Olaf K. Abelsen
Abenteuer
Abseits vom
Alltagswege
Einzig berechtigte
Bearbeitung a. d.
Schwedischen von
M. Schraut
– Band 48 –
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 16
Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1929 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16.
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16.
Der eiserne Motorschoner „Danmarket“, dessen Phantasiename keinen Rückschluß auf die Nationalität des Schiffes zuließ, fuhr mit halber Kraft durch den dicken zähen Sommernebel.
Ein Mann im Ölmantel, der bis dahin ruhelos zwischen den beiden Masten auf und ab gegangen war, unterbrach jählings seine Wanderung, als von vorn fast gleichzeitig mit dem Splittern von Holz ein schriller Hilferuf ertönte. Mit wenigen Sätzen war er am Bugspriet, beugte sich über Bord und turnte dann ebenso geschwind an einem Tau in die Tiefe.
Eine schäumende Welle warf ihm zugleich mit langen Holzplanken eine halb bewußtlose Frau in die Arme. Die Reste des kleinen Ruderbootes versanken, aber der Mann hielt die schlanke Beute fest an sich gedrückt, die das gefräßige nächtliche Meer und der heimtückische Nebel sich als Opfer auserkoren gehabt hatten.
In der Heckkajüte des Schoners unter warmen Decken und bei geeigneter Pflege erholte sich die Fremde sehr rasch.
„Wo bin ich?“
Der stoppelbärtige Kapitän grinste breit.
„In Sicherheit, Miß …“
„Ein englisches Schiff, Sir?“, wollte sie wissen.
Der nußknackerartige Kapitän verneinte.
„Deutscher Schoner, Miß …?“
Er war ein sehr vorsichtiger, schweigsamer Mann.
Die Frau war jung, pikant, hatte ein sehr eigenartiges Kinn und seltsam verschleierte braune Augen.
„Und Sie selbst?!“, forschte der Engländer behutsam. „Wie kommen Sie bei dem Wetter so weit auf die Nordsee hinaus?“
„Ein unglückseliger Zufall“, erwiderte die Fremde genau so ausweichend.
„Waren Sie es, der mich rettete, Käpten Garson?“
„Nein … Das war unser Schiffskoch, Miß.“
So … so, – – Schiffskoch … – Ich möchte ihm meinen Dank aussprechen, rufen Sie ihn doch her …“
Garson verzog seine Stoppelbacken zu traurigen Falten.
„Unmöglich, Miß … Miß …, – wie darf ich Sie nennen?“
„Senta Gordon … Zur Zeit …“ – sie zögerte – „Sommergast in Hangerupp …“
Garson hustete …
„Komisch, – Garson, Gordon, – das klingt recht ähnlich …“
„Und weshalb kann ich den Koch nicht sehen, Käpten?“, beharrte Miß Gordon bei ihrem Wunsche.
„Weil … weil … es zwecklos wäre, Miß … Unser Koch ist taubstumm – vom Kriege her, – Minenexplosion und so …“
Ein eigentümlich forschender Blick traf den ungeschickten Lügner.
Aber Miß Gordon zog es vor, zu schweigen.
Jack Garson fluchte im stillen über seine geringe Phantasie und erklärte eilfertig, er würde der Miß nun trockene Kleider beschaffen.
„Meine Tochter ist nämlich zuweilen mit auf dem Schoner, und Sie beiden dürften dieselbe Größe haben.“
Dann entfernte er sich in die Nebenkajüte.
Er hatte die Tür kaum geschlossen, die bisher nur angelehnt gewesen, als Miß Gordon eiligst die Decken von sich warf, auf den Tisch turnte und aus ihrer Bluse ein Päckchen hervorzog.
Behutsam öffnete sie das Oberlichtfenster, warf das Päckchen in den Nebel hinaus und dies mit solchem Schwung, daß es über Bord fallen mußte.
Dann legte sie sich wieder auf das Sofa, hüllte sich ein und lächelte zufrieden.
Jack Garson hatte zu seinem Erstaunen die Nebenkajüte leer gefunden.
Er eilte an Deck, wo er den schlanken Mann im Ölmantel antraf …
Mich!
Mich, dessen Abseitspfade nun eine neue Kurve eingeschlagen hatten.
Ich hielt noch das Päckchen in der Hand, das die Nordsee hatte verschlucken sollen.
„Mr. Abelsen“, knurrte der Käpten kleinlaut, „ich bin ein alter Esel …“ „Stimmt!“
„Ich habe mich … sehr ungeschickt benommen, Mr. Abelsen …“
„Stimmt! Gerade Ihnen hätte ich mehr Fertigkeit im Lügen zugetraut.“
Da – – dicht vor uns aus den dicken grauen Schwaden das Dröhnen eines kleinen Nebelhorns.
Garson stürzte zur Reling. Er verfügte über ungeheure Stimmittel, aber ich wußte genau, daß er hier nichts mehr ausrichten würde. Das fremde Schiff näherte sich, ohne daß wir es erspähen konnten, unheimlich schnell, ich hörte es genau, ich vernahm sogar das Arbeiten der Schiffsmaschinen, und noch rascher als Inspektor Garsons Elefantenbariton bellte meine Pistole sechs scharfe Schüsse schräg aufwärts in den grauen Brei …
Irgendwoher ein Schrei aus den Lüften, – so grell, so überlaut, daß ich selbst zusammenzuckte …
Dann das schrille Läuten eines Maschinentelegraphen, dann eine tiefe Baßstimme aus dem niederträchtigen Brei:
„Hallo, – – welches Schiff?!“
… Ein deutscher Anruf …
Ich stieß Garson schleunigst in die Rippen …
„Inspektor, – – Vorsicht!!“
Garson brüllte zurück, während vor uns ein Scheinwerfer zwecklos aufblitzte und das fremde Schiff stoppte:
„Hier holländischer Dampfer „Buitenzork“ … Wer dort?“
… Antwort?!
… Ein höllisches Gelächter …
… Ein neues Signal des Maschinentelegraphen drüben, und das fremde Fahrzeug sauste in voller Fahrt an unserem Heck vorüber und verschwand.
Garson pflanzte sich breitbeinig vor mir auf.
„Merken Sie was, Mr. Abelsen?!“
„So manches …!“
„Das war „er““, sagte der Inspektor und Käpten leise. „Das war „er“ ganz bestimmt, und die Schufte glaubten mir den „Buitenzork“ nicht!“
„Dazu war Ihr Holländisch zu miserabel, Garson!“
„Mag sein … – Schade, – – wieder entwischt …! Das Hohngelächter verriet die Bande.“
„Allerdings …! – Trotzdem wissen wir jetzt, woher unsere schöne Unbekannte mit ihrem Boot gekommen ist – – von „ihm“, zweifellos, und das Ganze, Garson, war ein feiner Trick der Herrschaften …“
„Hm, – Sie meinen?!“ Der Inspektor hegte offenbar noch Bedenken.
„Ich meine, die Frau ließ sich absichtlich überfahren, um hier an Bord zu gelangen … Mithin hat man uns trotz aller Vorsichtsmaßregeln verfolgt, also gegen uns Verdacht geschöpft. Das Spionagesystem der Leute muß vorzüglich ausgebaut sein, – davon erhielten wir ja bereits recht eindeutige Beweise. Die Depeschen, die unser Funker auffing, galten einem Dampfer Buitenzork, und der übrige Text erschien nur harmlos … – Hallo, Jeffries, was gibt es?“
Neben uns stand plötzlich der knabenhafte Bordfunker.
„Soeben eine neue Depesche“, meldete er stramm. „Inhalt: An alle!! Sturmgefahr!! – – Weiter nichts, Käpten. Dabei steht das Barometer auf veränderlich und klettert sogar noch höher.“
Garson lachte kurz …
„Die Sturmgefahr sind wir, Jeffries! Diese Halunken!! Wenn wir nur erst Mr. Abelsen glücklich ausgebootet hätten! Mir gefällt die ganze Geschichte nicht … Dazu noch der verdammte Nebel!! – – Sie können gehen, Jeffries … Ich danke Ihnen.“
Als der Funker verschwunden war, erklärte ich Garson mit aller Bestimmtheit, daß die Sachlage von mir persönliches Eingreifen erfordere.
„… Sie wissen, Inspektor, ich trage hier die Verantwortung, so lange ich an Bord bin … Den taubstummen Koch und Retter mag der Sergeant Parker spielen, er hat meine Figur, und mein Gesicht kann die Fremde nicht gesehen haben. Ich muß die Frau persönlich sprechen …“
Jack Garson nickte widerwillig. „Aber … aber Ihr Gesicht, Mr. Abelsen!! Das kennt man unter Tausenden heraus.“
„Mein Gesicht hat gegen Klebstoff und sonstiges nichts einzuwenden … – Schnell, besorgen Sie das Nötige, Garson … Ich habe mein Lebtag keinen falschen Bart gekannt, – warum soll ich nicht auch das kennenlernen?! Mein Dasein ist ja ohnedies so wunderbar auf ein Abseitsgeleise mit der Bezeichnung 2 B gedrängt worden, daß ich mit allem einverstanden bin …“
– 2 B war die Abteilung für „Auswärtige Beobachtungen im großen Polizeipalast von New Scotland Yard in London, und der neue Kommissar und Vorstand dieser Abteilung mit der so harmlosen Bezeichnung war Olaf K. Abelsen, bisher Steckbriefanwärter, zuletzt am Nordwestrande der Sahara Banditenfänger, – nunmehr Amtsperson und auf der Jagd nach Leuten, die die halbe Welt bereits in eine wahre Panik versetzt hatten.
„Steward Benson mit den Kleidern“, meldete ich mich fünf Minuten später bei unserem fragwürdigen Gast.
Beim Eintritt in die Kabine hatte ich diskret die Deckenbeleuchtung ausgeschaltet, so daß nur die Stehlampe auf dem Sofatisch brannte.
Es war für diesen Mummenschanz notwendig, mich nicht dem grellen Lichte auszusetzen.
Ich stand respektvoll mit meiner weißen Jacke mit goldenen Knöpfen im Schatten.
Senta Gordon – daß sie nicht so hieß, wußte ich bereits – lag auf dem großen Sofa aufgestützt da und erwiderte gleichgültig:
„Es ist gut, Steward … Legen Sie die Kleider und die Wäsche dort auf den Stuhl … Nach zehn Minuten können Sie mir einen Imbiß bringen. Ich danke Ihnen vorläufig.“
Als ich jedoch bereits den Türknauf in der Hand hatte, rief sie mich zurück.
Hätte sie es nicht getan, würde ich einen Vorwand gefunden haben, noch zu bleiben und sie zu einem Gespräch zu zwingen.
„Steward, noch einen Augenblick …!“
„Bitte, Miß …“
„Dieser deutsche Schoner hat eine englische Besatzung, auch Sie sprechen fließend Englisch, und Käpten Garson …“
„Miß“, unterbrach ich sie hastig, „stellen Sie bitte keine Fragen, in Ihrem eigenen Interesse nicht … Wir haben vorhin Pech gehabt … Wir haben da irgend einen Matrosen des fremden Schiffes angeschossen, als – nun ja, ich selbst gab die Warnungsschüsse in der ersten Bestürzung ab …“
„Seid ihr Schmuggler, Benson?“
Ich schwieg erst.
„Geschmuggelt wird auf jedem Schiff, Miß“, erklärte ich, sehr diplomatisch tuend.
„Natürlich …!“ Sie lächelte harmlos-spitzbübisch.
Weiß Gott, sie war schön, nicht so im landläufigen Sinne.
Nein, – sie war reizvoll als Weib, und als Persönlichkeit ein besonderer Schlag. Ihre Jugend mußte etwas stürmisch verlaufen sein.
„Benson“, begann sie von neuem, „Sie könnten mir den Stuhl mit den Kleidern hier neben das Sofa tragen. Ich fühle mich noch recht schwach.“
„Bitte, Miß …“
Aber dieser Wunsch kam mir sehr ungelegen.
Mein linker Arm hatte von einer der Planken des zertrümmerten Bootes einen bösen Hieb erhalten und war noch immer wie gelähmt.
Leider hatte ich die Wäsche und die Kleider auf den schweren Schreibsessel gelegt, und als ich diesen nun nur mit der rechten Hand anhob und mein linker Arm kraftlos herabhing, fragte Miß Gordon scheinbar mitfühlend:
„Haben Sie sich verletzt, Benson?“
„Ja – soeben, Miß … ausgeglitten, aber nicht schlimm.“
Eine gänzlich veränderte Stimme zischte mir drohend zu:
„Setzen Sie sich – – sofort! Glauben Sie nicht, daß ich Sie schonen werde! Ich weiß, worum es hier geht … Gehorchen Sie!“
Die Hand mit der Waffe wurde etwas zurückgezogen. Miß Gordon saß aufrecht da.
Ich war vollkommen überrumpelt worden.
„Entfernen Sie Ihren lächerlichen, angeblich grauen Bart“, befahl sie weiter. „Ich will Ihr Gesicht sehen … Nehmen Sie auch die Mütze ab!!“
Die Situation war für mich fürs erste kläglich …
Ich tat Miß Gordon den Willen … Ich war froh, daß Inspektor Garson auch mit der Schminke nicht gespart hatte. Einige Bartfusseln blieben am Kinn hängen, und auch die Nase und die untertuschten Augen halfen mit, mein wahres Bild zu verwischen.
Die Gordon betrachtete mich scharf. Unsere Blicke kreuzten sich immer wieder.
„Ich … kenne Sie nicht“, sagte sie dann etwas unsicher. „Wer sind Sie?“
… Ihr erster Fehler …!
Ich nutzte ihn aus … Ich wollte sie erschrecken … In dem Päckchen hatte ich so allerhand gefunden.
„Ich bin Erik Ballholm“, erwiderte ich, mich ängstlich zurücklehnend.
Der Hieb hatte gesessen.
Ihre Hand mit der Waffe sank herab …
„… Erik … Ballholm?! – Das … ist nicht wahr!“
Nein, – es stimmte nicht …
– Armes Mädel, darauf warst du nicht vorbereitet! Dein „Steward“ hatte es schon mit gefährlicheren Herrschaften zu tun gehabt …
Sie schrie leise auf, aber meine Finger preßten ihr Handgelenk ohne Erbarmen, und der einzige dumpfe Schuß, der aus der Pistole sich entlud, ging in die Seitenlehne des Sofas.
Dann polterte die Waffe auf den Teppich, ich hob sie auf und setzte mich wieder.
Erika Ballholm – das war ihr richtiger Name – war kreidebleich geworden.
„Das – – haben Sie gut gemacht“, meinte sie kalt mit nur ganz schwach vibrierender Stimme. „Und jetzt?!“
„Jetzt?!“ Ich tat unbefangen.
„Was werden Sie jetzt mit mir tun?“
„Sie irgendwo ausbooten, Miß Gordon …“ – Ich blieb bei dieser Anrede. „Wir können Sie hier an Bord nicht brauchen, Miß … Sie sagten Garson, daß Sie in Hangerupp als Sommergast wohnen … Wir bringen Sie dorthin, obwohl wir nicht sicher sind, ob Sie uns nicht verraten werden. Ich kann einen Mann, der droben im Maste hockte, vorhin angeschossen haben, und das ist böse, Miß, sehr böse – – für uns alle …“
„Ich werde schweigen“, erklärte sie schnell.
Zu schnell …
Und dann: „Wie kamen Sie auf den Namen Erik Ballholm? Heißen Sie wirklich so?“ –
Die Wahrheit ist das beste Rüstzeug der Lügner, hat irgendwo ein großer Philosoph geäußert.
Jetzt erst hatten wir zweierlei endlich erreicht: Wir wußten, daß diese Verbrecher einen Dampfer Buitenzork erwarteten, wir wußten weiter, daß diese Frau mit zu diesen unheimlichen Gesellen gehörte. Der Inhalt des Päckchens bewies es.
Trotzdem gab es da noch übergenug Ungeklärtes.
Wir standen erst im Vorpostengefecht mit den Gegnern, deren wahre Stärke wir nicht kannten.
„Ich heiße Erik Ballholm“, entgegnete ich gelassen. „Weshalb erschreckte Sie der Name so, Miß Gordon?“
„Ein … Zufall“, sagte sie leichthin … „Ich kannte einen Ballholm … Freilich, der Name ist nicht selten in Schleswig und Dänemark … – Sie wollen mich also an Land setzen, falls ich schweige?“
„Ja.“
„Und würde Ihnen denn mein Versprechen genügen, Mr. Ballholm?“
„Vielleicht … – Doch, sprechen wir besser Deutsch, Fräulein Gordon … Ihr Englisch verrät Ihre deutsche Herkunft, und wir dürften Landsleute sein.“
Ich hatte noch mehr hinzufügen wollen, aber trotz der geschlossenen Oberlichtfenster vernahm ich jetzt draußen auf See das Heulen einer Schiffssirene, deren gellende Töne eine gewisse Gleichmäßigkeit hatten.
Ich sah auch, wie Erika Ballholm aufhorchte und ihre Wangen sich leicht röteten, wie sie den Atem anhielt und flüchtig zum Oberlicht emporschaute.
Garson war auf dem Posten.
Unser Motor verstummte, ebenso unser Nebelhorn.
Dann erlosch sogar die Lampe auf dem Tisch.
Bevor sie erlosch, hatte ich noch in Erika Ballholms Mienen den Ausdruck tiefer Enttäuschung feststellen können.
Ich rieb ein Zündholz an. Meine Laterne puffte, und das kalte, weiße Karbidlicht traf des Mädchens versteinerte Züge.
Die Sirene jaulte weiter: Lang – lang, kurz, kurz, kurz, lang – lang, – so dröhnte das ferne Signal.
Der Schoner schaukelte träge auf den Wellen.
Totenstille herrschte.
Die matten Wogen rauschten nur murmelnd gegen die Bordwände.
Erika Ballholm sagte gereizt:
„Sie sind doch Schmuggler …!“
„Versprechen Sie, zu schweigen?“, fragte ich kurz und ablenkend.
„Ja!“
Sie war zerstreut …
Die schrillen Rufe der Sirene entfernten sich.
Sie seufzte leise, … wohl halb unbewußt.
Ihre Hoffnung auf Hilfe von außen zerrann.
Ich erhob mich, ich war mit dem Erreichten vorläufig zufrieden.
„Dann ziehen Sie sich also bitte um, Fräulein Gordon. In einer Stunde werden wir Sie ausbooten können, hoffentlich in der Nähe von Hangerupp … – Nur eins noch, – weshalb bedrohten Sie mich mit der Waffe? Wen vermuteten Sie in mir? Seien Sie doch ehrlich …“
Sie blinzelte in das Laternenlicht.
„Ich sagte ja bereits: Schmuggler! Ich fürchtete mich und wollte fliehen … Ich bin eine sehr ausdauernde Schwimmerin, und ich hätte sicherlich die Westküste von Schleswig-Holstein erreicht oder eine der vorgelagerten Inseln.“
„Und aus welchem Grunde hielten Sie gerade uns, falls wir wirklich Schmuggler wären, für so außerordentlich gefährlich?“, suchte ich auch den Punkt zu klären, obwohl er für mich längst geklärt war und es sich dabei im Grunde nur noch um eine Stichprobe handelte.
Zu meinem größten Erstaunen erwiderte dieses merkwürdige Mädchen ohne Zögern und mit einer gewissen ironischen Überlegenheit:
„Herr Ballholm, die Ausflüchte Kapitän Garsons waren zu durchsichtig. Mein Retter sollte ein taubstummer Koch gewesen sein … Dabei hatte ich die Stimme dieses Mannes gehört und wußte, daß sein linker Arm verletzt war. Sie selbst retteten mich, und dann traten Sie hier als Steward Benson auf, nannten sich nachher Erik Ballholm. Ich bitte Sie, seien Sie gerecht: Mußte ich da nicht argwöhnisch werden?! Die ganze Küstenbevölkerung befindet sich seit langem in heller Aufregung, in allen Häfen, in allen Zeitungen, in jeder Privatgesellschaft gibt es nur ein wichtiges Thema: Die Gefährdung der halben Welt durch unbekannte Verbrecher! Gerüchte schwirren umher, man faselt von geheimnisvollen Wasserflugzeugen, von ebenso geheimnisvollen U-Booten, man wittert in jedem Fremden entweder einen Polizeibeamten oder einen Verbrecher, eine wahre Angstpsychose ist ausgebrochen, – kann es da Wunder nehmen, daß mich, eine bescheidene Malerin und ein alleinstehendes Mädchen, das den Frieden des kleinen Seebades Hangerupp seit Jahren liebt, dieselbe Furcht hier an Bord ergriff?! – Verstehen Sie mich nun, Herr Ballholm?! Ich hoffe es … Ich entschuldige mich bei Ihnen … Mehr kann ich nicht tun.“
„Allerdings, Fräulein Gordon … Es bleibt also dabei … Sie werden nachher ausgebootet … Auch Ihren Imbiß sollen Sie erhalten. Auf Wiedersehen.“
Als ich oben an Deck mit Garson zusammentraf, fragte er sofort: „Sollen wir uns noch weiter ohne Lichter treiben lassen, Mr. Abelsen? – – Gut, wie Sie befehlen … – Nun, wie steht es mit ihr?“
Und dann, – – ein Schatten verdunkelte den einen Fensterstrich, eine Gestalt schlüpfte zur Reling, ein Plätschern im Wasser, und wir stürmten vorwärts …
Garson fluchte … Ein Boot wurde schleunigst herabgelassen … bemannt … suchte … suchte.
Gab es auf.
Die ganze Kajütenbeleuchtung war wieder eingeschaltet.
Garson musterte mich, zeigte auf meine linke Rockseite …
„Ich fürchte, auch das Päckchen ist weg, Mr. Abelsen … Der Schnitt da geht über die innere Brusttasche hinweg, und das Mädel hatte ja die linke Hand frei, als Sie ihm die Waffe entwanden und der eine Schuß losging …“
Meine Nerven vertragen schon einen Puff. Aber daß diese kleine Kanaille mit den verschleierten braunen Nixenaugen mich derart hineingelegt hatte …!!
„… Ich finde sie schon wieder, Garson, keine Sorge! Natürlich wußte sie, als ich den Namen Erik Ballholms genannt hatte, daß ihr Päckchen abgefangen worden war … Und das Päckchen zeichnete sich auf der weißen Stewardjacke zu deutlich ab. Welch gefährliches Kätzchen, – wie schlau und hinterhältig!!“
Wir gingen wieder an Deck. Die Julinacht war warm, und die Nordsee mit ihren jetzt verwehenden Nebelschleiern und den ersten Strahlen des Vollmondes, die durch den grauen Dunst blinkten, erinnerten mich an eine andere nächtliche dunstige Ferne, wo hohe Wellenkämme von Sand und dämmernde Täler und einzelne Felsen und steinige Höhen den Beginn dieses außergewöhnlichsten meiner Abseitspfade gekennzeichnet hatten …
… Auf einer Felsenkuppe steht ein braunes Zelt … Davor hocken im Schatten drei Männer, ein Weißer und zwei Tuaregs, neben ihnen liegt ein großer Wolfshund, – ein Feuer flackert, einer der Wüstensöhne dreht den Antilopenschenkel am Spieße über der Glut, und drunten zwischen den Palmen der Zisterne weiden fünf Dromedare das spärliche Gras mit den ihnen eigentümlichen faulen Bewegungen ab.
Dieses Bild hat sich mir fest eingeprägt.
Es war das Bild vor jener denkwürdigen Morgenstunde, die mir ein Freund dazu bestimmt hatte, seinen dicken Brief zu öffnen und zu lesen:
Der Mann hieß Patrik Morstan und war einer der fünf „ganz Großen“ von Scotland Yard gewesen.
„Abelsen“, hatte er vor Stunden mir beim Abschied gesagt, „lesen Sie dies hier erst genau einen halben Tag später … Dann entscheide Sie sich und richten Sie sich genau nach meinen Anweisungen.“
Heimlich hatte er mir den Brief zugesteckt.
Gleich darauf ritten die Freunde davon, eine lange Karawane, – – so ist es zu finden im vorigen Band, in „die Spur ins Jenseits“.
Die Zeit war da.
Ich schnitt den dicken Umschlag auf, und beschriebene Blätter und eine Zeitung meiner schwedischen Heimat fielen mir in den Schoß.
Zeitung?! – Papier und Druckerschwärze galten mir seit Jahren nichts.
Und doch … Es war wie ein Odem heimatlicher Gefilde …
Mit Blaustift war da außerdem ein Artikel dick angekreuzt.
Ich las …
Las nochmals …
Mein Herz schlug schneller …
Ich – – war frei!!
Der Steckbrief, der mich endlose Jahre gehetzt hatte, war zu Zunder zerfallen, war aufgehoben worden.
Freunde, dir mir im Abseits begegnet waren, hatten endlich durchgesetzt, was längst Pflicht der irdischen Gerechtigkeit gewesen wäre: Ich war frei!!
Ich begriff es zunächst nicht.
Und doch: Es blieb Tatsache!
Ich war frei! Ich war gleichsam ein neuer Mensch geworden. Ein neuer Lebensabschnitt hatte begonnen.
Und mit denselben Worten leitete auch Sir Morstan seinen Brief ein:
„Lieber Abelsen, das neue Leben, das nun für Sie beginnt, soll, so hoffe ich, Ihre Vorurteile gegen alles, was Zivilisation heißt, überwinden. Für einen Mann wie Sie gibt es andere Aufgaben, als nur Abenteurer im besten Sinne des Wortes zu spielen …“
Und weiter unten hieß es:
„England braucht Leute Ihrer Art, und deshalb biete ich Ihnen, dem Vielerfahrenen, eine Stellung an, die Ihre Abseitspfade nutzbringender verwenden wird …“
Auf der nächsten Seite stand:
„Fürchten Sie nicht, daß Sie als Vorstand und Kommissar der Abteilung 2 B irgendwie in den verhaßten Alltag zurückfallen könnten. Keine Büroluft, kein Zwang, keine nörgelnden Vorgesetzten, – nein, nur einen vollen Einsatz Ihrer Persönlichkeit zugunsten der Allgemeinheit erwarten und erhoffen wir.“
Und weiter dann:
„Die erste Ihnen zugedachte Aufgabe ist so schwer, das erkläre ich ganz offen, daß wir Leute vom Fach bisher versagt haben. Seit etwa zwei Jahren spürt die halbe Welt die ungeheuren Schäden, die eine äußerst straff organisierte Gemeinschaft in Europa anrichtet. Näheres darf ich hier nicht zu Papier bringen … Verbrennen Sie diese Blätter auf jeden Fall und prägen Sie sich meine Winke sehr genau ein …“
Die beiden nächsten Seiten habe ich nachher auswendig gelernt.
Da stand zum Beispiel:
„Wir wissen genau, daß diese Leute in allen Polizeidirektionen und -präsidien Spione eingeschmuggelt haben. Nur die allervorsichtigste Art verbürgt Erfolg. Vielleicht werden Ihre bisherigen Erlebnisse gegenüber dem, was Ihnen bei Annahme meines Vorschlages winkt, vollkommen verblassen.“
Vielleicht kann niemand, niemand auch nur ungefähr begreifen, was damals in mir vorging.
Jahrelang war die Wildnis mir Heimat gewesen, mir, dem Gehetzten …
Jetzt urplötzlich öffnete mir die andere Welt, die Welt der Zivilisation, wieder ihre Pforten.
Ich war wie betäubt …
Ich empfand kein Glücksgefühl.
Jene andere Welt der Riesenstädte hatte für mich keinen Reiz mehr.
Aber Sir Morstan hatte da sehr klug einen Köder ausgelegt, der mich locken sollte.
Ich wollte mir das Angebot überlegen …
Und wer überlegt, ist schon halb gefangen. –
Meine beiden Tuareg-Gefährten waren bestürzt, als ich ihnen abends erklärte, ich würde mich von ihnen trennen. Ich gab ihnen alles, was mir von dem Golde Thomas Holks, des Gegners Bir Kassals, aufgedrängt worden war, und still ritten sie davon, während ich selbst mit meinen Tieren gen Nordwest in der endlosen Wüste verschwand.
Drei Wochen später: Gibraltar, kanonengespickt, im Hafen ebenso kanonengespickte Plätteisen, Kriegsschiffe genannt …
Abend war es … Es regnete … Am Kai stand ein einzelner Mann, neben ihm ein Hund, ein Koffer.
Punkt elf Uhr erschien ein hagerer Herr, trat näher.
Sagte nur: „Morstan!“
„Morstan“, erwiderte ich …
Er drückte mir die Hand. „Sie riefen mich mittags an, Mr. Abelsen … Gut, daß Sie nicht persönlich kamen. Auch hier fühlen wir uns nicht mehr sicher. Man beobachtet mich. Ich bin zur Hintertür hinausgeschlüpft.“
Er schaute sich mißtrauisch um. In dem alten Schlapphut und schäbigen Mantel hätte niemand Seine Exzellenz, den Gouverneur, vermutet.
