor sie das Feld räumten. Bei diesen Plänkeleien war nicht nur viel Zeit draufgegangen, sondern auch die Zahl der Männer durch ein paar unglückliche Zufallstreffer verringert worden. Zwei Mann hatten Kopfschüsse erhalten und waren sofort tot umgesunken, zwei andere aber erlitten durch Querschläger so böse Beinverletzungen, daß man sie auf schnell hergestellten Tragbahren mitnehmen mußte, nachdem die Gefallenen in aller Eile bestattet worden waren.

Dieser traurige Zwischenfall hatte sich nachmittags gegen zwei Uhr ereignete. Dann war man weiter vorgedrungen, hatte abermals allerhand Umwege gemacht und doch nicht Bleharies zu erreichen vermochte, obwohl man die Kanalbrücke schon deutlich durch das Glas erkennen konnte. Starke belgische Abteilungen, mindestens zwei bis drei Kompagnien, hatten den Deutschen den Weg versperrt und sie zu einer neuen Umgehung gezwungen, obwohl sie dabei immer weiter nach Osten geraten waren, ohne einen Übergang über den ein Einhalten der beabsichtigten Richtung vereitelnden Kanal finden zu können.

Nun lag man in einem Gesträuch am Damm dieses verd… Kanals, und der Leutnant und der Unteroffizier beratschlagten eben, wie man von hier aus nach Bleharies vordringen könnte. Denn unverrichteter Sache umkehren, das durfte auf keinen Fall geschehen! Der Gedanke war noch nicht einmal mit einem einzigen Wort erwogen worden.

Leutnant Hermstadt, der im Zivilberuf Regierungsbaumeister des Hochbaufaches war, wandte sich jetzt an Baluweit, der abermals nach Norden zu mit seinem Fernglas ausgespäht hatte.

„Mausefalle! – So ganz unrecht haben Sie nicht,“ sagte er leise, damit die hinter ihnen lagernden Männer sie nicht verstehen sollten. „Jedenfalls können wir unmöglich mit unseren beiden Verwundeten die Nacht im Freien verbringen. Was halten Sie davon, Baluweit, wenn wir zunächst mal weiter auf diesem Damen vordringen würden und ein Gehöft zu erreichen suchten, wo wir dann die Verletzten im Schutze von drei oder vier Mann zurücklassen, mit dem Rest aber unsere Aufgabe lösen könnten? – Na, raus mit Ihrer Ansicht! Irgend etwas muß doch geschehen!“

„Ehrlich gesagt, Herr Leutnant, wenn wir die Verwundeten nicht mitnehmen, dann ist es schon besser, wir schießen sie gleich ganz tot! Was helfen bei der hinterlistigen Bevölkerung ein paar Mann als Schutzwache? Nichts! Man würde sie alle meuchlings ermorden – alle! Ich habe diese belgische Zivilistenbande schon genügend kennen gelernt. In Routiers bei Mecheln kam ich gerade mit einer Patrouille dazu, als –“

„Ich weiß, das haben Sie mir schon erzählt,“ wehrte Hermstadt ab. „Ungeheuer sind es, diese verhetzten Belgier, Teufel, die kaum wert erscheinen, daß man eine Kugel an sie verschwendet. – Doch, geben Sie mir einen anderen Rat. Ich bin mit meiner Weisheit zu Ende.“

„Hm – vielleicht treiben wir irgendwo einen Wagen für unsere verletzten Leute auf,“ meinte Baluweit, der trotz seiner dreiundzwanzig Jahre einer der tüchtigsten aktiven Unteroffiziere der 4. Pionierkompagnie war. „Vielleicht ist es am schlausten,“ setzte er hinzu, „wenn wir hier die Dunkelheit abwarten und dann eine Patrouille in das Nest da vor uns schicken, damit wir uns überzeugen, ob die Luft rein ist. Herr Leutnant können mir drei Mann mitgeben, das genügt. In derlei Dingen habe ich Erfahrung.“

Hermstadt war einverstanden. Da man unter diesen Umständen noch genügend Zeit hatte, wenigstens ein bis zwei Stunden ‚auf Vorrat’ zu schlafen, so ließ der Offizier sämtliche Leute sich hinlegen, und bald bewies auch das unmelodischen Konzert der verschiedensten Schnarchtöne, daß diese Erlaubnis den Mannschaften nur zu angenehm gewesen war. Hermstadt und der Unteroffizier mühten sich jedoch zunächst um die Verwundeten, denen sie die Notverbände nachsahen und zu essen und zu trinken reichten. Dann begab sich Baluweit ‚auf Umschau’, wie er sich ausdrückte.

„Schlafen kann ich doch nicht, Herr Leutnant,“ meinte er. „Und wenn Herr Leutnant wirklich wach bleiben wollen, so genügt das ja zu unserem Schutz.“

Inzwischen war es bereits, hauptsächlich infolge des von den Wiesen aufsteigenden Nebels, derart dunkel geworden, daß man auf zehn Schritt bereits so gut wie nichts mehr erkennen konnte. Baluweit kletterte also über den gut drei Meter hohen und oben etwa ebenso breiten Damm und schritt am Rande des Kanals nach Norden zu. Hier lief ein fest ausgetretener Pfad, der mit kleinen Steinen belegt war, entlang. Gelbgrau, regungslos lag das Wasser des einige vier Meter breiten Kanals da. Kein Windzug bewegte die kühle, feuchte Abendluft, in der sich der Nebel in immer dichteren Schwaden zusammenballte.

Rüstig schritt der schlanke, kräftige Unteroffizier dahin. Seinen Tornister hatte er am Lagerplatz zurückgelassen, das Gewehr hing am Riemen über der Schulter. Sein Holzpfeifchen qualmte, und leise knirschten die Steine unter den genagelten Sohlen seiner Stiefel.

Eine reichliche Viertelstunde verging. Seiner Berechnung nach mußte Baluweit dem Dorf, auf das der Kanal zulief, schon recht nahe gekommen sein. Vorsichtiger wurde er jetzt, blieb bisweilen stehen und lauschte. Doch nirgends ein verdächtiger Laut. Nur ganz in der Ferne bellten ein paar Hunde.

Da – ein ungeahntes Hindernis, ein zweiter, von Osten im spitzen Winkel den Hauptkanal schneidender Nebenarm versperrte den Weg.

Baluweit brummelte eine ärgerliche Verwünschung vor sich hin. Die Holzbrücke war auch hier zerstört, die die auf der Höhe des Dammes entlanglaufende Straße über diesen Wassergraben geleitet hatte. Also auch hier wieder dasselbe Spiel, das man heute schon so oft erlebt hatte. Ein ganz verwünschtes Land, dieses nördliche Belgien mit den vielen Kanälen und Gräben!

Der Unteroffizier schritt jetzt ein Stück am Ufer des Nebenarmes nach Osten zu. Vielleicht fand er anderswo einen Übergang. Gewiß – das Durchschwimmen dieses Grabens wäre eine Kleinigkeit gewesen. Aber dann mit nassen Kleidern in dieser kalten Nacht herumlaufen! Da war ein Gelenkrheumatismus oder sonst eine böse Erkrankung sicher.

Schon wollte er wieder kehrt machen, als er drüben an dem keine vier Meter entfernten anderen Ufer etwas wie einen plumpen großen Holzkasten liegen sah. Halb auf dem Land lag das flache Boot, und ein ganzer Haufen Heu befand sich noch darin, ein Beweis, daß die Besitzer dieses zum Verkehr auf den Kanälen bestimmte Fahrzeug wohl in aller Eile zurückgelassen hatten.

Baluweit schaute nachdenklich zu dem plumpen Kasten hinüber. Ja, wenn er noch zu benutzen gewesen wäre. Nach so einem Boot hatten sie ja schon den ganzen Tag Ausschau gehalten. Aber wie die Brücken, so hatten die Belgier auch diese Fahrzeuge sämtlich zerstört, um sie ja nicht dem verhaßten Feind überlassen zu müssen.

Und dann begann er schon sich auszuziehen, legte seine Kleider und das Unterzeug sauber neben das Gewehr und das Koppel in das Gras.

Erst streckte er prüfend den einen Fuß in das Wasser. Ordentlich erschreckt zog er ihn zurück, so eiskalt war es. Aber was half’s? Wenn er hinüber wollte, so durfte ihn das nicht schrecken. Also – hinein in das kalte Wasser. Der Atem, der Herzschlag stockte ihm, so eisig war es. Mit ein paar langen Stößen war er drüben. Im Nu hatte er das Boot besichtigt. Ein Glück – es war vollkommen unversehrt und offenbar ganz neu. Zwei Stoßstangen lagen auch daneben im Gras.

Ein ordentlicher Ruck, und der flache Kahn schwamm. Nun hatte er ihn am anderen Ufer. Bebend vor Frost schlüpfte er wieder in seine Kleider, nahm dann seine Feldflasche zur Hand und tat ein paar lange Züge.

Für ihn als Pionier war es ein leichtes, das plumpe, gut zwei Meter breite Fahrzeug mit Hilfe einer der Stangen in den Hauptkanal und von da weiter bis zu ihrem Lagerplatz zu bringen.

Leutnant Hermstadt, der sich, in seinen Umhang gehüllt, oben auf den Damm gesetzt hatte, hörte schon von weitem das plätschernde Geräusch, mit dem das Wasser an den Wänden des Bootes entlangglitt, und wollte schon argwöhnisch ein paar seiner Leute wecken, als er in dem plumpen Nachen eine einzelne Gestalt erkannte und gleich darauf Baluweits Stimme leise herüberrief:

„Hier Unteroffizier Baluweit! Gut Freund!“

Neugierig stieg Hermstadt jetzt den Damm hinab.

