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Der Kongreß der Stummen

 

 

Harald Harst

 

Band: 346

 

Der Kongreß der Stummen

 

Von

Max Schraut

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 16,
Michaelkirchstraße 23a

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1933 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16

 

1. Kapitel.

Die Frau mit dem geheimnisvollen Auftrag.

Die nächtliche Finsternis war so dicht, daß der herbstliche Park mit seinen weiten Rasenflächen und Baumgruppen zusammen mit dem pechschwarzen Gewölk des Himmels ein untrennbares Ganzes zu bilden schien.

Der hohle, schwache Wind, der so matt durch die Buchenwipfel strich, erzeugte kaum ein Säuseln … Es klang wie das Flüstern von Kobolden, die sich bei dieser Dunkelheit an die Erdoberfläche gewagt hatten …

In dieser Finsternis, die nicht die Hand vor Augen sehen ließ, erklang außer dem Flüstern der unsichtbaren Kobolde vom Brunnenrand her, dessen weiße Einfassung nur ein fahl-helles Oval in dieser drückenden Dunkelheit ahnen ließ, das unheimliche, unverständliche, abgehackte Gestammel eines Menschen, der nicht vollends Herr seiner Sprechwerkzeuge ist und der sich dennoch verzweifelt bemüht, sich irgendwie verständlich zu machen.

Es war ein alter Landstreicher, der auf dem Rande der Fontäne zwischen zwei genau so verschwommenen Gestalten saß.

Der Mann war als Stromer echt, goldecht.

Er stank …

Es war der Geruch eines ungepflegten Körpers, muffiger Lumpen, Pfeifenrauchs und Fusels.

Wir hatten den alten Burschen vorhin abgefaßt, als er die Villa Saduzzi durch die prunkvolle Haupttür verlassen hatte, und die eisernen Griffe unserer Hände belehrten ihn schnell, daß es keinen Zweck hätte, sich irgendwie zu wehren.

Harst sagte zu mir ganz gedämpft in Esperanto, das der Strolch wohl kaum verstehen würde:

„Es hat keinen Sinn … Nehmen wir ihn mit. Der Mann ist stumm, aber vielleicht kann er lesen und schreiben.“

Er sprach absichtlich rauh und sehr heiser, und ich erwiderte genau so rauh:

„Was erhoffst du von ihm?!“

„Wir werden sehen … – Verbinde ihm die Augen.“

Und zu dem Alten meinte er beruhigend:

„Sie haben nichts zu fürchten … Wir sind nicht Beamte …“

Der Strolch lachte leise …

Es klang furchtbar – wie das Röcheln eines sterbenden Teufels.

Aber der alte stinkende Bursche bereitete uns weiter keine Schwierigkeiten, wir führten ihn vorsichtig zur fernen Mauerpforte und in das auf den Feldweg einsam und ohne Lichter harrende Auto.

Auf dem Führersitz der schweren Limousine, deren blanke Metallteile bei dieser beängstigenden Finsternis unklar und matt wie hingestreute Glasscherben schimmerten, saß ein Etwas, das mit noch krächzenderer Stimme fragte:

„Wen bringen Sie da?!“

Dann funkte eine Taschenlampe auf, unser Schofför betrachtete den Stromer, dem die Mühe tief ins Genick gerutscht war, und der Lichtfaden verkroch sich wieder …

Plötzlich hüstelte unser Fahrer sehr hell, und dieses Hüsteln endete mit dem täuschend nachgeahmten Zirpen einer Grille.

Was dann folgte, war die schmählichste Niederlage, die wir je erlebt haben.

Wir hatten den alten Burschen unterschätzt, seine Fäuste waren wie Schmiedehämmer, ich landete links auf einem Haufen Kartoffelkraut, und Harsts unfreiwilliger Purzelbaum endete in ekligen Brombeeren, wie ich nachher feststellte.

Blitzschnell waren die Schläge erfolgt, blitzschnell flogen wir von den Trittbrettern in die pechschwarze Nacht, blitzschnell ruckte der Wagen an, und wutschäumend stierte ich dem Scheinwerferlichte nach, das rasch jenseits des Hügels verschwand.

Mein Schädel brummte wie ein Propeller, und es blieb bei alledem ein sehr schwacher Trost, daß auch Harald später eine wundervolle Stirnbeule als Andenken an zwei Unbekannte tagelang liebevoll mit Puder schamvoll bedecken mußte.

Stumm saßen wir eine Weile am Wegrande. So, wie die Dinge lagen, mußten wir zu Fuß ins nächste Dorf.

Harst blieb stumm. Ich begriff das durchaus, denn das Benehmen unserer geheimnisvollen Klientin und des Stromers waren ein unerschöpfliches Thema für spürende Gedanken.

Im Dorfe fanden wir das Wirtshaus noch offen, und der dicke, gemütliche Herbergsvater glaubte uns ohne weiteres, daß wir Tagestouristen aus Berlin seien, uns nur verirrt hätten und mit dem Schädel im Walde gegen Bäume gelaufen seien. – Er führte uns in ein behagliches Fremdenzimmer mit zwei Betten, brachte uns Erfrischungen, heizte den Ofen, und dann wünschte er uns angenehme Ruhe.

Im Ofen bullerte ein Riesenfeuer von Tannenscheiten, die Ofentür stand offen, und die Wärme umstrahlte uns so freundlich und der Grog war so vorzüglich, daß ich die Dinge bereits etwas freundlicher betrachtete, – trotz der Beule …

Wir hatten eben Pech gehabt.

Harst, in einen Lehnstuhl vergraben, rauchte minutenlang wieder stumm wie ein Fisch seine Zigarette und aß mitunter einen Happen des famosen Landschinkens.

„Also sie kannte ihn und erkannte ihn sofort trotz des Taschentuches, das du ihm vor die Augen geknotet hattest“, sagte er dann ganz unvermittelt. „Woran erkannte sie ihn? Sahst du die Stirnnarbe dicht am Ansatz des buschigen grauen Haares, mein Alter?“

„Nein, aber ich sah, daß der Strolch eine einzelne schneeweiße Strähne hatte, etwa in der Scheitellinie.“

Horst nickte lebhaft. „Immerhin zwei Kennzeichen! – Und was hältst du von der ganzen Geschichte?“ Seine Gleichgültigkeit war wie weggewischt. „Überlegen wir uns …! Heute früh ruft jemand bei uns an, eine Dame … Verspricht uns tausend Mark, wenn wir den Park und die Terrasse der Villa Saduzzi in der kommenden Nacht beobachten und Leute, die die Villa um elf Uhr verlassen würden, abfangen wollten, da es Einbrecher seien, denn Professor Saduzzi sei verreist. – Mehr war aus der Klientin nicht herauszuholen. – Wir willigen ein, treffen uns um Neun mit ihr in einer dunklen Straße, die Frau sitzt verkleidet als Schofför am Steuer, ist völlig unkenntlich, sie gibt uns das Honorar und wir fahren nach Potsdam in einem geradezu höllischen Tempo … Dann sagt sie uns Bescheid, wo wir die Parkpforte finden würden, beschreibt uns Park und Villa und wir lauern auf der Terrasse, bis der alte Strolch aus der Haustür schlüpft – genau um elf Uhr. Und dann merken wir: der Mann ist stumm, bringen ihn zum Auto, und unsere Klientin entführt ihn uns und entflieht selbst! – Eine verrückte Geschichte!“, schloß er lächelnd.

Sein Lächeln kenne ich. „Noch viel verrückter ist die Frage“, erklärte ich erquickend grob, „weshalb du dich überhaupt auf die oberfaule Geschichte eingelassen hast!“

Er streckte mir impulsiv die Hand hin. „Max Schraut, wenn du die Frage jetzt nicht gestellt hättest, würde ich es aufgegeben haben, jemals aus dir einen brauchbaren Detektiv zurechtzukneten. – Also weshalb ich die tausend Mark mit in Kauf nahm? Nun – – des Kongresses der Stummen wegen!“

Er sagte das so merkwürdig ernst, daß ich stutzig wurde. – Ein Kongreß der Stummen ist heutzutage, wo schon die internationalen Hochstapler fast in aller Öffentlichkeit Tagungen abhalten und belehrende Erfahrungen austauschen, absolut nichts Aufregendes mehr. Nur Harsts ungewöhnlich ernster Ton ließ vermuten, daß es mit dem Kongreß der Stummen doch eine ganz eigene Bewandtnis habe müßte.

Leider klopfte es jetzt, der dicke Wirt, wahrscheinlich sein bester eigener Gast der Nasenröte nach, kam hereingestolpert und hielt sich leichenblaß am Türrahmen fest.

„Meine … Herren …“, er konnte nur stottern, „es … ist ein schreckliches Unglück geschehen … Nebenan …“ – er zitterte voller Angst – „liegt … ein … Fremder … tot, – ich weiß nicht … Ich weiß gar nichts … Ich hörte die Haustür klappen, und …“

Aus seinem wirren Gerede war nicht klug zu werden.

Harst winkte mir, im Nebenzimmer fanden wir vor der Verbindungstür zu unserem Zimmer, die hier durch dicke Vorhänge verdeckt war, denselben Stromer zusammengekrümmt liegen, der uns vorhin die tadellosen Fausthiebe versetzt hatte.

Harald bückte sich, beleuchtete die armselige Gestalt, lief plötzlich in unser Zimmer zurück, holte seinen Rucksack, entnahm ihm die kleine Reiseapotheke, machte dem Alten zwei Injektionen und legte ihm dann ein Kissen unter den Kopf.

„Gehen Sie schlafen, Herr Brandt!“, meinte er befehlend. „Der Stromer ist vor Hunger und Erschöpfung ohnmächtig geworden. Wir sorgen schon für ihn … Es hat nichts zu bedeuten.“

Herr Brandt atmete sehr erleichtert auf. „Ich danke Ihnen, meine Herren …“, – und seine feiste Gestalt verschwand in höchster Eile.

„Schließe die Tür, mein Alter!“, – Harst selbst rührte sich nicht, ließ nur die scharfen Augen umherwandern und deutete stumm auf die zugezogenen Fenstervorhänge.

Auch dies hier war eins der hübschen Fremdenzimmer des Gasthofes „Eldorado“. Es war unbelegt und kalt, aber blitzsauber. Im Sommer hatte das „Eldorado“ stets zahlreiche Gäste, jetzt im Oktober war die Saison natürlich abgeflaut.

Mein Freund fühlte dem Alten den Puls.

„Er wird am Leben bleiben …“, erklärte er leise. „Und das wird gewissen Leuten sehr gegen den Strich gehen. Wenn der Wirt nicht infolge des Geräusches der Haustür hier oben auf Einbrecher gefahndet hätte, wäre es ein vollendeter Giftmord geworden.“

Ich war starr. – „Giftmord, Harald?“

„Natürlich … Bitte schau dir den linken Handrücken unseres Fremden an …! Die Schramme ist nur dünn, aber blau-grün an den Rändern verfärbt, – – sehr eigentümlich!“

„Was hast du ihm injiziert?“, fragte ich verwirrt.

„Das Allheilmittel gegen Herzschwäche … Der Mann besitzt eine zähe Natur … Das Herz arbeitet schon kräftiger …“

Er schritt nun auf die Vorhänge zu, die die Verbindungstür verhüllten, beleuchtete sie mit der Taschenlampe und schüttelte wiederholt den Kopf.

„Das sieht nach Weiberarbeit aus“, murmelte er. „Stecknadeln mit Glasknöpfen …!! – Anders konnte die Schramme am Handrücken nicht entstanden sein. Der Alte sollte uns belauschen, in Wahrheit sollte er sterben … Als er die Vorhänge anfaßte und sie auseinanderschlug, um besser hören zu können, ritzte er sich die Hand, – – wie gemein, dieser Mordversuch!“

Ich trat neben ihn, noch völlig benommen.

Es ist wirklich nicht so einfach, Harsts blitzschnellen, sprunghaften Schlußfolgerungen das wirklich Wichtige zu entnehmen …

„Halte mal die Lampe …“, bat er.

Dann zog er aus den Innenrändern der Doppelvorhänge acht Stecknadeln mit allergrößter Behutsamkeit hervor, legte sie in seine Brieftasche und meinte nur:

„Ob sie es war?! Dann kommt sie wieder. Kühn genug ist sie! Sie wird die Stecknadeln entfernen wollen.“

 

2. Kapitel.

Der Bund der Stummen.

Der Stromer lag auf dem Sofa, und sein verkommenes, stoppelbärtiges Gesicht hatte wieder etwas Farbe, seine stillen, gehetzten Augen belauerten uns beide, die wir wieder vor dem Ofen saßen und uns wärmten und unseren Gedanken nachhingen.

Nach geraumer Weile wandte Harst den Kopf und fragte den Fremden leise: „Können Sie schreiben und lesen?“

Der alte Landstreicher grinste beschämt und schlackerte verneinend den grauen Schädel mit der Narbe und der weißen Haarsträhne.

„Er lügt“, sagte Harst in Esperanto und rauchte weiter und starrte in die Glut des Ofens.

– Es gibt immer wieder Situationen, in denen sich selbst dem kühlsten Verstande ein Gefühl des Unwirklichen, Traumhaften aufdrängt.

Stimmung …, eine ganz seltsame Stimmung beherrschte mich …

Und zerriß jäh, wurde nüchternste Wirklichkeit, als Harst, nun offenbar zu einem bestimmten Entschluß gelangt, kraftvoll und mit den unverkennbaren Falten eisigster Energie um den Mund sich erhob und in einem Wasserglas eine Tablette aus der Reiseapotheke zerfallen ließ.

„Trinken Sie! Sie müssen schlafen, mein Freund!“, sagte er zu dem Landstreicher so befehlend, daß der Mann gehorchte, wenn auch zögernd. – Er hob ihm den Kopf, er gab genau acht, daß nichts im Glase übrigblieb, daß der Alte auch wirklich schluckte, und erst, als er sich hiervon überzeugt hatte, raunte er ihm zu: „Sie sind niemals ein Stromer! Wer Sie sind, wird sich herausstellen. Alles kann man bei einigem Geschick verändern, nur den intelligenten Blick nicht!“ – Und zu mir: „Schließe die Ofentüren – beide!!“

Ich tat’s, und das Zimmer versank in Finsternis.

Neben mir, dicht an meinem Ohr tuschelte Haralds Stimme: „Nimm dein Werkzeug … auch den Mantel … Leise!! Drüben ist’s kalt!!“

… So jäh wechselt gedankenvolle Träumerei mit ereignisreichstem Wachsein.