„… Das Boot wird sofort erscheinen, Mr. Abelsen“, flüsterte er weiter. „Ich möchte wetten, Morstans Chiffredepesche an mich ist abgefangen worden. Zum Glück war der Text sehr allgemein gehalten, und Ihr Name war nur angedeutet. Es ist ein scheußliches Gefühl, wenn man sogar seiner nächsten Umgebung nicht mehr trauen darf.“ Wieder blickte er argwöhnisch umher. „Dort kommt das Boot … Das Signal stimmt: Ein grünes Licht! Meine Mission ist hiermit beendet … – Leben Sie wohl, – – viel Glück …“
Ein flüchtiger Händedruck, und er eilte davon.
Und – – es regnete …
Dünne Tränen, warme Tränen …
Das Boot knarrte an der Treppe gerade unter mir, ein Bootshaken sauste in die Balken, und ich wartete auf das Losungswort.
Drei Kerle, kaum zu erkennen, hockten in dem Boot.
„Hallo, ihr da, – –?!“
Das Losungswort kam nicht …
Ich trat schnell zurück … Gerade noch zur rechten Zeit …
Etwas schwirrte an meinem Ohr vorüber, dann flogen zwei Kerle die Treppe empor, Trasso fuhr hoch, heulte auf, fiel zurück, und mein Angreifer stieß mit einer schmalen Harpune nach mir, während hinter mir irgendwo zwei Schüsse bellten.
Seine Exzellenz hat nachher sechs Wochen das Bett hüten müssen.
Mein Angreifer irrte sich. Eine Harpune und eine Pistole sind zu ungleiche Waffen …
Alles spielte sich in Sekunden ab …
Ein zweites Boot erschien …
„Hallo – – Morstan!!“
„Morstan!! – Packt die Kerle …!!“
Gab nichts mehr zu packen … Waren unter Wasser davongeschwommen.
Meine Nerven zitterten etwas, als ich mich über den toten Trasso beugte. Seine Exzellenz lag hundert Meter weiter in einer Pfütze mit zwei Brustschüssen.
– Morgens schaukelte der harmlose Schoner „Danmarket“ bereits im Atlantik. Als die Sonne erschien, glitt Trassos Leib über Bord in die Tiefe, und sein Herr lehnte an der Reling und schwor denen Rache, die mir den einzigen Freund genommen.
Dann wurde auch der tote Unbekannte versenkt, der ein Spanier zu sein schien. Papiere trug er nicht bei sich, und meine Kugel hatte ihm ein zu leichtes Ende bereitet.
Inspektor Jack Garson, jetzt Kapitän des Bananenschoners, sagte mitfühlend:
„Nehmen Sie es sich nicht zu sehr zu Herzen, Mr. Abelsen … Hund bleibt Hund, obwohl ich …“
Mein Blick machte ihn verstummen. – Was wußte er von Trasso?! – – Hund bleibt Hund?!
… Mein armer, treuer Freund, ich wünschte, alle Menschen wären so wie du! Dann brauchte die Welt keine Polizeiämter mehr.
Und doch hatte Garson ein Herz für Tiere. Dieser kleine Polizeiinspektor mit dem bärbeißigen Nußknackergesicht schwärmte von seinen … Kaninchen.
Die Geschmäcker sind verschieden.
Im übrigen sorgten die gewissen Herrschaften schon dafür, daß wir nicht zur Ruhe kamen.
Ich war nun hier Chef über fünfzehn Engländer, die allesamt prima-prima waren, ausgesuchte Leute, auserwählte Burschen, ohne Furcht, ohne Tadel, versessen darauf, den Gegner aufzustöbern …
Morstans Brief war frisch in meinem Gedächtnis.
„Garson“, sagte ich zehn Minuten später, als die Sonne bereits ganz hell den blanken Atlantik beschien, „Ihr Fernglas taugt nichts … Man verfolgt uns … Bitte – – dort!!“
Ich wies rückwärts auf die letzten Schaumblasen unseres Kielwassers. „Verdammt – – ein Sehrohr!!“
Und der kleine Garson rannte zur Brücke …
Am Heck klappte ein Lukendeckel hoch, und der elektrische Aufzug des harmlosen Bananenschoners förderte das Schnellfeuergeschütz an Deck.
Sergeant Parker, alter Artillerist, visierte … Die erste Granate ging zu kurz, die zweite zu weit, – – dann verschwand das Sehrohr, und wir liefen näher an die spanische Küste heran.
Morstans Warnung hatte uns gerettet.
„Es sind bereits drei unserer Schiffe spurlos verschollen“, sagte Käpten Garson Stunden später beim Frühstück. „Mr. Abelsen, ich will Ihnen nun die Vorgeschichte in aller Ruhe erzählen …“
Ich war müde und abgespannt, traurig und gleichgültig gewesen. Trasso fehlte mir überall.
Jack Garson weckte mich auf.
Ich griff nach einer Zigarre …
„Und Sie haben keinerlei Anhaltspunkte, wo diese unmögliche Bande ihr Hauptquartier hat?“, fragte ich ungläubig.
„Keine, Mr. Abelsen, – wie gesagt, nur die verfänglichen Funkdepeschen in der Nordsee … Es muß ein sehr starker Sender sein, es gelang jedoch bisher nicht, ihn anzupeilen … Die drei Dampfer, die dies tun sollten, kehrten nie zurück. Unsere Abteilung 2 B hat Beamte an die nordschleswigsche Küste geschickt, sechs, als Touristen.“
„Und …?!“
„Und?! – Nur einer wurde gefunden … tot, verscharrt in den Dünen bei Hangerupp. – Hier haben Sie die Karte, Mr. Abelsen … Sie sehen, daß Hangerupp in einer Bucht liegt, daß die Halbinsel Hangerupp bereits zu Dänemark durch die neue Grenzziehung gehört und daß der Leuchtturm von Hangerupp als Leuchtfeuer nicht mehr existiert, die Grenze geht mitten hindurch. – Der verrückte Gelehrte, der dort haust und zu seinem Privatvergnügen die Lampen zuweilen noch brennen läßt, ist ein Engländer, ein Meterologe.“
„Er heißt?“
„Professor Hackney, – – absolut unverdächtig, – er hat den Leuchtturm gekauft, er empfängt dort Kollegen von den Universitäten, gibt Wetterberichte aus und …“
Ich hörte jetzt nicht mehr zu. Ein Gelehrter, der einen Leuchtturm kauft, gab mir zu denken.
Garsons Hirn war voller Aktenstaub und Themsenebel. Er hatte seine Dienstzeit im dreckigen Londoner Hafen im Kampf mit den dortigen Banditen verbracht … – –
Wir gelangten nachts in die Themsemündung hinein. Morstan kam an Bord. Wir berieten …
Und dann:
… Der eiserne Motorschoner „Danmarket“, dessen Phantasiename keinen Rückschluß auf die Nationalität des Schiffes zuließ, fuhr mit halber Kraft durch den dicken, zähen Sommernebel …
So habe ich diesen Abseitspfad eingeleitet.
Und nun?!
Hangerupp …
Blitzsaubere Häuschen, ein Strandhotel, zwei Badeanstalten, – großer Mischwald, und dort draußen der Leuchtturm, hier von der Veranda des Hotels deutlich zu erkennen.
Zehn Uhr vormittags … Der Kellner räumt den Frühstückstisch ab.
„Haben Herr Doktor noch Befehle?“
„Danke.
Ich mustere die Nachbartische über den Rand der Zeitung hinweg …
Ich bin hier Doktor Georg Müller aus Berlin, Schriftsteller. Meine Papiere sind tadellos in Ordnung, und die Abt. 2 B hat den wahren Müller, dem es kläglich geht, mit einem anständigen Scheck nach London geholt. So weit ist alles in Ordnung.
Nur …
Und ärgerlich erhebe ich mich, schlendere die Dorfstraße hinan und biege droben in den Wald ein …
Im Schatten uralter Eichen wende ich mich nordwärts. und als ich zehn Minuten gewandert bin, ist all das Fremde in dieser Stille und Einsamkeit von mir abgeglitten …
Ich bleibe stehen …
Das Gelände senkt sich, ein Gürtel eines nassen, mit Erlen und Birken bestandenen Moores dehnt sich vor mir aus, und über die Bäume und Büsche ragt ein Turm hinaus, – neu, mit Zinnen, mit einer Fahnenstange, mit einer Antenne, und zwischen den Zinnen erspähe ich eine Gestalt …
Und bin im Nu wach, – so wach wie selten.
Meine Hände führen das Fernglas an die Augen, und die scharfen Linsen zeigen mir das Profil derselben Erika Ballholm, die uns vom Schoner entwischt war.
Ich trete noch weiter hinter das Gestrüpp.
Ich weiß von der Karte her, daß Schloß Danneborg bereits auf dänischer Seite liegt.
Schloß Danneborg gehört dem Grafen Uexküll, einem Magnaten …
Was tut Erika Ballholm dort?!
Und …
… Sie tut noch weit Merkwürdigeres …
Da ist eine Eiche …
Urahn aller Eichen des Schloßparkes …
Höher als der Turm … Nahe dem Turm …
Das Mädchen schwingt sich auf eine Zinne …
Ein Satz, – und das Eichengrün deckt sie …
Ein tollkühner Sprung …
Elegant, geschmeidig, federnd, sicher, – wie ein Vogel flog die schlanke Gestalt hinüber.
Was bedeutet das?!
Ich sehe nichts mehr …
Die Eichenkrone hängt voller Mistelwülste, die wie riesige Krähennester ausschauen.
Ich will etwas sehen …
Will …
Und jetzt erscheint auf dem Turm ein alter Mann mit Schlapphut, weißem Bart, in der Hand – ich fühle mein Herz jagen – in der Hand eine Büchse … Da ich von Waffen immerhin einiges verstehe, erkannte ich trotz der weiten Entfernung, daß es sich um eine ganz moderne kleinkalibrige Winchesterbüchse handelte, die im Besitz eines sicheren Schützen ebenso gefährlich ist wie ein Langbleimantel-Modell.
Der Schlapphut-Herr mit dem Künstlerbart und der goldenen altmodischen Brille war ein geriebener Bursche.
Mit einigem Unbehagen beobachtete ich, daß er den Einschnitt der Mauerzinne, von dem meine Gegnerin sich mit dem Fuße abgestoßen hatte, tief gebückt sehr genau untersuchte und dann all die Mistelnester der uralten Eiche sorgfältig mit den Augen prüfte, – freilich ein sehr zweckloses Beginnen, da das Mädel derweil längst hinter dem Hauptstamm Schutz gefunden haben konnte.
Und doch begann es jäh in all meinen Nerven zu prickeln, als der Weißbart nun seine Winchester entsicherte und den Lauf auf eine der Zinnen stützte.
Ich ahnte, er hatte doch etwas von dem Flüchtling bemerkt, und dieser Flüchtling gehörte mir, nicht ihm, – diese Erika Ballholm war vorläufig das erste wirklich positive Ergebnis dieser Jagd gegen Unbekannt, und ich würde es nie dulden, daß etwa dieser dünne hübsche Faden, der vielleicht zum Kern des Geheimnisses führte, hier aus anderen Motiven jählings zerschnitten würde.
Nein, Erika Ballholm mußte gesund und bewegungsfähig bleiben, mußte auch fernerhin ihre heimlichen Pfade wandeln, und der Schuß drüben.
Aber das schreibt sich weit langsamer nieder, als derlei Dinge sich abspielen …
Sir Morstan und die Abt. 2 B hatten den neuen Kommissar nicht umsonst mit Rüstzeug versehen, wie es in solcher Güte nur Scotland Yard zur Verfügung steht.
Der harmlose, derbe, knotenreiche Eichenstock, der mir bis dahin mit der stark gebogenen Krücke über dem linken Arm mit beträchtlichem Gewicht gehangen hatte, mußte jetzt seine aufgeschraubte Zwinge hergeben und den versteckten Abzug hervorschnellen lassen.
Diese Waffe war nicht schlechter als die des mordgierigen Alten drüben, besaß nebenbei noch sehr schätzenswerte Eigenschaften.
Ein Baumast als Auflage sicherte mir einen genauen Schuß. Um auf die Waffe des alten Herrn zu zielen, dazu war die Entfernung zu groß. Die flache breite Zinne würde ich schon treffen …
Er zielte …
Ich zielte …
Zwei Männer inmitten eines zivilisierten Landes auf … Menschenjagd …
Das war immerhin etwas Neues, etwas ganz Ungewöhnliches …
Ich drückte zuerst ab … Mein Gewehrstock verursachte nur einen so schwachen, dumpfen Knall, daß nicht einmal die Wildenten drüben im Moortümpel ihr Geschnatter einstellten.
Aber komisch zu sehen war es, wie der Herr mit dem weißen Bart, als die Kugel den Mauerputz der Zinne förmlich aufriß und Kalkstaub hochwirbeln ließ, mit einer Plötzlichkeit verduftete, als ob er in einer Versenkung verschwunden wäre.
Ich lachte leise …
Der sonnenklare Sommertag erschien mit einem Male weit schöner als bisher, und beinahe zärtlich streichelte ich meinen braven Eichenstock, der unter dem dünnen Überzug von Holz die allerfeinsten Stahlteile und einen Lauf mit ganz kurzen Zügen zu präzisestem Nahschuß enthielt.
Man soll nie zufrieden lächeln …
„Mein Herr, Ihr Gewehrstock ist tadellos“, sagte eine leicht spöttische Stimme neben mir.
Eine Frau …
Ich drehe mich um …
Vor mir steht eine hagere alte Dame mit vollem grauen Haar und einem äußerst kennzeichnenden hochmütig-überlegenem Gesicht.
Diese Frau hält sich kerzengerade, diese Frau könnte ich mir sehr gut im Herrensattel hinter der blaffenden Meute vorstellen, über Hindernisse hinwegfliegend, eine sichere Reiterin, vielleicht eine leidenschaftliche Jägerin dazu.
In ihrem blassen, vornehmen Gesicht leuchten sehr junge, sehr beherrschte Augen … Die schmale lange Nase hat vielleicht etwas allzu Männliches, aber der noch immer schöne Mund und die tadellos modellierte Kinnpartie sind recht frauenhaft.
Alter? – Vielleicht sechzig … Vielleicht fünfundsechzig …
Sie schaut mich an, ich schaue sie an …
Als Gegner?!
Ich weiß nicht recht …
Jedenfalls macht mir ihr Erscheinen einen bösen Strich durch die Rechnung. Wenn sie plaudert, wird Herr Doktor Georg Müller hier seine Zelte abbrechen müssen.
Ich bin stets für schleunigstes Klären unklarer Situationen.
„Sie haben alles beobachtet?“, frage ich kurz, wenn auch höflich.
„Ja … Und ich danke Ihnen, mein Herr …“ Sie spricht das im Gegensatz zu ihrem spöttischen Ton von vorhin mit voller Wärme.
Ich bin erstaunt, fast verwirrt.
Sie dankt mir?!
Und als wenn sie die Gedanken mir von der Stirn abliest, fügt sie hinzu:
„Mein Spott galt nur Ihrem Leichtsinn, mein Herr. Wenn statt meiner ein Forstbeamter Sie beobachtet hätte, wären Sie nicht nur Ihre wunderbare Waffe los, sondern auch bereits auf dem Wege zu dem recht primitiven Ortsgefängnis von Hangerupp.“
Dann nickt sie mir leicht zu und schreitet in ihrem dunkelgrünen Leinenkostüm federnden Schrittes davon und entschwindet nur zu schnell nach Norden zu hinter den dornigen Gestrüppwällen der Moorgrenze. Das letzte, das ich von ihr sehe, ist der graue, gewellte Scheitel, – einen Hut trägt sie nicht.
Wenn die Frau mich vielleicht für Sekunden so etwas aus dem seelischen Gleichgewicht durch ihr unbegreifliches Dankeswort für meinen Schuß gegen die Zinne gebracht hatte, – lange dauert dieser Zustand der Untätigkeit nicht, Gedanken reihen sich blitzschnell aneinander, und mit ein paar weiten Sprüngen bin ich hinter ihr her und biege um denselben grünen Wall von Büschen und Dornen und Brombeerranken.
Und stoppe ebenso jäh …
Vor mir ein breiter, brauner Moorkanal, eingehegt von stachelstrotzender Wildnis, – sich verlierend im Schatten von Eichen, Erlen und Birken.
Wo blieb die Frau?
Der Spürsinn des alten Weltentramps regt sich …
Alle Nervenfasern sind aufnahmebereit …
Wo blieb die Frau?
Da ist die Spur ihres flachen, absatzlosen Strandschuhes, – – eine letzte Fährte dicht am Rande dieses Naturkanals.
Vom Fährtenlesen verstehe ich mehr als die neuen Kollegen aus der großen Greiferanstalt.
Tatsache ist, daß mein geschulter Blick ein Zweites entdeckt …
Und das läßt mich stutzen.
Ich kenne ja Erika Ballholms Schuhform … Erika, die mir die weiße Jacke aufschlitzte und das Päckchen wieder raubte, hat auf dem Sofa der Kajüte des Schoners gelegen, und ihr Schuh war klein und schmal wie der eines Kindes.
Der Abdruck dieses Schuhs zeigt sich dort dicht neben dem anderen, dem flachen, größeren.
Ich sehe noch mehr …
In der bräunlichen Moorerde ist die Spitze dieses Schuhs stärker eingedrückt, – unweit davon ist die Erde aufgerissen, hat ein kleines Loch.
Ich fühle mit dem Finger hinein: Das Loch ist gekrümmt.
Ich ahnte es …
Und das Nächste, das ich unternehme, mag auch aus Wildnisinstinkt geboren sein: Ich suche einen langen Ast, messe die Wassertiefe, und die drei Meter Astlänge verschwinden in der Tiefe … –
Eins gebiert das Andere …
Die Fährten sind vergessen, und meine Blicke hängen an einem schillernden Fleck des Kanals …
Der Fleck opalisiert, alle Farben mischen sich durcheinander: Öl – – Öl!!
Ich möchte pfeifen …
Man pfeift gern, wenn man Überraschungen erlebt, die man halb erwartet hat …
Ich tauche in die grüne Dämmerung des Hochwaldes zurück, – nicht Müller, sondern der Mann aus dem Abseits, und der hört plötzlich vom Meergürtel her das helle Kläffen von Rüden …
Und jetzt lacht er.
So, wie Männer lachen, denen das Spiel mit Todesgefahr ein gesunder Sport …
Hunde hinter mir …
Hunde …!
Ein weher Stich im Herzen: Trasso starb in Gibraltar … Trasso fand ein Seemannsgrab.
Aber der Hase, der hier gehetzt wird, turnt jetzt nach sorgfältiger Umschau an einer Buche empor und bleibt in den dichten Wipfeln, macht den flinken Eichhörnchen Konkurrenz, bis der erste gebahnte Weg den heiligen Frieden des Forstes verunglimpft.
Zehn Minuten darauf schlendere ich durch die Dorfgasse und hinab zum Badestrand.
Rauschend und quirlend kommen die Wogen der Nordsee in die breite Bucht von Hangerupp hineingeströmt … Es duftet nach Teer, Seetang, nach dem Qualm der Flunderräucheranstalten, leider auch nach Zigaretten, Wohlgerüchen, – – nach Kulturmenschen …
Das Meer empfängt den Schwimmer mit all seiner Frische seiner schaumgeborenen Wellentöchter, und freudig gebe ich mich dem Genuß hin, meine Muskeln und Sehnen spielen zu lassen.
Ganz weit schwimme ich hinaus … Einzelne Köpfe, ehrgeizig und kühn, sind neben mir …
Dann taucht vor mir eine Badekappe auf, – dunkelgrün, darunter ein Frauenantlitz, das man nicht so leicht vergißt.
Die Frau kommt draußen vom Meere, wo das Meer keine Grenzen kennt.
Meine Augen begegnen einem seltsamen Blick.
Mit kraftvollen Stößen gleitet sie vorüber …
Ein leiser Zuruf:
„Bitte – schweigen Sie …!“
… Und sie ist hinter mir, schwimmt an Land.
Man glaubt immer – ich glaube es – das Abseits läge nur in der pfadlosen Wildnis.
Ich sehe meinen Irrtum ein …
Es gibt sehr wenig einsichtsvolle Menschen.
Nachmittags gegen sechs ist die Veranda des Strandhotels stets überfüllt. Der Lautsprecher spendet Grammophonplatten, und meine Unbekannte an dem kleinen Ecktischchen liest eine schwedische Zeitung, raucht Zigaretten und nimmt von mir keine Notiz.
Es ist die graue Dame.
Als ich mich zu ihr setzte und fragte, ob ich Platz nehmen dürfe, traf mich ein kühl-ablehnender Blick.
Derlei stört mich nicht.
Die graue Dame wird notwendig einiges beantworten müssen – – nachher.
Sie ist eine Gräfin Vera von Stettendonk aus Berlin und wohnt gleichfalls im Strandhotel, – zwei Zimmer, Luxusappartement, – was hier in Hangerupp so Luxus heißt.
Inzwischen habe ich meine Vormittagserlebnisse in meinem Hirn längst geordnet und sogar sauber zu Papier gebracht.
Mein Koffer hat ein Geheimfach, und selbst der geübteste Schnüffler fände es nicht.
Die graue Gräfin mit den wunderbaren schmalen Händen nimmt eine neue Zigarette und bestellt Likör.
Der Kellner bücklingt devot, und ich winke und frage ihn leichthin:
„Führen Sie den Kornschnaps Marke U-Boot?“
Er grinst …
Die graue Gräfin blickt flüchtig auf.
Ich sehe hin, und in ihren Augen schillert Schreck.
Gut so … –
Der Kellner bedauert …
„Herr Doktor, die Marke ist hier unbekannt …“:
„Das begreife ich nicht … Eine so bekannte Marke … Dann bitte einen Aquavit …“
Die graue Gräfin wird nervös …
Ihre Zeitung zittert …
Minuten verstreichen …
Der Lautsprecher schmettert einen Marsch.
– – All das ist nur Präludium …
Nur das …
Erst später setzt die Sturmmusik aus dem Fliegenden Holländer ein …
Die graue Gräfin beugt sich über den Tisch …
„Dürfte ich um ein Zündholz bitten, mein Herr?“
„Aber gern …“
Als ich das Zündholz anreibe und sie es entgegennimmt, gleitet ein Papierröllchen in meine Hand.
Behutsam, unauffällig lese ich – sehr steile Bleistiftschrift:
„Hüten Sie sich vor Dr. Hackney!“
Kein Wort mehr …
Und doch sechs Worte zu viel – nämlich diese unverständliche Warnung. Die Sache gegen Unbekannt gerät in ein Stadium, das mich zu wichtigen Entscheidungen drängt.
Die Warnung der grauen Gräfin erzielt das Gegenteil.
Ich beachte die Frau nicht mehr, zahle und gehe in mein Giebelzimmer nach oben, das ich mit Bedacht ausgewählt habe.
Bei verschlossener Tür beginnt eilige geheimnisvolle Tätigkeit. Ich betonte schon: Wen Scotland Yard in die Fremde schickt, dem gibt der Polizeipalast auch alles mit, was irgend geeignet sein könnte, die Gemeinschaft der Finsternis mit den ebenso starken Machtmitteln eines disziplinierten Verwaltungsapparates zu bekriegen.
Ich bin hier von der Kreisstadt drüben im Innern des Landes mit zwei Koffern eingetroffen, und der große Schrankkoffer des Herrn Doktor Georg Müller, angeblich auch mit Büchern gefüllt, enthält seine modernsten technischen Errungenschaften.
Hangerupp erhält den elektrischen Strom von einer Überlandzentrale. Ich baue die Apparate auf, stöpsele die Kontaktschnur in die Schaltdose, schaue auf die Uhr …
Halb sieben … – Es stimmt …
Fast lautlos arbeitet der Taster …
Das leise metallische Klick Klick sendet den Anruf in die Ferne.
Ich habe die Hörer übergestülpt … Neben mir liegt ein Büchlein, die Geheimcode.
Antwort kommt. Inspektor Garson mag ein Nußknackergesicht haben. Hinter der hohen Stirn hat sich nicht allzuviel Aktenstaub abgelagert.
„Garson, – – Achtung, – – Befehl: Halten Sie sich in der Nähe des Leuchtturms auf, ich lasse mich zu Hackney hinüberfahren, sollte ich bis halb zehn nicht zurückkehren, landen Sie um elf Ihre Leute und durchsuchen den Leuchtturm … – Schluß … – Nächster Nachrichtenaustausch zwölf Uhr nachts.“
Der kleine Sender hat nur etwa eine Reichweite von zehntausend Meter. Sie genügt.
Ebenso eilig entferne ich die vor den drei Fenstern im Innern des Giebelzimmers gespannten Drähte, und bevor ich wieder hinabgehe in die Welt der Lebensschiffbrüchigen, stecke ich zwei Paar Handschuhe zu mir. Sir Morstan hat mir in der Themsemündung bei der eingehenden Aussprache nachdrücklichst erklärt, der hier in den Dünen aufgefundene Beamte sei durch Starkstrom getötet worden.
Nun hat mich doch das Jagdfieber gepackt. Ich kenne dieses besondere Kulissenfieber … Wenn Hackney der ist, der hier die Fäden der höllischen Gemeinschaft in seinen Händen vereinigt, wird er nicht nur Publikum spielen.
Warten wir ab … – Das Motorboot, das ich am Stege gemietet habe, schießt der offenen See entgegen, und der alte verwitterte Besitzer nickt freundlich und bestätigt mir, daß der verrückte Professor einzelnen „gebildeten“ Herren sehr gern seinen Turm zeige.
Das wußte ich schon.
Das Motorboot erreicht die offene See, rechter Hand erstreckt sich die dünn bewaldete Halbinsel ins Meer, und zweihundert Meter nach Westen zu erblickt man jetzt bei Ebbe die rötlichen nassen Felsen, auf denen das Fundament des Turmes ruht. Die Gelehrten haben festgestellt, daß diese Felsen, hier eine ganz ungewöhnliche Erscheinung, eine Fortsetzung des unterseeischen Gebirgszuges sind, dessen einzige hohe Kuppe die Insel Helgoland bildet. Ob dies zutrifft, weiß ich nicht. jedenfalls hat der felsige Untergrund des Leuchtturmes von Hangerupp genau dieselbe rötliche Farbe wie ein Teil Helgolands. Mich interessiert lediglich die Tatsache, daß der Turm auf Urgestein steht, das nur bei Ebbe sichtbar wird.
Als das Boot stoppt und der alte Fischer seinen Benzinkahn mit dem Bootshaken zwischen den roten Klippen hindurch bis in die Nähe der eisernen Außentreppe lotst, tut sich die eine eiserne Tür auf, und auf der Plattform erscheint ein alter Bekannter vom Vormittag her: Der Weißbart, dem meine Kugel die Menschenjagd verdarb.
Es kostete mich einige Mühe, meine Überraschung zu verbergen, denn das Schloß Danneborg des reichen Grafen Uexküll und Professor Hackney hatte ich bisher nicht irgendwie in Zusammenhang gebracht.
Aber Hackney sorgt selbst dafür, daß ich diese innere Unsicherheit schnell überwinde. Er kommt die Eisenstufen hinab und ruft mir mit kräftiger Stimme zu:
„Mit wem habe ich das Vergnügen?“ – Das ist eine so typisch deutsche Redensart, daß ich mich über Hackneys fließendes Deutsch nicht weiter wundere.
… Er hört meinen Doktortitel, – dann stehe ich vor ihm, und das durchgeistigte, kluge Greisengesicht mit den freundlichen, gütigen Augen läßt neue Zweifel in mir aufsteigen.
An diesem betagten Gelehrten, der fast Weltruf genießt, ist nichts Verdachterregendes.
Ein Sonderling, ein Einsiedler, ein Schwärmer, ein Fanatiker der Wissenschaften … –
Ich folge ihm durch die unteren Turmräume, – die Fenster stehen offen, es ist hier angenehm kühl, und es gibt hier nichts zu verbergen, der alte Herr deutet auf große Vogelkäfige, in denen seine „Patienten“ geheilt werden.
„Trotz der Netze vor den Linsen droben kommt so mancher Vogel zu Schaden, Herr Doktor … Ich schalte daher die Lampen auch nur sehr selten ein …“
… Ein Tierfreund nebenbei noch …
Und dann sitzen wir in seinem Studierzimmer, Hackney hat mir Wein und Zigarren angeboten, und der runde Ecktisch mit seinem Lederbezug und den vielen Ziernägeln am Rande der Platte sowie die bequemen Sessel und die ganze Umgebung und dieser bejahrte Gelehrte können einen Unbefangenen sehr leicht einschläfern und auch den geringen Rest von Mißtrauen zerstreuen.
Unser Gespräch bleibt reinste Fachsimpelei … Hackney ist stolz auf seine Wettervorhersage, stolz auf die zahlreichen Besuche von Fachkollegen und nennt hochtönende Namen – ohne Eitelkeit, darüber ist er hinausgewachsen.
Und doch …
Die gütigen Augen des Greises sind keine Gewähr für die Güte der Seele. Mir liefen im Abseits kaltschnäuzige Schurken über den Weg, die noch harmloser sich gaben und noch ehrlichere Augen hatten.