„Wo haben Sie denn den großen Kahn erbeutet? Das ist ja ein außerordentlich günstiger Zufall! Den können wir gerade brauchen!“

Baluweit lachte vergnügt. „Darum hab’ ich ihn ja auch mitgebracht. Nun können wir zusehen, ob wir nicht zu Wasser nach Bleharies gelangen können. Meiner Schätzung nach müßte es gehen.“ –

Eine Viertelstunde später waren die Verwundeten glücklich auf dem Heulager in der Mitte des Bootes gebettet, und die Reise konnte losgehen.

Da der Kahn ein Steuer nicht besaß, so mußte man ihn mit Hilfe der Stoßstangen lenken, was für die geübten Hände der Pioniere auch keinerlei Schwierigkeiten bot. Man kam ziemlich rasch vorran.

Bald war das nächste Dorf – nach Hermstadts Ansicht mußte es Blanscheern sein – erreicht. Kaum tauchten die ersten Häuser auf, als Baluweit selbst eine der Stangen ergriff.

„Wir dürfen weder gehört noch gesehen werden,“ flüsterte er. „Ganz langsam also voran –“

Die beiden Uferdämme, die bisher die Aussicht versperrt hatten, wurden flacher und flacher und verschwanden bald ganz. Ein leichter Wind, der vor kurzem aufgekommen war, trieb den Nebel nach Süden zu davon, so daß nur noch einzelne Schwaden zwischen den Sträuchern an den Wiesenrändern und den niedrigen Pappeln, die hie und da an den Ufern der breiteren Gräben standen, hängen blieben. Trotzdem war von der Umgebung nicht viel zu sehen. Fünfzig Meter nach rechts und links bereits verschwamm alles in ein graues Nichts. Nur nach vorwärts sah man die undeutlichen Umrisse der zerstreut liegenden Anwesen, sah man hell gestrichene Hauswände und auch den Dorfkirchturm wie einen Strich sich vom Himmel abheben.

Jetzt traten die Häuser immer dichter zusammen. Noch vorsichtiger handhabte Baluweit die Stoßstange. Die zweite hatte der Gefreite Sandler in den nervigen Fäusten, während Leutnant Hermstadt als einziger außerdem noch aufrecht im Boot stand und nach irgend etwas Verdächtigem ausschaute.

Von rechts mündete jetzt eine Dorfgasse auf den Kanal. Bis zur Kirche, die etwa sechzig Meter ablag, vermochte der Offizier zu sehen. Menschen bewegten sich dort vor dem Gotteshaus hin und her. Und leise Orgelklänge durchdrangen nun auch die Nacht. Ohne Frage wurde da eine Andacht abgehalten, beteten die Belgier zu Gott und erflehten die Vernichtung der deutschen Barbaren.

Deutlicher wurden die getragenen Töne. Ganz feierlich stimmten diese Laute die deutschen Soldaten. Und unwillkürlich ließ Baluweit ein paar Sekunden die Stoßstange ruhen und schaute zu der Kirche hinüber, hinter deren Fenstern ein kaum merklich rötlicher Lichtschein aufglomm.

Dann war das Boot an der Gasse vorüber. Der Kanal machte eine scharfe Biegung nach Westen und war abermals von niedrigen Häusern und verwitterten Ställen umgeben.

Ein Schatten glitt am rechten Ufer hin, klein, langgestreckt. Und gleich darauf kläffte ein Hund wütend die Fremdlinge auf dem Kanal mit heiserem Bellen an. Im Nu gesellten sich drei andere Köter ihm bei. Der Lärm nahm zu. Stimmen mehrten sich. Leute riefen einander bei den Namen. Als erster erschien ein hochgewachsener Mann, der einen prüfenden Blick auf die Wasserfläche warf. Hell genug war es immerhin, um die Feinde mit den grau bezogenen Helmen sofort zu erkennen. Eilig rannte er davon. Und gleich darauf von überall Stimmen, das Klappern von Holzschuhen, Hundegeheul. –

„Verd… – Köter! Die haben uns verraten,“ schallt Baluweit. „Los Sandler, jetzt geht’s um die Wurst.“

Immer wieder fuhren die Stoßstangen in den Grund des Kanals, wurden herausgezogen, tauchten abermals ein. Das plumpe Fahrzeug glitt schnell davon. Weiter und weiter trat das Dorf zurück. Eben kam man an dem letzten Gehöft vorüber. Da hörte der Offizier aber auch bereits das Geräusch vieler Flüche, und zwischen zwei Scheunen quoll ein Haufen von Gestalten hervor, die jedoch merkwürdigerweise quer über die Wiesen nach Norden zu liefen und das Fahrzeug ganz unbeachtet ließen.

„Da – rechts! Was halten Sie davon?“ fragte der Leutnant atemlos den Unteroffizier.

Der warf einen schnellen Blick auf die hastende Menge, die nur noch undeutlich wie ein unklarer Fleck in der Ferne zu erkennen war.

„Man will uns den Weg abschneiden,“ keuchte Baluweit, dem bereits der Schweiß über das Gesicht lief. „Der Kanal macht einen Bogen. Man sieht es ja. Und da oben wollen sie uns auflauern.“

Fest stießen die Ruder in den Schlammgrund, und das flache Fahrzeug glitt nur noch, von dem letzten Stoß getrieben, ein Stückchen vorwärts.

Leutnant Hermstadt schaute Baluweit, der vor sich hinstarrte, fragend an.

„Nun, ob wir umkehren?“ meinte er dann.

Aber der Unteroffizier schüttelte den Kopf.

„Herr Leutnant haben ja vorhin auf der Karte gesehen, daß wir, nur wenn wir diesen Kanal weiter nach Norden verfolgen, mit Hilfe weiterer Wasserstraßen nach Bleharies gelangen können und zwar in einigen drei Stunden, falls sich uns keine Hindernisse in den Weg stellen. Diesen Vorteil dürfen wir nicht preisgeben.

„Wie wär’s, wenn ich mit fünf Mann der Bande von Belgiern in den Rücken fiele? Steigen wir hier aus, so können wir uns unschwer dem Hinterhalt, den sie uns legen wollen, ungesehen nähern. Es ist meines Erachtens dies die einzige Möglichkeit, den Kerlen einen Denkzettel zu geben und uns freie Bahn zu schaffen.“

Der Offizier war einverstanden. Baluweit sowie seine fünf Begleiter ließen die Tornister im Boot zurück, um sich leichter bewegen zu können. Gegen achtzig Patronen führte jeder in den Patronentaschen mit sich. Das genügte.

Mit einem „auf Wiedersehen nach gutem Erfolg!“ entließ der Leutnant den wackeren Unteroffizier, der ordentlich darauf brannte, den belgischen Bauern eins auszuwischen.

Daß dies ein Abschied für immer war, ahnte niemand.

Baluweit schlug sofort dieselbe Richtung ein, in der auch der feindliche Trupp vorhin verschwunden war. Auf einer kaum merklichen Anhöhe zog sich hier ein Fahrweg nach Norden hin durch die Wiesen. Weidengestrüpp säumte diese mit Steinen unordentlich gepflasterte Straße ein, die sich streckenweise wie ein Damm aus dem umgebenden Land heraushob und daher genügend Deckung bot, wenn man an der Seite entlangschlich.

Nach zehn Minuten näherte sich der Unteroffizier bereits dem Kanal, dessen Einfassungsdämme immer klarer hervortraten. Und jetzt bemerkte Baluweit auch ein paar Gestalten, die oben auf dem Wall hin und her eilten und gegen den sternenklaren Himmel ganz genau zu erkennen waren.

Ein paar leise Befehle, und die Deutschen verteilten sich, wie dies vorher schon vereinbart worden war. Auf allen Vieren ging’s nun weiter vorwärts durch das nasse Gras. In Abständen von einigen zwölf Schritt rückte man so dichter und dichter an den diesseitigen Kanaldamm heran, Schritt für Schritt. Je näher man kam, desto klarer wurde es, daß Baluweit ganz richtig vermutet hatte, als er annahm, die Belgier würden sich flach oben auf den Damm legen und von dort aus, wo sie selbst schwer zu treffen waren, um das Boot unter Feuer zu nehmen. Von den Feinden war nämlich nichts mehr zu sehen. Nur hie und da ragte über die scharfe Linie, die der Damm gegen den Himmel bildete, etwas wie unregelmäßige Erhöhungen hinweg, die jedoch nur bei sehr genauen Hinsehen als ein paar plumpe Holzschuhe oder Stiefel zu unterscheiden waren.

Jetzt befanden die sechs Deutschen sich am Fuß des Dammes, und der blutige Tanz konnte jeden Moment losgehen. Baluweit hatte seine kleine Schar wieder um sich vereinigt. Ein langgestrecktes Weidenbüsch bot ihnen ein Versteck, das für diese dunkle Nacht vollauf genügte. Nochmals gab er flüsternd ein paar Verhaltungsmaßregeln, dann schlüpfte er allein hinter den Weiden hervor und erklomm, eng an den Boden geschmiegt, den Damm. War es doch unbedingt nötig, daß man genau wußte, wie der Feind sich verteilt hatte.

Noch hatte der Unteroffizier die Spitze des Dammes nicht erreicht, als ganz in seiner Nähe, auf dem Kanal anscheinend, drei Schüsse knallten, so kurz hintereinander, als seien sie auf Kommando abgegeben worden.