Lautlos ging die Tür auf, wir schlichen in den Flur, – lautlos verschloß Harald die Tür, lautlos betraten wir das finstere Mordzimmer.

Auf der Schwelle hielt Harst mich zurück.

„Warte und horche!“

Es war nichts zu hören …

Trotzdem stand er minutenlang still, schloß dann erst die Tür und zog mich in die Türnische, deren dicke Vorhänge ein hinterlistiges Wesen vorhin mit Stecknadeln gespickt hatte. Ich wußte längst, daß das Geräusch der zuklappenden Haustür, das den Wirt gewarnt hatte, nur ein Zeichen des eiligen Rückzugs der Attentäterin gewesen. Ich wußte aber nicht, wem die Stecknadeln gegolten hatten. – Wirklich dem Stromer, der kein echter Stromer sein sollte, oder gar uns, die alle die zu fürchten hatten, deren Gewissen nicht ganz sauber war?! Auf Harsts scheinbare Behauptung, der alte, bärenstarke Mann hätte ermordet werden sollen, war nichts zu geben. Auch Harst benutzt der Worte leichten, betörenden Fluß zu allerhand Irreführungen. –

Es waren noch keine zehn Minuten verstrichen, als von den Fenstern her ein kaum wahrnehmbares Geräusch ertönte und urplötzlich in dieser erstickenden Finsternis etwas so Seltsames sichtbar wurde, daß minder gute Nerven an höllischen Spuk gedacht hätten – – Gehirnnerven.

In der pechschwarzen Finsternis leuchteten grüngelb zwei menschliche schmale Hände mit verwaschenen Konturen und bewegten sich …

Wieder knackte eine Diele …

Wieder rauschte es leise wie von einem seidenen Regenmantel, an dem die Seide eines Kleides sich reibt …

Die Dunkelheit war vollkommen.

Sie hing vor uns wie ein schwarzes Tuch, auf dem nur die Hände matt glänzten und langsame, unbestimmte Bewegungen taten.

Die eine Hand war halb geschlossen, und aus dieser Hand sprang nun, uns völlig blendend, eine Lichtbahn, grell und weiß, blitzartig hervor, huschte über die Dielen vor dem Vorhang und erlosch, so daß nur wieder die mit Leuchtfarbe getränkten Handschuhe der fremden Person dort am Fenster sichtbar blieben.

Harst sprang zu, – – ein leiser Schrei, ein Splittern von Glas, und draußen im Wirtsgarten das dumpfe Aufschlagen einer umstürzenden Leiter. Erst nach mehreren Minuten kommandierte Harald sehr gedämpft:

„Licht!!“

Er lehnte sich nun erst zum Fenster hinaus. Die eine Scheibe des offenen Flügels war zertrümmert.

Draußen lag nur noch die Leiter, und die Dunkelheit jenseits des Lichtstreifens unserer Taschenlampen war bester Schutz für den Flüchtling.

„Licht aus!!“

… Wir horchten … Minuten verstrichen …: Dann irgend woher das leise taktmäßige Surren eines Autos, rasch verstummend.

„Wieder Pech gehabt, mein Alter!“, flüsterte Harald. „Nun, können wir schlafen gehen, denn …“

Er schwieg, hielt den Atem an …

In der Nähe erklang ein Pfiff, dann fuhr eine kleine Handrakete in die Luft, warf grüne Sternchen aus, und – – alles war wie zuvor.

Harst lachte trocken …

„Lebewohl, Freund Stromer!!“

„Du meinst?!“, fragte ich überstürzt.

„Komm’ nur …“

Das Sofa war leer, eins unserer Fenster nur angelehnt.

Harst schloß es, ging zu Bett und sagte nur mit philosophischer Ruhe: „Gute Nacht, Max Schraut … Die Geschichte wird uns noch viel Arbeit machen.“ – –

Am nächsten Tage fragte mich Harst nach dem Mittagessen in unserem kleinen Eigenheim, Berlin W., Arnoldstraße, ob ich inzwischen über die Vorkommnisse der letzten Nacht irgendwie ein kleines Bild gewonnen hätte.

Ich verneinte ehrlich.

Wir hatten übrigens über die ganze Angelegenheit kein Wort mehr gewechselt. Nur sein Material über den Kongreß der Stummen hatte er mir zur Durchsicht überlassen, es war sehr mager, und nur zwei Punkte fielen mir in der Unmenge von Zeitungsausschnitten und aus deren harmlosen Inhalt notwendig auf.

1.) Der Kongreß tagt diesmal in der Villa Professor Saduzzis, eines berühmten Krebsforschers und Operateurs, in der Zeit vom 15. bis 20. Oktober des Jahres und

2.) ein bekannter amerikanischer und ein weniger bekannter holländischer Philanthrop hatten den Mitgliedern des Bundes der Stummen zwei Millionen gestiftet, über deren Anlage und Verwendung der Bund nun auf dem Kongreß in einer Versammlung des Vorstandes endgültige Beschlüsse fassen sollte. –

Trotzdem maß ich auch diesen beiden Punkten keine besondere Bedeutung bei. Saduzzi war, wenn auch naturalisierter Ausländer, eine anerkannte Größe seines Faches, und daß schwerreiche Wohltäter einem Bund der Stummen Millionen spenden, war auch nicht weiter aufregend.

Harst hatte, nachdem ich seine Frage verneinend beantworten mußte, zunächst eine frische Zigarette angezündet und meinte nun in seiner knappen Ausdrucksweise: „Die leuchtenden Hände waren mir das Wichtigste. – Der Anschlag galt dem Pseudo-Stromer, – das heißt, der Mann ist wirklich zum Landstreicher herabgesunken, er sollte sterben, und die Unbekannte, die uns die tausend Mark für den seltsamen Auftrag zahlte, war die Erfinderin des Gedankens, den Alten zu bestechen, damit er uns belauschte und dann durch die Stecknadeln stürbe …“

Ich war nicht ganz so fest überzeugt von dieser Theorie. „Und die Geisterhände?!“, warf ich aufmunternd ein.

Harald lächelte unmerklich. – Seit dem Ableben unseres jungen Freundes Fred Steen, der dort in St. Juif den Tod gefunden hatte (vergl. den vorigen Band „Das Geheimnis von St. Juif“), war Harst stets sehr ernst und traurig gewesen, und einmal hatte er so nebenbei geäußert, er würde erst wieder seine alte Elastizität zurückgewinnen und über diesen Verlust hinwegkommen, wenn er Gelegenheit fände, einem genau so jungen Menschenkinde, wie Fred es gewesen, das Leben zu retten oder es doch zumindest vor schwerster Gefahr zu schützen.

Er lächelte, – und ich freute mich darüber. Aber der frohe Glanz hinter meinen Brillengläsern erstarb, als Harst in die Tasche faßte und ein Paar merkwürdig zerknitterte graue Damenhandschuhe aus Glaceleder, jedoch vielfach beschabt, vor mich hinlegte.

„Bitte, das fand ich heute früh im Straßengraben der Chaussee unweit des Gasthofes „Eldorado“. Du zogst es vor, einen Abschiedsgrog mit Herrn Brandt zu trinken. Ich zog es vor, mich draußen umzusehen.“

Ich fühlte mich beschämt. – „Sind es die „Leuchtenden Hände“, Harald?“

„Was sonst?! – Es sind die leuchtenden Hände, mit denen die zweite Frau unserem Stromer durch das Fenster Zeichen gab, als wir nebenan zunächst nicht zum Fenster hinauszuschauen wagten. Diese zweite Frau verständigte sich also mit unserem Strolch in der Fingersprache, wie sie unter Taubstummen üblich ist und verhalf ihm zur Flucht. Die Rakete brannte der Stromer als Zeichen ab, daß er entkommen sei, und die „Leuchtenden Hände“ werden ihm die Rakete und die Zündhölzer draußen auf das Fenstersims gelegt haben.

Nachher nahm die Frau den Flüchtling an der mit ihm vereinbarten Stelle in ihren Wagen auf, bevor meine Schlaftablette noch wirkte. – Ich denke, ich werde mich in alledem kaum zu irrigen Schlußfolgerungen haben verführen lassen. – Was würdest du nun tun?“

Derartige Fragen sind mir stets etwas unbequem. Ich zucke dann gewöhnlich die Achseln und spiele den großen Schweiger. – Harald deutete auf die Handschuhe. „Sie’ sie dir an …! Billigste, getragene, gestopfte Ware! Die „Leuchtenden Hände“ sind nicht reich und werden das Auto gemietet oder eine Taxe benutzt haben. Ich habe bereits die Detektei Schirmer beauftragt, überall Nachfrage zu halten … Derartigen Kleinkram können wir nicht allein erledigen … – Es wäre dies die einzige Art, vielleicht den Namen der leuchtenden Hände zu erfahren, denn die Villa Saduzzi möchte ich vorläufig noch nicht behelligen, zumal draußen auf der Straße seit elf Uhr ein paar Eckensteher den heute so heiteren Himmel anglotzen und nur immer mit einem Auge nach unserem Hause schielen, – das heißt, wir werden scharf überwacht. Die Dame, die uns tausend Mark und acht vergiftete Stecknadeln spendete, hat eben ihre „Grillen“ hierher kommandiert … Elegante Frauen haben ihre Schrullen und Grillen, dieses Weib hat männliche Grillen mit zwei Beinen zur Verfügung … Ich fürchte, der famose „Bund der Stummen“ wird demnächst auffliegen, und in Moabit (das Berliner Untersuchungsgefängnis) werden die Zellen sehr knapp werden und die Grillen nicht mehr zirpen … – Wir sind uns doch wohl darüber einig, daß die Dame mit dem Tausendmarkschein nicht zufällig „zirpte“, – und ein so tadellos imitiertes harmloses Signal sagt mir, daß innerhalb dieses Bundes der Stummen, dem anerkannt einwandfreie Gelehrte und Künstler angehören, insgeheim Dinge betrieben werden, die dem Scharfrichter Arbeit geben könnten.“

Damals fiel zum ersten Male aus Haralds Munde der Ausdruck „Grillen“ für bestimmte Leute.

Die Königsgrille sollten wir erst später kennenlernen.

 

3. Kapitel.

Der stumme Stromer Professor Gerty.

Anneliese Gerty stand im Sonnenschein des Vorgärtchens und blickte glücklich über den heute recht belebten Fluß hinweg. Der warme Oktobertag hatte nach der unfreundlichen Nacht eine Menge Ruderer und Jachtbesitzer hinausgelockt, und auch das schlanke, ranke blonde Mädchen hätte am liebsten die Arme selig ausgebreitet und irgend ein Lied hinausgeschmettert, nur um ihrem freudetrunkenen Herzen Luft zu machen.

Das Häuschen, das sie in aller Heimlichkeit hier am Havelfluß unweit Potsdam gemietet hatte, genügte ihren sehr, sehr bescheiden gewordenen Ansprüchen vollkommen.

Ihr liebliches Gesichtchen verzog sich plötzlich zu einer klaren Grimasse des Unwillens und höchster Entrüstung. Dort stand dieser aufdringliche Mensch schon wieder am abgesteiften Ufer mit seiner Angel, – – und wahrhaftig, er grüßte höflich und lächelte dabei so ungezwungen-freundlich, daß Anneliese wirklich nicht so ungezogen sein wollte, sich schroff abzuwenden. Im Grunde sah ja Herr Peter van Amsteln gar nicht übel aus und blieb stets zurückhaltend, nur in letzter Zeit hatte Anneliese das blonde Köpfchen mit anderen Dingen nur allzu voll gehabt, und da war ihr diese Zufallsbekanntschaft auch recht unbequem gewesen, und wenn sie ganz streng mit sich ins Gericht ging, mußte sie zugeben, daß weder zu Entrüstung noch Empörung Anlaß vorläge, – – mithin dankte sie ihm kühl-gemessen und schaute sich seine Anglernachbarn an, zwei schlichte Arbeiter mit Rucksäcken, – vielleicht Erwerbslose, die für ihre hungernden Familien einen lohnenden Fischfang erhofften. –

Mit dem „Fischfang“, auf den die beiden bärtigen Leute hofften, stimmte es. Nur daß sie es mehr auf Grillen wie auf Fische abgesehen hatten, nachdem ihnen heute um halb zwei mittags mitgeteilt worden, daß ein Fräulein Anneliese Gerty ein Auto in Berlin gemietet und nachts in der Nähe des Dorfes Dachsberg gewesen sei und dort aus Mitleid einen ermüdeten Landstreicher mit in den Wagen und mit nach Potsdam genommen habe, wo sie den Schofför abgelohnt und noch ein Trinkgeld für „Verschwiegenheit“ hinzugefügt hatte. – Unser Trinkgeld war größer gewesen, und der Schofför erzählte das Wenige, das er wußte. Dann hatten wir zum zweiten Male unser Heim durch die „Notröhre“, das heißt über das angrenzende Grundstück verlassen, – alles weitere war leicht zu ermitteln, und jetzt kurz nach vier Uhr waren wir bereits mit dem netten jungen Herrn bestens bekannt geworden, hörten, daß er Maler sei, in Potsdam wohne und Peter van Amsteln heiße. – Sein Deutsch verriet den Ausländer, sein strohblondes Haar und einiges andere deuteten auf einen Holländer hin.

Peter van Amsteln fehlte zum Holländer nur eins: Die beschauliche Ruhe, das Phlegma! – Gewiß er war beherrscht, gemessen, aber zuweilen kam doch sein Feuergeist zum Durchbruch, und als Harald ihn nun weiter sehr geschickt auszuhorchen suchte, trat in Amstelns blaugraue Augen urplötzlich ein so eisiger Ausdruck, daß Harald schleunigst seine Loblieder auf die Schönheit des jungen Mädchens dort im Gärtchen abbremste und gleichgültig meinte: „Entschuldigen Sie, Herr, – aber meine Tochter ähnelte dem Fräulein da, und sie ist unlängst …“ – er senkte traurig die Stimme – „… unlängst gestorben.“ – Er dachte an Fred Steen dabei.

Dann packte Amsteln sein Angelzeug zusammen, verabschiedete sich, bestieg ein kleines Motorboot und fuhr davon.

Inzwischen waren auch „Die leuchtenden Hände“ wieder im Hause verschwunden, und da die Dunkelheit nun rasch zunahm, entfernten auch wir uns scheinbar und verbargen uns hinter einem an Land gezogenen Frachtkahn.