Gewiß, es war durchaus unverfänglich, daß er mich fragte, weshalb ich die leichten Zwirnhandschuhe trüge.
„Hautflechte …“, – er gab sich zufrieden.
Aber …
Da war zunächst der Tisch, an dem wir saßen.
Die Zierknöpfe gefielen mir nicht, und daß auch der breite quadratische Tischfuß, auf den man notwendig die Schuhe setzen mußte, ähnlichen Zierat trug, erweckte … Unbehagen.
Und weiter: Hackneys Interesse für meine Sportschuhe mit Gummisohlen wurde schlecht maskiert, – zu oft hatte er die weißen Leinenschuhe heimlich gemustert.
Störten ihn die Gummisohlen?!
– Eine Stunde verrann …
Es traten Gesprächspausen ein, und die feine schmale Hand streichelte zu oft den weißen Bart, und in seinen Augen erschien ein Ausdruck von Zerstreutheit …
Ich war wach. Wacher denn je … Ein Phantasiebild schwebte mir, dem Ingenieur, vor, und dieses Schreckensbild sah einen Mann in diesem Sessel urplötzlich tot zusammensinken: Einen der verschwundenen Beamten oder den verscharrten Toten aus den Dünen!
Der Professor erzählte von London, von seinen Vorlesungen an der Universität, stellte Fragen, tastete mein Wissen ab, ob ich wirklich der sei, als der ich scheinen wollte: Doktor der Philosophie und Schriftsteller.
Kannte er Abelsen?! Wußte er, wen er vor sich hatte?
… In dem Turmgemach mehrte sich die elektrische Spannung, steigerte sich das ungewisse Etwas: Gefahr aus dem Hinterhalt.
Meine Nerven blieben unberührt. Mochte das Spionagesystem dieser ungewöhnlichen Gemeinschaft von Verbrechern, die den intelligentesten Oberschichten angehörten, auch noch so hervorragend sein: Dieser Doktor Müller, der sich nun interessiert die Spirituspräparate ganz seltener Fischarten zeigen ließ, hatte mit dem Manne, der am Hafen in Gibraltar ermordet werden sollte, kaum mehr die kühne Hakennase gemeinsam. Der kurz geschorene blonde Bürstenkopf, die Brille und ein stachliges Schnurrbärtchen sowie sein ganzes Benehmen sprachen für einen jener übersättigten, sehr von sich eingenommenen und nur bedingt bescheidenen Weltstadtliteraten, der zum Beispiel in Hackney nur ein unbegreifliches, durch Alterserscheinungen zum Sonderling ausgelaugtes wunderliches Gebilde sah.
„… Hier haben Sie ein Exemplar von Teufelsfisch, Herr Doktor, das einer bisher unbekannten Gattung angehört“, – er schleppte ein neues, mit Pergamentpapier verschlossenes Glas heran. „Bleiben Sie nur ruhig sitzen … Ich reiche es Ihnen herüber … Bitte …“
Ich mußte mich weit über den Tisch lehnen, und doch saß ich auf dem Sprunge …
Die bisherigen Behälter waren mit Spiritus gefüllt gewesen … Dieser nicht. Ich sah es an verschiedenem.
Ich ahnte, was kommen würde, und als Hackneys Händen das Glas wie von ungefähr entglitt und auf dem Tisch zerschellte und die Flüssigkeit ihren Weg zu mir suchte, flog ich empor und zurück und meinte lächelnd:
„Diese Dusche wäre meinem Anzug kaum gut bekommen, Herr Doktor …!“
Hackney machte dazu ein todunglückliches und entsetztes Gesicht …
„Das stimmt wohl, Herr Doktor …“
„Das Glas hatte einen Sprung, und es hingen an der Außenwand Tröpfchen“, sagte ich harmlos.
Hackney hatte bereits das Handtuch von einem Stuhl genommen und trocknete die Tischplatte und legte die Scherben zusammen. Nur ein ganz schwacher Spiritusgeruch verbreitete sich, und alles in allem wußte ich nun Bescheid.
Die heimtückische Art und Weise, wie ich hier durch die Wassermenge des Glases trotz Gummisohlen und trotz der Handschuhe hatte beseitigt werden sollen, empörte mich nicht einmal, sie befriedigte mich eher. Der alte Herr hatte sich die erste Blöße gegeben. Er entschuldigte sich, zog die Sache ins Scherzhafte und holte neue Handtücher herbei, trug die Scherben in einen Mülleimer nach unten und hatte nur den häßlichen Teufelsfisch auf eine Glasplatte gelegt. Ich hörte zwei Türen dröhnend ins Schloß fallen, dann blieb ich mit meinen aufgescheuchten Gedanken allzulange allein, betrachtete eingehend den niederträchtigen Tisch und bedauerte die weniger vorsichtigen Opfer dieses alten, allzu gütigen-schrullenhaften Massenmörders, die vielleicht an den vielen Metallknöpfen des Tisches und des Tischfußes keinen Anstoß genommen hatten.
Wäre die nur leicht mit Spiritus vermischte Wassermenge bis zu meinen Kleidern gedrungen, so würde ich weder die graue Gräfin noch die zweifelhafte Erika Ballholm je wiedergesehen haben, – – und auch mich hätte niemand mehr zu Gesicht bekommen, es sei denn – – als Toten … als irgendwie Verunglückten.
Doktor Hackney war entlarvt. Die Maske, die ihn bisher so tadellos geschützt hatte, hatte einen Riß erhalten, durch diesen Riß schimmerten die Zähne einer kaltblütigen Bestie hindurch.
Ich trat an das westliche Fenster. Die Sonne neigte sich bereits der Horizontlinie zu, war rötlich und kraftlos geworden … Der Abend nahte.
Der Wind, der von Osten kam, wühlte erst weit draußen die See auf, und die bereits steigende Flut plätscherte spielerisch um den rötlichen Felsenuntergrund des Turmes, der vielleicht der Mittelpunkt all jener sonderbaren und zunächst unverständlichen Vorgänge bildete, die allmählich die Ministerien und Polizeigewaltigen ganz Europas in Verzweiflung gebracht hatten.
Das war verständlich. Irgendwie war da ein Feldzug gegen die Fundamente des Wirtschaftslebens der Nationen im Gange, der zur Katastrophe führen mußte. Nicht etwa durch die Überschwemmung mit glänzend gefälschten Banknoten. Nein, – mit einem Hohngelächter hatte Inspektor Jack Garson diese meine Vermutung abgetan … „Lieber Mr. Abelsen, derlei Geschichten gehören in Romane hinein …!“
Und dann spürte ich aus seinen weiteren Äußerungen die Wahrheit heraus und – – war betroffen, – mehr noch, – entsetzt.
Der kleine Nußknacker Garson hatte mir damals auf eine Frage hin geantwortet: „Vorläufig läßt sich das noch vor der Öffentlichkeit geheim halten. Wie lange noch, – – ich weiß es nicht.“
Und hier nun sehe ich den roten Feuerball der Sonne der Horizontlinie sich nähern, und diese glühende Kugel dort drüben erscheint mir wie ein Symbol dessen, was diese Riesengemeinschaft intelligenter Schurken plant und schon halb erreicht hat: Panik, Unsicherheit, tolle Gerüchte, – – und schließlich das grenzenlose Chaos …!
Wo bleibt der Professor?!
Wie von ungefähr schreite ich zum anderen Fenster, und nun liegt das Land vor mir, der öde Küstenstrich, aber in zartes Rosa getaucht … Die Halbinsel verdeckt die Häuser von Hangerupp, man könnte wähnen, daß man sich irgendwo in unverfälschtem Abseits befände – – fern aller Kultur, irgendwo an den Sandgestaden Westaustraliens …
Irgendwo … Nur nicht dicht an der Grenze zwischen Dänemark und Deutschland …
Mein Blick senkt sich … Da sind die roten Felsen, nur noch wenige … Die Flut naht … Zwischen den flachen Riffen schießt ein Boot hervor, – der Außenborder knattert, zwei Leute sitzen in dem schnittigen Fahrzeug, zwei Modepuppen, Strandfexe, aber …
Schon bin ich an der Tür, stürme die Treppe abwärts, reiße die zweite Tür auf …
Neben einem der großen Käfige liegt der umgekippte Mülleimer, daneben liegt Hackney, ein Tuch über dem Gesicht, sein Taschentuch …
Genau so wie die beiden Leute im Boote sich ihre koketten Seidenfähnchen vor die Gesichter gebunden haben …
Deshalb war ich Hackney nachgeeilt.
Ich reiße das Tuch weg, und mit dem Tuch gleitet ein großer Bausch Watte auf den Zementboden. Ein unangenehmer Geruch strömt mir entgegen, und die Stirnwunde Hackneys blutet noch immer, und sein grauweißes Haar ruht in einer roten Lache.
Der alte Mann ist bewußtlos. Der Hieb hat den Knochen etwas freigelegt, und der Wattebausch und der Blutverlust hätten dem Betagten den Rest gegeben.
Fünf Minuten darauf habe ich Hackneys winziges Motorboot draußen vertäut und den Alten hineingetragen. Das Boot lagerte hier unter einem Schlitten mit Rollen und war bequem durch die Eisentür zu bringen.
Ich schließe die beiden Turmtüren ab und stecke die Schlüssel zu mir.
… Frau Gräfin, verzeihen Sie, – Sie sind doch nicht die Schlimmste dieser Lianen. Doktor Stuart Hackney wirkt jetzt noch umstürzlerischer als Sie, graue Gräfin.
Ich übereile nichts. Im Abseits hat man Zeit. Langeweile klärt das Denken. – Seebad Hangerupps Polizeimacht, ein Landjäger, wohnt im nördlichen Buchtwinkel unweit der Halbinsel im früheren Schulgebäude, das nun ernsteren Zwecken dient, sogar als Gefängnis.
Der Landjäger Schließer – bitte, Schließer, sehr kennzeichnend! – ist der schöne Mann der Stammbevölkerung von Hangerupp. Zweimal sah ich ihn. Ich halte nichts von ihm. Ein junger, eitler Don Juan, der mit seiner Uniform kokettiert und die weiblichen Badegäste durch seine strammen Schenkel und durch die bewußt betonte Kraftfülle verwirrt.
Junggeselle im übrigen, erst acht Monate hier im Orte, – mein Zimmerkellner weiß alles, auch daß Herr Gerhard Schließer einem Freitrunk und ein paar guten Zigarren keinen erheblichen Widerstand entgegensetzt, und nachts mehr in der Kneipe als auf den Patrouillengängen zu sehen ist.
Trotzdem muß ich Herrn Schließer jetzt bemühen, Obrigkeit bleibt Obrigkeit, und ich bin nur Doktor Georg Müller und Schriftsteller.
Das frühere Schulgebäude liegt bereits im Schatten der Dämmerung, und der Bootssteg vor dem Hause zeigt mir den Gesuchten in offenem Leinenrock am Geländer lehnend. Als er die stille Gestalt in meinem Boot erblickt, kneift er etwas die Augen zu, und der selbstbewußte, bürokratisch-gekühlte Ausdruck des gebräunten schmalen Gesichts schwindet jäh.
Er hilft mir, fragt nichts, – fragt gar nichts, und als Hackney auf dem Bett liegt und kräftiger zu atmen beginnt, habe ich meinen knappen Bericht über meinen Besuch im Turm (nur gewisse Eigenarten des Tisches fallen weg) längst beendet.
Dann erscheint in dem kleinen Schlafzimmer eine dritte Person, – – man könnte sagen: Der Kinderschreck von Hangerupp.
… Mir auch bereits bekannt … Ein armer alter Verwandter Schließers, ein früherer Schiffskoch, der bei einer gefährlichen Strandung von dem geknickten Mast zum Krüppel geschlagen wurde, bucklig, hinkend, graubärtig, unrasiert, – Tim Kröger heißt er.
„Tim“, sagt der Landjäger leise, „erneuere den Verband des Professors und gib ihm schwarzen Kaffee zu trinken mit Zusatz Nummer Null …“
„Sehr wohl“, sagt Tim, und Schließer führt mich nach vorn in sein Dienstzimmer.
„Nehmen Sie Platz …“
Wir sitzen am Fenster in Klubsesseln, und Schließer blickt über die Bucht hinweg und stellt ein Fernglas auf den Fensterkopf.
Er schaut mich an, und er lächelt unmerklich.
„Es ist alles zwecklos, Herr Doktor“, meint er gedämpft und streichelt seinem prachtvollen Diensthund langsam den Kopf. – Er nickt mir zu …
„Wirklich – alles zwecklos … Wir verfolgen diese Fährte bereits acht Monate, nein, neun Monate. Das heißt also: Die deutsche Regierung verfolgt sie.“
Er zuckt leicht die Achseln …
„… Ich hätte mit Tim auch in Berlin bleiben können. Was haben wir ausgerichtet? – – Nichts!“
Er wird sehr ernst.
„Wir haben alles versucht, alles, und Tim ist der geriebenste Fuchs, – glauben Sie mir …! Immerhin gab es heute ein paar neue Beobachtungen. Auch die werden uns nichts helfen. Ihr Spazierstock rettete dem Mädchen wahrscheinlich das Leben, und die ganze Sache ist nur noch dunkler geworden, denn Hackney unterhält zum Schloß keinerlei Beziehungen. Wie der alte Mann dort auf den Schloßturm gelangt ist, begreife ich nicht. Im Schlosse wohnen jetzt nur der Verwalter, der Gärtner und zwei Diener mit Kind und Kegel, alles durchaus spießbürgerliche Domestiken und für uns Nieten.“
Gerhard Schließers Worte und Sätze, trocken und sachlich hingesprochen, sind trotzdem wie Messerschnitte durch einen dicken Vorhang. – Schließer enthüllt mir sein wahres Wesen und sein von erneutem Achselzucken begleiteter Nachsatz wäre unnötig:
„Herr Abelsen, wenn Tim und ich hier in Hangerupp nicht die Hanswürste markiert hätten, wären wir längst tot – wie der englische Kollege im Dünensand …“
Ich habe mich derweil von dieser ungeahnten Überraschung erholt.
„Sie stehen also mit der englischen Regierung in Verbindung, Herr Schließer …“
„Alle betroffenen Regierungen arbeiten einander in die Hand, Herr Abelsen. Wenn Sir Morstan Ihnen dies verschwieg, dann tat er es nur, um Sie in keinerlei Weise zu beeinflussen … Nur ein Mann, der diesen Dingen ganz unvoreingenommen gegenübertrat, konnte vielleicht etwas erreichen. – Ich heiße Gerhard Schließer, ich bin dem Titel nach Regierungsrat im Auswärtigen Amt, der Tätigkeit nach – – sagen wir: Geheimagent, und Tim Kröger ist pensionierter Kriminalbeamter und mein Diener. Sie brauchen mir über Ihre Mission und über Ihre bisherigen Erlebnisse nichts zu berichten. Ich weiß, daß der Schoner Danmarket seine Reise nach Christiania-Oslo mit anderer Besatzung fortgesetzt hat, daß Inspektor Jack Garson auf dem englischen U-Bootkreuzer „Investigable“ draußen auf See wartet, – kurz, ich werde völlig auf dem laufenden gehalten …“
Er deutet auf seinen Radioapparat … „Der Sender steht im Keller, Herr Abelsen … Ich besitze Ihren Geheimcode und hörte Ihr Gespräch von heute halb sieben mit ab … – Sie sind erstaunt. Das kann ich durchaus verstehen. Bedenken Sie: Es geht um Europas Existenz! Der Kellner, der Sie und die Gräfin bediente, ist auch einer von uns … Kornschnaps Marke U-Boot gibt es nicht …“ – Er lächelte … Ein sehr kluges Lächeln.
„Und – – die Gräfin Stettendonk?“, fragte ich etwas unsicher.
Er hob die Schultern. „Herr Abelsen, was stand auf dem Papierröllchen, das sie Ihnen zusteckte?“
„Eine Warnung vor Hackney.“
Schließers starke Augenbrauen hoben sich … „Warnung?!“
„Ja!“
Er schüttelte den schmalen Kopf. „Das ist seltsam …“
„Noch seltsamer, daß sie mir vormittags für den Schuß aus dem Gewehrstock dankte …“
„Dankte?!“ Seine Stirn bekam Falten.
„Ja, dankte … Also kennt sie Erika Ballholm. – Wer ist das?“
Der Geheimagent atmete schwer. Sein Blick lag ruhig auf meinen gespannten Zügen.
„Die Nichte der Gräfin, eine junge Witwe, außerdem eine …“ – er zögerte – „Bekannte von mir …“
Über sein Gesicht glitt ein schmerzlicher Zug.
„Und vielleicht eine Entgleiste …“, vollendete er. „Ich weiß es nicht … Sie wohnt jedenfalls nicht hier in Hangerupp, und heute vormittag, als ich Ihnen nachschlich, und Tim mit den Hunden neben mir blieb, sah ich Erika Ballholm seit Monaten zum ersten Male wieder.“
„Hunde? Waren Ihre Hunde hinter mir her?“
„Ich besitze vier Rüden, ja … Aber ihr Bellen galt einem Fuchs, Herr Abelsen, Ihre Flucht durch die Baumkronen war überflüssig. – Reden wir von Hackney …“
Wir redeten …
Und dann drang ich darauf, daß der Arzt geholt würde.
„… Ich sage Ihnen, Herr Schließer, Hangerupp steckt voller Spione der Gegenpartei … Der Arzt muß kommen, die Sache muß nach außen hin als harmlos behandelt werden.“
„Wie Sie wünschen. Ich bleibe dabei: Professor Stuart Hackney ist eine Niete! Ich war dreimal im Turm, und ich fand nichts, nichts … Und was den Tisch angeht und Ihren weiteren Verdacht, daß Hackney sich absichtlich niederschlagen ließ, – – auch nur irrige Vermutungen, entschuldigen Sie schon …“
– Um zwölf war ich wieder in meinem großen Giebelzimmer im Strandhotel.
Der Nachrichtenaustausch mit Garson um Mitternacht beschränkte sich auf meine nichtssagende Meldung, daß alles in Ordnung sei.
Wenn je eine Meldung wahrheitswidrig gewesen, – diese bestimmt. Aber ich hatte meine sehr triftigen Gründe, dazu, und ich hatte auch Schließer nachdrücklichst gewarnt, bei den Funkdepeschen sehr vorsichtig zu sein. Wir arbeiteten hier wie auf einem Pulverfaß mit unsichtbaren Zündschnüren. Schließer sah dies wohl ein, aber in einem Punkte war er nicht zu überzeugen, und gerade da ging es um Professor Hackneys Person. Ich blieb dabei, daß Hackney sich absichtlich habe niederschlagen lassen, und nebenher gab es noch zwei Begleitumstände, die ich als äußerst wichtig betrachtete, obwohl sie Schließer verschwiegen und auch den Badearzt unauffällig veranlaßt hatte, eine ganz bestimmte Tatsache nicht mit in die Erörterung hineinzuziehen.
Dieser ländliche Arzt, ein alter, aber noch sehr frischer Sanitätsrat, verdiente unbedingt Vertrauen. Der Mann war Junggeselle, etwas schrullenhaft, war Bienenzüchter und Naturfreund und keineswegs liebenswürdig. Als ich ihm meine Bitte vorgetragen hatte, blieb er eine Weile sehr still und schaute mich prüfend an. Dann sagte er nur: „Ich verstehe … Kommen Sie morgens zwei Uhr zu mir …“
Er besaß zwei Wohnungen, die eine direkt neben dem Strandhotel, – dort hielt er seine Sprechstunden ab, die zweite, sein eigentliches Heim, lag nach Osten zu außerhalb des Ortes am Rande der Hangerupper Heide.
Diese Einladung des Sanitätsrats Johannsen – Dr. Christoph Johannsen mit vollem Namen – durfte ich nicht ausschlagen, obwohl sie mich vor eine schwierige Aufgabe stellte. Im Strandhotel herrschte jetzt im Juli während der Ferienzeit bis nach Mitternacht ein äußerst reges Leben und Treiben, und es würde mithin sehr schwer werden, sich unbemerkt davonzustehlen. Ich rechnete eben allerorts mit Spionen, und dieses Mißtrauen war auf keinen Fall übertrieben.
Nun, es mußte gewagt werden.
Ich verschloß mein Zimmer, schraubte noch eine sehr komplizierte Sicherung in das Schlüsselloch und schritt ohne Hut, ohne Stock die Treppe hinab. Ich kannte den Hinterausgang, begegnete niemandem und war eine Viertelstunde darauf außerhalb des Dorfes, wo die Dünen allmählich in die Heide übergingen.
Das Doktorhaus lag in einem alten Birken- und Eichenwäldchen. Ich war längst von dem Feldwege abgebogen, ich war in einem flachen, buschreichen Tale verschwunden, ich war stehen geblieben und hatte längere Zeit scharf Ausschau gehalten: Nirgends etwas Verdächtiges! Ein geradezu heiliger Frieden umgab mich, die Heide duftete, die Krüppelkiefern rochen nach der Tageshitze scharf nach Harz, Grillen zirpten überall, Eulen, Käuzchen und Fledermäuse schwebten hin und her, und das Licht des abnehmenden Mondes tauchte die stille Landschaft in ein ebenso friedvolles Licht.
Ich stand zwischen Erlenbüschen …
Ringsum bemerkte ich nichts, was an bewohnte Stätten gemahnte. Ich durfte mich abermals der Täuschung hingeben, fernab in weltabgeschiedener Einsamkeit meine bisherigen Pfade zu wandeln.
Der Talrand hier oben streckte eine schwache Gebüschzunge fast bis zu des Doktors Wäldchen hin …
Der Mann aus dem Abseits öffnete plötzlich die Augen etwas weiter.
Eine Gestalt hebt sich unklar vom Heidekraut ab …
Krächzend streicht ein Käuzchen davon …
Die Person erschrickt, bleibt liegen …
Der Mann, der aus dem Abseits den Sprung in die Zivilisation wagte, fühlt freudig das sanfte Prickeln leichter Erregung.
Der Fremde schiebt sich weiter vor … Noch zehn Meter … Noch fünf Meter …
Da – eine strauchfreie Stelle … Das Mondlicht liegt auf hellem Sande wie ein blendender Fleck, und ich beiße mir unwillkürlich in die Unterlippe …
Erika Ballholm, im dunkelgrünen Sportanzug, mit dunklem weichen Filzhut … Sie ist es! Frau Baronin Ballholm, Nichte der grauen Gräfin, zweifelhafte Dame mit allzuviel Unternehmungslust …
– Was ich von ihr halte?! – Mein Urteil lautet, muß lauten: Entgleist, auf der Gegenseite kämpfend, aber diesen Gegnern auch nicht mehr angenehm als Verbündete! – Die graue Gräfin mit einbezogen: Sie sucht ihre Nichte zu retten – irgendwie, denn sie hat mir gedankt für den Schuß, der den Mörtel aufspritzen ließ und mich gewarnt.
Fünf Meter nur …
In fünf Sekunden werde ich diese Frau packen und sie zwingen, mir …
Der Gedankenfaden zerreißt …
Irgendwo, nicht allzu fern, stört das bekannte eigentümliche Keckern eines schnürenden Fuchses die nächtliche Stille.
Blitzschnell gleitet der Körper rückwärts, Frau Erika taucht im Gestrüpp unter, und leider warte ich nur allzu lange, erfasse zu spät die Bedeutung des Warnungssignals und suche umsonst nach der Frau, die mich schon einmal narrte.
Ich dränge mich in die Wacholderstauden hinein, zu meinem Erstaunen steht das Birkenstämmchen zwischen großen bemoosten Steinen, – – nach fünf Minuten gebe ich die Jagd auf.
Ich kauere zwischen den stacheligen Pyramiden des dunklen Wacholders, und meine Sinne sind wachsamer denn je … Derselbe Mann, hinter dem ein nichtswürdiger Steckbrief jahrelang heimtückisch daherschlich, gehört nun zu denen, die selbst solche papiernen Verfolger in die Welt schicken dürfen, – eine schier unglaubliche Wandlung, und nur deshalb verständlich, weil die hohen Herren in London mir bewiesen haben, daß Europa eine ungeheure Katastrophe droht …
Minuten verstreichen … Ich habe das Fernglas eingestellt … Von rechts her kam das Keckern des „Fuchses“, und dort im Süden steht zwischen Strandkiefern eine einzelne Eiche, auch uralt, mit wenig Laub, ohne Mistelnester, – –: Frau Gräfin Stettendonk, Sie sind unvorsichtig, wirklich! Sie sollten kein Tau benutzen, um den Erdboden zu gewinnen, der Mondschein ist wirklich zu hell, selbst wenn Sie sich dicht an den Eichen- stamm klemmen.
Frau Gräfin entschwindet dorfwärts. Also kein „Fuchs“, nur eine sogenannte Füchsin … –
Der hagere Sanitätsrat mit dem struppigen Hängeschnurrbart und den jungen Augen hat mich angeschnauzt.
„Eine Viertelstunde zu spät! Wo steckten Sie, zum Teufel?!“
Ich entgegnete höflich, ich hätte mich verlaufen …
„Von einer Schreiberseele wie Sie kein Wunder! – Setzen Sie sich! – Rotwein oder Mosel?“
„Mosel …“
Wir sitzen bei dicht geschlossenen Vorhängen vor dem riesigen Kachelofen in uralten Ohrensesseln. Auf dem Tischchen zwischen uns brennt eine kleine Stehlampe. Unsere Gesichter liegen im Schatten. Der Sanitätsrat füllt die Gläser und reicht mir Feuer für die Zigarre. Sein Studierzimmer ist ein Raritätenkabinett. Von den Wänden winken Erinnerungen aller Erdteile. Johannsen war einst Schiffsarzt, – vielleicht hat das Meer den Fünfundsechzigjährigen so jung erhalten.
Seine Sprache ist die eines alten Haudegens, schöne Redensarten kennt er nicht. Sein Witz ist beißend wie scharfe Seifenlauge, aber ebenso reinigend …
„Sagen Sie mal, Sie angeblicher Skribifax und Müller, Sie sind wohl in einer Menschenknochenmühle so nebenbei beschäftigt?! Weshalb sollte ich dem eitlen Kerl, dem Schließer, verschweigen, daß der Wattebausch zwar nach Chloroform stank, aber nur mit sehr verwässertem Chloroform getränkt war?! An dem Zeug wäre der Professor nie verreckt, und die Stirnwunde, so böse sie aussah, wird in acht Tagen verheilt sein. – Machen Sie mir jetzt weiter keine Flausen vor. Wer sind Sie?“– Er redete nicht eine Silbe davon, daß er ein vertrauenswürdiger, verschwiegener Mann sei. Er war es, – und das sollte jeder gefälligst selbst merken. Er trug keine Reklameschilder für seinen Charakter mit sich herum.
Ich sagte ihm die Wahrheit. Mein Name ließ ihn aufhorchen. Trotzdem schwieg er. Ich begründete meinen Eintritt in die Abteilung 2 B und deckte fast alle meine Karten auf. Als ich Frau Ballholm erwähnte, begann er im Zimmer auf und ab zu marschieren. Auch die fünf Wacholderbüsche und die junge Birke kamen an die Reihe, ebenso die graue Gräfin. – Ich war fertig, und er stand breitbeinig vor mir. Wortlos streckte er mir die Hand hin.
„Kommen Sie mit – – leise!“
Wir traten auf den mondhellen Hof hinaus, er verschloß die Hintertür des Hauses und öffnete den Stall und holte zwei gesattelte Pferde in den Schatten. Es waren Tiere leichteren Schlages und ohne jede Unart und von flotter Gangart.
Der seltsame Sanitätsrat ritt voraus. An der östlichen Zauntür seines Grundstücks stand ein starkknochiges blondes Weib.
„Alles in Ordnung, Herr Rat“, meldete sie knapp und musterte mich eingehend.
„Danke, Helga … – Es ist meine Haushälterin, Abelsen, und ihre Mutter bewacht die andere Seite.“
Wir ritten gegen Nordost in einer Bodensenkung entlang. Der Heideboden dämpfte den Schall der Hufe. Dann tauchten scharf duftende frische Torfhaufen auf, die Torfziegel waren zu großen Kegeln mit Zwischenräumen aufgeschichtet, und hier hielt der Arzt an.
„Verbergen wir die Pferde … Die Herrschaften haben eine Menge Hunde. Wir müssen zu Fuß weiter.“
Über dem Torfmoore schwebten dünne, weißliche Nebelschwaden. Ich sah Lichter blinken, ich hörte Hundegebell, dann schälte sich aus dem Dunst der lauen Nacht ein einzelnes Gebäude heraus, dessen Umrisse zu unklar waren, um irgendwie Schlüsse auf Baustil oder Bestimmung ziehen zu können. Das Haus lag völlig frei inmitten des Torfmoores auf mäßigem Hügel, und nur die matthellen Fensterreihen verwischten den Eindruck des Baufälligen, Verlassenen, Ruinenhaften.