Baluweit wußte Bescheid. Es war das das mit dem Leutnant vereinbarte Signal gewesen, auf welches hin der Unteroffizier den Angriff eröffnen sollte. Und dann – ein böser Fehler hatte sich bei der Festlegung dieses Planes zu gemeinsamem Handeln eingeschlichen, nämlich insofern, als Baluweit gehofft hatte, in fünfundzwanzig Minuten seine Leute so aufgestellt zu haben, um den Feind von dessen äußerstem linken Flügel her mit Kugeln überschütten zu können. Diese rund zwanzig Minuten waren jetzt um, ohne daß der Unteroffizier die Seinen richtig postiert hatte. Und gerade dieses Falschberechnen in der Zeit sollte die schlimmsten Folgen haben, wie sich sehr bald herausstellte.

Denn als Baluweit nun schnell den oberen Rand des Dammes völlig erklomm und den Kopf hochreckte, um einen Blick nach rechts und links zu werfen, da bemerkte er, daß er sich mit seinen Leuten gerade mitten in der feindlichen, oben auf der Krone des Dammes liegenden Linie befand, die sich gut fünfzig Meter nach beiden Seiten hinzog.

An dieser Stelle konnte er also unmöglich das Feuer eröffnen, da er sich und seine Leute sonst zu leicht der Gefahr ausgesetzt haben würde, von den Geschossen der Kameraden her verletzt zu werden. Mithin blieb ihm nichts anderes übrig, als jetzt noch im Marsch Marsch die Seinen einige achtzig Meter nach Süden zu führen, wo man sich dann in gleicher Höhe mit dem Boot befinden mußte.

In aller Eile wurde dieser Platzwechsel vorgenommen. Leider aber doch nicht mehr rechtzeitig genug.

Inzwischen hatte nämlich Leutnant Hermstadt, in der sicheren Annahme, daß Baluweit jeden Augenblick den Feind unter Feuer nehmen würde, das plumpe Fahrzeug noch ein Stück weiter vorwärtsstoßen lassen, wodurch er den Belgiern in Schußweite kam. Und während noch der Unteroffizier mit seinen fünf Mann am östlichen Fuß des Dammes entlangrannte, begannen die Feinde bereits das Boot zu beschießen, etwas, das aus bestimmten Gründen unbedingt hätte vermieden werden müssen.

Baluweit hörte kaum das Geknatter, als sich auch schon eine ärgerliche Verwünschung über seine Lippen drängte.

‚Das Dynamit!’ zuckte es ihm durch den Kopf. Dachte denn der Leutnant gar nicht daran, wie gefährlich die im Boot mitbefindliche Sprengladung werden konnte, die für die Brücke von Bleharies mitgeführt worden war! Gerade deswegen war doch dieser Angriff durch den Landungstrupp verabredet worden, um das Gewehrfeuer von dem so schwer gefährdeten Fahrzeug abzulenken.

Der Unteroffizier hatte durch einen kurzen Zuruf seine Leute zum Halten gebracht.

„Rauf auf den Wall!“ keuchte er. „Keine Sekunde ist zu verlieren. Knallt nieder wer sich euch entgegenst –“

Dazu, das Wort zu vollenden, kam er nicht mehr.

Ein furchtbarer Krach erschütterte plötzlich die Luft. –

Oben auf dem Damm wehte die Stoßkraft der Explosion ein paar Belgier weit in die Wiesen hinein – Schreie ertönten, Rufe der Angst und des Schreckens. Die Feinde stießen sie aus, die sich nicht so schnell darüber klar werden konnten, was eigentlich geschehen war. Bald aber mischten sich andere Laute in das Rufen: schadenfrohes Lachen, Verwünschungen, Ausrufe eines gesättigten Hasses. –

Wie angewurzelt standen die sechs Deutschen noch immer an demselben Fleck, stierten sich bleichen Antlitzes gegenseitig an. Das Entsetzen über diese Katastrophe hatte sie völlig gelähmt. Und erst das höhnische Gelächter und das Hin- und Herlaufen zahlreicher Gestalten oben auf dem Damm brachte sie wieder zu sich.

Jetzt auch von oben eine Stimme, die die belgische Brut auf die Pickelhaube da unten aufmerksam machte.

„Los!“ brüllte Baluweit, noch ehe die Belgier auseinanderstieben konnten.

Sechs Schüsse fuhren in den lebenden Knäuel hinein.

Und dann war der Unteroffizier als erster oben. Schuß auf Schuß schickte er den fliehenden Bauern nach, die in ihrer Angst die Gewehre wegwarfen und die schweren Holzschuhe von den Füßen gleiten ließen, nur um besser ausreißen zu können.

Drei Minuten später war kein Lebender oder Unverwundeter mehr in der Nähe.

Stumm standen die sechs jetzt am Rande des Kanals und blickten suchend über die düstere Wasserfläche hin.

„Kommt, Leute,“ meinte Baluweit dann. „Die Kameraden sind hin – sämtlich! Bedenkt die Dynamitladung – Gott gebe Ihnen Frieden.“

Seine Stimme zitterte leicht. Jeder sprach noch für sich ein Vaterunser, dann – verlangte die Gegenwart wieder ihr Recht.

Und diese Gegenwart sah für die sechs Deutschen bitter ernst aus. Meilenweit waren sie ja von Brügge entfernt, wo die nächsten deutschen Truppen standen. Inmitten einer Bevölkerung befanden sie sich, die den Meuchelmord für eine dankenswerte Tat hielt. Dunkelheit lagerte sich über diesem Land, das sie nicht kannten und dessen zahlreiche Wasserläufe ihnen überall den Rückweg versperrten. Ihre Tornister mit dem bescheidenen Eigentum waren bei der furchtbaren Explosion mit verloren gegangen. Zu essen hatten sie ja so gut wie nichts mehr. –

Das war die Gegenwart.

Aber etwas, das all dieses wieder wettmachte, besaßen sie doch: Frohes Gottvertrauen und einen zielbewußten, gewandten und listigen Führer. Ja, Karl Baluweit war ganz der Mann dazu, die Seinen glücklich aus dieser Patsche herauszubringen. Sekunden hatten ihm genügt, darüber mit sich ins Klare zu kommen, wie er seine Kameraden und sich selbst einzig und allein retten könne. Daß die ganze belgische Landbevölkerung der Umgegend in kurzer Zeit auf sie ein förmliches Kesseltreiben veranstalten würde, war mit Sicherheit anzunehmen; daß ihnen weiter der Weg nach Süden zu schon jetzt versperrt war, erschien ebenso fraglos zu sein. Waren die Belgier hier doch nur in der ersten Überstürzung so kopflos ausgerissen. Da hinten im Dorf würden sie sich wieder sammeln, würden dem Rest der deutschen Abteilung, gestützt auf ihre Ortskenntnis, einen neuen Hinterhalt legen und dabei wahrscheinlich mehr Glück entwickeln, als das erste Mal, wo sie ja die Vernichtung des Bootes mit seinen Insassen recht teuer hatten bezahlen müssen, wie nicht nur die regungslos daliegenden Toten, sondern auch die überall wimmernden und stöhnenden Verwundeten bewiesen.

Also gab’s zunächst dieser Lage gegenüber nur einen einzigen Ausweg: Vorwärts den Damm entlang nach Norden zu und damit hinaus aus dem Bereich der rachgierigen Bewohner der nächsten Ortschaften.

Ohne Zögern wurde der Weitermarsch jetzt angetreten. Dabei hatte der Unteroffizier noch schnell nach der Uhr gesehen. Ein halb elf war’s. – Und das war recht günstig. So lag noch der größte Teil der Nacht vor ihnen, so konnten sie im Schutz der Dunkelheit noch ein ganzes Stück weiterkommen.

Schweigsam, in tief gedrückter Stimmung über den Verlust ihres freundlichen Leutnants und so vieler lebensfroher Kameraden, schritten sie durch die Dunkelheit dahin, einer ungewissen Zukunft entgegen. Nur hin und wieder tauschte man leise Bemerkungen aus. Das Gewehr über die Schulter gehängt, die Hände in den Taschen vergraben, eilten die sechs vorwärts.

So verging eine Stunde. Zweimal war man schon an einzeln liegenden Gehöften vorübergekommen, an die Baluweit sie vorsichtig herangeführt hatte. Beide Male war es ihm auch geglückt, durch die schlecht verhängten Fenster einen Blick in die erhellten Wohnräume zu werfen. Was er da gesehen hatte, mahnte jedoch lediglich zur schleunigen Fortsetzung des Weges. Belgische Soldaten, Versprengte aller Waffengattungen, hatten die Stuben besetzt und saßen mit ihren Wirten um den Tisch herum.

Weiter ging’s durch die Nacht, durch die Stille des flachen Landes mit seinen Kanälen und reichen Äckern.

Und dann fragte einer der Kameraden ganz bescheiden, ob man nicht eine Minute Rast machen könne. Hunger habe er. Und auch der rechte Stiefel drücke so sehr. Der Fußlappen müsse sich verschoben haben.

So setzten die sechs sich denn nebeneinander auf den Damm, holten ihre geringen Eßvorräte aus den Brotbeuteln hervor und stärken sich. Der Wind spielte um ihre jungen Gesichter, und die feuchte Kälte der Erde kroch ihnen in die Glieder.