Der bis dahin wolkenlose Himmel nahm ein düsteres Aussehen an, Wind kam auf, und wir beide waren froh, daß unsere schäbigen Rucksäcke alles enthielten, was uns unsere kalten Wachtstunden behaglicher gestalten könnte. Wir aßen, tranken, zogen die Gummimäntel, dritte Garnitur, über die schäbigen Jacken und Wollwesten und schlichen gegen sieben Uhr bei feinem Sprühregen und dichtester Dunkelheit in den nahen Vorgarten und vor das erleuchtete Fenster. Die Vorhänge und hölzernen Läden waren jedoch so gut versperrt, daß Harst mir zuraunte, wir müßten unser Heil von der Hintertür versuchen – mit Nachschlüsseln.

„… Ich muß Professor Albert Gerty sehen und hören“, fügte er entschlossen hinzu. „Wie dieser bekannte Künstler zum Landstreicher werden konnte, ist mir unbegreiflich, erst recht, wodurch er die Sprache verlor …“

Es regnete stärker … Wir glitten um die Hausecke, an die sich ein kleiner Stall anlehnte.

Zum Glück sahen wir auch die dunkle Gestalt an der Hintertür zuerst, blieben stehen und drückten uns dicht an die Stallwand.

Der Mann dort vor uns trug einen langen Mantel, Sportmütze und Schnallgamaschen. Seine Bewegungen waren völlig lautlos, hatten etwas geradezu Katzenhaftes an sich und zeigten in allem, daß der Fremde mit dieser Art Handwerk sehr vertraut sei.

Trotzdem schien das Türschloß ihm Mühe zu bereiten …

Das leise Klirren seiner Dietriche ertönte immer von neuem, und so mochten etwa zehn Minuten verstrichen sein, als Harst plötzlich mein Handgelenk umspannte und mir warnend ins Ohr zischte:

„Keine Bewegung!! – – Da – – hörst du es?!“

Ich horchte …

Der Regen plätscherte, der Wind rumorte um das Hausdach, schüttelte die letzten welken Blätter von den alten Linden und Kastanien des Hintergartens, und nur ein sehr gutes Ohr vernahm irgendwo aus der Finsternis ein helles Zirpen, das mehrmals beantwortet wurde – von anderen Stellen.

Dann – nach Minuten wieder – huschten drei Leute an uns vorüber, – an der Hintertür ertönte ein dumpfer Schlag, und die drei schleppten den Vierten eilends davon.

Harst duckte sich zusammen. „Schnell, – unsere Rucksäcke holen!! Kriechen!!“

Bevor wir dann der nahen Fahrstraße zustrebten, hatte Harald vorn an den Fensterladen geklopft und – sehr mäßig, aber sehr laut – den Grillenton erklingen lassen, worauf im Zimmer sofort das Licht erlosch.

„So, nun werden Vater und Tochter sich wohl in acht nehmen! – Zur Straße!! Hoffentlich finden wir eine leere Autotaxe!“

Wir fanden sie. Der Schofför war mißtrauisch trotz der ihm dargebotenen zwanzig Mark.

„Ich bin Harst!“, fauchte Harald ihn gereizt an. „Hier ist mein Ausweis …!“

„Oh – – dann ja!! – Also nach Dachsberg …“

„Und fahren Sie wie der Teufel! Ich setze mich neben Sie!“

Der Mann fuhr in einem Tempo, als wäre wirklich der Satan hinter ihm drein.

Harst beugte sich in den Wagen und flüsterte mir zu: „Sie werden Amsteln nur auf Umwegen nach Saduzzis Villa bringen, wenn meine Annahmen zutreffen!“ –

Die Autotaxe hielt im Walde jenseits des Dorfes, und Harst befahl dem Schofför zu warten.

Wir liefen die Chaussee entlang bis dicht zur Parkpforte der Villa. Das große Flügeltor stand offen, – nicht schnell genug konnten wir uns niederwerfen, denn aus dem Tore traten zwei Männer in den Lichtschein der beiden Lampen, die über dem Eingang angebracht waren, und schauten spähend die dunkle regennasse Chaussee hinab, wobei sie sich eifrig und hastig durch Zeichensprache unterhielten. Dann tauchten in der Ferne Scheinwerfer auf, – eine dunkle große Limousine schoß heran, bremste, und aus dem Innern des Wagens ertönte ein sehr helles, schrilles Zirpen, und die beiden Männer stürzten dienstbeflissen näher.

Harst wagte hier alles … Er schob sich in die schwarze Schattenlinie des Chausseebaumes neben der Auffahrt, auch mich deckte die Finsternis, und klar und deutlich hörten wir’s in schärfstem Tone aus dem offenen Wagenfenster hervorklingen:

„Sagt ihm, daß er uns doch entwischt ist! Auch die beiden Gefährlichsten sind nicht daheim, obwohl sie den alten Trick anwandten, Stellvertreter zu bestellen … Ich habe angerufen … Es war nicht seine Stimme … – Also doppelte Vorsicht! Die Geschichte wird unangenehm! – – Weiter, Jell!!“

Das Letzte galt dem vermummten Schofför.

Die Limousine ruckte an, jagte ein Stück weiter, wendete und sauste wieder in Richtung Potsdam davon.

Die beiden Leute in den Dienermützen und Mänteln schlossen das Tor, die Torlampen erloschen, und wir eilten schleunigst in den Wald zurück.

„Nach Potsdam zurück, mäßiges Tempo!“, befahl Harald.

Er setzte sich wieder neben den Schofför.

Wir hatten die Hälfte der Strecke noch nicht zurückgelegt, als vor unseren Lampen ein müde dahinschleichender Mann erschien – ein Stromer offenbar. Wir fuhren so langsam, daß auch ich trotz des Regens den einsamen Wandrer erkannte: Es war Professor Gerty!

„Anhalten!!“, rief Harst und sprang hinaus.

Bevor er Gerty jedoch ansprechen konnte, der ohnedies Miene machte zu fliehen, ertönten ein paar schwache Schüsse kurz hintereinander, – unsere Scheinwerfer zersplitterten und erloschen, Harst flog die Taschenlampe aus der Hand, und eine zweite Gestalt zog Gerty über den Chausseegraben in den Kiefernwald.

Eine Verfolgung wäre zwecklos gewesen.

 

4. Kapitel.

Was Anneliese weiß und was sie nicht weiß.

Es war kurz nach zwei Uhr morgens, als an der Vordertür des kleinen Häuschens an der Havel sanft geläutet wurde.

Durch die Fensterläden schimmerte noch Licht, aber selbst als Harst energischer auf den Klingelknopf drückte, rührte und regte sich nichts.

„Im Grunde weiter nicht sonderbar“, sagte Harald leise. „Freiwillig hätte sie ihn nicht fortgelassen! Ich könnte mich ohrfeigen, daß ich das Grillen-Signal gab!!“

In dem überaus dürftigen, aber peinlich sauberen Zimmer brannte eine elektrische Tischlampe mit hellem Schirm, und neben dem Tische in der Sofaecke kauerte die fest schlafende Anneliese Gerty.

Sie atmete tief und regelmäßig, aber das Teeglas vor ihr zeigte einen milchigen Bodensatz.

„Gerty hat seinem Kinde ein Schlafmittel heimlich in den Tee gemischt“, sagte Harald mitfühlend und beugte sich über den beschriebenen Briefbogen, der neben dem Teeglas lag.

Mein Liebling,

es hilft alles nichts, – ich darf Dich nicht in mein Unglück mit hineinziehen … Ich darf Dich auch nie wiedersehen – nie!! Ich verdiene Deine rührende Kindesliebe nicht! Mag die Welt weiter denken, ich lebte in Holland!

Verzeihe mir, mein Liebling, – es wäre zwecklos gegen das Verhängnis anzukämpfen.

In Liebe und Dankbarkeit
Dein unseliger
Vater.

Vertraue niemandem! Auch diesem Amsteln nicht. Die Holländer haben mir am schlimmsten zugesetzt!

Der Briefbogen zeigte noch frische Tränenspuren, und die Handschrift war zittrig und unbeholfen.

Anneliese Gerty, der Harald zwei Tassen stärksten Kaffees eingelöffelt hatte, saß totenbleich mit weiten, starren Augen in der Sofaecke, Harst hielt ihre Hände in den seinen und sprach liebevoll auf sie ein, aber seine Worte schienen ihr Ohr nicht zu erreichen.

Sie hatte vorhin nach dem Erwachen den kurzen Abschiedsbrief ihres Vaters gelesen und dazu ohne eine Träne leise geäußert: „Ich wußte, daß es so kommen würde …“

Sie war wie innerlich erfroren, und ihr Leid mußte so unendlich groß sein, daß es die Grenzen des Erträglichen überstieg.

Es gibt einen Schmerz, der keine Tränen kennt, und es gibt auch eine Angst, die schließlich nichts, gar nichts mehr fürchtet und zur unendlichen Gleichgültigkeit wird – gegen alles!

Anneliese Gertys Beichte ließ uns bereits ahnen, mit welcher Art Hauptgegner wir es hier zu tun hatten.

Harst gab seine Bemühungen nicht auf, das Mädchen aus ihrer seelischen Erstarrung zu wecken. Vielleicht ist er gerade in solchen Stunden, wo der feine, intelligente, spürende und fantasievolle Geist dem schlichten, mitempfindenden Menschen weicht, als Charakter am allergrößten.

Kurz, – das Unmögliche gelang, und nach einer jäh hervorbrechenden Flut von Tränen ruhte Annelieses Köpfchen vertrauensvoll an seiner Brust, und der Mann mit den scharfen Zügen und den silbergrauen Schläfen, der dieses verängstigte Kind auf dem Schoße hielt, erinnerte mich an den andern Harst, der einst den Wunsch geäußert hatte, einer Allerärmsten beistehen zu können, – dann würde er Fred Steens Tod verwinden.

Ich will hier mit meinen Worten das Wichtigste wiedergeben, – mag der Leser sich Annelieses eingestreute Ausbrüche des Schmerzes und der Verzweiflung selbst hinzuergänzen. Es wird ihm nicht schwer werden.

– Professor Albert Gerty, Porträtmaler und Radierer, war stets ein sehr starker Raucher gewesen. Vor etwa zwei Jahren merkte er, daß sich an seiner Zungenspitze eine Geschwulst bildete. Er konsultierte einen Arzt, der ihn zu Professor Saduzzi schickte. Dieser berühmte Krebsforscher stellte Zungenkrebs fest, und der tief bedauernswerte, völlig fassungslose Künstler ließ sich operieren, verlor so die Sprache, da die ganze Zunge entfernt werden mußte, verschwieg sein Unglück vor aller Welt, verbarg sich in der Einsamkeit, wurde menschenscheu, seine Einnahmequellen versiegten, die Not meldete sich, und eines Tages verschwand er und hinterließ seinem Kinde nur ein paar Zeilen, daß er „auswärts“ Arbeit gefunden habe. Es kamen Briefe von ihm, die zumeist in Emden aufgegeben waren, auch Geld, so daß Anneliese nie Not litt. Sie schrieb ihm auch postlagernd Antwort nach Emden, und dann – ein Jahr war verflossen – hörten alle diese Lebenszeichen Gertys auf, der für die Welt, so hatte Anneliese ausgestreut – in Holland lebte.

Monate gingen hin, – Gerty meldete sich nicht mehr. Da er Anneliese anbefohlen hatte, selbst für den Fall seines längeren Schweigens nicht etwa die Polizei zu verständigen, verhielt sie sich trotz all ihrer Besorgnis still. Dann traf plötzlich ein Schreiben von ihm ein, daß in Berlin aufgegeben war und daß seltsamerweise in dem mit Firmenaufdruck versehenen Umschlag des Modesalons „Holder, Berlin Kurfürstendamm 342“, steckte. – Der Brief befahl Anneliese, heimlich ein Häuschen zu mieten und weiteres abzuwarten. – Vor fünf Tagen dann ein neuer Brief von Gerty: Befehle für die Nacht vom 12. zum 13. Oktober! – Anneliese, hieß es darin, solle ein Auto mieten, solle sich für alle Fälle Handschuhe, die mit starker Leuchtfarbe getränkt sein müßten, ebenso eine kleine Handrakete beschaffen und ihn am Ausgang des Dorfes Dachsberg bei Potsdam erwarten.

Was weiter geschah, ist zum Teil bekannt.

Das Mädchen gehorchte wörtlich, aber der so heiß Ersehnte erschien nicht.

Anneliese stand hinter einem Chausseebaum, daß Auto auf einem Seitenwege. Da endlich Schritte auf der Chaussee: Ein Landstreicher und ein gut gekleideter Herr kamen dicht an ihr vorüber, und die schrille Stimme des Eleganten sagte gerade: „Gerty, Sie sind frei, wenn Sie noch das Eine für mich tun!“

Das Mädchen folgte den beiden bis zum Gasthof „Eldorado“, und hier schlich der Elegante zuerst ins Haus, dann nach fünf Minuten auch Gerty, der Elegante trat schnell ins Freie, warf etwas unvorsichtig die Haustür zu, – doch der Professor ward nicht mehr sichtbar.

Anneliese, durch das Leid und die Aufregungen der einsamen Jahre ungewöhnlich gestählt und zu allem entschlossen, umschlich das Haus, sah droben bei uns Lichtschein, schleppte eine Leiter herbei, und – – es folgten jene Ereignisse, die ich bereits geschildert habe. – Als das Mädchen schließlich den Vater glücklich im Auto untergebracht hatte, war sie ebenso erfreut über die Wiedervereinigung wie entsetzt über seine Verwahrlosung. In dem Häuschen mußte er sofort ein Bad nehmen, frische Wäsche und gute Kleidung anlegen,– – aber, obwohl Anneliese längst die Fingersprache beherrschte und ihn bat, etwas mitteilsamer zu werden, verharrte er zumeist in dumpfem Brüten, und – – das Mädchen erfuhr nichts …

Dann vernahm sie heute nacht das Zirpen der Grille vor dem Fenster, – Harsts gutgemeintes und doch verfehltes Warnungszeichen.

Auch Gerty hörte es …

Der Professor erbleichte, sein frisch rasiertes Gesicht rötete sich im Nu, verzerrte sich, – – eine fast bestialische Wut loderte in seinen Augen, – – nachher beruhigte er sich wieder, und das Ende war seine Flucht … in den alten stinkenden Lumpen …!