„Ruine Güppel, – Güppel, nicht Düppel“, flüsterte der Rat. „Wenn irgendwo, dann stecken hier die Leute, die Europas Wirtschaftsleben völlig ruinieren wollen.“
Wir traten unter einen niederen Holzschuppen, der Torfpressen enthielt.
Doktor Johannsen schien noch mehr Vorbereitungen für diesen Ausflug getroffen zu haben.
„Wir müssen hier warten … Meine Helga läuft zwar wie ein Wiesel, aber wir sind recht scharf getrabt. Die Hunde müssen weg …“
Da schlugen die Rüden bereits an – weit drüben jenseits der Ruine.
Der Lärm entfernte sich …
„Nun vorwärts, Abelsen …! Für meine Knochen ist das nichts mehr …“
Minuten darauf stand ich auf den Mauerresten eines Erkers und konnte von der Seite in einen öden Saal hineinblicken. An einem großen rohen Holztische saßen vielleicht vierzehn Personen, mitten unter ihnen eine Frau: Erika Ballholm. Leider war ein Teil des Raumes und des Tisches außerhalb meines Blickfeldes, und bei der schlechten Beleuchtung durch einige auf den Tisch aufgeklebte dicke Kerzen konnte ich von den Gesichtern der Anwesenden auch nicht viel unterscheiden. Nur die Baronin Ballholm saß am günstigsten, ihre Züge waren vollkommen farblos, und auch ihre Körperhaltung drückte stärkste seelische Niedergeschlagenheit oder heimliche Angst aus.
Der Mann neben ihr hatte ein Allerweltsgesicht, trug außerdem den Filzhut tief über den Augen und zählte gerade kleine Päckchen ab, die mit einem weißen Papierstreifen umgeben waren. Er blätterte die Päckchen nur flüchtig durch und reichte sie dann einem anderen, der hinter ihm vor einem mittelgroßen eisernen Ofen stand, dessen obere Ringe entfernt waren, so daß der Schein der Feuersgluten senkrecht nach oben strahlte.
Ein Banknotenbündel nach dem anderen verschwand in dem feurigen Schlund, im ganzen zählte ich dreißig, und als ich eiligst das Fernglas zu Hilfe nahm, erkannte ich deutlich, daß es sich um englische Tausend Pfund-Noten handelte.
Millionen verschlang der eiserne Ofen, und der Mann, der die Bündel in dem Höllenrachen verschwinden ließ, stocherte mit erhabener Gleichgültigkeit in der flackernden Lohe herum, die nun gelbe Schwaden verbrennenden Papiers zur Saaldecke emporschickte und den langen Raum noch mehr verdunkelte.
All das ging im Verlauf weniger Minuten vor sich, und der eigentümliche Zustand von Erstarrung, fast schon Hypnose, der mich angesichts der Vernichtung dieser Millionen trotz alles Sträubens gepackt hatte, wurde erst durch den halblauten Zuruf des alten Sanitätsrates aufgehoben …
Ich kam wieder zu mir.
„Abelsen, – schnell, – herunter, dort, die Hunde kehren zurück …“
Ich turnte herab, wir liefen dem Versteck unserer Pferde zu, das Blaffen der Meute machte uns Beine, Doktor Johannsen schwang sich wie ein Jüngling in den Sattel, und in vollem Galopp erreichten wir unangefochten sein friedliches Anwesen.
Kein Schuß hatte geknallt, keine Kugel war uns um die Ohren gepfiffen, und trotzdem bat ich den alten Herrn dann in seinem Studierzimmer als erstes um einen Kognak …
Johannsen musterte mich forschend und reichte mir das Glas.
„Nerven?!“, meinte er nur.
In dem einen Wort bargen sich zahllose Einzelfragen und ein gutmütiger Vorwurf.
Ich trank, stellte das Glas etwas hart auf die Tischplatte und sagte verbissen:
„Die hohen Herren in London und anderswo irren sich gründlich, Herr Sanitätsrat. Die Banknoten werden nicht aufgestapelt, sondern verbrannt. Haben Sie schon einmal zugesehen, daß schätzungsweise zehn Millionen in Asche verwandelt werden? Ich nicht. Und der Anblick … entsetzte mich, das gebe ich zu. Meine Aufgabe ist jetzt noch schwieriger geworden … Nicht nur durch die Gewißheit der Vernichtung von ungeheuren Mengen Papiergeldes, sondern durch die eiserne Pflicht, von den ersten Erkundungsvorgefechten zum Hauptangriff übergehen zu müssen … Die Baronin Ballholm war mit dabei. Die anderen Leute würde ich kaum wiedererkennen. Somit muß ich auch die graue Gräfin irgendwie lahmlegen, sie ist mir unbequem. – Woher wußten Sie, daß die Ruine Güppel das Standquartier dieser Verbrecher sei?“
Der alte Arzt saß mir wieder gegenüber. hielt den klugen Kopf gesenkt und stopfte seine Jägerpfeife.
„Güppel neben dem Torfmoor wurde vor drei Jahren von einem Irländer gekauft, einem gewissen Thomas O’Brien Der Mann zahlte eine unverhältnismäßig hohe Summe … Ich bin sein Arzt. Ich traf stets Fremde dort, und seine Arbeiter sind sämtlich ebenfalls Iren. O’Brien leidet an schwerer Gicht und humpelt auf Krücken. Seine zahlreichen Gäste weckten meinen Argwohn. Ein von Schmerzen gepeinigter Mann dankt für Besucher … Mehr weiß ich nicht, und …“
Die Tür zum Flur war aufgerissen worden.
Eine sehr große, kräftige, ältere Frau trat hastig ein. Sie war halb städtisch, halb bäuerlich gekleidet, und über ihr rotes Gesicht liefen ganze Schweißbäche hinab.
„He, Barn, – was ist los?!“, polterte der Doktor hervor, dem seine Pfeife entglitten war.
Die stämmige Frau holte keuchend Atem und lehnte sich an den Türpfosten.
„Es ist Frau Anna Barn, die Mutter Helgas“, erklärte Johannsen unwirsch. „Also, Barn, was gibt es?“
„Sie … sie … haben das Mädel geschnappt“, stieß die Frau drohend hervor.
„Woher wissen Sie das, Barn?! Reden Sie keinen Unsinn!“
„Ich rede keinen Unsinn, Herr Rat“, verteidigte die Haushälterin sich in einem sonderbaren Gemisch von Hochdeutsch und Platt. „Weshalb haben Sie Helga denn den Magnesiumdraht gegeben, – he?! Ich war auf unserem Dach … Das Moor liegt tief … Ich sah den Draht blendend weiß aufflammen.“
Rat Johannsen erhob sich mit einem Ruck. „Den Teufel auch, – – und Sie haben sich nicht geirrt, Barn?“
„Nein. Bei dem dünnen Nebel über dem Moor sieht man nur sehr grelles Licht, und das Licht war wie ein Strich … Es war der Magnesiumdraht. Vielleicht liegt mein Mädel schon in einem der vielen Torftümpel … Den Kerlen dort traue ich alles zu, und Sie auch, Herr Rat … Aber wehe den Schurken, – wir sind hier nicht von der Art, die da heulen und weinen, – wir handeln! Rufen Sie den Landjäger an, Herr Rat, das halbe Dorf hilft ihm … Die Feuerglocke sollen sie läuten und Forken und Spaten mitnehmen … Das sind die besten Waffen für unseren Schlag hier an der Grenzmark …“
Der hagere Doktor zupfte unschlüssig an seinem Schnurrbart und warf mir einen fragenden Blick zu …
Hier wurde jetzt alles aufs Spiel gesetzt … Johannsen hatte die Nerven verloren, die Frau desgleichen. Wurde das Dorf alarmiert, konnte jeder Erfolg vereitelt werden. Für mich stand es fest, daß wir die Ruine Güppel leer finden würden.
„Herr Rat, geben Sie mir Ihren Gaul … Wenn die Helga noch zu retten ist, rette ich sie! Das Mädchen hat sich leider durch das Abbrennen des Drahtes selbst verdächtig gemacht …“ – – Meine energischen Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Ich hatte es ja auch mit zwei Menschen zu tun, die alles andere als verweichlicht waren und die mit kühlem Verstande sich keiner besseren Erkenntnis verschlossen.
„Verhalten Sie beide sich hier ganz still und unauffällig“, warnte ich nochmals …
Dann lief Frau Barn mir voraus zum Pferdestall. Im Nu war der hochbeinige Braune gesattelt, und als ich durch die Zaunpforte ritt, rief die Haushälterin mir noch zu: „Herr, Vorsicht …!! Einige Torflöcher sind mit Brombeeren überwuchert …“
… Mehr hörte ich nicht.
Ich galoppierte nach Norden, – der Doktor hatte mir einen alten Schlapphut und einen dunklen Mantel geliehen, ich beugte mich tief über den Hals des Pferdes, prüfte den Boden, ich war nicht so leichtfertig, blindlings in gerader Linie auf Ruine Güppel zuzuhalten, ich rechnete mit Spionen, die man nach dem Doktorhause senden würde …
Und die Hauptsache: Ich hatte wieder einmal einen Gaul zwischen den Schenkeln, ich roch Pferdeschweiß, hörte den Sattel knarren, die Kinnkette klirren, – – und – ich war allein …
Derselbe Instinkt, der den Wilden vor der Gefahr warnt, derselbe Instinkt, den ich mir wieder im fernen Abseits aller Zonen zurückerworben hatte, gab mir auch volle Gewißheit, wann ich nach Osten abbiegen müßte, wann ich wieder nach Süden einschwenken müßte.
Die Nacht war warm, mondhell, die dünnen weißen Nebelschleier störten mich nicht, und keine zehn Minuten später traf ich die ersten Torfstiche mit ihren senkrechten Wänden und trüben Grundwasserfluten und auf die ersten Torfkegel.
Das Moor war einsam, wie ausgestorben.
Hier wohnte auf eine Meile in der Runde nur der Irländer Thomas O’Brien mit seinen finsteren Gesellen.
Dumpf dröhnten die Hufschläge auf Heidekrautbüschel, dumpf und höhnisch schrie im Gebüsch ein Käuzchen, ängstliche Hasen gingen flüchtend ab, eine kleine Schafherde prellte blökend auseinander, dann wieder Torflöcher, Torfkegel, – eine Feldbahn mit blanken Schienenkanten und Wagenreihen und einer kleinen Lokomotive verschwindet hinter mir, flache offene Schuppen desgleichen, fauliger Geruch der verwesenden Pflanzenmassen, die den Torf liefern, umweht mich, und plötzlich tauchen auch die Konturen des verwahrlosten Schlosses auf, das nun nach langsamem moralischem Niedergang Verbrecherhöhle geworden ist.
Diesmal nähere ich mich von Norden, vorhin mit dem Doktor kamen wir von Westen, – kein helles Fenster leuchtet mir entgegen, der kahle Bau, der da auf dem niederen Hügel ohne Vorgarten, ohne Park, ohne freundliche Bäume wie eine finstere Burg droht, hat jetzt wieder etwas Unheimliches an sich, das sich kaum in Worte kleiden läßt.
Es liegt mehr im Gefühl.
Ich reite Schritt … halte …
Hinter einem Berg zermürbter Torfziegel …
Um die Ruine ziehen die weißen Nebelschwaden wie ein Geisterheer …
Die Totenstille ringsum peinigt fast … Der Gaul schnaubt … Ich lasse die Zügel fallen, entsichere auch die zweite Pistole …
Coldmodell … Langer Lauf … In sicherer Hand so gut wie ein Karabiner …
Ich gleite aus dem Sattel. Die Steigbügel klirren, und ich fluche …
Fünfzig Meter vor mir geistert das einstige Schloß, plump, uralt, – – die Grafen von Güppel, die es einst bewohnten, ließen es verfallen, und Thomas O’Brien holzte den ganzen Park ab und benutzte die uralten Bäume als Heizmaterial und schuf ringsum eine Wüstenei.
Ich binde die Zügel an einen der Holzmasten, die oben die weißen Isolatoren tragen und den Starkstrom über das Moor zum Antrieb der modernen Torfpressen verteilen. Der Güppel-Torf ist berühmt wegen seiner Härte, fast wie Preßkohlen, sagte der alte Doktor …
Wo sind die Hunde geblieben?
Ein Dutzend hält sich O’Brien … Füttert sie schlecht, sperrt sie tagsüber ein … Nachts tollen sie um die Ruinen und hetzen die armen Häslein und Wildkaninchen.
Kein Laut ist zu hören.
Außer den Tönen, die unverdächtig bleiben: Vogelrufe, dünnes Pfeifen der Fledermäuse …
Sonst nichts …
Und dieses Nichts zerrt an den Nerven …
Das Prickeln in den Nervenenden kenne ich.
Professor Hackneys Leuchtturm und sein Studierstübchen droben mit dem niederträchtigen Tisch waren ja nicht der Anfang …
Wovon? – – Anfang?!
… Fragt nicht so töricht …!
Da gibt es eine teuflische Gemeinschaft, deren Arme bis Gibraltar reichen, die Millionen, Milliarden in Flammen aufgehen läßt und die Länder Europas aussaugt von der papiernen Flut echter Banknoten, so daß die Bankinstitute der Nationen bleichsüchtig werden, blutleer, während anderseits …
Hallo, – – aufgepaßt, Abelsen …!
Das galt dir, und das kam von rückwärts …
Verdammt …
Der Gaul bäumt sich …
Ich wälze mich zur Seite …
Und wieder zieht das blitzschnell kommende Pitsch … Pitsch … Pitsch … emsiger Kugeln vorüber …
Das Blei klatscht in den Torf, der Torf zerstiebt …
Der Satan hole die Amerikaner, die während des Krieges diese heimtückischen Luftbüchsen für heimtückische Patrouillengänge konstruierten … Aber Krieg ist Krieg …
Armer Gaul …! Er keilt aus, stöhnt, und als ich glücklich den Torfberg zwischen mich und diese Sauschützen gebracht habe, höre ich einen dumpfen Fall, das Klirren der Steigbügel und ein halbes Todeswiehern, das schrecklicher ist als das unbewußte letzte Seufzen eines sterbenden Menschen.
Nun liege ich in Deckung … Wie lange?! – Hell und bleich ziehen die Geister des Nebels um die Ruine, und der Ostwind jault zuweilen in den Giebeln mit den bemoosten Ziegeln und den klappernden Regenrinnen.
… Pitsch …
„Beinahe, Freundchen!!“
Von rechts kam es …
Dann nochmals …: Pitsch …!
Armer Doktorfilz, das ging durch die Krempe!
Der Halunke steckte dort in dem Schuppen hinter den Fässern …
Ich lege den Filz links neben mich, rücke nach rechts, visiere mit gekrümmtem Arm, will abdrücken …
Der Finger krümmt sich …
Bleibt steif …
Was bedeutet das?! Das ist doch Petroleumgestank …
Da rauscht es doch durch die Zinkrinne der Nordecke der Ruine wie Regenflut bei Gewitter.
Der Gestank wird penetrant …
Ein Gedanke glüht im Hirn auf …
Sollten die Schurken etwa …? … Und ich drehe den Kopf …
Hinter mir, neben mir zerbröckelte Torfziegel, und über dem Oberrand dieser Halde ein rötlicher Schein, der eilends vorwärts kriecht …
Hinter mir …
Vor mir …
Im Westen …
Im Osten …
Das Moor brennt, – – brennt Hunderte von Metern entfernt, – ein feuriger Kreis, genährt durch das stinkende Erdöl, das diese Schurken ausfließen lassen aus irgend einem Riesenbehälter der Ruine und durch versteckte Röhrenleitungen verteilen …
Das Moor brennt …
Ein einziger Flammengürtel um Schloß Güppel, – eine einzige, geschlossene Armee von Feuerzungen, Feuerschlangen, die auf mich zukriechen.
Ob Sekunden oder Minuten verstreichen, bis ich den höllischen Streich begriff, – ich weiß es nicht …
Ich bin aufgesprungen …
Ich sehe alles …
Keine Kugel droht mehr …
Anderes droht …
Mond und Sterne erblassen über dem roten Glanz dieses Frevels …
Die Lohe leckt höher und höher … Von Osten nahen mit dem Winde die erstickenden Schwaden, der Pesthauch von Petroleum, Heidekraut, Torf … Der Himmel flammt in verderblicher Röte wie das Gesicht eines wüsten Trunkenboldes …
Der Wind facht die Glut zu doppelter Eile an, und mein pochendes Herz schreit mir den Ruf der Pflicht in die klopfenden Trommelfelle: Rette das Mädchen!! Helga Barn!! Ihre Mutter hofft auf dich!!
Retten, helfen?!
Ein gequältes Lächeln verzerrt mein Gesicht, als ich auf gut Glück zum Haupteingang der Ruine stolpere …
Stolpere …
Über … tote Hunde …
Die breite Tür steht offen, – so recht einladend: „Bitte, in zehn Minuten spätestens, mein Herr Abelsen, – – Scheiterhaufen – – für Sie! Weshalb stecken Sie Ihre allzu kühne Nase auch in Dinge, die Sie doch nichts angehen, Sie am allerwenigsten, Sie, den Abseitswanderer!“
… Ich haste durch kläglich möblierte Zimmer.
Licht brauche ich nicht …
Das brennende Moor leuchtet feurig-rot …
Ich laufe durch Flure und über brüchige Treppen …
Da ist der Saal, der lange Holztisch, der noch glühende Ofen, der die Millionen fraß wie … Abfallpapier …
Millionen, fast schon Milliarden verschwanden so.
Tollhäusler sind am Werke …
Der Pulsschlag des Wirtschaftslebens stockt. Der Pfundsturz in England, die Erschütterung der Währung anderer Länder, – – alles das Werk dieser Irrsinnigen, die da morden und vernichten und das Banknotenzahlmittel zu Asche werden lassen …
Tollhäusler, die Milliarden besitzen und Milliarden austilgen! –
… Dort steht der Ofen … Dort unter der Saaldecke hängt noch der Qualm der verpufften Millionen …
Und dort …?!
… Ich biege mich zurück …
Ein Fausthieb zwischen die Augen von eines Schwergewichtsboxers eiserner Hand könnte nicht ärger sein.
Diese Teufel …!!
Also doch – – doch, – – Erika Ballholms Rolle als Verbündete dieser höllischen Narren ist ausgespielt …
… Dort draußen, wo ich vorhin auf dem zertrümmerten Erker gestanden habe, fährt an der Ecke der Ruine eine Stichflamme hoch, das Rohr der Rinne platzt mit dumpfem Knall, und brennende Petroleumgase und Petroleumtröpfchen erzeugen ein Brillantfeuerwerk, dessen Folgen freilich für drei vom Flammenring eingekreiste Menschen verheerend sind …
Ein paar Fensterscheiben klirren, und die vom Brande des Moores längst verscheuchten dünnen Nebel, abgelöst von dichtesten giftigen Qualmschwaden, füllen den Saal mit beängstigender Schnelligkeit …
In der einen Ecke sitzt die junge verwitwete Baronin, in der andere die derbe Helga Barn, beide gefesselt, je einer völlig ungleichen Gesellschaftsschicht zuzurechnen, und doch in dem einen durchaus übereinstimmend: In einer kaltblütigen Verachtung der Todesgefahr, deren Schwere ihnen längst klar geworden sein muß.
Kein Zuruf hat mich begrüßt, auch jetzt schweigen sie, als sie ohne Fesseln vor mir stehen, beide etwas bleich, dennoch bewegt von vollkommen verschiedenen Empfindungen, wie aus den Gesichtszügen leicht abzulesen ist.
Die große, stattliche Helga Barn, ein urgesundes Naturkind, verrät nichts als tatbereite Wut, Vergeltungswillen. Man hat ihr übel mitgespielt, ihre Kleider sind zerrissen, ihre Hände mit Moorerde bedeckt, ihre Wangen zerkratzt, ihre Haare zerzaust.
Finster und drohend starrte sie die mehr verlegene als hochmütig-ablehnende Baronin an.
Dann sagte sie mit spröder, harter Stimme, unerbittlich und doch gerecht:
„Die da gehörte mit zu den Schurken …! Aber sie hat auch diese Schurken betrogen … Wenn Landjäger Schließer ihr erst die Handschellen angelegt haben wird, dürfte das Kätzchen bescheidener werden …“
Worte … Worte, die keinen Sinn, keinen Klang haben gegenüber dem Prasseln der Flammen im Gebälk des Daches und gegenüber den gelben Giftschwaden.
Helga Barn hustet und schweigt.
Die andere blickt durch die rot schillernden Fenster auf die draußen im Halbkreis sichtbare Lohe. Etwas seltsam Geistesabwesendes ist in ihren Augen, aber der trotzige Zug um den Mund bleibt.
„Sind Pferde hier?“, frage ich das Mädchen Helga in drängender Eile.
Von der anderen ist keine Antwort zu erwarten.
„Ja, – unten im früheren Bankettsaal … Vier oder fünf …“
„Folgen Sie mir – – schnell!“
Erika Ballholm bleibt Statue …
Das Mädchen Barn packt sie …
„Wollen Sie wohl gehorchen!“
Sie rüttelt die schlanke Gestalt, die neben ihr, der nordischen Walküre, kindlich-unreif in den Formen erscheint.
Wir hasten die Treppe abwärts. Helga deutet auf eine Flügeltür.
„Dort …!“
Mr. Thomas O’Brien hat einen Saal des Ostflügels pietätlos zum Pferdestall degradiert …
Auch hier ziehen bereits die stinkenden Wolken träge umher, die fünf Pferde sind sehr unruhig, und nur durch gutes Zureden bringen wir sie ins Freie an die Westfront der Ruine.
„Die Pferdedecken anfeuchten, Helga! Helfen Sie, Frau Ballholm!“
Wassereimer plätschern ihren Inhalt über das grobe Gewebe. Ich halte die Gäule, spreche zu ihnen, der Himmel im Westen ist blutrot, – die Hauptgefahr naht von Osten, wo der Wind den Flammengürtel vor sich her treibt.
Das ganze Dach des Schlosses speit bereits gelbe Qualmfäden zwischen den verwitterten Ziegeln aus, der Dachstuhl brennt, jeden Augenblick kann die Hitze ihn sprengen.
„Schneller, Helga!! Wieviel Decken sind es?“
„Zwölf, Herr …“
Sie nennt keinen Namen. Und das ist Absicht.
Die Baronin hat die Trensen geholt. Sättel gibt es nicht.
„Können Sie reiten, Frau Ballholm?“
„Ja … Und schwimmen!“ Bitterer Hohn ist es … Erinnerung an ihre Flucht vom Schoner.
Aus dem dünnen Rauch, der über dem Erdboden faul dahinschwebt, kriecht ein winselndes Geschöpf heran, ein Hund, mit klaffender Schädelhaut, blutbesudelt, kraftlos, verängstigt, Schutz suchend bei seinen angeborenen Herren, den Menschen …
Kein Rassehund … Ein stämmiger Köter, ein Bastard vieler Liebschaften früherer Generationen.
Aber – ein Hund! Und mit Tierinstinkt, – denn bis zu meinen Füßen schiebt er sich vor und sinkt stöhnend zusammen. Nur sein Kopf hebt sich, und große, schreckerfüllte Augen flehen mich an.
„Eine Decke her …!“
Das Tier läßt alles mit sich geschehen …
„Rauf auf die Pferde, ihr da!“
Die Frauen gehorchen …
„Hüllt euch und die Gäule in die nassen Decken, – dann Trab!!“
Ich nehme die beiden ledigen Pferde am Zügel, der Hund liegt schlaff auf dem Pferdehals, und kaum sind wir zwanzig Meter voran, als hinter uns Lärm einsetzt, den jeder kennt, der je ein Hausdach aufflammen sah.
Ziegel poltern, Balken krachen, Stichflammen zischen, Fenster klirren, – – weiter, nur weiter, – die einzige Rettungsmöglichkeit liegt im Westen, wo der Rauch dünner, wo offenbar schon die Dörfler arbeiten, den Brand einzudämmen.
Hustend, mit tränenden Augen, mit gebeizten Kehlen, halbblind trabe ich voran … Zuweilen ist der hinter uns her ziehende Rauch so dicht, daß wir in voller Finsternis tappen und nach Luft ringen. Dann wieder kommt ein Windstoß und zerfetzt den Qualm, zeigt uns die brennenden Torfhaufen, die brennende Heide …
Die kegelförmig aufgeschichteten Torfziegel dort an der Innengrenze des Feuergürtels sind längst glühende, nur noch schwach qualmende Gebilde geworden.
Die rauchige Luft ist backofenheiß …
Alles Blut drängt sich zu Kopfe, die Schläfen drohen zu springen, jeder Atemzug ist Pein und vergiftet den Körper noch mehr …
Keuchend rennen die Gäule, blind, – die nassen Decken schwabbern um ihre Schädel, – die Pferde erscheinen im Rauch wie mißgestaltene Ungetüme …
Weiter …
Meine Decke rutscht, will nach hinten herabgleiten. Ich reiße sie wieder nach vorn, und durch die Falten suche ich mit rinnenden Augen nach einer Stelle, wo der Durchbruch gelingen könnte.
„Galopp!!“, brülle ich …
Ein Hustenanfall folgt … Ich fühle Blutgeschmack auf der Zunge …
Wir jagen dahin …
Der Wind, der die Rauchwolken uns nachschickt, ist flinker …
Abermals ein schwarz-gelbes Ungetüm, das sich an unsere Fersen heftet …
Trotzdem: Galopp!! – Jetzt mag kommen, was da will, der Tod umlauert uns, den Tod überwindet man nur, indem man ihn nicht fürchtet, die Zähne zusammenbeißt und die Tat vor des Gedankens Blässe stellt …
Eine unerträgliche Glutwoge umfängt uns … Wir sind im Feuer, mitten darin, mein Gaul stutzt, brutal haue ich ihm die Absätze in die Weichen, halte den Atem an, – atmen ist unmöglich, Schwindelgefühl packt mich, – – die nächsten Sekunden sind leerer Raum im Hirn, dann umflutet es mich kühl, ich habe noch gemerkt, wie wir abwärtssausten …
Das Gefühl der Nässe bleibt … Ich wage die Augenlider zu öffnen, und … wir stecken in einem großen Torfloch, neben mir die beiden ledigen Gäule, auch bis zum Halse in dem braunen Tümpel, rechts von mir das Mädchen Helga, neben ihrem Pferde stehend …
Ich gleite aus dem Sattel, damit mein Gaul nicht noch tiefer versinkt, ich fühle harten Boden, der Hund winselt, strampelt, rutscht, platscht samt seiner Decke ins Wasser, – ein Griff, ich halte ihn …
Das Mädchen Helga taucht den Kopf ein, prustet, lacht …
Über uns hinweg zieht das Gewölk des Rauches, als stünden wir auf höchstem Gipfel dicht unter dem Firmament.
Helga lacht …
„So war es am besten, Herr Abelsen …“
Ich spüre den Haß in diesem Lachen.
„Wo ist die andere, Helga …?“
„Hoffentlich tot … Sie hat es verdient …“ – Ihre Stimme ist rauh, und rauh ist ihre Seele, die nur das primitive Gesetz der Wildnis kennt: Auge um Auge, Zahn um Zahn!
Sie fügt von selbst hinzu: „Landjäger Schließer hat ihr Bild im Schreibtisch, Herr Abelsen. Keine Polizeifotografie …“
Ich horche auf …
Etwas völlig Neues tritt in den Bereich dieses widersinnigen und doch so berauschenden Kriminalfalles, den die hohen Herren mir aufhalsten, weil sie damit nicht fertig wurden. Zu viel Neues hat sich bereits hineingeklemmt wie schillernde bunte Schmarotzergewächse in die geringen Risse des harten Kerns dieses wahnwitzigen Unfugs der Vernichtung von Millionenwerten …
Ich horche auf. Helga Barn ist Weib, hat sich verraten. Der eitle Don Juan von Hangerupp hat es ihr angetan, und das Bild der Baronin hat ihre Eifersucht geweckt. Man nennt diese nordischen Grenzmarktöchter kühl und temperamentlos, man redet so viel von den Kathedern herab, das wissenschaftlich bewiesen wird und doch halbes Wissen bleibt.
Haß und Eifersucht sind Zwillingsschwestern. Nach außen hin mögen sie dieselben Züge tragen, innerlich niemals. Die Geburtsstunde der Eifersucht ist auch die des Hasses, und nur der Charakter der Einzelnen bedingt den Umfang beider.
Dies hier war Haß … –
Die Gäule zittern noch, keuchen, schnauben … Nicht lange mehr … Mensch und Tier ahnen die Rettung, und das Grauen der letzten Sekunden schwindet. Wir stehen auf hartem Boden im trüben Wasser, dessen Oberfläche, ein großer Tümpel, rosig schillert … Die Ränder des Torfstichs, wohl fünf Meter über uns, brennen und qualmen schwach. Nach Westen zu, genau wie hinter uns, sind die braunschwarzen Wände nicht senkrecht abgestochen, sondern flach und allmählich in die Heide verlaufend … Auf diese Weise hat der Rauch bequemen Abzug.
Helga Barn schweigt jetzt.