Abermals ging’s dann weiter, immer den endlosen Damm entlang. Die Fünf stolperten halb im Schlaf hinter ihrem Vorgesetzten einher. Der allein hatte die Augen offen, alle Sinne gespannt. Immer kälter wurde die Luft. Jeder Windstoß ging ihnen allen durch Mark und Bein.

Dann tauchte rechts auf einer Anhöhe eine Windmühle auf, ein mächtiger Kasten mit gemauertem Unterbau. Trotz der günstigen Luftströmung standen die Flügel jedoch still. Durch eines der kleinen Fenster im Erdgeschoß irrte ein verlorener Lichtstrahl.

Einige leise Worte der Verständigung, und der kleine Trupp schwenkte nach rechts ab. Räderspuren zerschnitten hier das Ackerland, die wohl den Weg nach der Mühle vorstellen sollten. Unter einem windschiefen Bretterdach lag da ein Haufen Heu aufgeschichtet.

„Macht’s euch bequem darin,“ sagte Baluweit. „Ich werde mal nachsehen, ob wir hier mehr Glück haben.

Doch Karbuschke, der Berliner, seines Zeichens Heizer auf einem Haveldampfer, erklärte jetzt: „Ne, Herr Unt’roff’zier, dat jibt’s nich. – Allens wolln’ Sie immer alleene machen und unser Pflichtjefühl –“

„Mir schon recht. Vorwärts also!“

Dann standen sie vor dem erleuchteten Fenster. Der Lichtstrahl drang durch eine breite Spalte der außen befindlichen Fensterladen hindurch. Baluweit versuchte durch die Öffnung einen Blick ins Innere zu werfen. Es gelang. Gerade vor dem Fenster stand ein mit Wachstuch überzogener Tisch. Darauf stand eine kleine Petroleumlampe, bei deren Schein eine alte Frau in einem Gebetbuch las.

Daneben lag ein Rosenkranz. Die Greisin bewegte wie mechanisch den Unterkiefer hin und her. Zuweilen hörte der Unteroffizier auch ein paar gemurmelte Worte. Sonst war in der Stube nichts weiter zu erblicken als ein mächtiger Kachelofen an der gegenüberliegenden Wand.

„Ob wir’s wagen?“ meinte Baluweit zu seinem Begleiter. Und er krümmte dabei den Zeigefinger der rechten Hand und machte die Bewegung des Klopfens.

Karbuschke nickte. – Aber es dauerte gut fünf Minuten, bevor die Tür geöffnet wurde. Die Alte war schon auf das erste Klopfen hin von ihrem Platz verschwunden.

Ein weißhaariger Greis, nur notdürftig bekleidet, stand mit einer Lampe in der Hand im Flur und musterte argwöhnisch die späten Gäste. Weit streckte er den Kopf vor, um mit seinen kurzsichtigen Augen besser sehen zu können. Dann fuhr er erschreckt zurück. Die Lampenglocke klirrte. Etwas wie ein Fluch kam über seine eingefallenen Lippen, und mit schnellem Stoß suchte er die Tür wieder ins Schloß zu drücken. Doch schon hatte der Berliner seine untersetzte Gestalt in den Spalt geschoben.

„Immer sachte, Männeken,“ meinte er grinsend.

Wieder rief der Alte ein paar Worte, die die beiden Deutschen jedoch nicht mehr verstanden.

„Parlez vous francais[1]?“ fragte Baluweit dann. Mit dieser Redensart war das Französisch des wackeren Unteroffiziers aber auch so ziemlich erschöpft.

Wiederum nickte der Alte.

„Na also! – Holen Sie mal den Malzahn her, Karbuschke,“ befahl Baluweit jetzt. „Der spricht ja das Französisch wie ein Wasserfall.“

Malzahn, der frisch von der technischen Hochschule als Kriegsfreiwilliger eingetreten war, spielte den Dolmetscher tadellos. In wenigen Minuten wußte der Müller, was die ‚Barbaren’ haben wollten – natürlich gegen Requisitionsscheine[2]: Eßvorräte, kalten Kaffee, etwas Alkoholisches, Tabak und – wollene Decken.

Noch immer wurde draußen im Freien verhandelt. Der Alte selbst war vor die Tür getreten, nachdem er die Lampe auf einen Schrank im Flur gestellt hatte. Er schien es ängstlich verhindern zu wollen, daß die Feinde die Mühle betraten. In seinem Gesicht prägte sich immer deutlicher helle Angst aus, je mehr es ihm klar wurde, daß die Deutschen allen seinen Beteuerungen, daß er mit nichts dienen könne, recht geringen Glauben schenkten.

„Hier ist irgendwas faul im Staate Dänemark,“ sagte Malzahn jetzt zu Baluweit. „Am besten, einer von uns hält den Alten fest und die beiden anderen durchsuchen mal den Kasten. Freiwillig rückt der Müller doch mit nichts heraus.“

So geschah’s denn auch. Malzahn bedeutete dem Alten, daß er in die Stube da zur linken Hand eintreten müsse, wo er bewacht werden solle. Der Müller weigerte sich, begann zu schimpfen, bis Karbuschke ihn einfach packte und vor sich her durch die Tür schob.

Malzahn setzte sich auf den Stuhl am Tisch und hieß den Müller neben der Frau Platz zu nehmen. Das Gewehr hielt er zwischen den Knien.

Indessen hatten Baluweit und der Berliner die zweite Lampe mitgenommen und begannen nun die Durchsuchung der großen Mühle. Gut eine halbe Stunde blieben sie weg. Ihrer schweren Schritte wurden bald hier, bald dort vernehmbar. Dann kehrte der Unteroffizier allein zurück.

„Was meinen Sie, Malzahn, was wir da oben im Mahlraum, versteckt hinter gefüllten Säcken, gefunden haben?! Acht vollständige belgische Infanterieuniformen nebst den zugehörigen Waffen. Auch Tornister sogar. Natürlich haben sich die acht Kerle, denen die Sachen gehörten, hier in harmlose Bauernbengel verwandelt, um bequemer entfliehen zu können. Na – die Gewehre und die Bajonette haben wir zerbrochen, und die Patronen werfen wir nachher in den Kanal.“

„Und wie steht’s mit Proviant und Decken?“ fragte Malzahn eifrig.

„Sie werden die Augen aufreißen, sag’ ich Ihnen! Mehr wie genug haben wir. – So, und jetzt suchen Sie mal aus dem Alten herauszuholen, ob hier nicht in der Nähe irgendwo ein gutes Boot zu haben ist. Machen Sie dem Mann klar, daß er stark verdächtig ist, belgischen Soldaten Unterschlupf gewährt zu haben. Drohen Sie ihm, damit er gefügig wird. Ein Boot müssen wir wieder haben.“

Doch der Müller hatte für Malzahns Fragen nur eine Antwort, ein verächtliches Lächeln und ein kurzes: „Geht und sucht.“

Da wurde der Student deutlicher, ließ eine Bemerkung von ‚im Weigerungsfall füsilieren’ fallen, – recht laut, daß auch die Alte ihn verstand.

Mit einem Angstschrei fuhr sie empor. Ihre Worte überstürzten sich. – Im Nebenkanal gleich hinter der Mühle befinde sich ein großes Boot. Um Christie Barmherzlichkeit willen sollten sie doch nur ihren Mann schonen.

Baluweit ging sofort, um diese Angaben nachzuprüfen. Tatsächlich, das Fahrzeug, größer als das erste, war da. Und kaum fünf Minuten später hatten die Deutschen sich eingeschifft. Alles besaßen sie nun, was sie brauchten. Selbst Tornister, wohl gefüllt mit Eßvorräten, hatten sie jetzt wieder. Es waren die der belgischen Soldaten.

In dem großen Boot, das man zum Teil mit weichem Heu ausgepolstert hatte, war es ganz behaglich. Die wollenen Decken wärmten genügend, um die Kühle der Nacht vergessen zu lassen. Immer zwei Mann waren an den Stoßstangen tätig. Die übrigen konnten nach Belieben schwatzen, essen oder schlafen.

Längst hatte man den Hauptkanal verlassen und war in einen schmaleren, nach Westen zu führenden Wassergraben eingebogen. Ging doch Baluweits Plan dahin, auf Umwegen immer mit Hilfe der Kanäle Brügge wieder zu erreichen.

Gegen vier Uhr morgens war’s, als Malzahn, der gerade die eine Stoßstange handhabte, linker Hand das eilige Getrappel von Pferdehufen vernahm. Um jedoch erkennen zu können, um was für Reiter es sich handelte, dazu war es noch zu dunkel und die Entfernung auch zu groß. Jedenfalls mußte da drüben aber eine Straße entlangführen, wie aus der sie einsäumenden Baumreihe unschwer zu erkennen war.

Stunden waren wieder vergangen. Einigemale waren die Deutschen kleineren Abteilungen flüchtender Belgier begegnet. Auch Schüsse hatte man gewechselt, war verfolgt worden, aber nach längerer Jagd glücklich entronnen.

Als der Morgen graute, bemerkte man in nordöstlicher Richtung die Türme einer größeren Stadt. Baluweit studierte die Karte, schüttelte den Kopf und machte ein sehr bedenkliches Gesicht.