Die neuen Kleider lagen im Badezimmer.

Und … Anneliese schlief, sollte schlafen.

Wir hatten sie geweckt …

Neue Tränen flossen, und erst als unser Schützling abermals sich beruhigt hatte, fragte Harald scheinbar nur ablenkend: „Zeigen Sie mir die beiden Briefe, Kind. – Ich werde Ihren Vater retten oder … selbst dabei zu Grunde gehen!“

Anneliese Gerty konnte sein Gesicht nicht beobachten, als er diese Worte sprach, deren Ton einem feierlichen Schwur glich.

Ich sah seine Züge, und selten verrieten sie eine so gefährliche, ernstgemeinte Todesdrohung wie damals.

 

5. Kapitel.

Der fehlende Briefumschlag.

Anneliese brachte eine Kassette herbei, die unter Wäschestücken in einem Schranke versteckt gewesen, nahm einen komplizierten Schlüssel und wollte das Schloß öffnen.

„Lassen Sie, Kind …“ – meinte Harst in munterem Tone. „Das ist ja eine sehr gute Kassette, sogar mit einem Yale-Schloß … Geben Sie mir nur den Schlüssel …“

– Hoffnung verändert Menschen in Sekunden.

Anneliese war wieder aufgelebt.

Neugierig schaute sie zu, wie sorgfältig Harald das Stahlkästchen in Augenschein nahm und wie er besonders dem schwarz lackierten Boden der Außenseite Beachtung schenkte.

An dem schwarzen Lack hingen Stoffäserchen.

Ich sah es.

Harst roch an dem Lack und nickte: „Sehr klug, – – nur nicht klug genug, – Anneliese, bringen Sie mal die Wäschestücke, in die die Kassette eingewickelt war.“

Dann hielt er das Stahlkästchen mir hin. „Bitte, der Eisenlack riecht noch, und Anneliese sagte, die Kassette sei vor Jahren gekauft.“

Das Mädchen zeigte uns ein Laken, und das Laken hatte schwärzliche Flecken. – Die Einbrecher hatten nicht gewartet, bis der Lack vollkommen getrocknet war. Daher die weißen Fäserchen, – Harst hatte richtig gefolgert und weit richtiger als ich.

Er nahm ein Messer, kratzte den Lack des Bodens an den Rändern ab und legte eine feine Rille frei, ein vollkommenes Viereck, die Spur einer Stahlsäge.

Die Rille war hinterher mit Eisenkitt verschmiert worden, und der frische Lack hatte diese Spuren einer gewaltsamen Öffnung verdeckt.

Anneliese lehnte auf dem Tische und schaute mit fiebernden Augen zu.

Jetzt erst schloß Harald die Kassette auf, schüttelte die Papiere auf die Tischplatte und lächelte ironisch.

Ein großer Briefumschlag war unten etwas festgeklebt, – als er ihn herausnahm, sah man die Spur der Stahlsäge und den Eisenkitt in der feinen Fuge ganz deutlich.

„Prüfen Sie, Kind, ob etwas fehlt.“

Anneliese starrte immer noch in das Kästchen. „Erbrochen!“, hauchte sie. „Also waren Einbrecher hier.“

„Ja, Kind, – das muß wohl so gewesen sein. Die Grillen ahnten, daß Ihr Vater schreiben würde, und der Inhalt seiner Briefe war für sie Lebensbedingung … Wie hätte wohl die Grillenkönigin ihm sonst in der vergangenen Nacht haben auflauern können?!“

„Grillenkönigin …?!“ Ihre in den Papieren wühlenden Hände erlahmten. „Wer ist das, Herr Harst?“

„Ich weiß es nicht, aber ich werde es wissen. Fehlt etwas?“

Sie ordnete die Papiere, aber sie war sehr geistesabwesend.

„Hier sind Vaters beide Briefe, – die letzten, die Sie ja auch nur haben wollten, Herr Harst … – Nein, es fehlt nichts …“

Harald besichtigte die Briefe. Nur der eine hatte einen gewöhnlichen graublauen Umschlag, der andere war ohne Umschlag.

„Ein Umschlag fehlt, Anneliese … Haben Sie ihn weggeworfen?“

„Wahrscheinlich …“ Ihre Augen hafteten auf Harsts nachdenklichem Gesicht. „Wer sind die Grillen?“, wiederholte sie nochmals und weit eindringlicher.

„Die Grillen, Kind? Ich werde es Ihnen später sagen. Verlangen Sie von mir nicht zuviel … Es gibt Dinge, die man bis zuletzt hinausschiebt, weil sie das Grauen in sich bergen.“

Und nach kurzer Pause …: „Anneliese, haben Sie früher, als Sie noch in guten Verhältnissen lebten, im Modesalon Holder gekauft?“

Sie nickte. „Ich konnte es mir leisten, damals war ich noch eitel, und es gehörte zum guten Ton unseres Verkehrskreises, nur von Holder alles zu beziehen.“

„Ich weiß, – ein großes, sehr elegantes Geschäft“, murmelte er zerstreut.

Seine Augen waren halb geschlossen, die Stirn lag in Falten, und ebenso leise fügte er hinzu: „Begleitete Ihr Vater Sie zuweilen bei den Einkäufen?“

„Zuweilen …“

„Gut, – packen Sie die Papiere und die Kassette wieder weg, Anneliese … Dann müssen wir, – – aber nein, geben Sie her … Setzen Sie sich.“

Seine Gestalt straffte sich, als er die Kassette verschloß und sie in das Laken hüllte.

Das Mädchen schaute ihn erwartungsvoll an.

„Wir müssen Sie in Sicherheit bringen, Kind … Die Grillen werden nun sehr rührig werden … Die Königsgrille weiß, daß Schraut und ich aus unserem Heim verschwunden sind und wie üblich Stellvertreter im Hause einquartiert haben …“ – Er wandte den Kopf zum Fenster … horchte … „Es regnet noch immer … Schnüren Sie sich ein Bündel mit dem Allernötigsten, Anneliese … Auch Eßwaren … Haben Sie vielleicht einen Spirituskocher und Spiritus? Auch das packen Sie ein … Beeilen Sie sich … Hoffentlich kommen wir unbelästigt aus dem Hause heraus … Ja – – beeilen Sie sich …!“

Sie stand da, seltsam steif, den feinen Kopf zurückgeworfen. „Was fürchten Sie, Herr Harst? – Ich habe die ersten Schrecken überwunden. Oh, Sie kennen mich nicht, ich bin kein Nervenbündel, ich bin hart geworden, sehr hart und widerstandsfähig … Ich werde Ihnen eine brauchbare Verbündete sein, und …“

„Beeilen Sie sich! Ich fürchte die Grillen, und sie sind zu fürchten, weiß Gott!“

Das Mädchen eilte in ihr Schlafzimmer …

Harald nahm eine Zigarette. Sein Blick hing wieder auf dem Fenster.

„Schraut“, er dämpfte die Stimme zum Flüstern, „wenn dieser Peter van Amsteln Gegenpartei ist, dann …“

Die noch unangezündete Zigarette glitt zu Boden.

„Hörtest du, – was war das?!“

„Der Regen und der Wind, Harald …“ – Auch ich lauschte mit angespannten Sinnen … Auch meiner hatte sich ein Gefühl der Unsicherheit bemächtigt.

„Es war ein schwacher Knall“, flüsterte Harald schnell. „Ganz bestimmt – ein Schuß …“

Mit zwei Sätzen schnellte er zur Flurtür, riß sie auf, ließ die Taschenlampe aufblitzen …

„Untersuche die Hintertür …!“

… Wir fanden nichts.

Neben der kleinen Küche lief ein Treppchen auf den Bodenraum und zu dem Giebelstübchen. Er beleuchtete die Stufen.

„Trocken, – keine Spuren, keine Nässe …“

Seine ungewohnte Nervosität wirkte ansteckend.

„Harald, – zum Teufel, hältst du die Grillen für so gefährlich?!“

Er blickte mich an und beugte sich vor und flüsterte mir gerade ins Gesicht, – sein Flüstern war wie pfeifendes Zischen:

„Max Schraut, wenn all das stimmt, was ich vermute, hat es noch nie ärgere Schädlinge gegeben als diese … noch nie! Und …“

… Er verstummt … Seine Augen fliegen zum Geländer des Treppchens …

„Da – – was ist das?!“

Er streicht mit dem Finger darüber …

Etwas feuchter Schmutz haftet an der Fingerspitze …

„Also doch, – – diese Teufel, – – diese Teufel, wir sind belauscht worden …“ Seine Stimme überschlägt sich … „Und das Häuschen hier liegt einsam! Kein Telefonanschluß, – – das heißt, den Draht hätten die Grillen draußen ohnehin durchgeschnitten …! Und der gedämpfte Schuß, – – weißt du, was ich fürchte, wie ich kombiniere: Amsteln entführte uns Professor Gerty … Und Amsteln liegt jetzt irgendwo in der Havel mit Steinen an den Füßen und einem Kugelloch im Schädel! – Warte hier … Lasse Anneliese nicht aus den Augen!“

Ich stieß die Tür zum Wohnzimmer auf, lief hinein und pochte an die andere Tür …

„Fräulein Anneliese?“

Alles still …

Eine wahnwitzige Angst, die zumeist Harsts bisher nie gekannter Übernervosität zuzuschreiben war, packte mich …

Ich riß auch diese Tür auf …

Leer der bescheidene Raum – – leer!

Ich stürze zur Tür des dritten Stübchens …

Sie geht von selbst auf …

Anneliese schaut mich bestürzt an.

„Was haben Sie, Sie sind ja so blaß, Herr Schraut …“

Das glaube ich, daß ich blaß bin …

Ich komme mir trotzdem lächerlich vor in meiner übertriebenen Angst.

„Dachten Sie, ich wäre … entführt worden?“, fragt das Mädchen forschend. „Oh, – die Sorge wäre überflüssig gewesen …!“

Ihr beherrschter Ton überraschte mich.

Langsam zieht sie aus der losen Bluse eine kleine Repetierpistole hervor, Liliputformat.

„Vater war eifriger Jäger und lehrte mich frühzeitig den Umgang mit Waffen … Vater hatte ja auch eine Pistole … in seiner zerlumpten Hose … – – Mein Gott!!“

Sie läuft plötzlich in das Wohnzimmer, durchsucht den alten Schreibtisch …

„Mein Gott, – – er hat die Pistole mitgenommen, Herr Schraut! Er wird sich erschießen, er …“

„Nein!“, Harst steht in der Tür zum Flur. „Er wird sich nie erschießen!!“ – Er spricht’s mit so eigentümlicher Betonung, daß mir jetzt eine Gewißheit kommt: Albert Gerty hat … morden wollen, sowohl in der verflossenen Nacht als auch in dieser!! Gerty drang in die Villa Saduzzi ein, um die Königsgrille zu töten, den Professor! Und heute auf der nächtlichen Chaussee hat Peter van Amsteln ihn uns entführt, – wenn auch Amsteln weiß, was den Stromer Gerty nach Berlin zurückgelockt hat: Rache!!

… In diese meine wild flatternden Gedanken hinein tropfen wie ein Medikament Harsts klare, freundliche Worte:

„Anneliese, – an die Arbeit! Wir müssen flüchten …!“

Das Mädchen enteilt, und Harst tritt näher auf mich zu, ganz dicht sogar …

„Schraut, soeben sah ich durch das Bodenfenster, das offenstand, Amstelns Begräbnis … Drei Mann warfen ihn in den Fluß … – Armer Amsteln, – er war nie Maler, er war Kriminalbeamter, holländischer Detektiv hohen Ranges, wette ich … – Schraut, die Grillen lauern draußen … Wir werden doch wohl bis Tagesanbruch warten müssen …“

„Woran erkanntest du Amsteln?“

„An den Schnallgamaschen und dem Mantelschnitt.“

„Und weshalb feuerst du nicht einfach Alarmschüsse durch das Fenster ab und holst so die Polizei herbei, – – auch ohne Telefon?!“

„Weil …“ – er stockt … überlegt die Antwort … „Weil Professor Gerty ein Verbrecher ist“, vollendet er traurig. „Und weil ich Gertys Schuld nach Möglichkeit vertuschen möchte. Es gibt Verbrechen, die man verheimlichen darf, – – das heißt: Ich werde diese Fragen erst noch nachprüfen …“

 

6. Kapitel.

Ein zweites Opfer der Grillen.

Der ältere elegante Herr, der am folgenden Mittag den Modesalon Holder in Begleitung einer sehr schicken Dame betritt, wird von der noch schickeren Geschäftsführerin mit einem wohlwollenden diskreten Lächeln begrüßt.

Fräulein Gatting hat eben auf Grund vieljähriger Erfahrungen einen todsicheren Blick für vornehme Ausländer, die bei Holder ihre Saisongattin neu einkleiden möchten.

Der elegante Herr näselt in halbem Englisch, ob die Inhaberin nicht zur Stelle sei … Er kaufe nur von Miß Holder persönlich …

Die Direktrice lächelt jetzt säuerlich …

Miß Holderston, Miß Grace Holderston, sei leider verreist.

„Holderston?“, wundert sich der graue Spitzbart mitsamt Monokel.

„Ja, Mylord … Die Inhaberin war früher Engländerin.“

Mylords Begleiterin macht ein enttäuschtes Gesicht, aber ihr Freund nickt ihr zu. „Einiges kaufen wir doch, my Darling …“

„Wann kehrt Miß Holderston zurück …“, erkundigt sich der steifbeinige Engländer.

„Übermorgen …“

Dann erhält Darling zwei Kleider, ein Hütchen, einen Mantel, und der kleine Spaß kostet „Mylord“ 950 Mark.

Die Kartons werden in die draußen wartende Autotaxe geschafft, und Mylord und Darling rollen davon, halten in einer Nebenstraße, und der Engländer sagt zu der Schicken mit einem vergnüglichen Lächeln:

„So, Kleine, – hiermit wäre unsere Zufallsbekanntschaft beendet … Sie hat genau eine Stunde gedauert. Leben Sie wohl!“

Inzwischen ist Mylord Harst mit mir in ein anderes Auto übergestiegen, und Harald erstattet Bericht.