Ich lege den matten Hund wieder über den Rücken des Pferdes, und ich tue es wie ein Automat, meine Gedanken sind anderswo, die Rettung aus der unmittelbaren Lebensgefahr hat mir doch keine geistige Entspannung gebracht, mir bleibt nichts erspart, ich habe mich da leichtfertig in ein Abenteuer von einem Ausmaß gestürzt, das mir über den Kopf wachsen will.
Will …, – und dieses Bewußtsein, daß dieser Gegner triumphieren könnte und ich mich geschlagen geben sollte, vertreibt die halbe Mutlosigkeit eines so geringen Zeitraumes, daß diese Sekunden jede Bedeutung verlieren.
Helga Barn mag schweigen, – sie wird sprechen müssen …
Noch immer spüren wir die Nähe der ungeheuren Glut dort droben, aber wir merken auch, wie die Rauchwolken schwächer werden und wie zuweilen sogar etwas wie ein kühlerer Hauch in die Torfgrube hinabstößt.
„Helga, eine Frage …“ – Sie blickte nur zur Seite …
„Kannten Sie den Namen der Baronin Erika Ballholm …?“, füge ich sofort hinzu.
„Ja … Er steht auf der Rückseite der Fotografie … – – bei Landjäger Schließer – – im Schreibtisch“, erwidert sie etwas scheu. „Außerdem hat auch der Herr Rat …“ – sie bricht plötzlich ab …
„Was hat der Herr Sanitätsrat?! – Keine halben Andeutungen, Mädchen!“
Helga Barn schaute mich an … Wir hatten beide dieselben schmutzigen, schmierigen Gesichter, die nassen Haare hingen uns in die Stirn, die Kehlen waren wie Reibeisen, die Augen brannten und schmerzten, und meine Augäpfel schienen an langen Stielen wie Riesenpflaumen zu hängen.
„Mutter ist bereits zwanzig Jahre bei Herrn Rat“, sagte sie mit sichtlicher Gemütsbewegung. „Es fällt mir schwer, sein Vertrauen zu scheuen. Glauben Sie auch nicht, daß ich aus unedlen Motiven hier Angeberin spiele. Vorhin vergaß ich mich, und ich merkte Ihnen an, Herr Abelsen, daß Sie mich unrichtig einschätzen. Ich habe nicht nur die Volksschule besucht, ich bin für meine enge Umwelt zu gebildet. Als Landjäger Schließers angeblicher Freund und Gehilfe, der alte Tim Kröger, einmal acht Tage verreist war, hielt ich dort den Hausstand in Ordnung, und bei so häufigem Zusammensein mit Herrn Schließer erkannte ich sehr bald, daß er hier bei uns in Hangerupp sich als ein anderer gibt, als er es in Wahrheit ist. Ein Landjäger hat in seinem Bücherschrank keine Originalromane englischer, französischer und italienischer Schriftsteller ersten Ranges stehen. Jedenfalls – ich bin ehrlich – ein vielleicht törichter Traum verblaßte schnell. Wenn ich diese Frau, die er offenbar liebt, trotzdem hasse, so nur deshalb, weil sie auch ihn zugrunde richten wird, – – falls sie noch lebt. Und diese Frau –“ – sie vermied es wohl absichtlich, den Namen auszusprechen – „war in dieser Nacht, glaube ich, bei Doktor Johannsen …“
„Unmöglich, Fräulein Barn!“ – Das war auch meine feste Überzeugung.
„Nennen Sie mich weiter nur Helga … Jeder nennt mich so. Wer es schlecht mit mir meint, fügt noch hinzu „die tolle Helga“ … Mein Vater war Kapitän, und Mutter wurde Witwe, als ich ein Jahr alt war. Vaters Papiere …“ – sie schwieg wieder – „nein, das hat mit diesen Dingen nichts zu schaffen, ich wollte nur betonen: Der Doktor schickte Mutter und mich heute nacht bereits um zwölf als Wache in das Wäldchen, und seine Begründung dafür lautete, er erwarte um zwei Uhr morgens einen Gast, der verfolgt werden könnte. Das hatte er nun schon dreimal behauptet, und dreimal hatte ich nichts von einem Besucher wahrgenommen. Heute war ich … undankbar und schlich kurz vor ein Uhr an das Fenster und horchte. Ich vernahm gedämpfte Stimmen, und die eine Stimme war die einer Frau. Es … war jene Frau, Herr Abelsen. Ihnen, der Sie Beamter sind, muß ich es sagen.“
Die Sicherheit ihrer Rede schloß jeden Zweifel aus.
Diese Helga wußte, was sie sagte.
„Kann es nicht auch die Stimme der Gräfin gewesen sein?“, fragte ich nur, denn dies erschien mir bedeutend wahrscheinlicher.
Helga überlegte …
Wir hörten bereits in der Ferne laute Stimmen … Die Dörfler mochten Gräben aufwerfen, und hatten damit offenbar auch Erfolg.
„Herr Abelsen, – gut, es kann sein …“, erwiderte Helga Barn wenig überzeugungsvoll … „Finden Sie die Wahrheit heraus, der Doktor ist leider trotz seiner harten Schale ein sehr gutmütiger, leichtgläubiger Herr …“
Wir horchten jetzt auf die näherkommenden Stimmen. Der verletzte Hund winselte wieder.
Irgend eine unbestimmte Vermutung veranlaßte mich noch schnell zu einer letzten Frage.
„Helga, wissen Sie, wo die Baronin ihr Versteck hat? Sie muß hier irgendwo in der Nähe wohnen.“
Helga Barn erwiderte in ihrer schlichten Art:
„Ich weiß es nicht … Aber ich habe sie wiederholt nachts am Danneborg-Moor getroffen. Wenn irgendwo, dann haust sie dort in einem schwer zugänglichen Versteck.“
Droben am Rande des Torfstichs tauchten Leute mit Spaten auf. Ich rief, man antwortete.
Zehn Minuten später waren Helga und der kranke Hund im Doktorhause in guter Obhut.
Alle Dörfer der Nachbarschaft und sogar die Kreisstadt hatten Hilfsmannschaften und Spritzen geschickt.
Schließer, Tim Kröger und ich wanderten der ausgebrannten Ruine Güppel zu. Obwohl Hunderte von Menschen nach der Baronin gesucht hatten: Sie blieb samt ihrem Pferde verschwunden! Sie war uns entschlüpft wie bereits einmal, und es wäre zwecklos gewesen, noch weiter nach ihr zu forschen. Außerdem lagen sehr gewichtige Gründe vor, die Hilfsmannschaften nicht noch stärker auf diese Frau aufmerksam zu machen.
Der Morgen graute bereits.
Das Moor brannte noch hier und da, überall liefen Leute mit Wassereimern umher, damit die unheimlichste, schleichendste Gefahr beseitigt würde: Daß das Torfmoor nicht nach innen, in die Tiefe hinein, weiterbrenne! –
Landjäger Schließer hatte sich alles genau berichten lassen. Er bat darum. Er hatte mir nichts zu befehlen. Wir waren anderseits aufeinander angewiesen.
Der alte lahme Kröger warf zuweilen sehr treffende Bemerkungen in die Unterhaltung.
Es war ein Gespräch von Männern, die einsehen mußten, daß ihnen die Beute entschlüpft war und daß die Gemeinschaft der Banknotenvernichter ihre Spuren gründlichst verwischt hatte.
Wir standen nun vor dem toten Braunen, der ein klägliches Bild darbot.
Armer, braver Gaul, – wir zählten nicht weniger als zehn Kugeleinschläge … – Nun, er hatte nicht allzu lange gelitten, und als das Feuer ihn zur formlosen Masse verschrumpfte, war er längst tot.
Schließer war durchaus einverstanden, daß ich mich verabschiedete. Wir wollten nicht zu lange beieinander bleiben. Wenn möglich, sollte ich wenigstens für die Badegäste, die ebenfalls sämtlich hierher geströmt waren, fernerhin Doktor Müller bleiben. Anders verhielt es sich ja leider mit diesen Tollhäuslern, die die Bankinstitute der Länderregierungen aussogen. Die kannten mich. Ich kannte sie nicht, bis auf zwei: Professor Hackney und Erika Ballholm. – Was der Öffentlichkeit über die Vorgänge der Nacht zugänglich gemacht werden sollte, war genau festgelegt … Schließer besaß ja Generalvollmacht für alles.
Wir trennten uns. Ich kehrte um, wich allen Menschengruppen aus und traf die Dorfstraße von Hangerupp wie ausgefegt. Auch im Strandhotel begegnete mir nur der Kellner, der ein deutscher Kriminalbeamter war. Er zwinkerte mir zu, flüsterte hastig: „Ich habe Ihr Zimmer bewacht …“
„Ich danke Ihnen, Drews …“
Ich ging nach oben, öffnete meine gut versperrte Tür, trat ein und schloß wieder ab.
Aus alter Gewohnheit, die heute notwendiger denn je, durchsuchte ich das Zimmer.
Armer Drews, du hast sehr schlecht aufgepaßt. Sehr schlecht …
Das eine Fenster war nur angelehnt, die Mittelscheibe war mit einem Seifenpflaster herausgebrochen.
Ich suchte nochmals. Ich habe die entsicherte Pistole in der Hand, und als ich die zurückgeschlagene Steppdecke lüftete, lagen da fünf sauber verschnürte Pakete, und hinter der Schnur des einen steckte ein Zettel, getippt:
„Vierzig Millionen in englischen Banknoten für die Bank von England.“
Ich traute dem Frieden nicht. Aber die Pakete enthielten nur das, was der Zettel angab.
Vierzig Millionen …
Ich setzte mich auf den Stuhl neben das Bett.
Geld hat für mich seit Jahren keine Bedeutung gehabt. Im Abseits waren mir vierzig Patronen weit lieber als vierzig kunstvoll bedruckte Papierwische.
Immerhin: Jenes Abseits, wo Geld und Geldeswert ein Nichts bedeutet, lag hinter mir. Ich hatte mich in die Zivilisation zurückgewagt, weil mich das Abenteuer eines abwegigen Kriminalfalles gelockt hatte, der zu umfangreich war, um als Kriminalgeschichte beurteilt und verurteilt zu werden …
Dies spürte ich jetzt mit aller Aufdringlichkeit. Vierzig Millionen Pfund Sterling! Ich gab mir gar nicht die Mühe, den Betrag in Kronen oder Mark oder Franken umzurechnen.
Ich spürte noch etwas ganz anderes als nur den leichten Rausch der Riesensummen. Ich fühlte mit einem Schlage, daß hier eine geheimnisvolle Macht diese Gemeinschaft von Panikverbreitern bekämpfte, und ich ahnte, daß diese Gegenpartei diesen wahnwitzigen Schurken diese ungeheuren Summen irgendwie … abgeschwindelt hatte.
Eine besondere Eingebung riß mich hoch, eine Art Erleuchtung, und trieb mich mit klopfendem Herzen zum Fenster …
Die Morgendämmerung war noch ohne das warme Licht der Sonne und lagerte seltsam kalt über dem Buchtstrande, den Booten und Jachten, den sauberen Häuschen und der Halbinsel und der fernen Spitze des Leuchtturmes. Krähen und Möwen stolzierten dicht am Ufer hin, und ihr neidisches Geschrei waren die einzigen Laute der frühen Stunde.
Dieses Landschaftsbild verschwamm, und ein anderes Bild, geboren aus dem nachhaltigen Eindruck, schob sich vor meine trügerisch blinden, geistig desto hellsichtigeren Augen …
Ich sah Erika Ballholm am rohen Holztisch im Schloßsaale sitzen, totenblaß, verängstigt, – und der dicke Herr prüfte die Banknotenbündel flüchtig und reichte sie dem Heizer, der den eisernen Ofen mit Millionen fütterte, als wären es Papierschnitzel.
Sollte etwa die Baronin …?!
Ich dachte den Gedanken nicht zu Ende, er war allzu unsinnig.
Und doch kam ich von ihm nicht los …
Er verfolgte mich nachher bis in die Träume und drängte mir ein neues Rätsel auf. Ich sah im Traum besondere Maschinen arbeiten, die kleine Zettel auswarfen … Dann wieder sah ich auf der Oberfläche des Moorkanals von Danneborg einen Ölfleck schillern, sah ein Boot mit zwei Gentlemen mit Seidentüchern vor den Gesichtern vom Leuchtturm fliehen und sah den Doktor Hackney mit dem großen Glase, in dem der Teufelsfisch schwamm. –
Nein, man braucht wirklich nicht das Abseits entlegenster Gegenden, um auf unbekannten Zufallspfaden zu wandeln und das Abenteuer als Geschenk dankbar hinzunehmen. – –
Ich schreibe dies vier Tage nach dem großen Moorbrand, nach vier völlig ereignislosen Tagen, in denen die Badegäste von Hangerupp und die Öffentlichkeit förmlich dazu gezwungen wurden, an die sehr einfache Erklärung zu glauben, Thomas O’Brien mit all seinen Spießgesellen seien flüchtige Verbrecher gewesen, die hier bei Hangerupp den Behörden die Komödie harmloser Torffabrikanten vorgespielt hätten. Ich selbst?! – Ich – – war nur „zufällig“ in die Dinge mit hineingezogen worden …
Das Publikum glaubt ja alles, was die Zeitungen ihm dauernd als abgestandene Kost aufs neue servieren. Dieses Ungetüm „Publikum“ ist kritikloser als ein Schwachsinniger.
Gewiß, es kamen – schon zum Schein! – Gerichtskommissionen nach Ruine Güppel und verhörten mich und andere, und ein tadellos onduliertes Tippfräulein mit getuschten Lippen bedeckte viele Seiten mit „Aussagen“ …, – ganz wie der Herr Staatsanwalt es diktierte.
Daß die Aussagen zu neun Zehnteln falsch, konnte der emsige Herr nicht ahnen.
Über uns bewußte Lügner breitete schützend eine höhere Gewalt ihre Fittiche aus: Die wenigen wirklich eingeweihten Vertreter der ausgelaugten Nationen!
So blieb ich denn „Doktor Müller“, und Gerhard Schließer blieb der eitle, läppische Landjäger, und Sanitätsrat Johannsen war noch gröber und unliebenswürdiger als bisher, und die graue Gräfin blickte stets starr an mir vorüber, und Professor Hackney hauste wieder in seinem Turm und hatte stets einwandfreie Kollegen zu Gast, die ihn ehrlich bedauerten, weil er das Opfer eines versuchten Raubüberfalles geworden.
Alles in allem, – es war ein großes Theater, aber hinter den Kulissen lauerten Verbrecher, die mich als ersten abtun würden, und danach richtete ich mich.
Überflüssig zu sagen, daß Hackney mir als seinem Lebensretter wärmstens gedankt hatte. Überflüssig zu erwähnen, daß jetzt zu meinen Füßen ein neuer Trasso mit noch verbundenem Kopfe ruht, – kein Wolfsbastard wie der erste Trasso, sondern ein Exemplar mustergültiger Rassenvermischung, ein waschechter großer Dorfköter, vielfarbig wie ein buntes Kalb, dickköpfig wie ein Neufundländer, langhaarig wie ein Seidenpintscher, aber … aber schon jetzt mein Schatten, mein Trasso-Ersatz … –
Am Abend dieses vierten Tages goß es in Strömen.
Unten im Strandhotel tanzte man … Punkt zehn funkte ich Inspektor Garson, daß Schließer und ich an Bord kommen würden. Es war ein neuer Geheimcode ausgegeben worden, und wir durften hoffen, daß die Signale nicht dechiffriert werden könnten. Um halb elf machte ich mich auf den Weg, und um elf trafen wir uns am Strande der Halbinsel im dichtesten Gebüsch. Den Trasso-Ersatz hatte ich im Hotel gelassen, Kellner Drews würde schon für ihn sorgen, falls unvorhergesehene Zwischenfälle eintreten würden.
Das Motorboot Schließers lag ohne Lichter da und war, da die See ziemlich hoch ging, durch Öltuch und Stützen fast völlig abgedichtet worden. Ich hatte die Banknotenpakete bei mir, die schleunigst nach London zurückbefördert werden sollten. Wir drei begrüßten uns mit stummem Händedruck, dann sprang auch schon der Motor an, und das Boot schoß mit sanftem Knattern davon, Spritzer kamen über Bord, wir passierten den Leuchtturm in respektvoller Entfernung, und fünf Minuten darauf kletterten Schließer und ich in den Mittelturm des U-Bootes hinab.
Ein U-Boot von diesen Abmessungen war mir neu. Eine behagliche Kajüte nahm uns auf, der Kommandant setzte sich mit an den Tisch, und Freund Garson blätterte in einem verfänglich dicken Aktenbündel. Man wartete darauf, daß die „Sitzung“ von mir eröffnet würde. Ich war ja der allein Verantwortliche, – leider flößten mir die ernsten Gesichter meiner drei „Untergebenen“ wenig Mut ein, den ganzen Fragenkomplex aufzurollen.
„Neue Hiobsbotschaften, Garson?“, fragte ich den kleinen Inspektor. – Irgendwie mußte ich doch beginnen.
„Banknotenschwund in den letzten acht Tagen rund hundert Millionen“, erwiderte er und starrte in seine Akten. „Die Schufte müssen unheimliche Vorräte an Goldbarren haben. In Paris, London, Berlin und Rom sind je eine kleine Winkelbank ausgehoben worden, die noch nie Goldbarren lagern hatten. Zweifellos hat man vier Stellen entdeckt, die mitschuldig sind. Die Verhöre und Ermittlungen blieben ergebnislos.“ – Garson zuckte die Achseln und nahm eine frische Zigarette.
Regierungsrat Schließer fügte erläuternd hinzu: „Nach meinen Informationen haben sich französische Firmen geweigert, Gold in Zahlung zu nehmen. Die Geschäftswelt, die Großindustrie, ist bereits argwöhnisch geworden. Es laufen Gerüchte um, daß es einem Gelehrten geglückt sei, nun doch das Geheimnis der Goldmacherei zu entdecken.“
„Blödsinn!“, murrte Inspektor Garson. „Die beschlagnahmten Goldbarren sind chemisch untersucht worden. Es ist Naturgold.“
Der U-Kommandant gähnte diskret. Ihm als Militär lag dieses Thema zu fern, außerdem mochte ihn auch der eintönige Dienst hier in Hangerupp ermüdet haben.
Schweigen …
So etwa dasselbe Schweigen, als ob vier Verirrte im dicksten brasilianischen Urwald hocken und nicht aus noch ein wissen.
„Haben Sie die befohlenen Lotungen angestellt?“ wandte ich mich an den jungen Kapitän.
„Sehr wohl, Herr Abelsen … Hier sind die Ergebnisse, ich habe dazu eine Skizze angefertigt.“ Er wurde lebhaft. „Dies hier ist die Westseite der Riffe, auf denen der Leuchtturm steht. Wie Sie sehen, fällt das Gestein dreißig Meter vom Leuchtturmfuß ganz steil ab. Die Tiefe beträgt dort fünfundvierzig Meter, der Boden ist felsig mit einer halbmeterdicken Sand- und Schlickschicht. – Die Ostseite der Riffe, also nach dem Festlande hin, bildet einen unterseeischen Hügelrücken in zwanzig Meter Tiefe, und dieser verläuft genau nordöstlich zur Küste, wo er sich senkt und sich in dreißig Meter Tiefe eine unterseeische Steilwand findet. Wir sind an dieser Felswand entlanggefahren … Sie verliert sich nach Norden und Süden zu im Meeressande.“
„Und der Abfluß des Danneborg-Moores, der sogenannte Danneborg-Bach?“
Der Kommandant lächelte überlegen. „Mr. Abelsen, ich kann mein Boot unmöglich auf Morast auflaufen lassen …“
„Sie haben es also nicht einmal versucht?!“ Meine Stimme mag unangenehm scharf geklungen haben.
„Nein! Die Verantwortung lehne ich ab … Man sieht ja genau, daß die Bachmündung voller angeschwemmten Gestrüpps liegt, – so flach ist sie …“
Garson und Schließer beobachteten mich interessiert.
„Und ich sage Ihnen, Kapitän Isley, daß dieser harmlose Bach, der später in einen breiteren Kanal übergeht, so tief sein muß, daß ein U-Boot älterer Konstruktion, also von geringeren Abmessungen, dort einlaufen kann, denn – ich habe die Beweise dafür.“
Ich berichtete von den Fährten am Ufer des Naturkanals und von dem großen Ölfleck … „Was sich damals dort abspielte, weiß ich so genau, als hätte ich es mit eigenen Augen gesehen. Die Gräfin Stettendonk wurde von Erika Ballholm an Bord eines Tauchbootes genommen, – die Gräfin kam nachher von der offenen See in die Bucht geschwommen, mit grüner Badekappe und Badeanzug, also hatte dasselbe Tauchboot sie wieder ausgesetzt. Eine Nachfrage im Damenbad hatte bestätigt, daß die Gräfin keine Kabine belegt hatte und sich von einer Badefrau einen Mantel lieh, um so ins Hotel zu gelangen.“
Das wirkte …
Garson legte die Zigarre weg. Schließer qualmte vor Erregung wie ein Schlot, und der Kommandant hatte einen roten Kopf bekommen.
„Entschuldigen Sie, Mr. Abelsen, das ändert die Sache.“
Inspektor Garson platzte überlaut heraus: „Haben Sie noch mehr derartige Neuigkeiten auf Lager?!“
„Später …!“, winkte ich ab. „Kapitän Isley, wie tief haben Sie das Boot tauchen lassen, nachdem der alte Tim Kröger davongefahren war? Können Sie unter Wasser den Danneborgbach ansteuern?“
„Gewiß, wir liegen in zwanzig Meter Tiefe.“
„Dann wünsche ich, daß Sie sofort an der Steilwand bis zum Bach entlangsteuern und den Fels mit ihren Scheinwerfern beleuchten. Bei dem starken Regen können die Scheinwerfer droben nicht bemerkt werden.“
„Sehr wohl, Herr Abelsen …“, – er erhob sich und erteilte durch das Telephon die nötigen Befehle nach dem Kommandoturm.
Schließer blickte mich blinzelnd an. „Ich glaube zu erraten, was Sie … vermuten.“
„Ich … vermute nichts! Es muß so sein … Warten Sie nur ab.“
Der kleine Jack Garson nahm seine Zigarette wieder vom Aschbecher. „Mr. Abelsen, mal ehrlich: Und Ihre anderen Neuigkeiten?“
Ich horchte … Ein leises Zittern ging durch den Schiffsrumpf.
„Wir fahren …“, meldete der junge Kommandant stolz. „In fünf Minuten …“, – was er noch hinzufügte, hatte wenig Bedeutung.
Aber in fünfzig Minuten hatte Kapitän Isley einen echten Seemannstod gefunden, – sogar vor dem Feinde.
Die Gemeinschaft derer, die wie Wahnwitzige den Notenumlauf zum Absterben brachten, bestand aus Leuten, die sich jeglicher technischen Neuerungen bedienten, ihre Gegner zu vernichten.
Wir standen im kleinen Vorderturm des Bootes, und durch die dicken Fenster sahen wir im Lichte der Scheinwerfer die Steilwand langsam vorübergleiten.
„Zwanzig Meter Tiefe“, erklärte der Kommandant, den Telephonhörer am Ohr.
„Bitte fünfzehn Meter, Mr. Isley.“
Sehr wohl. – – Fünfzehn Meter!“, rief er in die Muschel.
Garson brummte etwas von „Sehr leichtsinnig“ …
Nach einiger Zeit trat die Felswand in scharfem Knick zurück.
„Stoppen, Mr. Isley!“
„Stoppen!“, wiederholte er. – Die Schrauben schlugen rückwärts, trotzdem hatten wir in kurzem die Steinwand wieder rechts neben uns.
Der Kommandant blickte hinaus. „Wahrhaftig, eine Rinne, Mr. Abelsen.“
„Ja, die Einfahrt in den Bach …!“
Wir alle waren etwas nervös geworden … Garson kaute an seinem Zigarrenstummel. „Das Strauchwerk vor der Mündung kann auch absichtlich an der Oberfläche des Wassers befestigt sein“, meinte der Inspektor.
„Oder sich zufällig festgesetzt haben“, ergänzte ich. „Stellen Sie fest, Kapitän, wie breit die Einfahrt ist.“
Die Manöver des U-Kreuzers nahmen einige Zeit in Anspruch.
„Zu schmal für mein Boot, aber festes Gestein“, meldete Isley.
„Dann wollen wir emportauchen … Scheinwerfer aus.“
Als wir aus dem Kommandoturm das Deck betraten, regnete es noch immer wie aus Eimern.
„Setzen Sie ein Boot aus, Kapitän … Ich will den Bach und den Kanal abloten … Ein kleines Boot und ein paar Ruder genügen …“
Bei diesem Guß war nichts zu sehen … Der Regen fiel in dicken Schnüren.
Das leichte Aluminiumboot klatschte ins Wasser.
„Garson, Sie können ebenfalls mitkommen … Wo ist die Lotleine? – Danke, habe sie schon …“
Schließer, Garson und ich stießen ab. Schließer ruderte.
„Verdammte Dollen, – wie sie quietschen! Schlecht geschmiert“, schimpfte der Inspektor.
„Halten Sie besser den Mund!“, hauchte der deutsche Geheimagent ihn an …
„Halb so grob, bitte …!!“
Vor uns erschienen dürre Äste mit faulenden Blättern …
„Wir sind in der Bachmündung!“, triumphierte Garson. „Soll ich Ihnen helfen, Abelsen … Hier ist die Lotleine, hier der Bleizylinder, und … – Was war das?! Hörten Sie?! Das war …“
… Ja, das war ein dumpfer Knall gewesen … ganz dumpf … hinter uns.
Schließer ließ die Ruder schleifen.
„Mein Gott, die Schurken, – – es war eine Mine … Da – – das Prasseln ist das Aufschlagen des emporgeworfenen und wieder zurückfallenden Wassers …“
„Festhalten, – – eine …“, – – meine Warnung kam zu spät …
Die durch die Seemine erzeugte Riesenwoge stürmte rauschend und plätschernd viele Meter hoch auch hier in den Bach hinein, hob das Boot, kippte es um, – ich schlug mit dem Hinterkopf irgendwie hart auf und versank in der Tiefe, griff rein automatisch nach einem über mein Gesicht hinstreichenden schleimigen Ast und arbeitete mich wieder empor …
Die rückströmende Flut schleuderte mich halb an Land, und dann verlor ich das Bewußtsein. –
– Die Sonne schien in das große Giebelzimmer, Kellner Drews stand vor meinem Bett und starrte mich sprachlos an.
„Sie scherzen wohl, Herr Abelsen … Es ist tatsächlich elf Uhr vormittags, heute ist Sonntag, gestern wurde bis drei morgens getanzt, und – – die Mittelscheibe ist wieder zerbrochen …“
Ich saß aufrecht und befühlte meinen Hinterkopf.
„Drews, – die Beule lohnt! Bitte …!“
„Donnerwetter! – Wer aber hat Sie hier nach oben getragen, Herr Abelsen?!“ Er deutete auf meinen neuen vierbeinigen Freund. „Trasso knurrt sogar mich an, obwohl ich ihm die besten Knochen bringe. Trasso hätte selbst Herrn Schließer angefallen und den Inspektor Garson erst recht. Ich begreife nicht, wie …“
„Ich begreife, und das genügt vorläufig, lieber Drews … – Bringen Sie mir mein Frühstück und warmes Wasser zum Rasieren.“
Drews warf mir einen eigentümlichen Blick zu …
Er sprach noch leiser …
„Die Gräfin etwa, Herr Abelsen?“
„Auch die nicht! – Jetzt verschwinden Sie, ich will aufstehen.“
Als Drews mit dem Riesentablett wieder erschien, hatte der etwas seltsame neue Chef der Abteilung 2 B eine noch ernstere Miene aufgesteckt. „Drews, haben Sie Herrn Schließer heute schon gesehen?“
„Gewiß, – er sitzt unten in der Bar mit dem Professor zusammen, dessen Gäste heute abgereist sind.“
Ich atmete etwas auf. Schließer lebte.
„Drews, mal eine andere Frage … Es regnete nachts sehr stark … Haben Sie zufällig gegen halb zwei morgens auf den verwünschten Leuchtturm geachtet?“
Der Beamte überlegte. „Ja, es war halb zwei, als die Lampen im Turme für kurze Zeit aufleuchteten …“
„Wie lange?“
„Ein paar Minuten, – die Lichtfinger waren bei dem Regen nur schwach zu erkennen.“
„Danke … Gehen Sie …“
Ich beeilte mich beim Frühstück und mit dem Anziehen, ich mußte feststellen, was aus dem U-Kreuzer und aus Garson geworden. Sollten die Schurken das Boot mit der ganzen Besatzung versenkt haben, dann würden sie mich kennenlernen! – Leere Drohungen sind lächerlich, – ich hatte nun genügend Anhaltspunkte, die Bande trotz allem zu fassen, und dann sollte es heiß hergehen, deren Maß war übervoll.