„Das kann nur Lisseweghe sein,“ meinte er. „Unglaublich! Da sind wir ja schön weit nach Norden gekommen. Meiner Schätzung nach können’s bis zur Kanalküste keine acht Meilen mehr sein. Eine nette Lage für uns. Mitten in Feindesland, sechs Mann hoch, und ringsum schwärmen die Trümmer des aus Antwerpen geflohenen Heeres!“

Man benutzte jetzt nur Nebenkanäle, umging die Stadt in großem Bogen und wollte dann den nächsten Hauptkanal wieder nach Süden verfolgen. Es sollte nicht sein. Abermals erschien ein Reitertrupp. Ein lebhaftes Feuergefecht entspann sich, meilenweit jagte die Kavallerie auf den Wiesen und Äckern nebenher, um die Deutschen abzufangen. Zum Glück setzte dann ein starker Regen ein, unter dessen Schutz Baluweit die Seinen in ein Gehölz und von da weiter auf einsamen Wegen nach der Küste zu führte. Das Boot hatte man im Stich lassen müssen. Es war nicht anders gegangen.

Auch die Landbevölkerung beteiligte sich, fraglos telephonisch von dem Auftauchen der Deutschen verständigt, an dieser Jagd. Immer schwieriger gestaltete sich die Flucht. Ganz abgehetzte waren die deutschen Pioniere schon. Und immer wieder trieb man sie vorwärts, bis sie dann am Nachmittag, als sie schon so gut wie eingekreist waren, in einen weiten Buchenforst gelangten, wo sie Gelegenheit fanden, sich in kurzer Zeit den Blicken der Verfolger zu entziehen. Im Gänsemarsch, Baluweit immer voran, durchquerten sie den Wald ohne weitere Zwischenfälle. Das Land nahm hier bereits einen deutlichen Küstencharakter an. Sandige Hügel wechselten mit Baumgruppen ab, und die Luft war frischer, herber. Malzahn behauptete auch, er spüre darin schon den Salzgehalt der nahen See.

Wieder brach ein Abend an. Das war der zweite, den die Deutschen fern von ihrem Truppenteil verbrachten. In einem kleinen Gehölz lagen sie jetzt auf dem trockenen Moosboden, verzehrten ihre Vorräte und unterhielten sich leise.

„Das reine Räuberleben,“ meinte Karbuschke. „Bin ja nur neugierig, wie’s uns weiter gehen wird.“

Baluweit schob einen neuen Happen Wurst in den Mund.

„Je näher der Küste, desto sicherer sind wir jedenfalls,“ erklärte er. „Ich weiß bestimmt, daß unsere Marineinfanterie von West-Capelle aus am Strand vordringt. Halten wir uns in den Dünen nur noch einige Tage versteckt, so sind wir gerettet.“ –

Nach einigen Stunden Schlafs wurde wieder aufgebrochen. Inzwischen war es völlig dunkel geworden. Baluweit besaß einen Taschenkompaß, und nach dem richtete man sich. Kurz nach Mitternacht erreichte der kleine Trupp die ersten Vordünen. Das Rauschen der See wurde nun mit jedem Schritt vernehmlicher. Rascher griffen die Beine unwillkürlich aus. Denn von den sechs Pionieren, die hier einsam durch das Sandmeer der Dünen wanderten, hatte nur Malzahn schon die See gesehen. Und da war es kein Wunder weiter, daß jeder dem Strand zudrängte, um auch einmal etwas anderes als nur ein Binnengewässer vor sich zu haben.

Endlich standen sie dann auf dem feuchten Sandstreifen, den die letzten auslaufenden Wogen bespülten. Doch die Dunkelheit machte es ihnen unmöglich, einen richtigen Eindruck von diesem Teil der berühmten Meeresenge, Kanal genannt, zu erhalten. Etwas enttäuscht waren sie wohl alle. Nur die ziemlich kräftige Brandung mit ihrem steten Donnern und Tosen bewies ihnen, daß sie tatsächlich einen Teil des die Erdteile trennenden unendlichen Meeres vor sich hatten.

Baluweit war, immer getrieben von dem Gefühl der Verantwortung, sehr bald nach dem ersten kritischen Blick über die schaumbedeckte Wasserfläche hin nach einer besonders hohen Dühne, die ganz in der Nähe lag, gewandert, hatte sie erklommen und von diesem günstigen Aussichtspunkt aus einen Blick in die Runde geworfen. Nach Osten zu am Strand bemerkte er einzelne helle Pünktchen in der Ferne. Dort mußte also wohl eine Ortschaft liegen. Sonst gab es nicht viel zu sehen. Nur ein Stück Land einwärts, etwa hundert Meter entfernt, erblickte er noch in einem tiefen Einschnitt in den Dünen, der sich bis zur See hinzog, ein dunkles Etwas, das wie ein kleines Haus aussah. Jedenfalls war es nötig festzustellen, was dieser große Gegenstand mit den eigenartigen Umrissen eigentlich sei.

Inzwischen hatten sich die fünf Männer ihrem Anführer zugesellt. Vorsichtig näherte man sich nun dem dunklen Etwas, das beim Näherkommen jedoch immer mehr das Aussehen eines Häuschens verlor.

„Ein Wrack,“ meinte Malzahn dann.

Und wirklich. Halb vom Sand verweht lag da der Rumpf eines hölzernen Segelschiffes. Allzu lange konnte das gescheiterte Fahrzeug hier noch nicht seinen Liegeplatz gefunden haben, da es noch recht gut erhalten war. Das Verdeck lag ein wenig schräg, so daß man von der einen Seite unschwer hinaufsteigen konnte. Vorder- und Hinterteil des Wracks waren im Sand vergraben, und nur die große Mittelluke war frei geblieben, von der eine Treppe in das Innere hinabführte.

„Wenn mich nicht alles täuscht,“ sagte Malzahn jetzt zu dem Unteroffizier, der neben ihm auf dem Verdeck stand, „so haben wir hier ein vorzügliches Versteck gefunden. Ich werde mal nachschauen, wie es drunten im Raum aussieht.“

Und schon hatte er aus trockenem Seetang so etwas wie eine Fackel zusammengedreht, die er mit Hilfe eines Streichholzes in Brand setzte.

Die Treppe ging in den Lagerraum hinab. Dieser war vollkommen leer. Nur Streifen feinen Sandes hatte der Sturm durch die Luke hie und da hineingeweht.

„Immerhin ein Obdach,“ meinte Baluweit, der sich dem Freiwilligen angeschlossen hatte. Dann entdeckten sie auch nach dem Vorschiff zu eine schief in den Angeln hängende niedrige Tür, die in einen kleineren Verschlag führte und die schon in dem Teil des Wracks lag, der im Sand begraben war. Ein eiserner Kochherd stand da in einer Ecke, und verschiedene Regale mit Einschnitten für Teller und Schüsseln bewiesen, daß man sich in der Schiffsküche befand.

„Gut, bleiben wir vorläufig hier,“ erklärte Baluweit. „Nun wollen wir auch sofort unsere Lagerstätte herrichten, damit wir ein paar Stunden schlafen können. Wer weiß, was der Tag uns wieder für Anstrengungen bringt.“

Trockenes Seegras lag genügend am Strand und in den Dünen und ergab eine weiche Unterlage. In einer Viertelstunde war dann alles besorgt, und aufatmend hüllten sich die Pioniere in die bei dem alten Müller beschafften Wolldecken, nachdem sie noch einen kräftigen Imbiß eingenommen hatten.

Nur Baluweit verzichtete auf die ihm ebenfalls so notwendige Ruhe. Er wollte zuerst noch die Umgebung abstreifen, um zu sehen, ob nicht etwa bewohnte Gehöfte in der Nähe lägen. Malzahn, der sich sehr eifrig zeigte, wollte ihn begleiten, was der Unteroffizier jedoch ablehnte.

Ein halb zwei Uhr morgens war’s, als er das Wrack verließ und zunächst ein Stück nach Westen zu am Strand entlangwanderte. Dann bog er nach links ab, durchquerte die Dünen und wandte sich Richtung Osten. Nirgends bemerkte er Spuren von menschlichen Ansiedlungen. Gerade hier war der Dünengürtel sehr breit und streckte sandige, unfruchtbare Ausläufer weit in das Binnenland hinein. Nur verkrüppelte Kiefern, vom Seewind nach Süden gedrückt, so daß die Stämme sämtlich schief standen, gab es hier in verstreuten Gruppen.

Immer weiter schritt Baluweit vorwärts. Was er unternahm, tat er stets ganz. Und so wollte er auch jetzt noch feststellen, was für eine Ortschaft es sei, deren Lichter er da im Osten bemerkt hatte. Ein Marsch von einer guten dreiviertel Stunde brachte ihn bis in die Nähe der ersten Häuser.

Es war ohne Zweifel ein größerer Ort, der sich da stellenweise bis dicht an das Meer hinzog. Trotz der Dunkelheit vermochte Baluweit mit Hilfe seines Fernglases eine Hafenanlage mit einer in die See hinausgebauten Mole zu erkennen. Und anscheinend mündete in diesen Hafen einer der breiten Kanäle des Hinterlandes. Mastspitzen ragten über die niedrigen Häuser hinweg, auch sah er durch eine Straßenöffnung hindurch die hell gestrichenen Schornsteine eines Dampfers.

Was dem Unteroffizier aber am meisten auffiel, das war ein fortdauerndes Geräusch wie von den Bewegungen größerer Menschenmassen. Durch die Stille der Nacht war sogar gelegentlich das Rufen einzelner Stimmen, Pferdegetrappel und der schwere Schritt marschierender Kolonnen zu vernehmen. Mit aller Vorsicht schlich Baluweit daher an den ersten Häusern vorbei, bis sich vor ihm eine Gasse auftat, die gerade zum Hafen hinablief. Nun erst bemerkte er die Umrisse eines großen Dampfers, um den eine Anzahl von Lichtern aller Art sichtbar waren.