„Grace Holderston ist verreist …“, sagte er lakonisch. „Und Professor Tonio Saduzzi, der im selben Hause seine Privatklinik hat, ist auch verreist … Sein Vertreter riet mir, falls die Konsultation eile, nach Harzburg zu fahren, wo Saduzzi sich erhole … – Würdest du fahren?“

„Ja!“

„So?! Wozu denn?! Wir wollen uns doch darüber klar sein, mein Alter, daß das Geschöpf, das ich Königsgrille nenne, eine Frau ist – unbedingt. Es kann Grace Holderston sein, sehr vieles spricht dafür, vieles dagegen. In jedem Falle ist Saduzzi mit ihr nicht im Bunde, denn Freund Schirmer, der vorn als Schofför sitzt, hat uns auf Grund genauester Informationen erklärt, daß die Holderston wie eine Männerfeindin lebt und noch nie mit Saduzzi zusammengesehen wurde. Anders verhält es sich hinsichtlich der Dienerschaft Saduzzis in der großen Villa bei Dachsberg, – die Leute sind Grillen, das wissen wir …“

Ich erlaubte mir einen Einwand. „Gestatte mal, deine „Königsgrille“ hat in der verflossenen Nacht den beiden Torhütern der Villa gegenüber von „ihm“ gesprochen. – Wer soll das sein?!“

„Natürlich der Haupthelfershelfer der Königsgrille.“

„Also ein Bedienter Saduzzis, gut. Und wobei hilft er ihr?“

„Das wirst du sofort selbst vielleicht merken …“ Er beugte sich vor. „Hallo, Schirmer, – nun also zu der „Witwe“, – Sie wissen Bescheid.“ –

In einem ärmlichen Hause im Osten Berlins wohnte vorn in einer Dreizimmerwohnung eine Frau Mieze Menzel, die vor etwa anderthalb Jahren durch das rätselhafte Verschwinden ihres Mannes, eines fleißigen, äußerst tüchtigen und mit allen modernen Maschinen vertrauten Buchdruckers, eine gewisse Berühmtheit erlangt hatte. Der Fall Menzel hatte die Polizei monatelang beschäftigt, Frau Mieze war auch hilfesuchend bei uns gewesen, und Harald hatte sich jetzt rechtzeitig darauf besonnen.

Frau Menzel öffnete uns persönlich, Harald erklärte (ohne Monokel und ohne englischen Lordton) flüsternd durch die Türspalte (die Sicherheitskette lag noch vor), wir kämen … aus Emden.

Er betonte: Emden!!

Die hübsche junge „Witwe“ blieb eine Weile stumm und stierte uns ängstlich an.

„Von … ihm?“, stotterte sie.

„Ja …“

– Daß Harald hier so einfach die Tatsache, daß die Briefe für Anneliese auch in Emden aufgegeben waren, bis auf die beiden letzten, in dieser Weise ausnutzte, war einer seiner scheinbar so einfachen Kniffe.

In Wahrheit gehörte zu dem Kniff eine ganze Kette klarer Schlußfolgerungen.

Frau Menzel ließ uns in die „gute Stube“ ein, war sehr aufgeregt, und erst als Harald ihr unter dem Bemerken, Namen täten nichts zur Sache, fünfhundert Mark auf den Tisch zählte, rief sie erstaunt:

„Ich erhielt ja erst vorige Woche Geld …!“ – Aber ihr letztes Mißtrauen war geschwunden.

Harst nickte. „Das wissen wir … Wir wissen nur nicht mehr genau, ob aus Emden oder Holland. Der Vertreter unserer Firma war etwas nachlässig.“

„Aus Holland“, beeilte sich Frau Menzel zu erklären.

„Also aus …“ – Harald hüstelte, und die ahnungslose Frau ergänzte prompt:

„Wie immer aus Buitenzoorg bei Amsterdam.“

„Dann ist die Sache in Ordnung“, sagte Harst freundlich.

„Wie geht es ihm?“, fragte Frau Menzel besorgt. „Wann kehrt er heim?“

„Es geht ihm gut … Nur die Wunde muß erst verheilen, liebe Frau Menzel, es war noch eine kleine Nachoperation nötig …“

Sie seufzte. „Zungenkrebs ist furchtbar …!“

Harald fragte so beiläufig: „Haben Sie eigentlich Professor Saduzzi für die Operation sehr viel zahlen müssen?“

„Wäre Gustav sonst nach Holland gegangen?!“, meinte die hübsche Frau sehr bitter. „Wir waren doch jung verheiratet, und …“

„Das ist uns bekannt … natürlich bekannt … Sie werden ihn ja auch bald wiedersehen … – Kennen Sie übrigens den Modesalon Holder, Frau Menzel? Sie sollten dort einmal kaufen – – bei Ihrer Figur und bei dem Gelde, das Sie aus Holland bekommen, – – ein Spaß für Sie!“

Aber Frau Menzel zog jetzt finster die Brauen zusammen.

„Holder?! – Nicht zehn Pferde bekommen mich dorthin!! Die Miß Holderston wollte mir Gustav ja mal abspenstig machen, und noch heute weiß ich nicht recht, [wie][1] sie ihn kennenlernte …!“

„Oh, – – bedauerlich!“, meinte Harald und erhob sich. „Nun noch eins, Frau Menzel … Nichts von diesem Gelde da erwähnen, nichts!“

„Na, – das darf ich doch überhaupt nicht … – Bestellen Sie herzliche Grüße, meine Herren …“

„Das werden wir tun … bestimmt! Und sehr bald wird Gustav bei Ihnen sein, sehr bald …“ – Wir verließen das Haus, – ich wie im Traum, allerdings in einem entsetzlichen Traum …

Im Auto sagte Harald grimmigen Tones:

„Also dasselbe Spiel wie mit Professor Gerty!! Ja, es sind Bestien, diese Grillen!! – – Lieber Schirmer, nun also gen Dachsberg zur Stromerherberge …“ –

Während der Fahrt kleideten wir uns um und wurden wieder zu den schlichten Arbeitern, die an der Havel geangelt hatten, nur daß unser Aussehen einen Stich ins Stromerhafte bekam.

Jenseits Dachsberg und jenseits der Villa Saduzzi liegt an der Chaussee an einer mehrfachen Wegekreuzung der Landkrug „Zum Stern“, berüchtigt als Stromerherberge, von der Polizei geduldet, um die Vagabunden leichter kontrollieren zu können, von Sommerausflüglern gern besucht wegen des schattigen Gartens, der Aussicht auf den Stern-See und der vorzüglichen Verpflegung.

Auf der Insel im Stern-See erhob sich eine frühere Fischerhütte inmitten dicksten Gestrüpps, und große Holztafeln zeigten den Ruderern und Seglern an (der Stern-See stand mit anderen Gewässern in Verbindung), daß das Landen und Anlegen im Schilf verboten sei.

Trotzdem näherte sich bei Einbruch der Dunkelheit ein Faltboot mit zwei Leuten sehr vorsichtig der verbotenen Insel, landete auf der dem Sternkrug abgekehrten Seite, und die beiden Insassen verschwanden in der uralten, dicht mit wildem Hopfen umrankten Hütte, wo auf einem Lager aus Blättern, Gras und Wolldecken unser Schützling Anneliese beim Lichte einer abgeblendeten Laterne in einem Buche las.

Dies hier war unser Versteck, das wir vom Sternwirt für teures Geld in aller Stille gemietet hatten. Auf seine Verschwiegenheit war Verlaß.

 

7. Kapitel.

Herr van Amsteln steigt aus der Havel auf.

„Nichts inzwischen passiert, Anneliese?“, erkundigte sich Harst etwas vorwurfsvoll. „Sie sollten doch die Tür versperrt halten, Kind … Frauen bleiben nun einmal nachlässig.“

Das junge Mädchen hat sich aufrecht gesetzt, und dabei gleiten die Falten der Decke auseinander, die sie über sich gebreitet hat. In den Falten liegt die Liliputpistole. „Nein, es ist gar nichts geschehen“, erwidert sie und spielt mit der Waffe.

Täuschte ich mich? Liegt nicht etwas wie Verlegenheit über ihrem ganzen Benehmen? Ist nicht der Begrüßungshändedruck recht matt, weichen ihre Augen nicht zur Seite?

Harst tut so, als merke er nichts, zieht einen der morschen Holzschemel herbei und betrachtet prüfend den verfallenen Herd aus Feldsteinen, auf dem unser Spirituskocher steht.

„Anneliese, haben Sie denn gar nichts Warmes genossen?!“

„Nein …“

„Leichtsinnig!“ – Und er setzt den Kocher in Brand, nimmt einen der Aluminiumbecher, die wir bestimmt nach dem ersten Frühstück ausgespült haben, und zeigt mir einen Bodensatz von Kaffee. Nein, – es ist Kakao. – Das Mädchen liest weiter oder wendet doch zumindest die Seiten um. – Hier stimmt irgend etwas nicht.

Harst öffnet eine Konservenbüchse, der Öffner zerschneidet knirschend das Blech, und Anneliese zuckt nervös zusammen. „Ich habe gar keinen Hunger, Herr Harst …“

Etwas Fremdes schiebt sich zwischen uns und unseren so veränderten Schützling, etwas Erkältendes, etwas, das jedes gegenseitige Vertrauen erstickt.

Keine Unterhaltung kommt in Gang – nichts … Anneliese fragt nicht, was wir in Berlin ausgerichtet hätten, sie weiß zwar wenig von den wirklichen Geschehnissen der Vergangenheit, aber ihr Verhalten ist unnatürlich und steht in so schroffem Gegensatz zu dem herzlichen Abschied heute morgen, daß der Bodensatz Kakao eine erhöhte Bedeutung gewinnt.

Anneliese wird uns immer unbegreiflicher. Als das Essen fertig ist, lehnt sie nochmals dankend ab, und Harald und ich sitzen allein an dem wackeligen Tisch in der andern Ecke und schweigen uns gleichfalls aus. Draußen im Röhricht schnattern Wildenten, die sich zur Nachtruhe ein trockenes Plätzchen suchen. Das Seeufer ist keine zehn Meter entfernt, und wir hören das Rauschen des Schilfes und der Büsche und das sanfte Plätschern des Wassers durch die nur mit Moos und Lehm ausgestopften Fugen der Blockhütte. Die Ranken des Hopfens reiben sich an den Außenwänden, und es klingt, als ob andauernd feine Fingernägelchen an der Borke kratzten.

Harst hat mir ein paar sehr lange, vielsagende Blicke zugeworfen, und als wir nachher hinausgingen und am Wasser das Geschirr säubern und die Dunkelheit uns umgibt und dazu feine Nebelfetzen sich durch das Röhricht drängen, meint er ganz leise:

„Nun haben wir eine Spionin im Hause, mein Alter. Nicht angenehm …!“

„Anneliese?!“ – Ich verstehe ihn nicht ganz.

„Ja, Anneliese …“

„Glaubst du, daß ihr Vater hier war?!“

„Möglich … Wenn er eine Thermosflasche mit Kakao bei sich hatte, dann war er’s … In unseren Vorräten befindet sich kein Kakao. Es kann jedoch auch jemand anders gewesen sein, ein ganz Schlauer, der Anneliese jetzt ebenso nahesteht wie ihr Vater.“

Ein stärkerer Luftzug fährt über den See und bringt von drüben von den nassen Wiesen dickere Nebelschwaden herbei.

Harst beobachtet das Nahen der Nebelwolke, dämpft seine Stimme noch mehr und erteilt mir einen Befehl, dessen Begründung ich vollkommen einsehe. Wir sind belauscht worden, Anneliese weiß dies, und der Horcher kann noch immer irgendwo an der Hüttenwand im Gestrüpp liegen. – Sobald der zähe, graue Nebelstreifen uns einhüllt, trennen wir uns, und Minuten später erscheine ich von meiner Seite gerade zur rechten Zeit …

Harst liegt auf einem Menschen, der sich so wild und ungestüm wehrt, daß ich diesem lautlosen, aber desto erbitterteren Ringen durch einen gewissen Schlagadergriff schnell ein Ende bereite.

Als wir den Strolch, der recht unangenehm duftet, außer Hörweite der feinen Ohren unserer allzu verschwiegenen Anneliese geschleppt haben und ihm nun in das schmierige Gesicht mit den traurigen Resten eines angeklebten Bartes leuchten, als der Mann zu sich kommt und uns erkennt und mit kühlem Spott sagt: „Ihr seid mir ja nette Anglerfreunde!!“, bin ich zunächst so ziemlich sprachlos …

Der Mann ist Peter van Amsteln und müßte anstandshalber, um Harst nicht als sehr mäßigen Beobachter zu blamieren, auf dem Grunde der Havel liegen. Trotzdem ist der lebende Amsteln mir lieber, zumal er sofort mit genau so galligem Humor hinzufügt: „Ich lebe noch hundertprozentig, wie Sie sehen … Wenn Sie aber glauben, ich würde Ihnen …“

„Stopp!!“, sagt Harst bitter ernst. „Ist Gerty Ihnen wieder entflohen, Herr von Amsteln? – Wahrscheinlich ist es so, und das gefällt mir gar nicht, denn Gerty besitzt eine Pistole und will Grillen schießen, – was immerhin genau so strafbar ist wie das Fälschen von Banknoten …“

Amsteln nickt und massiert seinen Hals. „Seine Rachepläne werden hintertrieben werden“, meint er gelassen. „Banknoten hat er nie gefälscht, das wäre auch zu alltäglich, finde ich. Wenn jemand an gänzlichem Fantasiemangel leidet, denkt er ans Banknotenfälschen, immer noch ein dankbarer Romanstoff.“

„Danke, Herr von Amsteln!“, sagt Harald trocken. „Und wenn einer nicht belästigt sein will, läßt er sich in die Havel werfen, zirpt vorher und schießt mit einem Kindergewehr, und wenn er schon gar keine Fähigkeit zum Detektiv besitzt, läßt er Kakao für seine Angebetete in einem Becher zurück. – Nun sind wir quitt, Sie junger Frechdachs, und nun werden Sie …“

Das, was Amsteln tun sollte, brauchte Harst ihm nicht erst vorzubeten. Amsteln handelte von sich aus, und sein Benehmen entsprach keineswegs den üblichen Salonformen.

Wenn schon Gerty damals blitzschnell zugeschlagen hatte, Amsteln verstand es noch besser, auszukneifen, und als unsere Taschenlampen in elegantem Bogen davonflogen, flog auch der Holländer mit jugendlichen Panthersätzen zum Ufer, watete in den See hinein, der Nebel verschluckte ihn, und wir hatten das Nachsehen.