– Als Doktor Müller, eine Zigarette im Mundwinkel, die kleine Bar betrat, traf mich aus Doktor Stuart Hackneys Augen ein besonderer Blick: Ein gewisses Unbehagen lag darin, – nichts mehr von der allzeit freundlichen Güte …
Warte, Bursche, – der Strick ist für dich schon fertig …
… Ich begrüßte Hackney und den Landjäger, der wieder wie ein Kriegsgott ausschaute, in aller Harmlosigkeit, setzte mich zu ihnen und entdeckte dann erst die graue Gräfin, die in einer Ecke hinter einem giftgrünen Likör saß und wie immer aus langer silberner Spitze Zigaretten rauchte … Meine höfliche Verbeugung wurde kühl-förmlich erwidert.
Hackney war zu meinem Erstaunen nicht mehr ganz nüchtern.
„Hallo, Doktor, – – auch Sie sind eingeladen …“
Er redete ohne Unterlaß, er war zerfahren, unruhig, – ich fühlte genau: Sowohl sein Benehmen wie der ungewohnt reichliche Alkoholgenuß waren nur seiner verzehrenden Angst und Ungewißheit zuzuschreiben.
Dann wurde er plötzlich ganz still, stierte vor sich hin und kämpfte offenbar mit irgend einem hinterhältigen Entschluß.
Aus der Ecke der grauen Gräfin kam ein scharfes Hüsteln.
Hackney zuckte zusammen und griff verwirrt nach seinem Glase.
Sein stark gerötetes Gesicht erschien ungesund gedunsen, die Augen waren ihm hervorgequollen, und als die Gräfin sich nochmals räusperte, schielte er scheu zu ihr hinüber und verlangte zu zahlen.
„Ich … ich muß heim“, erklärte er überstürzt. „Begleiten Sie mich noch zu meinem Motorboot. Am Motor ist irgend etwas nicht in Ordnung, und …“
Zum dritten Male hüstelte die Gräfin genau so scharf.
Hackney verstummte, zahlte eilends, ohne auszutrinken und winkte uns mit dem Kopfe zu.
Wir folgten ihm. Schließer lächelte unmerklich.
– Gewiß, das, was ich hier soeben aus frischester Erinnerung heraus niedergeschrieben habe, mag alltäglich erscheinen. Wer jedoch Hackney bisher gekannt hatte, dem mußte das völlig veränderte Wesen des Mannes unbedingt auffallen. Der fragwürdige Gelehrte war geradezu wie ausgewechselt.
Und nur etwas vermag einen Menschen derart aus dem Gleichgewicht zu bringen: Ungewisse Angst!
Stumm schritt er nun zwischen uns dem Bootsstege zu. Auf dem Stege schaute er sich um …
Wir auch …
Am Anfang des Steges stand die hagere, stolze und kalte Gräfin Stettendonk, hatte ihr Lorgnon an den Augen und …
Mit einem wütenden Fluch drehte Hackney sich der Bucht zu.
„Was will dieses Weib?! Wer ist das?!“
Landjäger Schließer antwortete in einem fürchterlichen Englisch, das er nur für den Besitzer des Leuchtturms bereit hatte: „Eine sehr reiche Gräfin aus Berlin, die trotz ihrer Jahre noch viel Sport treibt.“
Hackney hörte gar nicht hin. Seine Frage war nichts als eine müßige Redensart gewesen.
„Ich wollte Sie beide eigentlich heute Sonntag zu mir einladen“, sagte er ohne jeden Übergang. „Aber ich fühle mich doch nicht recht wohl … Also ein andermal … Sehen Sie doch noch bitte nach dem Motor.“
Der Motor seines Bootes war durchaus in Ordnung. Er verlor darüber kein Wort mehr und fuhr davon. Kaum war er außer Hörweite, als ich Schließer fragte, ob auch Garson gerettet sei und ob er wüßte, was aus dem U-Kreuzer geworden sei …
„Garson ist bei mir“, meinte der Geheimagent bedrückt. „Aber das U-Boot, – – ich war früh morgens dort an der Bachmündung, nachdem der Regen aufgehört hatte … Ich fand nur ein großes Fettauge an der Stelle, wo die Mine hochging …“
Pause … – Er schaute Hackney nach … „Abelsen, ich bin blind gewesen. Dort fährt der Oberteufel heimwärts … Ich habe meine Ansicht über ihn gründlich geändert … Im übrigen ist Tim Kröger bereits nach der Kreisstadt unterwegs. Er soll eine Chiffredepesche aufgeben. Der U-Kreuzer muß gehoben werden, die Bergungsdampfer können abends hier sein. Sie sind doch einverstanden?“
„Ich hätte dasselbe befohlen, Schließer … Schon der Banknotenpakete wegen, die in des Kommandanten Kajüte hoffentlich unversehrt geblieben sind …“
… Zwei Männer standen hier vorn auf dem Stege, die Sonne schien so warm, in der Bucht tauchten überall Köpfe von Schwimmern und Badekappen auf, am Strande spielten lärmende Kinder, und doch wußten die beiden Männer genau, daß diese freundlichen Kulissen eines friedvollen Badelebens ganz andere Dinge verdeckten.
„Wer brachte Sie ins Hotel und ins Bett, Abelsen?“, begann Schließer von neuem. „Ich sprach mit Drews … Sie hatten die Unterkleider noch an …“
„Die Baronin mit Hilfe der Gräfin, lieber Schließer …“
„Eine Vermutung Ihrerseits?“
„Eine Gewißheit, obwohl Vermutung …“
Er nickte gedankenvoll. „Ich bin ehrlich, ich verstehe das alles nicht … Der Fall liegt so ungewöhnlich, Menschen sind darin verwickelt, die doch nur aus Mitleid Partei ergreifen, ich denke da an den Sanitätsrat und die Gräfin. Nein, die Geschichte geht über meinen Horizont, und Jack Garson ist genau so unsicher, – ja, unsicher ist das richtige Wort. Was soll man von der Baronin halten?!“ Er zuckte die Achseln und starrte ins Wasser.
Das war so unsere Sonntagsvormittagsandacht …
Um uns her herrschte Lebensfreude, – wir beide befanden uns außerhalb dieser von Sorgen unbelasteten Welt … Der Ausdruck Sorgen paßt auch kaum, es war da weit mehr Beängstigendes, wir wußten genau, daß der Tod in irgend einer Form stets neben uns blieb. Unser Gedankenflug war gelähmt durch die furchtbare Gewißheit, daß nachts so viele junge Menschenleben diesen Tollhäuslern zum Opfer gefallen waren, und selbst mir wollte es nicht gelingen, mich von diesem atembeklemmenden Albdruck zu befreien.
„Hackney wollte uns in den Turm locken“, sagte ich leise. „Wir wären … ertrunken … sonstwie umgekommen, – – und die Gräfin hüstelte … Hackney hat sich verraten.“
Allmählich schwand nun doch meine trübe Stimmung. Eine besondere Frage löste sich aus dem ziellosen Hin- und Herfluten der Gedanken. „Schließer, was wissen Sie über Ballholms Ende? Sie sagten mir, der Baron sei ertrunken.“
„Vor etwa drei Jahren, bei einer Segelpartie, die er von Helgoland aus allein unternahm … Das gekenterte Boot wurde mit eingedrückten Bordwänden geborgen …“
„Helgoland … Drei Jahre her …“ – Mein Hirn arbeitete wieder exakter … – „Schließer, wir treffen uns nach einer Stunde bei Sanitätsrat Johannsen … Jetzt wird ein Ende gemacht, so oder so. Ich habe die Geschichte satt.“
Der Geheimagent blickte mich erstaunt an. „Wird Ihre Energie nicht wieder verpuffen, Abelsen?!“
„Nein! – Sie kennen doch den Gebüschstreifen, der sich bis zum Wäldchen des Doktors hinzieht. Dort steht eine junge Birke, die von fünf Wacholdersträuchern umgeben ist. An der Stelle finden Sie sich ein … – Seien Sie vorsichtig. Denken Sie an den erschossenen Braunen, – zehn Kugeleinschläge …! Die Burschen gehen jetzt aufs Ganze. Wenn schon ihr Oberhaupt, und das ist bestimmt Hackney, zu trinken beginnt, hat die Bande eben die Nerven verloren … Wir nicht! Nein, wir dürfen sie nicht verlieren …!“
Ich hole meinen Hund und meinen Eichenkrückstock aus meinem Zimmer. Im Grunde war es nicht anders, als wäre dieses Giebelzimmer ein Nomadenzelt in einer von Banditen drangsalierten Gegend. Das, was hier in Hangerupp frohe Sonntagsstaffage war, zerfloß zu anderen Bildern vor der Gewißheit, daß dieser friedliche Badeort, dieses ehrliche, saubere Schifferdorf, Mittelpunkt von Geschehnissen geworden, die in der Weltchronik der Kapitalverbrechen nirgends ihresgleichen hatten.
Von dem Hotel blickte ich nach der grauen Gräfin aus. Drews schlängelte sich heran. „Herr Abelsen, suchen Sie jemand?“ – Er bot mir Feuer für die Zigarre.
„Die Gräfin, Drews?“
„Ins Dorf gegangen, Richtung Güppel-Moor …“
„Danke …“
Der neue Trasso blieb stets in meiner Nähe. Er hatte einen sehr ruhigen Charakter, und seine Anhänglichkeit war vielleicht noch tiefer als die seines Vorgängers. Ihm fehlte das Wolfsblut in den Adern, dafür besaß er andere Vorzüge, darunter den wichtigsten: Eine gewisse erhabene Gelassenheit, ein sorgsames Abwägen, könnte man sagen. Nur eins mußte ihm erst beigebracht werden: Jene Dressur, die meinen alten Trasso auf einen Wink hin das Vorgelände absuchen ließ und die mir den Weg sicherte.
Wir bogen in das buschreiche Tal ein, von dessen Ostrand die Gebüschzunge sich vorschob. Ich beobachtete den Hund unausgesetzt. In diesem unübersichtlichen Bodeneinschnitt mit seinen dicken hohen Wucherungen von Brombeeren, Wacholder, Dornen und Strandkiefern konnte überall der Tod lauern.
Meine Wachsamkeit steigerte sich, als ich den Abhang emporkroch und droben eine Weile liegen blieb. Jenseits des Wäldchens des Doktors in weiter Ferne stiegen zarte weißliche Qualmwolken auf: Es war doch nicht geglückt, das Umsichgreifen des Moorbrandes nach unten zu verhüten, ich wußte es, und ich kannte auch die Unmöglichkeit, derartige unterirdische Feuer in Torfmooren wirksam zu bekämpfen, da diese Schichten verfaulter Pflanzen stets Hohlräume bergen und eine gewisse Zugluft begünstigen. Das Feuer friß sich häufig in den Tiefen schneller weiter als die warnenden dünnen Rauchschwaden es vermuten lassen.
Rechts auf dem Wege zum Doktorhause und zur Ruine Güppel wanderten Spaziergänger dahin, – Neugierige, die das Gruseln lernen wollten, wenn sie über die Torfheide schritten, unter der die Glut schwelte.
Ich näherte mich durch die Gebüschzunge nun den fünf Wacholderkegeln und der dünnen weißen Birke. Der Hund blieb neben mir, aber er war in seinem Wesen verändert, er sog die Luft schnüffelnd ein und duckte sich tiefer.
Dann legte er sich plötzlich nieder, drückte den plumpen Kopf auf die Vorderläufe und stellte die großen Ohren nach vorn und stieß ein ganz leises Winseln aus. Seine gelbbraunen Augen hingen starr auf den bemoosten Steinen, die auch außerhalb der Wacholderbüsche den Sandboden durchbrachen.
Wir hatten heute Nordwind, und wenn es auch nur ein ganz bescheidenes Lüftchen war, die dunkelgrünen stacheligen Kegel mit den noch helleren Beeren pendelten dennoch leise hin und her.
… Da vor mir war irgend etwas nicht in Ordnung, – ich spannte den Gewehrstock, schraubte die Zwinge ab und wartete.
Abermals verneigte sich die eine Wacholderstaude etwas tiefer, und nur so konnte ich etwas von dem freien Platz um die Birke erspähen.
Einer der großen, mit Moos und Flechten überwucherten Steine ragte etwa einen Meter hervor. An diesem Stein lehnte mit hängendem Kopf und zerzaustem Haar die starkknochige, stattliche Helga Barn in etwas unnatürlicher Haltung. Das eine Achselband ihrer bunten Wirtschaftsschürze war zerrissen, und der rötliche Streifen über der Brust gehörte nicht zu dem Farbton der Schürze.
Der Hund winselte wieder. Er witterte das Blut, und sein neuer Herr zauderte nicht länger.
Ich schob mich vorwärts, war neben dem Mädchen, dessen frischer Teint heute bedrohlich verblaßt war.
„Helga!!“
Sie war nicht bewußtlos, nur unendlich matt, und in den Augen lag ein unbeschreiblicher Ausdruck des Grauens.
„Sind Sie verwundet, Helga? – Was ist geschehen?“
Ich bettete sie bequemer.
„Es … es hat nichts zu bedeuten …“, flüsterte sie … „Ich … war gerade im Stalle bei den Kühen, – – heute, ganz früh … Ich stehe immer als erste auf … Es regnete noch etwas … Es … es war O’Brien, Herr Abelsen, – und sechs Fremde … Ich hörte die Mutter schreien, dann auch Schüsse im Hause … Da … nur eine Schramme am Halse … O’Brien schoß auf mich, ja, er war es … Ich lief in den Garten, und dann versteckte ich mich hier … hier am sogenannten Wikingergrab … Ich konnte …, – – oh, mir wird so … so … schlecht, – – die Angst … die Angst …“
Sie schloß die Augen … Schwieg … – Wenn ich nur irgend etwas Belebendes bei mir gehabt hätte, irgend etwas … Helga war ohnmächtig geworden. Sie glich einer Sterbenden, und doch konnte es sich nur um ein Versagen der Nerven handeln. Diesem Naturkinde machte auch der geringe Blutverlust nichts aus. – Ich zauderte … Sollte ich zum Doktorhause hinüber? Helga konnte hier nichts zustoßen, wenn ich den Hund bei ihr ließ …
„Trasso, lege dich!!“
Er gehorchte, ich hetzte davon, ich hätte einen der Spaziergänger drüben anrufen können, aber diese Dinge waren nichts für die Öffentlichkeit.
Die Hintertür stand weit offen, – ich rief, niemand antwortete, das Haus war leer, ich fand eine Flasche Kognak im Speisezimmer, – plötzlich lautes freudiges Blaffen, und der neue Trasso wedelte mich harmlos an, er hatte seine Aufgabe nicht begriffen und war mir nachgeeilt.
Ich kehrte noch eiliger zurück, zog die Wacholderbüsche auseinander, – der Platz war leer, Helga Barn war verschwunden, und zu allem Überfluß näherte sich jetzt der ahnungslose Kollege Schließer, erklärte sofort, er hätte unbedingt sehen müssen, wenn sich Leute aus der Buschzunge entfernt hätten.
„O’Brien soll es gewesen sein, Abelsen?! Sie bleiben also dabei, daß im Moorkanal diesseits Danneborg ein U-Boot liegt und daß dort die Bande steckt? Noch immer steckt!“
Gerhard Schließer wußte wenig von dem, was ich in diesen vier „stillen“ Tagen nach dem Moorbrand durch Drews unter Ausschaltung Garsons hatte feststellen lassen.
„Veraltete U-Boote zum Abwracken gab es dutzendweise zu kaufen, Schließer. Neuere Typen freilich sind für Privatleute unerreichbar. Aber ein paar alte genügen, und unter uns gesagt: England hat sich da mit seinen Geschäftsmethoden des Marineministeriums selbst die Gleitbahn zum Pfundsturz bauen helfen. Ich habe absolut zuverlässige Nachrichten, daß drei von den zum Abwracken bestimmten Booten in fremde Hände weiterveräußert wurden. Nehmen Sie Ihr Motorrad und depeschieren Sie von der Kreisstadt aus nach London, melden Sie das Geschehene und fordern Sie zwei andere U-Kreuzer an, vielleicht weiß Garson, ob nicht gar eine solche Flottille in der Nähe übt, dick genug war ja sein Aktenbündel, und er selbst mag hier zum Doktorhause kommen. Ob er gesehen wird, ist gleichgültig. Diese Gemeinschaft von wahnwitzigen Aussaugern wäre niemals, wie das Benehmen Hackneys und dieser jetzige zweite Gewaltstreich beweisen, so völlig außer Rand und Band geraten, wenn nicht das Attentat auf uns mißglückt wäre. Wir drei sollten mit in die Tiefe, und Hackneys verschobene schmerzliche Einladung in den Turm hängt aufs engste mit dem scharfen Hüsteln der Gräfin zusammen. – So, jetzt nehmen Sie die Beine in die Hand, Schließer …“
Dieser Platz hier zwischen den Wacholdersäulen lud geradezu zum Träumen ein. Es war ein Fleckchen Erde, das man liebgewinnen konnte. Der Wacholder duftete streng, die Heide duftete mild, das Summen unzähliger Insekten mischte sich in das Säuseln des Windes, und die uralten Steinblöcke mit ihrer Patina von Moos und Flechten rechtfertigten wohl die Sage von einem Wikingergrab, zumal der eine Stein fast senkrecht stand – wie ein Denkstein. Diese Patina war dick und gleichmäßig, – ein wahres Glück, daß noch kein Altertumsforscher seinen wissenschaftlichen Eifer hier betätigt hatte.
Vor dem senkrechten Stein schimmerten, bereits verfärbt, zwei Blutfleckchen. Ich nahm Trassos Nachfolger bei dem neuen Halsband, drückte seine Nase auf Helga Barns einzige deutliche Spur und feuerte den Hund zum Suchen an. So viel hatte ich ihm doch bereits beigebracht: Er verstand mich! Er schnüffelte, winselte, dachte kehrt und begann plötzlich am Rande des flachsten und größten Steines so eifrig zu kratzen, daß Moos und Flechten unter seinen Krallen sich lösten und der rötliche Ton des Gesteins klar zu Tage trat. – Ich zog ihn zurück.
Er hatte mir nur bestätigt, was ich längst geargwöhnt hatte. Erika Ballholm war damals nachts hier in der Nähe verschwunden – genau wie heute Helga Barn. Nur daß Helga fortgeschleppt worden war. Jedoch nicht weit.
Ich band den Hund an die Leine und an die Birke, betrachtete den großen flachen Stein genau, der in der Farbe genau den Klippen unten am Leuchtturm entsprach, und suchte eine Spalte, wo die Finger einen Halt fänden. Aber dieses Stück Fels war glatt und ohne Risse, nur am äußersten Rande nach Westen zu hatte sich in einer erdgefüllten Vertiefung der stärkste der Wacholderbüsche eingenistet, und dort mußte es Risse geben, wo die Wurzeln sich noch tiefer nach unten gedrängt hatten.
Alte Erfahrungen des Weltentramps lebten auf. Die Blicke, die den kräftigen stacheligen Kegel förmlich sezierten, waren darauf gedrillt, mit den Gedanken gleichen Schritt zu halten. – Da waren unten am überfaustdicken Stamm Äste weggeschlagen, die Narben waren längst nachgedunkelt, und der Stamm lag frei und war glatt, als ob er sich es häufiger gefallen ließe, von Menschenhänden umspannt zu werden.
Ich trat hinter den großen Stein, umklammerte das Bäumchen und zog.
Ich erschrak fast, so spielend leicht folgte der schwere Block der Zugkraft.
Drüben war nun ein Loch freigelegt worden, und für alle Fälle nahm ich meinen Gewehrstock zur Hand, damit nicht noch im letzten Augenblick eine blindwütige Kugel mir diesen Erfolg zunichte machte.
So ein wenig Jagdfieber hatte ich schon vordem verspürt. Jetzt, wo ich so seltsame Geräusche zu hören bekam, preßte ich die Lippen fester aufeinander.
Das Loch lief schräg in die Tiefe und erweiterte sich schnell. Ich rutschte hinab, kam auf die Füße zu stehen und sah vor mir eine matte Lampe glühen …
Elektrisches Licht …
Dort war auch die Leitung zu sehen, sie kam aus einer Gesteinspalte hervor, man stahl hier elektrischen Strom der Überlandzentrale wahrscheinlich von einem der nahen Masten der Leitung zum Doktorhause. Sanitätsrat Johannsens Monatsrechnung für Stromverbrauch mußte sehr hoch sein …
Das Surren und Klappern einer Maschine, die hier irgendwo in Tätigkeit war, wurde mit jedem Schritt lauter. Ich kam um eine Biegung, und vor mir lag eine mittelgroße Höhle, in der zahllose Lampen brannten und eine sicherlich ganz neue Banknotenpresse arbeitete.
Ich stierte wie gebannt auf dieses Wunderwerk der Technik, das ohne Unterlaß und mit unerschütterlicher Ruhe ohne jede menschliche Handreichung von einem Stapel Banknotenpapier die noch leeren Blätter unter die Presse schob und bedrucktes Papier – Falschstücke – wieder genau so aufschichtete.
Ich trat noch näher …
Ich sah, es waren Tausendpfundnoten.
Aber der Stapel der fertigen Falsifikate war erst klein, die Maschine, die man nur zerlegt hier nach unten geschafft haben konnte, beeilte sich nicht.
Ich blickte mich um.
Da waren Tische, Wandregale mit Flaschen, Farbbüchsen, Papier, feine Stahlbürsten.
Jedoch nirgends ein Mensch.
Dann erspähte ich auf einem plumpen Holzstuhl einen leichten, dunkelgrünen Filzhut.
Die graue Gräfin suchte etwas darin, stets recht einfach gekleidet zu gehen, und der Hut gehörte ihr, sie hatte ihn heute in der Bar aufgehabt.
Dann vernahm ich einen leisen Schrei. Durch aufeinandergestellte Holzkisten war in einer Ecke ein primitives Bretterbett (mit sehr feiner Wäsche allerdings) verdeckt gewesen. Dort lag Helga Barn, den Kopf in die Hand gestützt, und blickte mich fragend an.
„Wo bin ich, Herr Abelsen?“
Ich hätte antworten müssen: „In Erika Ballholms geheimer Werkstatt“, aber das hätte das Mädchen nicht verstanden. Außerdem hörte ich jetzt auch meinen Hund droben grimmig bellen und erklärte Helga, ich würde sofort zurückkehren … Ich stürmte ins Freie, – daß ich die Gräfin nicht mehr erwischen würde, wußte ich, mir lag auch nichts allzuviel daran, ich wollte nur den Hund beruhigen, damit er nicht Fremde herbeilockte und nahm ihn und die Flasche Kognak dann mit nach unten und schob den auf Eisenrollen laufenden Stein wieder zu.
Helga Barn trank ohne Ziererei aus der Flasche.
„Herr Abelsen, was bedeutet das alles?! Haben Sie mich hier in die Wikingergruft hinabgetragen?“
Sie saß aufrecht und strich sich das Haar aus der Stirn.
Der neue Chef der Abteilung 2 B überlegte kurz. Er war aus dem Abseits gekommen und in ein anderes Abseits hineingetappt, aber der klare Sinn der Halbwilden, frei von Aktenstaub, Rücksichten und gewissen Hemmungen, hatte die Fäden gefunden, die er finden sollte.
Die Druckpresse klapperte weiter … Das Mädchen Barn horchte. „Was ist das?! Wer hat all diese Sachen hier hinabgeschafft? Mutter und ich haben doch dem Doktor feierlich versprechen müssen, sein Geheimnis zu hüten. Er war so stolz auf seine Entdeckung. Er kennt diese Gruft schon viele Jahre, sie war – – sein Steckenpferd, die Beleuchtung hat er angelegt, und unser Stromverbrauch …“
„Schon gut, Helga … – Gönnen Sie mir etwas Zeit zum Nachdenken …“
„Bitte …“ Sie stand auf und verließ den Verschlag und blieb mit hängenden Armen und vorgestrecktem Kopf stehen. Sie schauspielerte nicht, sie hatte nichts von dieser Fälscherwerkstatt gewußt, die mit Wissen und Willen Doktor Johannsens von Erika Ballholm und der Gräfin eingerichtet worden war.
Ich ging zu dem einen Regal und besichtigte die dort aufgestapelten, sauber in weichen Wollstoff eingewickelten anderen Druckplatten für deutsche, französische, italienische und schweizer Banknoten. – Ich konnte zu alledem nur den Kopf schütteln.
Als ich mich umdrehte, starrte Helga mich leichenblaß an.
„Mein Gott, – der Doktor ein Fälscher, Herr Abelsen!!“
„Nein, mein Kind, – die Dinge liegen doch etwas anders … Ich kann Ihnen das heute noch nicht auseinandersetzen, Sie sind ja halb eingeweiht, O’Brien mag der eine der Hauptschuldigen sein.“
„Und wo sind Mutter und der Doktor?“, fragte sie schnell.
Ich konnte ihr die Wahrheit nicht verhehlen. Dieses Mädchen würde auch den Schlag verwinden.
„Entführt, Helga, – leider entführt … Mit Gewalt weggeschleppt und zur Zeit in Händen O’Briens. Aber er wird ihnen nichts antun, Helga, es sei denn, daß …“ – ich zögerte nun doch – „daß der Doktor sich zwingen ließe, dieses sein Wikingergeheimnis preiszugeben.“
„Der Doktor – – sich zwingen lassen?!“ Helga warf den Kopf zurück. „Niemals! Und Mutter erst recht nicht!“
„Ja, das glaube ich schon, Helga. Und dann besteht keine Gefahr, zumal wir die ganze Bande in den nächsten Tagen fangen werden …“
Ich ging und schaltete die Druckpresse ab. Das ewige Klappern und Surren peinigten mich.
„Helga, hat diese Höhle noch irgend eine Fortsetzung, eine Abzweigung?“, wandte ich mich dem Mädchen wieder zu.
„Bestimmt nicht, Herr Abelsen.“ Sie war wieder vollkommen ruhig geworden. „Nur dort in der Ecke findet man zahlreiche handbreite Spalten, und der Doktor behauptete stets, diese Risse ständen mit einem anderen, nicht erreichbaren Höhlenraum in Verbindung.“
Ich nickte nur. „Riechen Sie etwas, Helga?“
„Ja, es riecht nach Rauch …“ – Sie schritt ganz von selbst in die durch viele Felszacken verengerte Ecke hinein, wo die Risse sich befinden sollten. Ich folgte ihr und rieb ein Zündholz an. Der Qualmgeruch war hier noch weit stärker, und obwohl die aus den Spalten hervorquellenden brenzlichen Dünste als Rauch nicht sichtbar waren, genügte doch eine sehr einfache Probe, den unumstößlichen Beweis zu erbringen, daß das Wikingergrab hier mit den schwelenden Teilen des Torfmoores, die doch fast eine halbe Meile entfernt waren, in Verbindung stand. Ich drückte das Gesicht vor eine der finsteren Öffnungen, und ich spürte den Rauch noch stärker. Das Zündholz, das ich dann vor dieselbe Spalte hielt, erlosch sofort, indem eine spitze Flammenzunge des Hölzchens sich nach mir hinbog, – also wirklich Zugluft.
Dies stimmte mich noch nachdenklicher.
Wir stiegen dann wieder an die Oberwelt empor, und auf dem Wege zum Doktorhaus schnitt ich eine Frage an, der Helga Barn zunächst mit einem ablehnenden: „Habe ich wirklich von den Papieren meines Vaters gesprochen?!“ auszuweichen suchte.
„Vergessen Sie nicht, daß es um Ihre Mutter jetzt geht“, sagte ich mahnend, als wir bereits den Garten durchschritten. „Was enthielten die Aufzeichnungen Ihres Vaters so besonderes? Ich weiß, er war in jüngeren Jahren auch Taucher, und er soll, als der Leuchtturm von Hangerupp gebaut wurde, die Klippen untersucht haben, auf denen der Turm heute steht.“
Das Mädchen blieb stehen und schaute mich fest an. „Ihre Worte machen fast den Eindruck, Herr Abelsen, als hätten Sie Vaters vergilbte Blätter gelesen. Wie kommen Sie gerade auf den Turm?! Gerade auf Vaters Tauchertätigkeit?“
„Weil ich etwas ganz Bestimmtes vermute, Helga.“
Ich beugte mich vor und flüsterte ihr ein paar Sätze ins Ohr, fügte dann schnell hinzu, als sie zurückschrak und sehr rot wurde: „Sie brauchen mir nichts zu bestätigen, nur – – schweigen Sie unbedingt!“
„Das tue ich!“
Jack Garson erschien in der Hintertür des Hauses und rief uns etwas gereizt entgegen: „Wo stecken Sie denn, Abelsen?! Ich war schon sehr in Sorge Ihretwegen …“
„Unnötig, Garson … Fräulein Helga hatte sich in verständlicher Angst in das Gebüsch drüben geschleppt, und – –, nicht wahr, Helga, Sie fühlen sich jetzt wieder ganz kräftig …“
Der Polizeiinspektor, der bisher lediglich im Londoner Hafen Flußpiraten nachgejagt war, hatte offenbar etwas ganz anderes auf dem Herzen … „Daß es Miß Barn gut geht, sehe ich“, meinte er merkwürdig erregt. „Abelsen, soeben traf ich einen der Leute, die noch immer den Moorbrand bewachen, und der Mann wollte wie ein Blitz auf seinem Rade an mir vorüber. Er war ganz schwarz im Gesicht, und …“
„Was teilte er Ihnen mit?“
Garsons langatmige Reden waren eine Qual für meine augenblickliche Stimmung. Ich hatte wirklich an Wichtigeres zu denken als an irgend eine wahrscheinlich übertriebene Botschaft von einer stärkeren Ausbreitung der unterirdischen Feuer.