Wieder stellte Baluweit sein Glas ein, nachdem er sich hinter einer offenstehenden Hoftür verborgen hatte. Lange stand er regungslos da und schaute nach dem Dampfer hinüber, aus dessen Schornstein eine dunkle Rauchfahne hochquoll, die der Wind jedoch sofort wieder in dünne, graue Schleier auflöste und davontrieb.

Das Klappern von Holzschuhen, das sich vom Hafen her näherte, zwang ihn, sich tiefer auf den Hof zurückzuziehen. Trotzdem hatte er genug gesehen. Ohne Frage nahm das Schiff einen Truppentransport als Ladung auf, – wahrscheinlich Reste der belgischen Armee, denen das schnelle Vordringen der Deutschen bis Brügge die Benutzung der Eisenbahn nach dem Westen unmöglich gemacht hatte und die hier nun in aller Eile zu Wasser weiter geschafft werden sollten.

Als auf der Gasse wieder alles ruhig geworden war, trat Baluweit den Rückweg an. Dieses Mal benutzte er jedoch einen aus gebrannten Ziegeln hergestellten Steg, der am Strand entlanglief. Vier Gebäuden, die unweit des Meeresufers standen, hatte er noch auszuweichen. Aber wie ausgestorben lagen die Holzhäuser mit ihren gelbbraunen Rohrdächern da. Sicherlich waren’s die Wohnungen von Fischern, wie die über hohen Gerüste hängende Netze und einige auf den Sand gezogene Boote bewiesen.

Der Steg hatte kurz hinter den vier Häusern ein Ende. Um leichter ausschreiten zu können, benutzte der Unteroffizier den feuchten Sandstreifen dicht am Ufer, wo die Stiefel wie über eine feste Tenne hineilten und nicht wie in den Dünen tief in den feinen Seesand einsanken.

Immer wieder beschäftigten sich Baluweits Gedanken bei diesem einsamen Marsch mit dem Dampfer, der ohne Frage noch in dieser Nacht seinen Liegeplatz verlassen und, vollgepfropft mit flüchtenden Feinden, davonfahren würde. Wenn man dem Schiff nur irgendwie das Entkommen unmöglich machen könnte. Das wäre noch ein Streich. Deshalb konnte man schon sein Leben wagen! –

Und der Unteroffizier dachte an den armen, munteren Leutnant und die übrigen Kameraden, die dort im Binnenland auf dem Kanal durch das Dynamit ein so furchtbares Ende gefunden hatten. Weiter dachte er an die Szenen, die er bei dem Vormarsch auf Antwerpen miterlebt hatte, an die vielen Deutschen, die der Heimtücke der Franktireurs zum Opfer gefallen waren und an die unmenschlichen Grausamkeiten, die die belgische Landbevölkerung an wehrlosen Gefangenen und Verwundeten verübt hatte.

Und dann stockte plötzlich sein Fuß. Vor ihm im Sand lag ein dunkler Gegenstand, ähnlich einer mächtigen Kugel von fast einem halben Meter Durchmesser. Er trat näher heran.

Wahrhaftig – eine Seemine war’s, die irgendwo in der Nordsee oder im Kanal sich von ihrer Verankerung losgerissen hatte und von der Strömung und den Wogen hierher getrieben war. Ihm als Pionier waren diese gefährlichen Sprengkörper ja nichts Fremdes.

Tiefer bückte er sich hinab. Da hing ja noch ein Teil der Ankerkette, da war ja auch oben die Zündvorrichtung, durch die ein die Mine streifendes Schiff die Ladung zur Explosion brachte.

Noch immer starrte Baluweit auf das eiserne Ungetüm. Und dann durchzuckte sein Hirn ein verwegener Gedanke. Ein abenteuerlicher Plan war’s, der aber trotz aller Schwierigkeiten Möglichkeit des Gelingens bot. –

Keuchend von dem raschen Lauf langte er zehn Minuten später bei dem Wrack an. Schnell hatte er die Seinigen geweckt, ebenso schnell ihnen alles Nötige mitgeteilt.

Im Augenblick standen sie marschbereit da. Und wieder ging’s am Strand entlang den vier Fischerhäuschen zu. Vier Uhr morgens war’s, als sie dort eintrafen und nun sofort das größte der Boote flott machten, nachdem sie sich überzeugt hatten, daß die Bewohner dieses kleinen Ausbaus wahrscheinlich aus Furcht vor den anrückenden deutschen Truppen sich in die nahe Ortschaft zurückgezogen hatten. Die nötigen Ruder waren auch bald gefunden, ebenso eine Menge Taue und Leinen sowie eine lange Stahltrosse, die neben allerlei Fischereigerätschaften in einem Holzschuppen aufbewahrt worden waren. Rücksichtslos wurden dann von den schweren Netzen die sogenannten Schwimmer, große Kork und Holzstücke, die den oberen Teil der Netze in bestimmter Tiefe festhalten sollen, losgeschnitten und in das Boot gepackt.

Die nächste Aufgabe war nun, die Mine gleichfalls in das Boot zu verladen. Auch dies gelang. Freilich – vorsichtig mußte man dabei sein, sogar überaus vorsichtig. Eine falsche Bewegung, ein einziges zu hartes Aufstoßen, und von den sechs Deutschen wäre keine Spur mehr übrig geblieben. –

Endlich hatte man die Arbeit hinter sich. Wohlverstaut auf einem Bett weichen Seetangs lag da das eiserne Ungetüm in dem Boot.

Karbuschke wischte sich den Schweiß von der Stirn.

„Dunner – das war’n faules Geschäft,“ meinte er. „Det is ja schlimmer, als wenn man ‘n Eierkorb verfrachten soll.“

„Stimmt. – Aber nun rein ins Boot und vorwärts!“ befahl Baluweit. „Ihr wißt ja, was jeder zu tun hat. Ich übernehme das Steuer.“

Während zwei Mann ruderten, befestigten die anderen drei zunächst an die Stahltrosse mit Hilfe von kurzen Strickenden in kleinen Zwischenräumen die Schwimmer, damit nachher die Trosse nicht durch ihr Eigengewicht untersinken würde. Auch an die Taue und Leinen kamen Schwimmer, wenn auch in größeren Abständen. Dann wurde die Stahltrosse derart an der Mine befestigt, daß wenn irgend ein Gegenstand an der Trosse entlangglitt und schließlich an die Mine stieß, diese unfehlbar explodieren mußte. Weiter wurden alle vorrätigen Taue und Leinen, letztere doppelt, damit sie nicht rissen, zu einem fast vierhundert Meter langen Ganzen fest zusammengebunden.

Mittlerweile hatte das Boot den Kurs auf die Hafeneinfahrt zu gehalten und lag nun etwa einen Kilometer vom Land entfernt auf den träge rollenden Wogen. Die Augen der sechs Deutschen bohrten sich in die Dunkelheit ein, versuchten festzustellen, ob der Transportdampfer noch nicht seinen Ankerplatz verließ. Aber von der Küste und der Ortschaft war so gut wie nichts zu sehen. Nur Baluweit vermochte mit Hilfe des Glases ein paar leuchtende Pünktchen zu unterscheiden, die sich in Richtung des Hafens hin und her bewegten.

Hier auf dem Wasser war es empfindlich kalt. Und doch merkten die Pioniere davon nichts. Die Aufregung, die Erwartung trieb ihnen das Blut schneller durch die Adern.

„Ein verwünschtes Pech wär’s, wenn alle unsere schönen Vorbereitungen umsonst gewesen sein sollten,“ meinte Baluweit jetzt, indem er dem Kriegsfreiwilligen das Fernglas reichte. „Schaun Sie mal durch, Malzahn. Mir tun schon ordentlich die Augen weh vor lauter Hinstarren.“

Malzahn, der wegen seiner vorzüglichen Sehschärfe bekannt war, hatte das Prismenglas – er selbst besaß nur einen einfachen Krimstecher – in wenigen Sekunden eingestellt.

„Na, wie ist’s? Haben Sie den Hafen?“ fragte der Unteroffizier.

„Jawohl – und – und – einen Augenblick noch. – Jetzt – kein Zweifel: der Dampfer bewegt sich. Ich merke es daran, daß die Entfernung zwischen dem hellen Schornstein und dem Mast des nächsten Segelschiffes größer wird.“

„Donner noch eins – müssen Sie aber Augen haben,“ lobte Baluweit. „Irren Sie sich auch nicht?“

„Ausgeschlossen!“ Malzahn ließ das Glas sinken. „Sehen Sie selbst, Herr Unteroffizier.“

Auch Baluweit vermochte festzustellen, daß der hohe Rumpf des Transportschiffes seine Lage verändert hatte.

„Kinder,“ sagte er da mit einer gewissen Feierlichkeit, „die Entscheidung naht! An die Ruder – vorwärts.“

In wenigen Minuten war das Boot noch mehr nach Osten zu gesteuert worden. Dann ließ der Unteroffizier die Ruder einziehen, und alle Mann mußten mithelfen, um die Seemine über Bord zu heben.

„Vorsicht, Kinder! Hübsch langsam, als ob’s feinstes Glas wäre und dünn wie ein Hauch.“

Ein leiser Plumps, ein Aufspritzen des Wassers, und das verderbenbringende Ungetüm trieb auf den Wogen.

Wieder tauchten die Ruder ein, und langsam entfernte sich das Boot nach Westen zu, indem das lange Tau gleichzeitig abgerollt und ins Wasser gelassen wurde, wo auch das erste Stück, die Stahltrosse, dank der daran befestigten Schwimmer nicht untersank. Bald waren die vierhundert Meter abgelaufen.