Harald nahm den Zwischenfall nicht weiter tragisch – bis auf einen Punkt. – „Keine Banknotenfälscher, – das ist merkwürdig! In der Tat, ich hatte mit Fälschungen gerechnet und rechne vielleicht noch damit. Kehren wir in die Hütte zurück. Anneliese soll nicht mißtrauisch werden.“

Aber Anneliese hatte offenbar keinerlei Verdacht geschöpft. Sie las wieder, und als vor der Tür plötzlich ein scharfes Zirpen ertönte, drehte sie die Laterne sehr geistesgegenwärtig aus und griff mit der andern Hand nach ihrer Pistole.

 

8. Kapitel.

Annis Gewissen meldet sich.

Wir regten uns nicht. Nur Annis hastige Atemzüge und die gewohnten Geräusche der Außenwelt waren vernehmbar.

„Ich bins!“, erklang draußen eine gedämpfte Stimme.

Harst lachte ärgerlich.

„Schirmer, Sie?! – Den Scherz mit dem Zirpen hätten Sie sich sparen können.“

Der Inhaber der Detektei huschte in die Hütte und meinte achselzuckend: „Es zirpen noch andere Grillen hier, Herr Harst … Da kommt es auf eine mehr oder weniger nicht an.“

„Irrtum, – es zirpt nur eine, und deren Gesang ist fast harmlos. – Was bringen Sie?“

„Die Antwort aus Harzburg …“

Er hatte sich vor Anni nur leicht verneigt und zog uns in die andere Ecke an den Tisch.

„Saduzzi wohnte in Harzburg im besten Hotel, machte aber stets tagelange Ausflüge. Jetzt ist er abgereist.“

„Das konnte ich mir denken“, meinte Harst gleichgültig. „Und die Miß Gracie Holderston?“

„Der Bericht enthält auch nichts Besonderes. Die Holderston läßt sich wenig im Modesalon sehen und ist fanatische Autofahrerin. Ihre Privatwohnung liegt im Seitenflügel hinter den Geschäftsräumen. Sie hält sich nur eine Aufwärterin, die lediglich …“

„Danke, – unwichtig, lieber Schirmer. – Und der dritte Punkt? – Flüstern Sie noch leiser.“

„Der Maler Peter van Amsteln wohnte in Potsdam sehr elegant, hatte einen Diener, einen Schofför und einen Bootsmann für seine Jacht mitgebracht und ist heute früh abgereist.“

„Auf der Havel – in die Havel!“, murmelte Harst zweideutig. „Und seine Jacht?“

„Soll zu Wasser nach Hamburg, erfuhr ich, dann über See nach Holland zurück.“

„Also ein größeres Schiff?“

„Vierzehn Meter-Jacht, Schonertakelung, starker Hilfsmotor …“ – Schirmer besaß die erfreuliche Eigenschaft, kein Wort zuviel zu sprechen.

„Name?“

„Wilhelminje.“

Harald überlegte. „Geben Sie acht, Schirmer … Sie unternehmen persönlich nichts, gar nichts. Im übrigen halten Sie Ihre Leute in der Nähe, wie vereinbart. Ich danke Ihnen. Warten Sie, ich begleite Sie noch bis zum Liegeplatz Ihres Bootes, es gibt da noch einen vierten Punkt, der …, – davon draußen. Schraut mag unserem Schützling Gesellschaft leisten …“

Schirmer verneigte sich wieder stumm vor Anneliese, die ihn eigentümlich prüfend und fast durchdringend musterte, als ob sie Schirmers etwas massige Gestalt und derb-energische Züge für alle Zeit sich einprägen wollte.

„Wer war das, Herr Schraut?“, fragte sie, als die Tür sich hinter den Davonschreitenden geschlossen hatte.

Ich war vorsichtig. „Ein Bekannter, der uns zuweilen hilft.“

„Er muß doch aber wichtige Nachrichten gebracht haben und in alles eingeweiht sein“, beharrte sie auf einer erschöpfenden Auskunft.

„Harst weiht niemanden ein, und die Auskünfte waren leider nichtssagend“, wich ich ihr gleichgültig aus.

Anneliese hatte wohl gemerkt, daß ich mich nicht aushorchen ließe. Sie war aufgestanden, hatte sich an den Tisch gesetzt und schaute zu, wie ich auf dem Herde ein Feuer anzündete, um die abendliche Kälte zu verscheuchen. Die trockenen Reiser und harzigen Kiefernäste knisterten laut, und der Rauch wirbelte in die Kaminöffnung hinein, die hier in der Hütte durch ein trichterförmiges verrostetes Stück Blech tief nach unten erweitert war, und weil draußen übergenug Erlen und Buchen ihre Äste über die Hütte hinwegreckten, bestand keine Gefahr, daß der Rauch auffallen könnte.

Anneliese Gerty hing schweigend ihren Gedanken nach, und ihr Gesichtsausdruck bewies, wie ernster Natur diese waren. Hatte Professor Gerty seinem Kinde etwa gestanden, worin seine Schuld läge, die ihn zu einem Verbrecher stempelte? Ich selbst hegte hierüber gewisse Vermutungen, aber etwas Bestimmtes konnte auch ich mir nicht zusammenreimen, dazu waren die Ereignisse zu widerspruchsvoll.

Das Mädchen schaute unverwandt in die flackernde Glut, die nun auch die dickeren Scheite erfaßt hatte. Ihr zartes Antlitz erschien rosig angehaucht, und ihre Schönheit in dieser abenteuerlichen Umgebung war rührend und weckte neues Mitleid trotz der Geheimnisse, die sie vor uns hatte.

Harst kehrte zurück, und nach einem Blick auf seine ganz hoch geschnallte Armbanduhr erklärte er, wir beide müßten nun noch ein paar Stunden ruhen. Anni solle uns um zehn wecken.

„Keine Sorge, ich wecke Sie! Also um zehn …“, meinte sie etwas zu eifrig. Sie holte ihr Buch, setzte sich an den Tisch, rückte die Laterne zurecht und wandte uns den Rücken zu. – Obwohl ich nun nach den Strapazen der verflossenen Nacht zum Umsinken müde hätte sein müssen, blieb ich doch wach, und nur Harsts tiefes regelmäßiges Atmen dicht neben mir trug dazu bei, jenen Zustand halben Wachseins mit gelegentlichem Hinübergleiten in das Reich der Träume zu erzeugen, in dem die Sinne stets angespannt bleiben und schon das geringste Geräusch genügt, mißtrauisch emporzufahren. Ich wußte, daß etwas geschehen würde … Anni rechnete mit dem erneuten Auftauchen des Mannes, der heute bereits einmal bei ihr geweilt hatte …

Das Mädchen saß ganz still. Zuerst hatte sie noch die Seiten des Buches umgeblättert, jetzt horchte sie nur auf unsere Atemzüge … Sie hatte den Kopf etwas gedreht, und ihre Miene verriet, wie angestrengt sie lauschte und sich davon überzeugen wollte, ob wir wirklich ganz fest schliefen.

Ich schlummerte für Sekunden ein, – für Sekunden verloren sich meine Gedanken in das Labyrinth der unkontrollierbaren Träume. Dann schreckte ich wieder leicht zusammen und blinzelte zu Anneliese hinüber. Sie hatte sich erhoben und betrachtete uns. Der Flammenschein umspielte uns, Harst warf sich wie im Schlaf hin und her, und sie wartete unsicher, ob sie das wagen dürfte, was niemals ihrem eigenen Willen entsprang.

Ihr Mund war zusammengepreßt, ihr junges Gesichtchen trug einen völlig unausgeglichenen Ausdruck. Ihr Gewissen, ihre Dankbarkeit mochten sich dagegen sträuben, uns zu hintergehen, aber eine stärkere Macht siegte, und sie huschte zur Tür, schob den Riegel zurück und die schwere Balkentür glitt auf.

Nochmals schaute sie uns an, und wieder zauderte sie …

Das Röhricht rauschte, eisige Luft drang herein, – – ein ganz sanftes Zirpen erscholl irgendwo, und die Tür wurde zugedrückt, und der äußere Holzriegel, ein Klappverschluß nach Bauernart, bewegte die nach innen reichende Lederstrippe.

Harst schnarchte noch lauter, – dann traf mein Ohr ein Zischeln: „Schirmer ist noch draußen … Wir haben Zeit …“

Wieder atmete er tief und gurgelnd, und erst nach einigen Minuten stand er hastig auf und griff nach Mütze und Mantel und nach dem alten, zerlöcherten wollenen Schal, der mit zu seinem Kostüm gehörte.

Ich erschrak, als der Außenriegel leise knarrte, – die Tür öffnete sich kaum fingerbreit, und Schirmer rief leise: „Ostseite der Insel, – – eine Jacht!“

Wir löschten das Herdfeuer, die Hütte versank in Finsternis, und nur ein schmaler Lichtstreifen der Laterne irrte über den Boden. Als wir draußen standen, schloß Harst die Blende vollends, und unsere Augen gewöhnten sich schnell an die neblige Dunkelheit. Wir hatten das Inselchen morgens kreuz und quer durchstreift und uns die gangbarsten Stellen gemerkt.

Unter weit überhängenden Erlenzweigen des Ostufers erspähten wir ein kleines Beiboot, in dem nur zwei Personen saßen und das leise durch das Schilf geschoben wurde. Dann blinkte ein Licht auf, huschte über das Boot hin, ich erkannte Anni und einen alten Mann, der nicht Professor Gerty sein konnte, und ein Stück der Bordwand einer Jacht. Ein scharfer leiser Zuruf, – die so unvorsichtig bloßgestellte Schiffslaterne verschwand, und ein über den See ziehender dickerer Nebelstreifen verhüllte das spukhafte, ungewisse Bild …

Harst horchte noch eine Weile, wir vernahmen Plätschern und Knarren und ferne Geisterstimmen, – – und jedes nicht zu dieser Umgebung passende Geräusch erstarb.

Harst faßte meinen Arm. „Folge mir …! Schnell – zu unserem Paddelboot!“

Wir fanden das Versteck, wir schossen davon, das Wasser schäumte, immer nach Osten ging’s in die schmale Verlängerung des Stern-Sees hinein, die den Abschluß des Parkes Professor Saduzzis bildete. Daß wir die Jacht im Nebel verfehlt hatten, schien Harald nichts auszumachen. Wir landeten, verbargen das leichte Boot und stießen unweit des Ufers auf eine alte dicke Birke, deren weiße Rinde selbst bei dieser Dunkelheit wie ein heller breiter Streifen schimmerte. Harst zirpte ganz leise, – – eine Gestalt löste sich von der Birke, und einer der Leute Schirmers meldete recht stolz: „Die drei Hunde schlafen … Das frische Fleisch war ein guter Köder.“

„Und in der Villa?“

„Vorstandssitzung, Herr Harst, – – die Strickleiter hängt genau wie befohlen.“

„Danke …!“

 

9. Kapitel.

Die Millionenkassette des Bundes der Stummen.

Der große Speisesaal der prunkvollen Villa hatte eine umlaufende Galerie, und der ganze Saal war festlich erleuchtet. Vier Kronleuchter und acht Wandleuchter spendeten eine blendende Helle, die alle Vorzüge des langen, getäfelten Raumes erkennen ließen. Modernste Holzarten waren hier verwendet worden, alles Kitschige fehlte, und doch war der Gesamteindruck irgendwie allzu gesucht und zu sehr auf raffinierte Schlichtheit abgestimmt.

Außer ein paar Klubecken mit Ledermöbeln und einem riesigen dunklen Büfett, auf dessen Auszügen Kristall, Schüsseln, Flaschen und Gläser blinkten, stand in der Mitte auf dunkelrotem Teppich nur ein schwerer, großer, unbedeckter Tisch, um den zwölf Männer saßen, einige davon sehr einfach gekleidet, andere in weggeschnittenen Röcken oder Smoking. Im reichgeschnitzten Präsidentenstuhl lehnte ein blasser bartloser Mann unbestimmbaren Alters mit dunkler Hornbrille, dünnem Kopfhaar, das nur an den Schläfen noch üppiger wuchs und über die zierlichen Ohren fiel, – sein geringer Schnurrbart war nur ein leichter Strich, und das Hervorstechendste an ihm waren seine langen, schmalen Hände, die soeben mit der Schnelligkeit und Sicherheit vollkommenster Beherrschung der Zeichensprache der Taubstummen den elf Beisitzern irgend etwas berichteten.

Harst und ich kauerten oben auf der Galerie hinter zwei an die Brüstung gekippten Lehnstühlen. Professor Saduzzi, ein großer Musikfreund, veranstaltete in diesem Saale für seinen Freundeskreis oft genug erlesene Konzerte.

Harsts Aufmerksamkeit galt jedoch, wie ich sehr bald merkte, weniger den Vorgängen im Saale als hier oben der Galerie, deren eine Seite uns gegenüber auf einen breiten Balkon mündete. Vier Glastüren verbanden Galerie und Balkon, und durch die eine Tür waren wir eingedrungen.

Je mehr die Zeit verrann, desto nervöser wurde Harst.

Er befürchtete irgend etwas, – Genaues wußte ich nicht, ich mußte es mir zusammenreimen, aber das stille Bild dort unten im Saale ließ keine geistige Sammlung zu. Das lautlose Gespräch des Vorstandes des Bundes der Stummen mußte jeden Beobachter, der noch einer lebendigen Stimme sich erfreute, erschüttern. Auf dem Beratungstische lagen Aktenmappen, Papiere, Schreibunterlagen, und vor Saduzzi stand eine große Stahlkassette, die ganz neu zu sein schien.

Harsts Augen flogen unstät hin und her.

Von der Galerie führten an den Schmalseiten je eine Treppe in den Saal hinab, und auf der einen erschien jetzt wie hingezaubert die Gestalt eines Mannes im Radmantel, Künstlerhut und weißem Kragenschoner.

Es war die Treppe, die Saduzzis Platz gerade gegenüberlag.

Langsam, fast feierlich stieg Professor Albert Gerty die Stufen hinab. Die Leute am Tische bemerkten ihn erst, als er bereits den Saal erreicht hatte. Auch Saduzzi erblickte ihn nun, und seine lässige Gestalt straffte sich mit einem so jähen Ruck, als hätte er einen elektrischen Schlag empfangen, sein Gesicht wurde farblos wie ein ausgelaugtes Blatt, und die Hände krallten sich in die Sessellehnen, während die stieren Augen immer weiter aus den Höhlen zu treten schienen.