„Man hat in der zusammengestürzten, ausgebrannten Schloßruine Klopfen und dumpfe Töne gehört“, platzte Garson heraus. „Es müssen da noch Menschen in den Kellern stecken, Kerle von O’Briens Bande, die angeblichen Torfarbeiter …“
Helga meinte geringschätzig: „Das werden sicherlich ein paar Badegäste gehört haben wollen! In den Kellern?! Das ist doch unmöglich … Wir haben heute den fünften Tag nach der Brandnacht, da hätten die Leute sich längst gemeldet.“
Garson wurde wütend. „Badegäste?!“, schrie er. „Ein paar hysterische Frauenzimmer oder dergleichen würden mich kaum aufregen. Der Radler, den ich traf, war ein Kollege des Kellners Drews und ein hier seit Wochen heimlich stationierter Beamter! Er alarmiert jetzt das Dorf … Man muß den Verschütteten zu Hilfe kommen, schon deshalb, weil wir die Burschen als Zeugen und Angeklagte gern in Nummer sicher hätten! – – Hallo, Abelsen, – – wo rennen Sie denn hin?!“
Die Frage war überflüssig. Ich rannte nach dem Pferdestall, ich hatte den besten der Gäule in wenigen Minuten gesattelt, und Helga und Garson taten wortlos dasselbe, blieben aber weit hinter mir zurück, obwohl das schneidige Mädel ohne Sattel, nur mit Trense sich begnügte. Die Neugierigen, die mich vorüberrasen sahen, stierten mir mit offenem Munde nach. Einige brüllten mir etwas zu … Dann kam die Brandruine in Sicht … Etwa dreißig sonntäglich gekleidete Müßiggänger standen vor dem Haupteingang, – ich sprang ab, warf einem der feinen Herren die Zügel zu, und kletterte über die Trümmer in die Keller hinab … Ich hörte tatsächlich Klopfen und Rufen, und dann stand ich in einem der nordwestlichen Kellerräume in dickstem Rauch drei Leuten der Brandwache gegenüber. Sie kannten mich. Sie suchten mit Hacken und Eisenstangen die verkohlten Reste der eingestürzten Decke zu beseitigen, wichen jedoch immer wieder zurück, da aus dem schwarzen Gebälk und den verräucherten Steinblöcken stoßweise gelblicher Qualm in dicken Strahlen hervorschoß.
„Hier irgendwo wurde noch vor fünf Minuten geklopft und gerufen, Herr“, versicherte einer der Leute. „Jetzt ist alles still geworden …“
Eine fürchterliche Gewißheit machte mir den Herzschlag stocken.
Der gelbweiße Rauch war kennzeichnend für einen unterirdischen Moorbrand, daß es für diese Qualmsäulen nur eine Erklärung gab: Unterhalb dieses Kellers mußte eine ähnliche Grotte liegen, wie das Wikingergrab Doktor Johannsens, und das brennende Torfmoor hatte sich mit seiner Glut bis an diese Grotte vorgearbeitet und die Höhle mit Rauch gefüllt, und da erst hatten die Eingeschlossenen ihre Notsignale gegeben.
„Schlagt überall die Kellerfenster ein, damit Zugluft entsteht!“, – die Leute gehorchten, und der Rauch zog sofort ab. Auch der hervorquellende Qualm belästigte uns nicht mehr so arg.
Wir räumten die Trümmer weg …
Endlose Minuten verstrichen…
Garson und Helga waren erschienen und packten mit zu.
Der Fliesenboden des Kellergelasses lag frei.
Ich zog die Jacke aus und fegte den Boden sauber. Es mußte hier eine Falltür geben … Der gelbe Rauch kam an acht Stellen aus den Ritzen zwischen den brüchigen Ziegeln.
„Die Axt her, Helga …!“
Ich glaubte, die Umrisse der Falltür entdeckt zu haben …
Zwei wuchtige Hiebe mit der stumpfen Seite, und ein zackiges Loch entstand, – die Ziegel stürzten in die Tiefe …
Noch zwei Hiebe …
Eine dicke Rauchwolke schoß empor …
Wir wichen zurück …
Keiner sah den anderen mehr …
Wir begaben uns in den Kellergang …
Draußen bimmelte überflüssigerweise die Dorfspritze …
Ich nahm Helga bei Seite.
„Mädchen, reiten Sie nach dem Wikingergrab und öffnen Sie oben die Platte, – reiten Sie wie der Teufel, vielleicht zieht dann der Rauch ab … Aber – – Mund halten!!“
Der Kommandeur der freiwilligen Dorffeuerwehr kam heranstolziert. Ich will dem Herrn nicht zunahetreten, – aber die Uniform war ihm wohl die Hauptsache.
„Besitzen Sie Rauchmasken?“, schnitt ich all seine Fragen ab …
„Ja, eine, – – etwas veraltet … Aber ich …“
„Holen Sie sie, – – laufen Sie gefälligst!“
Er lief wirklich.
Was er Rauchmaske nannte, war so etwa das erste Modell dieser Art.
Trotzdem …
„Seilen Sie mich an!“
Ich zog das vorsintflutliche Ding über den Kopf.
Garson warnte mich. Ich schob ihn bei Seite.
„Eine Laterne her!“
Auch das dauerte wieder kostbare Minuten.
Der Kellerraum war voller Dämpfe. Ich tappte vorwärts, ich stolperte, fühlte nur mit dem Fuße nach dem Loche und trat … in ein menschliches Gesicht.
Ein Windstoß lüftete den Qualm etwas. In dem zackigen Quadrat der Falltür stand ein Mensch, der ein langes Glasrohr im Munde hielt … Der Mann sah wie ein ungewaschener, unrasierter Bandit aus. Sein blonder Bart und seine Haarsträhnen waren verfilzt.
Ich riß die Maske hoch …
„Wer sind Sie?“ – Ich hustete … Ich sprach absichtlich leise …
Eine neue Qualmwolke folgte …
Er nannte einen Namen …
Ich hatte nichts anderes erwartet …
Ich packte ihn, zog ihn empor …
„Kriechen Sie durch das Fenster zwischen den Brandtrümmern des Daches und bleiben Sie dort. Es hängt sehr viel davon ab, daß man Sie für tot hält …“
Vor dem einen Kellerfenster lag ein förmlicher Verhau von Dachbalken und Mauerresten.
Der Mann mit dem langen Glasrohr war nicht begriffsstutzig. Im Nu war er in das sichere Versteck geschlüpft.
Die anderen draußen im Kellergang konnten nichts bemerkt haben, ich selbst sah kaum die Hand vor Augen. Ich hatte die Rauchmaske wieder herabgedrückt, ich tappte in das Loch hinein, fand eine Treppenstufe und wagte mich tiefer …
Garson, der oben das Seil hielt, das mir um die Brust geschlungen war, ruckte daran …
Ich ruckte zurück … Vorläufig war alles in Ordnung. Die Rauchmaske war besser, als ich zu hoffen gewagt hatte. Sehen konnte ich nichts. Nun stand ich am Fuße einer Steintreppe, meine Stiefelspitze berührte abermals ein Menschengesicht.
Dann kam eine seltsame Unruhe in die umwogenden Qualmschwaden … Sie wurden dünner, lichter, und sehr bald konnte ich den Rauchschutz abnehmen.
Ich taumelte zurück …
Vor mir lagen ein Dutzend Männer, kreuz und quer übereinander, – in den entsetzlichsten Stellungen, in den gräßlichsten Verrenkungen …
„Garson – – hierher!! Alle Mann hierher …!!“
… Aber die meisten Hangerupper Hilfskräfte waren an derlei Bilder nicht gewöhnt.
Achtung vor einigen Badegästen! Achtung auch vor Professor Hackney, der sich „zufällig“ eingefunden hatte, weil er die Feuerwehr nach dem Torfmoor fahren sah – – mit dem Fernglas …
Es war zweifellos ein sehr gutes Glas gewesen …
Der alte Hackney war der eifrigste …
Als die zwölf Torfarbeiter draußen im Sonnenschein im Heidegras lagen, als ein als Kurgast anwesender Arzt erklärte, daß hier nichts mehr zu retten und zu hoffen sei, hörte Stuart Hackney andächtig zu.
Garson flüsterte mir voller Ingrimm ins Ohr: „Er atmet erleichtert auf, der Schuft! Tote sind stumm.“
Trotzdem wurden noch Wiederbelebungsversuche angestellt.
Hackney hatte sich plötzlich im Kreise der Neugierigen verloren. Ich paßte scharf auf … Er schlich um die Ruine herum, und ich ließ ihm vier Minuten Vorsprung.
„Garson, kommen Sie mit!“
„Weiß Bescheid, Abelsen … Hier ist eine zweite Laterne.“
Als wir durch die zertrümmerte Falltür in den jetzt ziemlich rauchfreien Höhlenraum leise hinabgestiegen waren, sahen wir sofort rechts von uns den grellen Schein einer Karbidlaterne und eine gebückte Männergestalt.
Wir traten schnell zur Seite ins Dunkle und beobachteten weiter.
Es war Stuart Hackney … Er suchte etwas.
Ich wußte, was …
Er suchte zwischen leeren Kisten und primitiven Holzbetten, er leuchtete unter die Betten, hüstelte, stand still und starrte dorthin, wo im Nordteil dieser Höhle aus den Rissen und Spalten der Gesteinwand Rauch und vereinzelte Flammenzungen hervorschossen.
Der Rauch zog träge nach Westen ab, lagerte dick und hin- und herwogend unter der Felsendecke und füllte jetzt jedenfalls das ferne Wikingergrab mit seinen giftigen Dünsten.
Hackney schlich behutsam vorwärts, blieb wieder stehen und war offenbar über die Abzugskanäle des Rauches sehr erstaunt.
Ich zupfte Garson am Ärmel. „Schnell wieder nach oben …!“
„Allerdings, der Beweis genügt, der Alte kennt die Grotte“, flüsterte der Inspektor zurück.
Oben empfing uns der Arzt mit einer Mitteilung – er hatte uns abseits gewinkt – daß die Toten sämtlich Schußverletzungen hätten.
„… Zumeist Herzschüsse mit geringer Blutung nach außen“, erläuterte er.
Garson kniff die Augen ganz klein. „Das verstehe ich nicht. Schüsse?! Kugeln?!“
Es gibt Gelegenheiten, wo die Lüge zur Notwendigkeit wird.
„Die Leute werden gegeneinander gekämpft haben, als sie die Gefahr merkten. Jeder wollte der erste an der Falltür sein …“
„Möglich!“, sagte der Arzt.
Jack Garson schwieg.
„Reiten wir zurück“, schlug ich vor.
Garson blickte mich lange an …
„Gut, reiten wir …“
Wir trabten davon, und erst nach einer Weile fragte der sehr nachdenkliche Inspektor: „Welchen Auftrag erteilten Sie Helga Barn? – Ich glaube, Abelsen, Sie verbergen mir etwas.“
„Sehr vieles, lieber Garson. Damit müssen Sie sich schon abfinden. Ich bin Chef der Abteilung 2 B.“
„Allerdings …“ Das klang etwas unfreundlich …
Ich wollte Garson nicht verletzen. „Sie müssen mir meine Heimlichkeiten nicht weiter übelnehmen. Vergessen Sie nie, daß ich in Ihrem Beruf vollkommen Außenseiter bin. Ohne die unumschränkten Vollmachten hätte ich diesen Auftrag nie angenommen und mein bisheriges Leben nie aufgegeben. Sie, lieber Garson, wissen ja gar nicht, was Freiheit heißt … Schauen Sie einmal nach Norden: Heide, nichts als Heide, kein Baumgehöft, keine aufdringliche Spur von Bewohntsein, – freie Weite, durch nichts beengt, – das war meine Heimat viele Jahre in anderen Erdteilen, in anderem Klima, und – – das war wundervoll, Garson! Es war mein Abseits, und das, das ich dagegen eintauschte, – – bitte, drehen Sie den Kopf nach links, war ein Kulturland mit sauberen Häuschen, mit Masten elektrischer Starkstromleitung, mit all dem vielfachen Drum und Dran der Zivilisation, unter deren dünner Deckschicht menschliche Leidenschaften, Irrwege, finstere Gewalten genau so brodeln wie in den Herzen der Wilden oder Halbwilden … In dem einen Punkte, Garson, bleibt die Welt und die Menschheit sich überall gleich, nur die Umgebung, die Lebensbedingungen sind andere und – das müssen Sie zugeben – wirken versöhnlicher, verwischen die grellen Kontraste von Licht und Schatten. Der primitive Bewohner der Wildnis hat für seine Gewalttaten stets eine Entschuldigung, einen Milderungsgrund ins Feld zu führen: Eben seine Primitivität! Was könnte dagegen ein so hochintelligenter Mensch wie Stuart Hackney zu seiner Verteidigung vorbringen? Nichts!! Gar nichts!! Er ist eine raffinierte Bestie mit den Unschuldsaugen eines Engels, er will die Staaten Europas in eine ungeheure Katastrophe stürzen, will das Wirtschaftsleben ruinieren und damit auch ungezählte Existenzen vernichten. Er hat bereits Menschenleben kaltblütig ausgetilgt … Denken Sie an das Dutzend verkrümmter Leiber dort hinter uns: Es waren schlichte Arbeiter, vielleicht irgendwie bemakelt, und O’Brien schickte sie zweifellos auf Hackneys Befehl in das Höhlenversteck, zweifellos wußte Hackney, daß sie ersticken würden, – er wollte es, und daß ein anderer dem Dutzend dort das Sterben erleichterte, war nur ein kleiner Rechenfehler Stuart Hackneys. Sehen Sie, Garson, – Sie und mich trennt anschaulich ein scharfer Schnitt. Sie können sich gar nicht mehr freimachen von unbewußten Hemmungen, ihr alle könnt es nicht … Gut, dieser Kampf gegen eine Gemeinschaft von halben Narren und kaltblütigen Mördern ist auch etwas Abseitiges. Wäre dem nicht so, ich hätte euch den ganzen Kram längst vor die Füße geworfen. Aber hier sind nun einmal verworrene Schicksalsfäden von Menschen, die ich eurer Paragraphenbesessenheit entziehen möchte, mit hineingewoben, und auch aus dem Grunde versinkt für mich die Umwelt brüchiger Kultur, und ich handele nach den Grundsätzen, die die Freiheit mich lehrte. Deshalb schweige ich. Im übrigen sollt ihr mit mir zufrieden sein.“
Ich hatte mich in jene – man könnte sagen – dürstende Erregung – hineingesprochen, die nun irgendwie ein Ventil suchte … Ich gab dem Gaul die Absätze, er sprang zum Galopp an, und in diesem tollen Jagen kühlte sich mein Blut wieder ab …
Jack Garson war weit zurückgeblieben … Das Doktorhaus tauchte auf mit dem freundlichen Wäldchen, – jenseits der Baumkronen stieg eine dicke Qualmwolke empor, und voller Unruhe raste ich weiter auf das Wikingergrab zu.
Helga Barn stand neben einem qualmenden Berge Unkraut, – ich atmete auf …
Schlaues Mädel! – Daß sie Unkraut auf dem Gelände des Doktors verbrannte, daran konnte niemand etwas aussetzen … Daß dieser dicke Qualm und diese toten Pflanzen den aus dem Zugang zum Wikingergrabe hervorströmenden Rauch verdeckten und verheimlichten, – auch der straffe Gerhard Schließer, der dort mit seinem Motorrad Helga Gesellschaft leistete, ahnte nichts …
Helga hatte eine lange eiserne Harke in den Händen, und ihre vielleicht etwas derbe, kraftstrotzende Schönheit fiel selbst mir heute zum ersten Male auf.
„Hallo, Abelsen, – wie steht es dort drüben?“, rief Schließer mir entgegen. „Ich traf ein paar gänzlich verstörte Badegäste … Sind die Leute wirklich tot?“
„Ja …“
Ich nickte Helga unmerklich zu.
„Sie werden sich wohl selbst um die Dinge kümmern müssen, Schließer … Die Leute haben in ihrer Todesangst einander bekämpft – – mit Pistolen, nehme ich an … Es gibt Arbeit für Sie, und …“
Garson hielt auf keuchendem Pferde neben mir.
„Stimmt, – sehr viel Arbeit …“, meinte er merkwürdig gelassen.
Der Landjäger Schließer verabschiedete sich und radelte davon.
Jack Garson betrachtete erst mich, dann das Mädchen, dann den zwischen den Wacholderstauden schwelenden Unkrautberg. „Ich könnte vieles fragen,“ sagte er bedächtig. „Da Sie jedoch die Verantwortung tragen, Abelsen, begnüge ich mich ganz bescheiden mit dem Hinweis, daß der Professor wahrscheinlich ebenso erstaunt war wie ich, weil der Rauch gen Westen abzog …“
Er lächelte etwas, machte kehrt und führte seinen Gaul zum Stall des Doktorhauses.
Helga blickte verträumt der knatternden Maschine Schließers nach.
„Wir wollen den Stein wieder vorschieben, Helga … Sie haben sich sehr geschickt benommen. Ich danke Ihnen.“
Das Mädchen drehte den Kopf, und ihr Gesichtsausdruck änderte sich.
„Ich war unten, bevor ich das Unkraut anzündete, Herr Abelsen. „Die Druckplatten, das Papier und die Scheine sind verschwunden … Auch die Farbbüchsen und die Flaschen …“
„Die Gräfin natürlich … Wer sonst?!“
Helga Barn lachte gequält. „Ich wünschte, ich verstünde von alledem nur einen Deut …“ Ein bitterer Zug trat um ihren Mund. „Und Mutter – – und der Doktor?!“
„Ich beruhigte Sie ja bereits, Helga. Keine Sorge! In diesem Stadium der Angelegenheit unternehmen die Burschen nichts Gefährliches mehr. – Löschen Sie den Unkrauthaufen, schließen Sie die Felsplatte, ich habe anderes vor.“
Ich gab ihr die Hand. Sie war mir eine wertvolle Verbündete, und nebenher bedauerte ich dieses Nordmarkkind. Sie hatte ihr Herz an einen Mann verloren, der eine andere liebte, eine schlanke, rassige, kühne Kämpferin für die Aufklärung des Todes oder des Verbleibs ihres Gatten … Erika Ballholm war für mich ein offenes Buch geworden, die Siegel waren gesprengt, und ich las in diesem Buche eine Tragödie, von der nur noch der Schlußakt fehlte.
Ich wandte mich dem Dorfe zu. Ich hoffte Garson zu begegnen, ich wollte auch die graue Gräfin finden, sie mußte jetzt sprechen, sie konnte nichts mehr ableugnen, – desto größer war mein Schreck, als Kellner Drews, der vor dem Strandhotel stand, mir zuflüsterte, daß die Frau Gräfin Stettendonk vor einer halben Stunde allein im Ruderboot zum Leuchtturm gefahren und daß Inspektor Garson vor fünf Minuten gleichfalls allein zur Bucht hinausgerudert sei.
„Fragte er Sie nach der Gräfin, Drews?“
„Ja …“
„Schnell, – holen Sie mir den Schlüssel zum Motorboot des Hotels und nehmen Sie den Hund mit auf mein Zimmer …“
Drews sah wohl etwas ganz Besonderes in meinen Augen.
„Fürchten Sie für die beiden, Herr Abelsen?“
„Leider … Beeilen Sie sich …“
Das Motorboot verließ den weißen Steg und glitt ins offene Meer hinaus. – Es war gerade wieder Ebbe, und die rötlichen Klippen, auf denen der Leuchtturm von Hangerupp sich erhob, lagen frei. Ich näherte mich … Nirgends war ein Boot zu sehen, die See war recht bewegt, an der Nordseite der Klippen brandeten hohe Wogen.
Dann erspähte ich im Wasser ein treibendes Stück Holz, ein gebogenes Brett, innen lackiert, außen gestrichen … In weißen Buchstaben stand darauf: H 12.
Es war eine Planke eines der Ruderboote aus Hangerupp.
Ich durchschaute das Teufelsspiel …
Selbst die schwimmende Baumkrone dort konnte mich nicht narren …
Eine Baumkrone, die so auffällig gegen die Strömung seitwärts treibt, seitwärts auf mich zu, mußte Verdacht erregen. Mein Motorboot wich aus, wendete, und ich bemerkte zwischen den Zweigen und nassen Blättern einen dicken Streifen, grünblau in Mimikrifarben bepinselt …
Ich war jetzt hinter dem U-Boot, und etwas wie eine rachsüchtige Freude packte mich. Der Gewehrstock lag neben mir. Im Nu war ich schußbereit, das matte Blinken der Linsen des Sehrohres lockte, und Schuß auf Schuß gab ich ab, wollte zum fünften Male abdrücken, als mein Motorboot einen Stoß von unten erhielt, der es kentern ließ. Ich flog ins Wasser, das Boot sackte weg, und wenn es je um mein bischen Leben gegangen war: Jetzt bestimmt!!
Ich schwamm im Zickzack, ich gab das Letzte an Kräften her, ich wollte mich nicht wie eine Katze ersäufen lassen, und – – der Wille ist alles … Ich blickte nur nach den Klippen hinüber, schätzte die Entfernung, schätzte meine Muskeln, – – noch hundert Meter – – noch achtzig … fünfzig, – – und dann rechts von mir ein dunkler Schatten im Wellental, – – ein Stoß traf meinen rechten Schenkel, – – der wahnwitzige Schmerz wollte mir die Besinnung rauben, – – ich versank …
Aber Minuten später lag da unter angetriebenem Seetang in einer Mulde der Klippen ein keuchender, atemloser Mann, dem die Sinne immer wieder zu schwinden drohten, dem Funkenregen völliger Erschöpfung vor den geschlossenen Augen aufsprühten und dessen einziger Wunsch war: Bei Bewußtsein bleiben, – – nur jetzt nicht versagen nach dieser unmöglichen Schwimmtour unter Wasser, – – sollte der Feind auch über mich triumphieren?!
Niemals!!
… Der Wille tut alles …
Ruhiger atmen … An anderes denken … Sich einreden, daß man sorgenfrei, unverletzt nur durch böse Träume gepeinigt wird.
An anderes denken … An den Mann mit dem langen Glasrohr, der doch abends auf mich wartet in seinem Versteck von Brandtrümmern …
An Erika Ballholm denken, – – hat diese Frau nicht Heroisches geleistet?! … Denke doch daran, wie sie an Bord des Schoners Danmarket kam, wie sie das Päckchen mit den Tausendpfundnoten, von denen nur die äußeren Scheine des Bündels echt waren, und ihre Papiere dir wieder abnahm und davonschwamm …
Behutsam häufte ich noch mehr der Algen und Tangstauden über mich …
Es war jetzt dem Stande der Sonne nach fünf Uhr nachmittags.
Wenn es nur das gewesen wäre, daß ich des gelähmten Beines wegen zum Stilliegen verurteilt war! Wenn es nur dabei geblieben wäre, daß Stuart Hackney nach einer knappen halben Stunde zurückkehrte, sein kleines Motorboot in den Turm zog und die Eisentür donnernd zuwarf und seine Verrichtungen mit zahllosen Flüchen begleitete, während sein Gesicht und seine Augen noch fremder als heute vormittag schienen! Und wenn es dabei sein Bewenden gehabt hätte, daß er sehr bald droben auf dem umlaufenden Eisenbalkon der Turmkappe auftauchte und mit dem Fernglas sowohl das Meer, den Strand als auch besonders die Klippen musterte, als suche er eine verlorengegangene Stecknadel! – Ich hatte mich auf die gesunde Seite gedreht, unter barbarischen Schmerzen hielt ich es aus und schielte mit einem Auge zu ihm nach oben …
Er suchte mich, nur mich. Er suchte weder die graue Gräfin noch Garson, die waren entweder tot oder in allzu sicherer Obhut. Mich suchte er, und wenn der Haufen Seetang ihm irgendwie auffallen sollte, würde irgend etwas von ungefähr auf mich herabsausen und mich zerquetschen, und …
Ja … und …
Dann stockten meine Gedanken eben, denn dann kam die größte, ärgste Gefahr, die auch nicht ausblieb, wenn dieser Teufel mich nicht bemerkte, dann würde eben die Ebbe vorübersein und die Flut steigen und die Klippen überspülen, und der fast zum Sturm angewachsene Nordwind würde den Turm viele Meter hoch in weißen Gisch hüllen, und dieses Gisch würde mein Leichentuch sein.
So würde es kommen, ganz naturgemäß, und die bittere, grausame Ironie dabei war, daß dieselbe Natur, die ich so sehr liebte, durch ihre zwangsläufige Erscheinung von Ebbe und Flut mich nun doch ersäufen würde wie … wie einen angeschweißten Fuchs, der sich im Frühjahr auf eine schwimmende Eisscholle gerettet hat und ebenfalls ohnmächtig sich der Tatsache gegenübersieht, daß diese Scholle von der Sonne und dem warmen Wasser immer mehr zermürbt wird.
Sollte Stuart Hackney doch noch siegen …?! War es nicht wider alle göttliche Gerechtigkeit, daß dieser wahnwitzige Führer einer Rotte von Tollhäuslern doch noch entwischen sollte?! – Was denke ich da, – – entwischen nur?! Nein, einen höllischen Triumph feiern über die, die ihn eingekreist hatten!!
Das war das ärgste!!
Die Gräfin, Garson, Frau Barn, Doktor Johannsen und ich waren … lahmgelegt. Wer blieb noch? – Es blieben noch Helga Barn, Schließer, der Krüppel Tim Kröger, der Kellner Drews und ein paar verkleidete andere deutsche Beamte, die Hackney zweifellos alle als Feinde kannte. Wie lange noch als Feinde? Wahrscheinlich sehr bald als Ziffern, die er ebenfalls bald aus seiner Rechnung streichen konnte: Erledigte Posten!
Er war nicht nur klug, intelligent, raffiniert, ohne Gewissen, – er war all das in der hundertsten Potenz! Er hatte an meine Hautflechte nie geglaubt, nicht eine Sekunde, meine Sicherheitsmaßregel mit den Handschuhen war für ihn nur Anlaß zu heimlichem Spott. Und als ihm der Trick mit dem Glasbehälter und dem Teufelsfisch mißglückte, hatte er trotzdem gesiegt: Er ließ sich von seinen Spießgesellen niederschlagen, und als wir nachher den verfänglichen Tisch untersucht hatten, während Hackney als Patient bei Schließer sich ausruhte, fanden wir natürlich nichts Verdächtiges mehr, gar nichts, und der Tisch war ein plumpes, harmloses Ding mit vielen Ziernägeln – weiter nichts!
Er war höllisch schlau, dieser weißbärtige Gelehrte, der doch zweifellos seit Jahren diesen Feldzug im Verein mit ebenso intelligenten Köpfen vorbereitet hatte. Vielleicht hatte er als erster Mißtrauen gegen die Baronin Ballholm gehegt und als sehr eigenmächtiger Charakter, der sich um die Ansichten seiner Freunde überhaupt nicht kümmerte, diese Frau damals schon beseitigen wollen, als meine Kugel ihn von der Zinne des Schlosses Danneborg verscheucht hatte. Wodurch es nachher Erika Ballholm gelungen war, diesen Verdacht zu zerstreuen, wenigstens fürs erste, reimte ich mir ebenfalls so ungefähr zusammen …
Dies etwa mögen meine letzten Gedanken gewesen sein, bevor die tiefe Erschöpfung, die nagenden Schmerzen und die heiße, stickige Luft unter meiner Pflanzendecke mich einschlummern ließen.
Plötzlich fuhr ich empor. Jemand hatte mich gerüttelt, hatte noch immer seine Hand in meine Schulter gekrallt und sagte mit überlauter Stimme, die mir direkt ins Ohr gellte:
„Sie werden hier ertrinken, Mr. Müller, es ist inzwischen Nacht geworden, die Flut steigt immer mehr, der Sturm wächst, und oben bei mir ist es behaglicher.“
Es war der alte Stuart Hackney. Ich erkannte ihn nicht, dazu war es zu dunkel, ich erkannte nur seine Stimme, die mich durch den bekannten sanften Ton verhöhnte. Ich wurde im Augenblick völlig munter, ich wußte, was mir bevorstand, der greise Verbrecher lachte gutmütig: „Ihre beiden Pistolen habe ich an mich genommen … Die Waffen würden Sie nur belästigen, Sie sind etwas krank und matt, ich helfe Ihnen, ich habe mich angeseilt …“
Dann fiel die Eisentür dröhnend ins Schloß, Hackney hatte mich auf das Gleitgestell seines Motorbootes gesetzt, und ich hockte saftlos und kraftlos mit hängenden Armen da, mein Kopf fiel schlapp zur Seite, und müde blinzelnd betrachtete ich die hohen Wasserstiefel und den Ölmantel des Gelehrten, der sorgfältig die Eisentür von innen abschloß.