„So, nun kommt alles darauf an, daß wir richtig manövrieren,“ flüsterte Baluweit. „Erst müssen wir aber sehen, welchen Kurs der Dampfer einschlägt.“

Inzwischen war der dunkle Rumpf des Transportschiffes schon so nahe gerückt, daß man ihn auch mit bloßem Auge erkennen konnte.

Malzahn, das Prismenglas an den Augen, beobachtete unausgesetzt das Fahrzeug.

„Es wendet etwas nach West. So, jetzt läuft es parallel zur Küste weiter,“ meldete er ganz heiser vor Erregung. „Hält es diesen Kurs weiter, so muß es meiner Schätzung die Stahltrosse ungefähr in der Mitte berühren.“

Die Lage war jetzt folgende. Etwa achthundert Meter vom Strand entfernt, schaukelte das Boot mit den sechs Deutschen auf der leicht bewegten See. Weitere vierhundert Meter nach Osten zu trieb die Mine. Zwischen dieser und dem Boot befand sich als Verbindung das lange Tau, dessen eines Ende an den großen Exklusivkörper und das andere an einer der Ruderbänke befestigt war. Baluweits Plan ging nun dahin, daß der Dampfer mit der Spitze auf die Stahltrosse treffen, an dieser bei seiner Vorwärtsbewegung entlanggleiten und so schließlich die Mine berühren sollte, während das Boot selbst für das Verbindungstaue sozusagen das Gegengewicht zu bilden hatte, damit das Entlanggleiten des Vorderstevens an der Stahltrosse auch tatsächlich stattfände und nicht etwa durch die Kraft der Vorwärtsbewegung des Schiffes die Mine im Bogen hinter das Fahrzeug gezogen wurde, wodurch das ganze Vorhaben vereitelt worden wäre.

Freilich – der Erfolg hing von einer ganzen Anzahl von Zufällen ab. Riß das Tau, änderte der Dampfer die Fahrtrichtung oder berührte sein Vordersteven nicht gerade die glatte Stahltrosse, so war’s mit dem Gelingen nichts. Kein Wunder also, daß Baluweit und die Seinen jetzt mit ängstlich klopfenden Herzen am Boden ihres kleinen Fahrzeugs kauerten und erwartungsvoll nach dem Transportschiff hinüberlugten. Daß man sie von dem Dampfer aus bemerken würde, war kaum zu befürchten. Dazu verschwand das Boot in den Wellentälern bei der Dunkelheit doch zu sehr wie ein winziger Punkt.

Die Entscheidung war da. Baluweits hielt das um die eine Ruderbank geschlungene Tau in den Händen, während neben ihm der Kriegsfreiwillige hockte und ein Beil bereit hatte, um das Tau jeden Augenblick kappen zu können.

Da – der Unteroffizier spürte einen scharfen Ruck. Das Tau spannte sich straffer. Der Dampfer hatte die Trosse wirklich berührt.

„Los jetzt,“ kommandierte Baluweit.

Die Ruder flogen ins Wasser und trieben das Boot in einer den Kurs des Transportschiffes entgegengesetzt Richtung dahin. Gleichzeitig zogen der Unteroffizier und Karbuschke mit aller Kraft das Tau Meter für Meter ins Boot, um es straff zu halten und die Mine schneller an den Dampfer heranzubringen.

Kein Zweifel – der Plan schien zu gelingen.

Aus vor Erregung bleichen Gesichtern stierten sechs Augenpaare nach dem großen Schiff hinüber, das bereits das Boot weit hinter sich gelassen hatte.

Dann ein neuerer, noch stärkerer Ruck an dem Tau. Nicht viel hätte gefehlt, so wären Baluweit und Karbuschke über Bord gerissen worden.

„Kappen!“ schrie der Unteroffizier Malzahn zu. Der hob das Beil. Aber die Bewegung wurde nicht mehr zu Ende geführt. Ein furchtbarer Knall dröhnte über das Wasser.

Regungslos wie gelähmt saßen die Pioniere da.

Wildes Geschrei drang von dem fraglos schwer beschädigten Schiff herüber. Lichter flammten an Bord auf, eilten über das Deck hin. Und jetzt kam auch eine hohe Woge herangebraust, die die Explosion hervorgerufen hatte.

„Rudert, rudert – oder das Boot kentert,“ brüllte Baluweit.

Noch im letzten Augenblick gelang es ihm, die Gefahr zu vermeiden. Die haushohe Welle jagte unschädlich vorüber.

Nun ging’s dem Land zu. Malzahn, der durch das Glas nach dem Dampfer hinschaute, rief jetzt ganz atemlos:

„Das Schiff wendet – das Vorderteil liegt schon sehr tief im Wasser. Keine Frage – der Kapitän will versuchen, es auf den Strand zu setzen.“

„Da wird’s höchste Zeit, daß wir uns dünne machen,“ brummte Karbuschke. „Denn – kriegen uns die Belgier in die Finger, so jebe ick for mein Leben keenen Sechser mehr.“

Des Berliners Sorge war jedoch überflüssig. Unangefochten vermochten die Deutschen in der Nähe des Wracks zu landen, während der Dampfer weiter westlich schwerfällig dem Ufer zustrebte.

Baluweit wußte nur zu gut, daß er mit den Seinen hier jetzt nicht länger bleiben könne. In kurzer Zeit würde das Transportschiff, nachdem es festgefahren war, mit Hitler seiner Boote die aufgenommenen Truppen an den Strand bringen. Also hieß es ein neues Versteck weiter landeinwärts suchen.

Schnell waren die Sachen, die man in dem Wrack zurückgelassen hatte, zusammengerafft, und dann ging’s durch die Dünen nach Süden zu. Eile tat not. Bald mußte ja der Morgen heraufdämmern. Und bis dahin war’s nötig, einen sicheren Zufluchtsort zu finden. Sonst hatte man die Belgier bald hinter sich.

Schweigend marschierte der kleine Trupp dahin. Nur hin und wieder machte einer eine Bemerkung, die den so gut geglückten Streich betraf. Nur Karbuschke war nicht ganz mit diesem Ausgang zufrieden. Daß die Feinde nun doch wieder die Küste erreichen würden, gefiel ihm sehr wenig. Aber Baluweit beruhigte ihn schnell.

„Jedenfalls haben wir sie vorläufig an der weiteren Flucht gehindert,“ meinte er. „Das ist die Hauptsache. Eher ein anderer Dampfer sie aufnimmt, sind vielleicht schon von den Unseren genügend hier, um die ganze Bande gefangen zu nehmen.“

Man passierte gerade eines der lichten Dünengehölze. Der Unteroffizier, der neben Malzahn ein paar Schritte voraus war, warf sich plötzlich lang auf den Boden hin. Auch der Freiwillige tat dasselbe.

Da schallte es auch schon von vorn, wo eine Anzahl Reiter neben einem Gebüsch hielt, zu den Überraschten herüber:

„Halt – wer da?“

Deutsche Laute! Wie ein Blitz war Baluweit wieder hoch.

„Hier deutsche Pioniere,“ rief er zurück.

Der Reiter hatte sich inzwischen hinter das Gebüsch geduckt.

„Kann jeder sagen,“ tönte es von drüben. „Wie kommen Pioniere hierher? – Schickt einen einzelnen Mann zu uns. Sonst schießen wir.“

Furchtlos schritt Baluweit auf das Gebüsch zu. Ein deutscher Dragoneroffizier trat ihm entgegen.

„Wahrhaftig – ein Pionier! Mann, was tun Sie denn hier?“

Da erstattete Baluweit kurzen Bericht. Staunend hörte der Leutnant zu.

„So – also die Bedeutung hat der Knall gehabt,“ meinte er dann. – „Und wir glaubten schon, daß englische Kriegsschiffe in der Nähe seien, hielten den Krach für einen Kanonenschuß. Nun – jedenfalls sind wir gerade zur rechten Zeit erschienen. Wir gehören zu einer Kavalleriedivision, die gestern über West-Capelle nach Nordwesten vorgestoßen ist, um den Resten der belgischen Armee den Weg zu versperren. Ich werde sofort dem Divisionskommandeur Meldung erstatten. In einer Stunde kann die Division heran sein. Sie bleiben mit Ihren Leuten hier und beobachten den Feind, – verstanden, Unteroffizier?“

„Zu Befehl, Herr Leutnant.“

Die Dragoner-Patrouille sprengte davon. Die Pioniere aber pirschten sich vorsichtig wieder durch die Dünen nach dem Strand zu.

Dort war es mittlerweile recht lebendig geworden. Eine große Anzahl der Bewohner des nahen Hafenortes war auf die Explosion hin, deren Schall die Fenster ihrer Häuser beinahe zum Zerspringen gebracht hatte, den Strand entlanggeeilt und suchte sich an dem Rettungswerk für die Insassen des auf Land gesetzten Schiffes zu beteiligen. Dort, wo der Dampfer jetzt schief im flachen Wasser lag, gingen unaufhörlich die Boote vom Strand zum Ufer hin und her. Wildes Rufen, auf- und abtanzende Laternen und Windlichter kennzeichneten genau die Stelle, wo der Truppentransport wieder ausgeschifft wurde.