Gerty, dessen Arme und Hände von den sanft pendelnden Falten der Pelerine des Mantels verdeckt wurden, blieb am unteren Ende des Tisches stehen und schaute Saduzzi unverwandt an. Sein rechter Arm krümmte sich etwas, – – dann schrie eine schrille Mädchenstimme in die beklemmende Stille hinein – – überlaut, in den Tönen wahnwitziger Angst:

„Vater, töte ihn nicht!!“

Kaum war dieses noch schriller betonte „Nicht!!“ verhallt, als dorther, wo Gerty mit zurückschnellendem Kopf den ihm gegenüberliegenden Teil der Galerie mit etwas verkniffenen Augen absuchte, ein gedämpfter Schuß ebenso jählings erklang und der berühmte Operateur mit vorgeworfenen Händen über den Tisch taumelte, zurückfiel und seitwärts auf den Teppich rutschte.

In die wild aufflackernden heiseren, unverständlichen Schreckensrufe der elf stummen Beisitzer mischte sich ebenso unverständlich der scharfe Befehl einer harten Stimme, Stühle fielen drüben auf der Galerie um, flüchtig erschien ein Mädchenkopf, dann klirrte die von uns benutzte Glastür nach dem Balkon, und als ich mich etwas mehr aufrichten wollte, riß Harst mich nieder und flüsterte seltsam heiser und verstört:

„Das hatte ich nicht erwartet!! Das eine nicht!! Auf alles andere war ich vorbereitet. – – Schnell, – sie tragen Saduzzi hinaus … Zur Seitentreppe!! Ich muß dabei sein!“

Professor Gerty und einer der Beisitzer hoben die reglose Gestalt Saduzzis empor …

Gerty befand sich in einer unbeschreiblichen Erregung, in einem Geisteszustand, der an die letzte Stunde eines Delinquenten vor der Hinrichtung erinnerte … All die übermenschliche Energie, die er aufgebracht hatte, eine nimmermüde Stimme in seinem Innern auszuschalten, all die schweren Seelenkämpfe, die dem Verzicht auf einen eisenharten Entschluß vorausgegangen waren und all die wortreiche Mühe seines Retters waren nun umsonst gewesen …

Und diese nervenfolternde Angst Professor Gertys war nur zu begründet, denn ein Zufall wollte es, daß hier nun ein Mann unversehens im Saale auftauchte, der mit einem altertümlichen Leuchter in der Hand aus den oberen Stockwerken gekommen sein mußte.

Harst hielt mich zurück …

„Dippert!! Sollte auch die Polizei hier bei der Arbeit sein?!“

Er lehnte sich über die Brüstung …

Unten im Saal sagte eine kühle Stimme:

„Legen Sie Saduzzi dort auf das Ecksofa, Herr Professor Gerty! Sie kennen mich wohl noch: Kriminalrat Dippert … – Ich glaube, ich habe hier einen recht guten Fang getan, nachdem Ihre Tochter beim Mieten des Havel-Häuschens so überaus vorsichtig zu Werke gegangen war und die verflossene Nacht mir höchst merkwürdige Dinge zeigte – genau wie dieser Abend!“

In Dipperts Ton lag bissigste Ironie … – das war seine Charakterschwäche, alles, sogar einen Mord, nur mit der beißenden Lauge seines zweifellos überlegenen Geistes der notwendigen Ernsthaftigkeit zu entkleiden. – Er hatte zu Saduzzis intimeren Freundeskreis gehört, darüber waren wir sehr gut unterrichtet.

„Dja – ein kleiner Mord, nachdem man jahrelang Saduzzi erpreßt hat“, fügte er drohender hinzu. „Herr Professor Gerty, wollen Sie mir einmal Ihre Pistole zeigen? Nur heraus damit …! Saduzzi können wir doch nicht mehr helfen, das sehe ich … – Bitte, Ihre Waffe!“

Saduzzi lag auf dem Ecksofa, Gerty stand neben dem Tischchen … Dippert dicht vor ihm … Und wir beide, wir Inhaber von Logenplätzen im Theater, lehnten auf der Brüstung der Galerie und ließen uns nichts, aber auch gar nichts entgehen … Dippert war nie unser wohlwollender Förderer gewesen, er war höflich-ablehnend, er mochte uns eben nicht. „Privatleute haben mit diesen Dingen nichts zu schaffen“, lautete sein unumstößliches Urteil über uns. Trotzdem oder gerade deshalb leistete er in seinem Fach Hervorragendes und hatte schnell Karriere gemacht.

Gerty hielt ihm nun mit düsterem Blick eine Pistole mit aufgesetztem Schalldämpfer hin.

„Aha – – ganz modern!“, nickte Dippert und ließ den Patronenrahmen herausschnellen und roch an der Mündung.

Er stutzte merklich.

Von der Galerie her sagte eine sehr klare, beherrschte Stimme: „Hier sind zwei Zeugen, die genau wissen, Herr Rat, daß Professor Gerty nicht geschossen hat … Der Schuß fiel hinter Gerty neben der Treppe. Der Schütze selbst blieb uns unsichtbar.“

Dippert blickte zu uns empor. „Die Stimme sollte ich kennen … – Herr Harst?“

„Ja – zum Glück! Auch Schraut und ich haben einiges Interesse an der Villa hier, obwohl wir …“

In diesem Moment erloschen sämtliche Lichter … Die ganze elektrische Beleuchtung versagte, und die Kerzenstümpfchen, die in Dipperts uraltem Leuchter brannten, erhellten kaum einen Umkreis von einem Meter. Außerdem vernahmen wir klar und deutlich das ferne Zirpen einer Grille, und Harsts warnender Zuruf: „Beschützen Sie die Kassette, Dippert!“ kam keine Sekunde zu früh.

Dippert, der im Berliner Präsidium seines raschen Zupackens wegen genau wie in der Unterwelt „Der Haifisch“ genannt wurde, mochte wohl wissen, was die Kassette enthielt, warf den Leuchter zu Boden, riß seine Taschenlampe heraus und sprang vorwärts.

Als der Lichtkegel den langen Eichentisch streifte und auch unsere Lampen gleichzeitig aufblitzten, huschte eine windschnelle Gestalt zur nächsten Tür, – die Tür knallte zu, und die schwere Kassette, die der Dieb wieder fahren gelassen hatte, polterte zu Boden … Sie war ihm bei der eiligen Flucht wohl doch zu hinderlich gewesen.

Gleich darauf mußten wir vor der Überfülle des jäh wieder aufflammenden Lichtes ungezählter Lampen die Augen schließen, blinzelten geblendet und tappten schnell in den Saal hinab, wo Professor Gerty nun völlig gebrochen in einem Sessel lehnte.

Harst trat auf Dippert zu, verneigte sich und sagte durchaus sachlich, indem er auf das Ecksofa deutete: „Ich bedaure, Sie darauf aufmerksam machen zu müssen, daß Ihnen der größte Schurke, den je die Erde zu tragen sich schämte, entflohen ist.“

… Das Ecksofa war leer.

Der „tote“ Saduzzi hatte es vorgezogen, für immer zu verschwinden, obwohl nicht nur die Kriminalpolizei, sondern auch Schirmers Leute den Park besetzt hielten.

Dipperts peinlicher Schreck bei dieser Wendung der Dinge spiegelte sich deutlich in seiner sonst so beherrschten und energischen Miene wieder, und als nach einer Stunde jede Hoffnung zerrann, Saduzzis habhaft zu werden, begaben wir uns mit Gerty und zwei angesehenen Herren des Vorstandes in Saduzzis Herrenzimmer. Dippert trug die Kassette, die die Millionen der beiden Schenkungen in leicht realisierbaren Wertpapieren enthielt, und Harald stützte den etwas mitgenommenen Professor Gerty, der seltsam gleichgültig, übermüdet und erschöpft erschien.

Wir nahmen Platz.

„Was werfen Sie Saduzzi nun eigentlich vor, bester Harst?“, begann Dippert etwas kleinlaut.

„Körperverletzung, und vieles andere …, – immerhin eine ganz nette Kollektion von Verbrechen“, meinte Harald nun auch recht ironisch. „Haben Sie schon einmal etwas von den Grillen gehört?!“, fügte er in einem Atem hinzu.

„Ja, – das ist natürlich Blech, Vagabundengeschwätz“, sagte Dippert geringschätzig.

Gerty war plötzlich aufgelebt, saß straffer da und nickte energisch und suchte durch Zeichen anzudeuten, daß diese „Grillen“ existierten.

Harst, der jetzt tiefe Kerben um den Mund hatte, meinte mit allem Nachdruck: „Die Grillen sind vorhanden, sind eine Verbrecherorganisation von Stummen, und nur die sogenannte Königsgrille, ihr Oberhaupt, ist nicht stumm … Es ist Professor Tonio Saduzzi, das größte Scheusal aller Zeiten … Denn wer gesunden Menschen einredet, sie hätten Zungenkrebs, und ihnen die Zunge entfernt und dann die seelisch gänzlich Gebrochenen zu seinen Werkzeugen macht, ist schlimmer als ein Mörder, – und das hat Saduzzi bestimmt in zwei Fällen getan, die zu meiner Kenntnis gelangt sind.“

Dippert rührte sich nicht. Er war sehr blaß geworden. Er kannte Harst nur zu gut, er wußte, daß dieser niemals so schwere Anschuldigungen ohne genügendes Beweismaterial vorbringen würde.

Im übrigen ließ Harald ihm keine Zeit, irgendwie Fragen zu stellen.

„Bitte nehmen Sie die Kassette vom Schreibtisch und drehen Sie sie einmal um! Ich rieche schwarzen Eisenlack, und ich fürchte fast, daß Saduzzi, – – aha, da haben wir’s …!!“

Und bevor Dippert noch eingreifen konnte, hatte er einen bronzenen Briefbeschwerer vom Schreibtisch genommen und einen kräftigen Schlag auf den Stahlboden geführt, und der Stahlboden fiel nach innen, ließ sich herausheben, und …

… und in der heute abend erst unter besonderen Vorsichtsmaßregeln von einer Bank nach Saduzzis Villa geschafften großen Kassette lagen nichts als alte Zeitungen …

Dippert starrte in die Kassette hinein. „Harst, nur eins begreife ich nicht: Weshalb sollte die Kassette vorhin geraubt werden?!“

Ein unmerkliches Lächeln zuckte um Haralds Lippen. „Das alles war von der Königsgrille so befohlen. Es muß so sein, es ist so. Die Beleuchtung erlosch nach vorheriger genauer Vereinbarung, dann sollte im Dunkeln der Dieb erscheinen, sollte Saduzzi einen Stoß versetzen und mit der Kassette fliehen … – Wer hätte dann Saduzzi verdächtigt?! – Aber die Sache klappte nicht … Jemand wollte Saduzzi erschießen, die Grillen hielten sich an ihre Befehle, und so kam die Tragikomödie zustande, die dem Bunde der Stummen trotzdem Millionen kostete …“

Dippert dachte scharf nach. Dann nickte er kurz, schüttelte Harst kräftig die Hand und meinte anerkennend:

„Fabelhaft, daß Sie so flink aus dem Lackgeruch darauf schlossen, der Boden sei herausgesägt und nur wieder eingekittet!“

Harst kniff die Augen klein. „Keine Schmeicheleien! Ich will nur noch hinzufügen, daß die Kassette drei verschiedene Kunstschlösser hat und daß jeder der drei Herren des Vorstandes nur einen der Schlüssel besaß. Saduzzi mußte also den Boden aufsägen, – vielleicht war er sehr bewandert auf diesem Gebiet, was nicht ganz ausgeschlossen ist …“

Ich dachte an Annelieses Kassette, aber ich hielt wohlweislich den Mund.

 

10. Kapitel.

Die Königsgrille.

Harsts Voraussage, daß wir Anneliese und den Holländer in dem Havelhäuschen vorfinden würden, traf zu. Als das Polizeiauto dort hielt und Dippert, Gerty und wir beide ausstiegen, öffnete sich die Haustür und eine breite Lichtbahn fiel in den Garten, in der Tür standen Anni und der sympathische Amsteln Arm in Arm, und Gerty, den Harald inzwischen seelisch wieder aufgerichtet hatte, eilte freudig auf sein Kind zu und schloß es fest in seine Arme, wobei ihm die Tränen über die zerfurchten Wangen liefen.

In demselben Zimmer, in dem wir die schlafende Anni gestern nacht so mühsam geweckt hatten, saß heute ein froherer Kreis von Mitspielern bei dem Grillen-Fall beieinander und lauschte zunächst andächtig Amstelns kurzen Erklärungen.

Der Holländer war tatsächlich Kriminalbeamter und zwar Leiter des Fälscherdezernats. Bevor er jedoch auf Einzelheiten eingehen konnte, fiel Harst ihm höflich ins Wort und meinte, man könnte die Sache mit wenigen Sätzen abtun. „Die Fälschungen von Kunstwerken werden in Holland genau so schwer bestraft wie Banknotenfälschungen. Ich gebe zu, ich habe zunächst an letzteres gedacht, aber eins sprach dagegen. Ich hatte nichts vom Auftauchen größerer Mengen falscher Guldennoten gehört, dagegen wußte ich, daß aus dem Museum in Amsterdam vor zwei Jahren überaus wertvolle Radierungen in Menge gestohlen waren und bei amerikanischen Millionären wieder aufgetaucht sein sollten. Professor Gerty ist kein Vorwurf daraus zu machen, daß die Grillen ihn zwangen, in Buitenzoorg bei Amsterdam nach den Originalen Platten anzufertigen, die ein geschickter Drucker dann unter Verwendung alter Papiersorten für die Herstellung von tadellosen Fälschungen benutzte, für die sicherlich von Liebhabern Unsummen gezahlt wurden. Diese Fälscherwerkstatt existiert nicht mehr, denn nach Gertys Flucht aus Buitenzoorg hatte die Königsgrille diesen „Geschäftszweig“ eingestellt und all ihre Grillen auf die Spur Gertys gehetzt, dessen Rache sie fürchtete. Professor Gerty wollte Saduzzi erschießen, und ich kann ihm das nicht verargen“, wandte Harst sich direkt an Kriminalrat Dippert, „denn wenn Sie erst die ganze Wahrheit kennen werden, dürften auch Sie einen Vergeltungsakt entschuldbar finden. – Was Amsteln betrifft, wäre nur noch zu sagen, daß er Gerty, den berühmten Radierer, der irgendwo in Holland sein sollte, hier in Berlin suchte, dabei Anneliese kennenlernte und nun alles daransetzte, Gerty von einer unüberlegten Rachetat zurückzuhalten. Und was schließlich die Königsgrille selbst angeht, muß ich hier nun meine ursprüngliche Behauptung zurücknehmen: Tonio Saduzzi ist nicht die Königsgrille!“

Zuerst folgte dieser überraschenden Richtigstellung allgemeines ungläubiges Schweigen.

Dann brachen die verschiedensten Fragen und Ausrufe wie ein Schlossenregen über den ehern-standhaften Harst herein.

„Und wenn Sie mich verhaften, Dippert“, wehrte er sehr kühl ab, „– es wäre die ungeheuerlichste Dummheit, die wahre Königsgrille jetzt in ihrer trügerischen Sicherheit zu stören, denn vergessen Sie eins nicht, Dippert: Die Frau hat die zwei Millionen, den Bundesschatz der Stummen, im Besitz und ihn sicherlich so gut versteckt, daß niemand ihn fände!“

Gerty gestikulierte erregt mit den Händen und schrieb dann schnell auf ein Blatt Papier:

Wenn es nicht Saduzzi ist, dann ist’s Miß Gracie Holderston, die Besitzerin des Modesalons „Holder“, denn in Buitenzoorg in unserer Werkstatt, wo alles nur Stumme arbeiteten, fand ich verschiedentlich unbenutzte Umschläge mit Firmenaufdruck des Modesalons, und einen davon steckte ich vor meiner Flucht, die ich als Stromer fortsetzte, zu mir und benutzte ihn für den ersten Brief an Anneliese nach meiner Ankunft hier in Berlin. – Ich behaupte auch nochmals: Ich habe nie an Zungenkrebs gelitten, die Königsgrille und Saduzzi wollten mich lediglich seelisch zermürben.

Harst schüttelte leicht den Kopf. „Lieber Herr Professor, Sie irren sich, auch Miß Holderston ist nicht die Königsgrille. Ich gebe zu: Es ist eine Frau, sogar eine sehr intelligente und geschickte Frau, nicht mehr ganz jung, trotzdem vielleicht für manchen ganz reizvoll …“

„Für Saduzzi!“, sagte Amsteln im Tone tiefster Überzeugung.

„Auch das ist ein Irrtum“, erklärte Harald mit diskretem Gähnen. „Saduzzi machte sich nichts aus Weibern, Saduzzi ist ein in seinen ärztlichen Beruf fanatisch verliebter Frauenverächter.“

Dippert murmelte mißmutig: „Daraus soll ein anderer schlau werden!! – Harst, und wann darf ich der Königsgrille Handschellen anlegen?“

Harald gähnte weniger diskret.

„Wenn ich mich gründlich ausgeschlafen und das Versteck der beiden Millionen und der sonstigen Beute der klugen, leider aber unklugen Dame gefunden habe.“

Dabei blieb’s, und wir fuhren heim, – – ins Bett?!

Der arme Dippert hatte es schlechter, – er mußte doch noch alles in die Wege leiten, daß die zum Kongreß der Stummen eintreffenden und zur Grillen-Organisation gehörigen Leute rechtzeitig verhaftet würden. Harald hatte ihm hierfür einen liebenswürdigen Wink zur Erleichterung der richtigen Auswahl gegeben: „Wer nicht auf das Zirpen reagiert, ist harmlos. – Fangen Sie’s aber geschickt an!“ –

Ein Bewohner des Gartenhauses des Salon „Holder“ beobachtete am frühen Morgen bei noch völliger Dunkelheit zwei fragwürdige Gestalten, die sich auf einer Feuerleiter unweit des Schlafzimmerfensters der Miß Holderston in sehr verdächtiger Weise bewegten.

Der aufgeregte Mann alarmierte das Überfallkommando und stürzte dann die Treppe hinab, um den Einbrechern mit einer schweren eisernen Müllschippe tollkühn den Weg nach der Straße zu verlegen.

Angesichts einer Pistole, die der eine der Strolche ihm wortlos unter die Nase hielt, verzichtete er auf eine Benutzung seiner eigenen Waffe und gestand angstschlotternd, daß er das Überfallkommando herbeigerufen habe.

„Sie sind verrückt!“, zischte ihn der Mann mit der Pistole ärgerlich an. „Kommen Sie mit und halten Sie nachher den Mund, sonst kann es Ihnen übler ergehen als uns.“

Der Polizeiwagen wurde von dem Stromer weit vor dem Salon Holder noch glücklich abgefaßt, und der tapfere Herr mit der Müllschippe riß den Mund sperrangelweit auf, als die Polizei die „Einbrecher“ höflichst laufen ließ, nachdem sie sich anscheinend diskret legitimiert hatten.

Die Stromer schliefen nachher in einem behaglichen Hause in sauberen Betten und waren mit ihrer Arbeit sehr zufrieden. –

Am nächsten Mittag gegen ein Uhr bediente Miß Holderston gerade persönlich eine bevorzugte Kundin und lehnte, imposant, elegant und vornehm wie immer, leicht an einem der Riesenschränke, die all die „Gedichte“ aus Seide, Tüll, Spitzen und anderen Stoffen enthielten. Ihr längliches Gesicht war wie stets makellos geschminkt und gepudert und machte sie um fünfzehn Jahre jünger, ihre wundervolle aschblonde Perücke war ein Kunstwerk ersten Ranges, und ihre schlanke, große und doch volle Gestalt ließ jedes Mannequin vor Neid erblassen. Wenn man noch die raffinierte Einfachheit ihres Anzugs und die klassisch schönen schmalen Hände mit in Rechnung stellte, war diese Frau einfach fehlerfrei, – nur eins störte vielleicht: Die überpuderten starken Augenbrauen und der noch stärker überpuderte Anflug von Schnurrbart sowie die seltsamen dunklen Augen, in denen im Gegensatz zu der sonstigen vornehmen Ruhe der Bewegungen ein schwer zu deutendes Flirren und Glitzern funkelte und dazu eine Unrast des Blickes, der fast stechend erschien.

Durch die Drehtür vorn am Eingang waren soeben zwei Herren und ein junges Mädchen eingetreten. Miß Holderston bemerkte sie nicht, mehrere hohe Stehspiegel und behängte Modellpuppen – allerneueste Pariser Modelle – versperrten ihr die Aussicht.

Nach den drei Personen erschienen noch drei Herren.

Der Leser wird sich bereits sagen, wer es war, Gerty nebst Tochter und Amsteln, dann Dippert und wir beide.

Wer unsere Gesichter schärfer geprüft hätte, würde darin einen Ausdruck schlecht verhehlter äußerster Willensanspannung, eine hochgradige Erregung zu meistern, entdeckt haben.

Die bevorzugte Kundin verabschiedete sich, und Harst schritt auf Miß Holderston zu.

„Sie kennen mich, nicht wahr?“

„Bedaure …“, – das klang unendlich gleichgültig.

„Könnten wir Sie allein sprechen? – Dort ist wohl Ihr Privatkontor … Bitte …“

Dippert hatte bereits die Tür geöffnet und heimlich geflüstert: „Kriminalpolizei! Gehorchen Sie!“

Gracie Holderston musterte uns hochmütig-erstaunt und gehorchte, setzte sich vor ihren Schreibtisch und spielte mit ihrer Lorgnette. Ihre so eigentümlich schillernden Augen hingen starr auf Harsts etwas zu ernsten, zu traurigen Zügen. – Wir anderen fieberten innerlich …

„Sie wissen, weshalb wir kommen, Miß Holderston“, begann Harald etwas überstürzt, als ob er dieses Häßliche schnell beenden wollte. „Ja, Sie wissen es … Sie fühlten sich in der verflossenen Nacht sehr sicher … Ich bin nicht schlafen gegangen, sondern Schraut und ich haben auf einer Feuerleiter gestanden und in ein sonst tadellos verhängtes Fenster hineingeschaut …“

„Nun – – und?!“ … Aber die Stimme der Miß klang etwas heiser.

„Wir haben nicht viel gesehen, nein, – immerhin konnte man daraus einige wertvolle Schlüsse ziehen. Doch bevor ich hierauf zu sprechen komme, will ich einer jungen englischen Ärztin gedenken, die vor fünfzehn Jahren aus einer englischen Irrenanstalt entfloh, wo sie für Lebenszeit bleiben sollte, weil sie, um Operationen vornehmen zu können, ihren Patienten oder Bekannten Zigaretten anbot, die chemisch von ihr präpariert waren, um an der Zungenspitze gewisse Rötungen und Geschwülste, scheinbar Krebs, hervorzurufen. Diese Ärztin hieß Holderston, sie war und ist zweifellos geisteskrank, sie täuschte nach ihrer Flucht Selbstmord durch Ertrinken vor, ging nach Italien, lebte als Mann und wurde berühmt, kam als Professor Tonio Saduzzi nach Berlin und führte hier ein raffiniertes Doppelleben …“

Gracie Holderston lächelte und nickte. „Und die Beweise, Herr Harst?“

Harald blickte zu Boden. „Die Beweise? – – Dort steht ein Beweis, Miß Königsgrille: Professor Gerty, eines Ihrer Opfer – – leider. Und die weiteren Beweise sind folgende: Schraut und ich beobachteten Sie heute früh, als es noch dunkel war, wie Sie mit schwarzem Stoff, einer Schere und Kleister in Ihrem Schlafzimmer eifrigst tätig waren. – Man hat mir nun so und so oft den Vorwurf gemacht, meine Schlußfolgerungen wären zumeist Glückssache, weil zu fantastisch. Und doch bin ich im Grunde ein sehr nüchterner Kopf und sagte mir heute früh, daß es doch eigentlich für eine Modistin kein besseres Versteck für Wertgegenstände gäbe als …“

Er schwieg … – er rief, und wir Männer sprangen rechtzeitig zu, bevor Miß Doktor Holderston noch die Gifttablette schlucken konnte … – Handschellen knackten … –

Miß Doktor lachte schrill …

„… Als eine schwarze Modellpuppe, wollten Sie sagen, Herr Harst! Man schneidet den Rücken auf, tut alles Wertvolle hinein, überklebt den Schnitt unauffällig, und – – bitte, zerschneiden Sie doch meine Modellpuppen!!“

„Nicht alle, nur eine, – eine die dort im Laden steht und trotz des Parfüms des Modellkleides nach frischem Kleister riecht …“

„Vorzüglich!“, sagte die Geisteskranke ganz ernsthaft. „Wenn ich Sie zum Verbündeten gehabt hätte, wäre die Königsgrille nie entdeckt worden. – Und – wie sind Sie eigentlich hinter das Geheimnis meiner Persönlichkeit gekommen, Herr Harst?“

Vielleicht wirkte nichts so erschütternd als die besonnene Ruhe dieser Irren und ihre rückhaltlose Anerkennung für Harsts erfolgreiches Vorgehen. Ihre Geisteskrankheit, das stellten die Fachärzte nachher fest, beschränkte sich in der Hauptsache auf eine wahre Operationsgier, auf maßlose Eitelkeit und Hang zum Wohlleben, wobei sie, was ihre Verschwendungssucht betraf, stets einen äußerst kultivierten Geschmack entwickelte.

Harald schaute die im Grunde recht bedauernswerte Frau im stillen, etwas geistesabwesendem Blicke an.

„Ihr Geheimnis?!“, sagte er zögernd, als ob es ihm widerstrebte, diese peinliche Unterredung fortzusetzen. „Ihr Geheimnis war in dem Moment entdeckt, als ich feststellte, daß Sie bei Anneliese Gerty hatten einbrechen und gerade den einen Briefumschlag mit Ihrem Firmenaufdruck hatten mitgehen heißen. Wahrscheinlich waren Sie selbst der Einbrecher … Daß gerade der Umschlag der Kassette entnommen war, veranlaßte mich, durch einen Bekannten nach London an die Polizei telegrafieren zu lassen, ob dort eine Gracie Holderston, wahrscheinlich Ärztin, bekannt sei. – Ihr Doppelleben als Saduzzi und Holderston fand ich fast gleichzeitig mit dem Antworttelegramm aus London heraus. Ich sah Ihre Hände, als Sie den Vorsitz im Speisesaal Ihrer Villa führten, und es waren die Hände einer Frau. Daß Sie in Ihrer Filiale in Buitenzoorg unbenutzte Umschläge Ihres hiesigen Modesalons umherliegen ließen, die Herrn Professor Gerty in die Hände gerieten, war nur einer jener immer wieder bei Kranken Ihrer Art zu beobachtenden schweren Versager der im übrigen gesteigerten Intelligenz. – Leben Sie wohl, Miß Doktor Holderston …“

„Gleichfalls, Herr Harst …“ Sie neigte genau so höflich den Kopf, wie er vor ihr verbeugt hatte.

Er winkte uns und überließ Dippert den Abtransport der Irren und die Sicherstellung der Wertpapiere und des Bargeldes einer gewiß nicht alltäglichen Verbrecherin. –

Eine Stunde darauf läuteten wir beide an der Flurtür der Frau Mieze Menzel. Erst nach einigem Zögern ließ das hübsche Frauchen uns ein.

„Holen Sie Ihren Mann, liebe Frau Menzel“, meinte Harald sehr herzlich und sehr frisch. – An diesem Besuch hatte er seine Freude. – „Wir wissen, daß er ganz unerwartet heimgekehrt ist. – – Er schläft? Oh, dann wollen wir ihn nicht stören. Bestellen Sie ihm beste Grüße und sagen Sie ihm, daß die beiden einzigen Menschen, die den Schützen genau kennen, der in der verflossenen Nacht auf Professor Saduzzi feuerte und nur dessen goldene Uhr traf, so daß lediglich ein Ohnmachtsanfall die Folge war, bestimmt schweigen werden. – Fürchten Sie nichts, liebe Frau Menzel, der Schütze quittierte durch den Schuß über einige präparierte Zigaretten und über eine überflüssige Operation. Saduzzi ist eine Frau und geisteskrank und gemeingefährlich und wird den Rest ihres Lebens in einer Irrenanstalt zubringen.“

… Ein vor Glückseligkeit schluchzendes jungverheiratetes Frauchen drückte uns immer wieder die Hände.

* * *

Diese Art Grillen hatte hiermit für immer ausgezirpt …

 

Nächster Band:

Der Vampir von Berlin.

 

 

Anmerkung:

  1. Fehlendes Wort in der Vorlage ergänzt.