Jedenfalls bot es Baluweit keine großen Schwierigkeiten, in gut gedeckter Stellung von der Höhe der Dünen aus all diese Vorgänge heimlich zu beobachten. Die Aufregung unter den Belgiern und die Kopflosigkeit der militärischen Führer ließ sie die notwendigsten Vorsichtsmaßregeln vergessen. Anstatt von den gelandeten Truppen sofort einen Teil zur Aufstellung einer in das Binnenland vorgeschobenen Postenkette zu benutzen und sich so gegen eine doch bei der ganzen Sachlage immerhin mögliche Überrumpelung durch deutsche Streifabteilungen zu sichern, bildete alles – Soldaten und Zivilbevölkerung – am Strand eine erregt durcheinanderlaufende Masse.

Auch Artilleriematerial wurde jetzt, wie an dem weithin hörbaren Rasseln der Ketten von Dampfwinden zu merken war, ausgeladen. Inzwischen war das Licht der Sterne immer mehr verblaßt. Im Osten zeigte sich schon der erste hellere Schimmer des heraufziehenden Tages. Und die Stunde, die der Dragonerleutnant für das Anrücken der Kavalleriedivision als notwendig erachtet hatte, war gleich vorüber. Daher schickte Baluweit jetzt den Freiwilligen Malzahn und zwei Mann nach dem Gebüsch zurück, wo man vorhin auf die deutschen berittenen Kameraden gestoßen war.

Malzahn fand sich ganz gut trotz der noch herrschenden Dunkelheit im Gelände zurecht. Kaum war er bei dem Gebüsch angelangt, als auf dem daran vorüberführenden Feldweg auch schon das Geräusch heranrückender Reitermassen vernehmbar wurde. Erst kam eine von demselben Dragonerleutnant geführte Spitze, bei der sich auch der Divisionskommandeur befand.

Malzahn meldete sich und gab auf alle Fragen erschöpfende Auskunft.

Ordonnanzoffiziere jagten zurück. Die Kavallerie saß ab. Nur ein Regiment ritt weiter nach Westen zu am Rande der Vordünen entlang, um auch nach dieser Richtung hin den eisernen Ring schließen zu helfen.

Zwei Batterien Feldartillerie rasselten heran. Maschinengewehrabteilungen folgten, wurden auseinandergezogen und in den Dünen postiert. Patrouillen sicherten diese Entwicklung der Divisionen, die wie alle selbstständig operierenden Kavalleriemassen auch Geschütze und Maschinengewehre bei sich hatte.

Still und in musterhafter Anordnung gingen die abgesessenen Reiter in Schützenlinien vor. Die erteilten Befehle erwiesen sich als so zweckentsprechend, daß im Verlauf einer knappen halben Stunde alles bereit war, um die waffenstarrende Falle zuklappen zu können.

Malzahn hatte sich einem vorrückenden Dragonerzug angeschlossen und traf dann auch bald auf seinen Unteroffizier, der noch immer auf dem Kamm einer besonders hohen Düne, etwa sechshundert Meter vom Strand entfernt, den Feind beobachtete. Zwei Maschinengewehre wurden jetzt hier in Stellung gebracht. Das Tageslicht nahm zu. Eine fahle Dämmerung lagerte über dem Strand und der nahen See.

Dann kam plötzlich in die Menschenmassen unten am Ufer Bewegung. Man hörte Kommandorufe, ängstliches Schreien. Die Menge löste sich auf und flutete in kleineren Trupps dem nahen Hafenort zu. Ohne Frage war die Nähe der deutschen Truppen jetzt doch bemerkt worden.

Aber sehr bald kehrten die Leute, die noch gehofft hatten, die Häuser des Ortes zu erreichen, wieder um. Eilenden Laufes kamen sie daher, drängten zu den Booten, die sie aus dem Bereich der gefürchteten ‚Barbaren’ bringen sollten. Und nun kam auch etwas wie Ordnung in die Massen des belgischen Militärs, das, wie später festgestellt wurde, aus Versprengten aller Waffengattungen bestand. Kleinere Abteilungen näherten sich in Schützenschwärmen dem Dünenglände. Offenbar sollten sie aufklären, wo der Gegner stand und wie stark er sei.

Da – der erste Schuß aus einem deutschen Geschütz. Er war auf den Dampfer gezielt und schlug kurz vor dem Schiff in das Wasser ein. Ein zweiter Schuß – der Schornstein war hin.

Durch den weiten Bogen, mit dem deutscherseits der Strand abgesperrt war, eilte von Mund zu Mund ein Befehl.

„Nicht eher schießen, als bis eines der Maschinengewehre zu feuern beginnt.“

Offenbar wollte der Divisionskommandeur also unnötiges Blutvergießen verhindern.

Die vorgehenden belgischen Soldaten hatten bei dem ersten Donner des Geschützes unschlüssig Halb gemacht. Aber ein paar Offiziere, die eilfertig hin und her rannten, trieben sie wieder vorwärts. Fächerförmig suchten die Belgier sich auszubreiten. Besonders nach Westen hin wurden jetzt stärkere Abteilungen in Marsch gesetzt. Die Zahl der Feinde mochte, wie nun schon mit Leichtigkeit deutscherseits zu erkennen war, etwa tausend Mann betragen.

Indessen hatte die deutsche Artillerie sich tadellos auf den Dampfer eingeschossen und dessen Rumpf mehrfach getroffen, so daß an Bord bereits hie und da Rauch und Flammen aufstiegen. Kein Boot wagte mehr, sich dem Schiff zu nähern. Und als nun die beiden größten Rettungsboote, vollgepfropft mit belgischen Soldaten, die hohe See zu gewinnen suchten, begannen die Geschütze mit Schrapnells zu feuern, worauf die Flüchtenden schleunigst wieder umkehrten und an den Strand kamen.

Jedenfalls war bisher noch nicht ein einziger Gewehrschuß gefallen. Die Lage der Belgier war ja auch derart verzweifelt, daß der deutsche Divisionskommandeur beruhigt die Entwicklung der Dinge abwarten konnte.

Bis auf zweihundert Meter ließ man den Feind heran, der in dem welligen Dünengelände allerdings auch für sich selbst ebenso gute Deckung fand wie dies bei den Deutschen der Fall war. Gerade an der Stelle, wo Baluweit sich mit seinen fünf Mann in die Schützenlinien eingereiht hatte, fiel die Entscheidung.

Ein Offizier mit einem weißen Taschentuch in der Hand, das er eilfertig schwenkte, ging den Belgiern auf Befehl des Divisionskommandeurs entgegen. Gleichzeitig schwiegen die Geschütze.

Der Kürassieroffizier, ein wahrer Hüne von Gestalt, kam unangefochten bis dicht an den Gegner heran und ließ sich dann zu dem belgischen Oberst führen, der hier das Kommando als Rangältester übernommen hatte.

Die Verhandlungen zogen sich eine Viertelstunde hin. Dann hatte der Oberst eingesehen, daß ihm nichts anderes übrigblieb als sich zu ergeben. Die belgischen Abteilungen wurden zurückgerufen und mußten dann, nachdem sie ihre Waffen auf einen Haufen zusammengeworfen hatten, in Trupps von je zehn Mann und in Abständen von zwanzig Metern nach den deutschen Schützenlinien hinüber gehen, wo sie sofort in Empfang genommen und nach dem Hafenort transportiert wurden, der inzwischen gleichfalls von zwei Schwadronen besetzt worden war.

Ein unblutiger Sieg war errungen. Außer den tausend Gefangenen, worunter sich sieben Offiziere befanden, fielen der deutschen Kavalleriedivision noch zwölf neue Feldgeschütze und beträchtliche Mengen Munition in die Hände, die zum Teil auf den Dampfer lagerten, dessen brennende Stellen schnell gelöscht werden konnten.

Der Divisionskommandeur fand für Baluweit gar nicht genug Worte des Lobes.

„Was Sie mit Ihren fünf Mann geleistet haben, Unteroffizier, das zeigt deutlich, welch’ trefflicher, wagemutiger Geist in unseren Leuten steckt. Seien Sie sicher, die entsprechende Belohnung wird nicht ausbleiben.“

Nacheinander gab der General jedem der Pioniere die Hand. Und auch die Herren seines Stabes wetteiferten miteinander, den wackeren Helden allerlei kleine Aufmerksamkeiten zu erweisen. Es regnete förmlich Zigarren. Feldflaschen, gefüllt mit kräftigeren Sachen als Tee und Kaffee, streckten sich ihnen entgegen.

Vier Tage später waren sie dann wieder in Brügge bei ihrer Kompagnie. Baluweit mußte persönlich zum kommandierenden General, um mündlich über den kühnen Streich genauen Bericht zu erstatten. Schon am Nachmittag durfte er den Offiziersäbel anlegen. Er war zum Vizefeldwebel befördert worden, während seine fünf Begleiter die Gefreitenknöpfe erhielten.

Damit war die Sache aber durchaus noch nicht erledigt. Wieder eine Woche später trafen bei der Pionier-Kompagnie eine Anzahl Eiserne Kreuze ein – für Baluweit sogar zwei, eins erster und eins zweiter Klasse, für die fünf neuen Gefreiten je eins zweiter Klasse.

„Alle Wetter!“ meinte Karbuschke freudestrahlend zu seinen vier Kameraden. „Kinder, nu sehn wir doch erst richtig forsch aus! Na – und für’s Eiserne Kreuz, da würd’ ick die janze Tour jern noch eenmal machen, allens, so von Brügge durch die Kanäle zu den ollen Müller und weiter bis an die See. Spaß hat’s doch gemacht, wenn’s auch son bisken anstrengend war.“

 

 

Anmerkungen:

  1. Sprechen Sie französisch?
  2. Belege einer Beschlagnahme