Wie mir in Wahrheit zumute war, ahnte niemand.
Kann auch niemand ahnen …
Hackney schob noch zwei Riegel vor, drehte sich dann um und betrachtete mich, rückte seine goldene Brille zurecht und schüttelte unzufrieden den Kopf.
„So gefallen Sie mir nicht, Mr. Müller … Wie steht es mit Ihrem Bein?“
„Wie abgestorben, – – unbrauchbar“, sagte ich mit einem bösen Blick.
Er lachte wieder. „Pech, mein Lieber, großes Pech!“
Vier Wandlampen brannten hier, und die Treppe war erleuchtet.
Ich zitterte etwas … In diesem tiefen Gelaß war es allzu kalt für eine Julinacht.
Hackney sagte gleichgültig: „Ein Wunder, daß Sie noch leben, Abelsen …“ – Plötzlich ließ er also die Maske fallen. Er nannte mich Abelsen. „In der Tat ein Wunder … Hätten Sie nicht so fest geschlafen, würde ich Sie erschossen haben … Inzwischen war nämlich der treffliche Regierungsrat Schließer mit seinem buckligen Gnom und zwei Landjägern hier und durchsuchte den Turm nochmals … Lebend hätten Sie kein Wort mit Schließer wechseln können, – das sehen Sie wohl selbst ein …“
Ich richtete mich etwas auf … Aber das Bein entlockte mir ein Stöhnen, und ich griff mit den Händen nach der schmerzenden Stelle.
„Pech!“, sagte Hackney nochmals.
Wie er es fertigbrachte, mich in sein Studierzimmer droben über die engen, gewundenen Treppen emporzuschleppen, war eine Sache für sich. Er seilte mich an und ließ stets drei Schritt Zwischenraum zwischen uns, denn er fürchtete meine Hände, – er ließ mich kriechen, schleifte mich empor und stieß mich dann oben in einen weichen Sessel … Ich glitt sofort wieder auf den Teppich herunter und brüllte ihn heiser an: „Sie sind ein Tier, kein Mensch …! Ich vergehe vor Schmerzen … Geben Sie mir einen Schluck Alkohol … Oder … ich werde ohnmächtig.“
„Das wäre gegen unser Programm …“ Er beeilte sich, ich trank, und nach einer Weile zog er mich an der Leine wieder empor.
Ich fiel in den Sessel, und vor mir stand der bewußte Tisch mit den Metallknöpfen.
Mein Kopf hing tief herab, ich hörte nur, daß Hackney mir gegenüber Platz nahm und meine Pistole auf die Tischplatte legte.
„Ein netter Chef der Abteilung 2 B“, sagte er mit offenem Hohn. „Die Herren da in London fischen sich einen Landstreicher als meinen Gegner, – – bedauernswerte Idioten! Aber so waren diese Strohköpfe aus den Ministerien stets! Es paßte ihnen nicht, einen geborenen Irländer zum Unterrichtsminister zu ernennen, – nun, dieser Irländer Stuart Hackney wird ihnen noch eine ganz andere Melodie vorpfeifen als bisher, – das war nur der Anfang, Herr Abelsen …“
„Sie hassen England, Herr Professor?“
„Nein. Ich verachte es. Wir alle verachten es …“ Er steckte sich eine Zigarre an. „Wir alle, die wir intelligent genug sind, eingesehen zu haben, daß Europa mit seinen Staaten sich überlebt hat. Wir brauchen etwas Ähnliches wie seiner Zeit einen Dreißigjährigen Krieg, Europa muß in Flammen aufgehen, zum Schluß wird dann nur eine Auslese der Stärksten übrigbleiben, und dann wird ein neues, gesundes Geschlecht heranwachsen, und die Wiedergeburt Europas wird eingeleitet werden.“
„Irrsinn!“, sagte ich kalt. „Aus Ihnen spricht nichts als beleidigte Eitelkeit. Sie betrügen sich selbst. Sie wollen eine Katastrophe heraufbeschwören, und deshalb verbrennen Sie Millionen und Milliarden Papiergeld, überschwemmen Europa mit Goldbarren und reißen alle Stützen des Wirtschaftslebens weg, damit die breiten Massen in Verzweiflung geraten und …“
Er winkte mir höflich zu. Sein Gesicht hatte wieder denselben gütigen, nachdenklich-wohlwollenden Ausdruck wie einst. „Verzeihen Sie, Herr Abelsen, der eiserne Ofen in der Ruine Güppel hat das wenigste von dem Papiergeld verschlungen, das wir an uns brachten, das meiste wurde im Meere an einer Stelle von dreihundert Metern Tiefe versenkt. Das, was Sie damals nachts in dem Saal beobachten durften, war nur – – sagen wir – eine für Sie gestellte Kinoszene, ein Köder …“
„Immerhin Tausend-Pfund-Noten“, bemerkte ich mit voller Absicht.
Er lächelte mich nachsichtig an. „Junger Freund, Stuart Hackney führen Sie nicht aufs Glatteis! Daß Erika Ballholm uns entgegenarbeitete, wußte ich längst, ihre Fälschungen waren zu schlecht, und eine verliebte Frau ist wie ein Kind, leichtgläubig, lügnerisch und unzuverlässig.“ Er änderte seinen Ton. „Aber darüber können Sie in kurzem selbst mit ihr sprechen. Ich habe sie eingeladen, hierher zu kommen, und … sie wird kommen. Verliebte Frauen sind keine ernsthaften Gegnerinnen, Abelsen, wirklich nicht, und Sie … Sie sind vielleicht für eine Rauferei in der Wildnis ganz nützlich, niemals als Verteidiger sogenannter Menschheitsrechte. Ach nein, – Sie hätten heute mittag im Keller der Güppel-Ruine die lange dünne Glasröhre nicht liegen lassen sollen … Sie verstehen mich wohl. Es fehlte der dreizehnte Mann, mein Lieber, ein tadelloser, flinker Schütze … Deshalb wird die Baronin mich weder verraten noch meine Einladung unbeachtet lassen – deshalb!“
Auch diese Andeutung, die mich ihrer Bedeutung nach sehr schwer hätte treffen müssen, machte auf mich meines jämmerlichen Zustandes wegen anscheinend gar keinen Eindruck. „Es war sehr geistesgegenwärtig, das Glasrohr durch den Deckenriß am Kellerfenster zu schieben und so zu atmen“, sagte ich nur. „Wenn Sie ihn abgefangen, ist es seine eigene Schuld … Daran läßt sich nichts ändern, Herr Professor“. – Ich durfte jedoch meine Gleichgültigkeit auch nicht übertreiben und fragte sofort ohne jede Überleitung, weil ja gerade diese Frage jeden hauptsächlich beschäftigen mußte:
„Woher haben Sie das Gold, Herr Professor …?“
„Aha – – endlich, – – das Gold! Nehmen Sie an, ich bereite es auf chemischem Wege, Goldmacherkunst, Stein der Weisen, Rote Tinktur und so weiter …“, kicherte er überlegen.
„Entschuldigen Sie, das glaube ich Ihnen nicht … Die Barren sind chemisch unrein und nach Angaben von Fachleuten durch ein sehr primitives Verfahren zu Barren geformt.“
Sein Lächeln wurde zum Grinsen. „Glauben Sie, was Sie wollen …!“, meinte er höflich … Er zeigte wieder einmal sein wahres Gesicht.
„Auch hinsichtlich des Mannes mit dem Glasrohr?“, warf ich halblaut ein und befühlte abermals meinen Oberschenkel. – Ich konnte mir nicht denken, daß er den Mann wirklich in seine Gewalt gebracht haben sollte. Er hatte bei der Aufzählung der angeblichen Charakterschwächen der Baronin einen Fehler begangen: Er hätte nicht von Leichtgläubigkeit sprechen sollen! Eine Frau, die jahrelang unter so gefährlichen Umständen den Verbleib ihres Gatten aufzuklären versucht, muß mißtrauisch bis zum äußersten werden. Erika Ballholm war mehr als mißtrauisch, und Mißtrauen stellt im Grunde nur eine hochentwickelte Form von Menschen- und Lebenskenntnis und von übermäßig scharfer Beobachtungsgabe dar, die zuweilen vielleicht sich irren mag. – Hackney kannte keine Skrupel in der Wahl seiner Mittel. Eins stand fest: Die Baronin war ihm entwischt, und er konnte nicht an sie heran, wenn er auch ihren Aufenthaltsort kannte. Er hatte ihr eigentlich eine erlogene Nachricht geschickt, er hätte ihren Gatten nun hier im Turme eingesperrt, und er war niederträchtig genug gewesen, darin zu erwähnen, daß der Baron seine Wächter niedergeknallt hatte.
Hackneys gute Laune schwand immer mehr. „Sie denken wohl, ich habe Sie belogen, was den Baron anbetrifft, Abelsen?! Sein Versteck war leicht zu finden. Daß die falschen Banknoten hier in der Nähe hergestellt wurden, wußten wir, und natürlich in einem Versteck, das nur ganz wenige kannten.“
Ich war überzeugt: Er kannte weder das Wikingergrab noch hatte er den Baron Erik Ballholm gefunden. Seine Bemerkungen waren eine plumpe Falle gewesen.
Ich nickte ihm schwach zu. „Der Felsenrücken, der unter dem Meere sich bis hierher fortsetzt, hat viele Abzweigungen, Herr Professor … Das wissen wir ja … Und viele Hohlräume und Gänge, sogar bis Schloß Danneborg hin … In den Turmfundamenten wird ein Ausgang sein … Sie kennen ihn ja, Sie wollten damals die Baronin …“
„Lassen Sie das!“, unterbrach er mich scharf und zerdrückte seine Zigarre im Aschbecher. „Die Baronin wird bestraft werden …“
„Und die Gräfin?“ – Ich tat, als tappte ich über deren Person im Dunkeln.
Hackneys Züge verzerrten sich vor Haß … „Eine Unverschämtheit von der Person, die Gräfin an Bord zu nehmen …!! Ich weiß, nur dadurch sind Sie auf den Moorkanal aufmerksam geworden …“ Er hatte sich vorgebeugt und zischte mir die Worte zu. „Deshalb nur die Scherereien mit dem englischen U-Kreuzer und jetzt mit den verdammten Bergungsschiffen! Dieses Weib wäre längst tot, wenn es nach mir gegangen wäre, aber O’Brien ist ein aufgeschwemmter Feigling … Die Lockvogelrolle der Baronin, die sie in der Ruine Güppel spielte, genügte wahrlich nicht, die Schonung zu gewähren, und O’Briens Dummheit, die beiden Weiber im Saale festzubinden, war eine halbe Maßnahme. Der Teufel hole O’Brien!!“
Mit der Einigkeit der Verschwörer war es nicht mehr zu best gestellt.
Hackney erhob sich, trat an ein Schaltbrett und drückte drei Hebel herum. „Die Turmlampen brennen“, sagte er, mir den Rücken kehrend.
Meine Pistolen lagen auf dem Tisch.
Stuart Hackney hatte sie entladen. – Nur deshalb drehte er mir den Rücken zu. Es war eine Probe, ob ich Kraft genug hätte, mich zu erheben und mich über den Tisch zu lehnen. – Ich blieb im Sessel mit weit zur Seite gestreckten Beinen liegen.
Hackney trat an eins der Südfenster.
„Ah, – da ist Ihr Kutter schon, Abelsen …! Schade, daß Sie das Bild nicht sehen können, – ganz interessant … Doch ich könnte ja Ihren Sessel ans Fenster schieben … Er hat Rollen … Und Sie, der Mann aus dem Abseits, darf sich derartiges nicht entgehen lassen …“ Er schaute mich an und zwinkerte … „Der Kutter ist bereits übel zugerichtet … Aber es gibt da eine Kraft, die stärker ist als der hohe Seegang … Eine Filmfabrik könnte eine solche Szene nie drehen, – Titel: Die Frau vom Leuchtturm! – Warten Sie, ich befördere Sie ans Fenster …“ – Er trat hinter den Sessel und schob ihn behutsam über den Teppich … Seinen Ölmantel hatte er vorhin über einen Stuhl geworfen, und die eine Seitentasche lag oben und klaffte weit auf. Unter dem dünnen Stoff hoben sich die Umrisse der in der Tasche steckenden Waffe ab.
Ich blickte zum Fenster hinaus … Aber so fesselnd das Bild dort draußen auch sein mochte, in Gedanken schätzte ich die Entfernung bis zu dem Mantel ab. Wenn ich erst die Waffe hatte, dann …
Hackney stand hinter mir …
„Eine tapfere Frau, könnte man sagen“, höhnte er mit verstecktem Haß.
„Und ein starkes Drahtseil und eine starke Winde, die den bereits wracken Kutter näher heranzieht …“, ergänzte ich.
Er lachte. „Der Ingenieur spricht aus Ihnen, – ja, es stimmt: Ein Drahtseil und eine Winde!“
Ich beugte mich näher dem Fenster zu …
Im Vorderteil des Kutters lehnte Erika Ballholm an der zerbrochenen Reling. Die Laterne in ihrer Hand wurde immer wieder wie sie selbst von Spritzern überstäubt. Sie stand da wie eine Statue …
Hackney meinte erläuternd: „Sie hielt sich im nächsten Küstendorf auf … Wir haben auch dort Spione …“ – Er ging wieder zum Schaltbrett und drehte die Hebel. Die Lichtstreifen draußen erloschen. Er hatte mir drei Sekunden Zeit gewährt. Mein angeblich krankes Bein war genau so bewegungsfähig wie das andere, und ich selbst hätte hier sofort mit alledem ein Ende machen können.
„Ich muß die Baronin empfangen“, sagte der Professor und griff nach dem Ölmantel.
Eine kritische Minute …
Er zog ihn über, nahm meine Pistolen und steckte sie in die Außentaschen. „Sicher ist sicher, Abelsen … Sie haben noch gefüllte Patronenrahmen bei sich …“
Die Eisentür fiel ins Schloß.
Der Mann, der aus dem Abseits kam und im Alltag das Abseits anderer Art gesucht hatte, fühlte wieder jenes kampffreudige leise Prickeln aller Nervenspitzen …
Es hatte doch seine großen Momente, den Chef von Abteilung 2 B nicht nur zu spielen, sondern die Erfahrungen aus den Wanderjahren im Abseits hier verwerten zu können.
Der Mann horchte.
Dann zog er Hackneys Pistole hervor und besichtigte sie. Es war ein Coldmodell wie meine Waffen, auch dasselbe Kaliber.
Ich nickte zufrieden, steckte die drei Patronenrahmen in die Außentasche und die Pistole in den Riß des linken Hosenbeines hinter den Strumpfhalter.
Nur, – was beabsichtigte Hackney mit der Baronin und mir?! Wollte er eine Art Vertrag mit uns abschließen, dessen Objekt einerseits der Baron Erik, anderseits unser Schweigen sein sollte? – Es mußte wohl so sein … Die zwölf armseligen Schächer, die Erik Ballholm in Notwehr niedergeknallt hatte, überschätzte Hackney als Kaufpreis. Kein Gericht der Welt würde einen Mann verurteilen, der jahrelang dort in der Steingrotte unter dem Ruinenkeller von diesen Banditen gefangen gehalten worden war, und dann, als der Erstickungstod drohte, sein Leben zu retten gesucht hatte.
Nein, Hackneys Rechnung stimmte nicht.
Ich blickte wieder zum Fenster hinaus, ich sah nichts mehr, der Leuchtturm streute keine Lichtgarben mehr aus, und die Finsternis war undurchdringlich.
Ich wartete …
Ich fühlte mich Herr der Situation. Hackney würde sich hüten, ein paar seiner Kreaturen hier mit nach oben zu bringen. Das durfte er nicht.
Ich dachte an die beiden Gentlemen im Boot mit den Seidentüchern vor den Gesichtern, die den Professor hatten niederschlagen müssen und die das Chloroform verdünnt hatten. Ich lächelte still, vielleicht etwas böse …
Die Geschichte der „Frau vom Leuchtturm“ wies viele Abseitszüge auf. Kriminalfall, Detektivroman?! – Ich zuckte die Achseln … Der Roman eines haß- und neidzerfressenen Fanatikers, das war es …! Eine Tragödie der Banknoten und des Goldes, das nur einer entdeckt haben konnte: Erik Ballholm!
… Schritte draußen, die Tür fliegt auf, und die Frau, die mir zuerst auf dem Schoner „Danmarket“ begegnete, tritt unsicher ein, triefend von Wasser, totenbleich, die Augen aufgerissen, in den Augen ein fieberhaftes Leuchten.
Hinter ihr der gütig lächelnde Satan Hackney …
„Nehmen Sie bitte Platz, Frau Baronin …“
Er schiebt einen Sessel zurück, und sie sinkt hinein, starrt mich geistesabwesend an.
„Es ist wirklich Herr Abelsen, Frau Baronin“, bemerkt Hackney schmunzelnd. „Eine kleine Überraschung, meine Gnädigste … – Bitte, trinken Sie … So, – – es ist allerbester Kognak … Herr Abelsen ist leider Patient … Leider …“
Dann schiebt er meinen Sessel an den Tisch und setzt sich und füllt sein Glas.
„Miserables Wetter, Frau Baronin …“
Erika Ballholms Augenbrauen ziehen sich zusammen.
„Wo ist mein Mann, Hackney?“ Ihre Stimme schrillt bedenklich …
Draußen brüllt die Brandung …
Ich sitze völlig niedergebrochen da und streiche meinen Schenkel.
„Ihr Mann?!“ Hackney dehnt das Wort endlos. „Ach so, – – Ihr Mann, mein lieber Schüler und Verehrer … Ja, wo mag er sein?!“
Die Baronin schnellt empor.
„Er ist nicht hier?“
„Nein …!“ Hart und brutal sagt er die Wahrheit und spielt mit einer kleinen Repetierpistole, die Erika Ballholm gehört haben dürfte.
Die Baronin steht vorgebeugt …
„Sie … falsche Bestie, Sie!!“
Hackney winkt ihr zu. „Bitte, – nicht dieses Benehmen, Baronin. Sie wissen, unsere gemeinsamen geistvollen Teestunden zeichneten sich stets durch wahre Vornehmheit aus.“
Seine höhnischen Phrasen haben etwas Entwaffnendes an sich. Die Baronin fällt zurück und preßt die Hände vor das Gesicht.
„Satan …!!“, – aber sie murmelt es unter Tränen.
Hackney lächelt nachsichtig. „Ich sagte Ihnen bereits auf der Treppe, Baronin, daß ein Verrat Ihrerseits hier in Gegenwart von Abelsen – Sie wissen, was ich meine – nur Sie und Ihren Gatten und … die anderen Gefangenen schädigt … Richten Sie sich bitte danach. Kein Wort zu viel, – – Vorsicht also!“
Erika Ballholm weint hinter dem Schutz der ausgebreiteten Hände. Der Professor lächelt unzufrieden.
„Tränen haben gar keinen Zweck! Hören Sie auf mit dem Flennen!“ Abermals zeigt er sich von seiner wahren Seite. „Wir haben hier lediglich eine Frage zu erörtern: Wollen Sie beide am Leben bleiben oder sterben? Darum geht es! Die kleinste Lüge bedeutet Tod! – Abelsen, reißen Sie sich zusammen! Mit ihnen beginne ich. Was wissen Sie?“
Ich blinzele den weißbärtigen Mann mir gegenüber verständnislos an.
„Worüber, Hackney? Was soll ich wissen?“
„Zunächst: Wo steckt der Baron?“
Erika Ballholms Arme sinken herab, und ich fühle ihren ängstlichen Blick.
„Ich denke, das ist Ihnen bekannt, Hackney?!“
Seine Nerven streiken.
„Das ist mir nicht bekannt, Sie Narr!!“, schreit er in besinnungslosem Haß. „Wo steckt er? Reden Sie!!“ – Er fuchtelt mit der Pistole hin und her …
„Reden Sie!!“
„Im Wikingergrab, Hackney … Sie kennen es wohl. Es liegt auf dem Gelände Doktor Johannsens, der ein alter Bekannter der Gräfin und der Baronin sein muß. Es stehen dort in dem Gebüschstreifen eine Birke und …“
„Das weiß ich … – Also eine Höhle?“
„Ja, – die Fälscherwerkstatt, Professor … Der eine Wacholderbusch wächst in einer Vertiefung einer Felsplatte, die sich verschieben läßt … Der Sanitätsrat hat der Baronin geholfen, die Druckpresse dort unten aufzustellen … Er sah eben ein, daß die Baronin als Ihre scheinbare Verbündete diesen Wahnwitz der Banknotenvernichtung nur durch das Einschmuggeln von Falschstücken eindämmen konnte … Ich glaube kaum, daß die Kriminalchronik der Welt einen Fall kennt, wo wie hier Fälschungen in bester Absicht hergestellt wurden …“
Hackney kicherte …
„Ich bin Ihnen sehr verbunden, Herr Captain Abelsen, Herr Chef von 2 B … Captain ist ja wohl der richtige Amtstitel, aber der hat mit Kapitän weiß Gott nichts zu tun, denn Sie haben Ihr Schiff miserabel geführt. Was ich wissen wollte, weiß ich nun, zu Ihrem Schaden! Das Handelsgeschäft ist erledigt, ich ziehe mein Angebot zurück, ich bin auf Ihre Verschwiegenheit nicht mehr angewiesen, – bedauerlich für Sie beide und die sonstigen Gefangenen, aber nicht zu ändern!“
Der eiskalte Hohn und der vermeintliche Triumph ließen seine Lippen geifern.
Was mir da gegenübersaß, war tatsächlich eine ruchlose Bestie, ein toller Hund, kein Mensch mehr …
Speichel tropfte ihm in den Bart. Seine Brille war nach vorn gerutscht … Aber seine schlanken, tadellos gepflegten schmalen Hände zitterten nicht.
Eiskalt wie sein Hohn war seine ganze Persönlichkeit. Er glaubte, sich nun auch Erik Ballholms bemächtigen zu können, – dann war er in der Lage, sein niederträchtiges Treiben fortzusetzen. Er hatte ja die U-Boote zur Verfügung und sicherlich auch bereits für ein zweites Hauptquartier vorgesorgt.
„Oh, wir wollen nichts übereilen … Wir haben noch etwas Zeit … – Frau Baronin, vielleicht sind Sie so liebenswürdig und erzählen Abelsen die Vorgeschichte, die ihm nicht ganz geläufig sein dürfte. Bei gewissen Einzelheiten will ich gern aushelfen … Langen Sie auch bitte zu … Hier sind Zigaretten, Zigarren, hier mein Feuerzeug … Ich habe stets gelesen, daß man Verurteilten noch eine Henkersmahlzeit gewährt … Mit einem Festdiner kann ich leider nicht aufwarten … Also … langen Sie zu …“
Ich blickte die Frau vom Leuchtturm an, und ich stutzte. Ihre Wangen hatten wieder Farbe bekommen, und fast bedächtig nahm sie eine Zigarette aus dem silbernen Kästchen und rieb das Feuerzeug an, dessen kleiner Docht nicht sofort Feuer fing. Das Feuerzeug entglitt ihr, sie hob es schnell vom Teppich auf und rauchte mit unnatürlicher Ruhe.
Auch Hackney mußte diese Veränderung auffallen. Die Baronin war wie ausgewechselt, und selbst ich mußte mir da Fragen vorlegen, inwieweit ihre Tränen vorhin nicht etwa dasselbe Täuschungsmanöver darstellten, das auch ich mir von Anbeginn dieser denkwürdigen Runde Hackney gegenüber erlaubt hatte.
Nur eins war in dem Verhalten der Baronin verfehlt: Sie hätte niemals so ohne jede Pose oder Künstelei des Professors Todesurteil mißachten und jetzt mit echtem Heißhunger und Genuß die Zigarette rauchen dürfen! Nein, eine Frau besitzt kaum die Nerven und die eherne Gleichgültigkeit, den nahen Tod gleichsam zu belächeln, und das war es, was dem Professor sicherlich zu denken gab und das klare Mißtrauen hinter seinen Brillengläsern aufblicken ließ.
„Sie scheinen keinen großen Wert darauf zu legen, Frau Baronin“, wandte ich mich an meine Nachbarin zur Linken, „diese Vorgeschichte mir mitzuteilen … Sie sind sehr nachdenklich geworden und überlegen allzu lange, wie Sie das Ihnen so schmerzliche Thema beginnen könnten … Ich begreife das durchaus, und Professor Hackney wird dasselbe Verständnis für Ihr Zögern aufbringen.“
Erika Ballholm und Hackney – den einen Erfolg hatte ich doch – blickten mich beide gleich überrascht an. Den Blick der Baronin gab ich so ernst und warnend zurück, daß ein Schimmer des Verstehens über ihre energischen pikanten Züge huschte. Der Professor hatte beide Arme auf den Tisch gestützt und fragte unsicher:
„Ist Ihre Beurteilung des Verhaltens … Ihrer … hm ja … Ihrer heimlich Verbündeten nicht etwas falsch, Abelsen?“
„Durchaus nicht“, fiel die Baronin ohne viel Teilnahme ein. – Sie hatte meine Warnung verstanden. „Soll ich all die unendlich schweren, trüben und schmerzlichen Stunden, Tage und Monate nochmals in Gedanken durchmachen, die nur Ihre Heimtücke und Ihr Verrat mir aufgeladen hatten, Hackney?!“ Ihre Stimme wurde schärfer und feindseliger. „Ihnen allein hat Erik sein Geheimnis anvertraut, und – was taten Sie?! Sie überfielen ihn auf hoher See, Sie sorgten dafür, daß mein Mann als tot galt, Sie verschleppten ihn, verbargen ihn, Sie brachten Ihre wahnwitzigen Pläne zur Ausführung, und wenn ich nicht den felsenfesten Glauben behalten hätte, daß Erik noch am Leben, und wenn ich nicht aus diesem Glauben heraus die Kraft gefunden hätte, Ihnen meine Dienste zum Schein anzubieten und zu heucheln und zu schauspielern und zu lügen, dann …“ – sie brach jäh ab, sie schaute den alten Mann in flammender Empörung an und ein hysterisches Schluchzen schien ihre weiteren Worte zu ersticken.
Hackney lächelte unendlich nachsichtig. „Wahnwitzige Pläne nennen Sie das, Sie Ärmste?!“, sagte er kopfschüttelnd. „Was wußten Sie denn über Ihres Mannes Absichten?! Nichts!! Er hat etwas entdeckt, was es zum zweiten Male auf Erden nicht wieder geben kann. Er erzählte nicht einmal Ihnen davon … Er war sich der hohen Verantwortung sehr wohl bewußt, und – – der Narr wollte diese Verantwortung durch eine Dynamitladung von sich abwälzen.“ Des Professors Züge entfärbten sich vor innerer Erregung. „Und das sollte ich dulden?! Ich sollte zusehen, wie diese irrsinnigen Regierungen Europas sich weiter gegenseitig zerfleischten und eine Generation heranwuchs, die immer morscher und dekadenter wurde?! Ich sollte dieses hochmütige, aufgeblasene Schachervolk der Engländer, das stets andere für sich bluten ließ, etwa noch höher auf diese Leiter der Profitgier klettern lassen! Niemals!! Ich habe bereits eine Bresche in Englands uralte Weltmacht geschlagen, indem ich seine Währung sinken ließ und die Banken mit Geld überschwemmte! Sie ersticken im Golde, und ich werde siegen – – ich werde, weil niemand diesen Verfall des Wirtschaftslebens aufhalten kann!“ Ein wildes Leuchten brach aus seinen aufgerissenen Augen hervor, und seine linke Faust sauste dröhnend auf die Tischplatte herab. „Ich habe gesiegt, Erika Ballholm, – – ich habe Sie als Opfer vor mir, und in einer Stunde wird auch Ihr Gatte Ihnen beiden folgen – – dorthin, wo die mit Blei beschwerten Banknotenbündel ruhen – – auf den Boden der Nordsee! Es muß sein! Ich bin kein Mörder, ich fühle mich nicht als Mörder, – was gelten ein paar Menschenleben gegenüber …“ – auch seine Stimme überschlug sich, ein heiseres schrilles Kreischen folgte, dann hob er die rechte Hand, – – zwei Schüsse knallten fast gleichzeitig, und der dritte, den ich vielleicht drei Sekunden später abfeuerte, wäre nicht mehr notwendig gewesen …
Sowohl die Baronin wie der Professor sanken schlaff in ihre Sessel zurück, und ich verwünschte mein Zögern, – ich war durch diesen Ausgang doch überrumpelt worden.
Polternd waren den beiden ungleichen Gegnern die Waffen aus den Händen geglitten, polternd schlug mein Sessel nach rückwärts um, ich beugte mich über die bedauernswerte Frau, – ich atmete auf, ein Wunder war geschehen, Erika Ballholm hatte nur einen Stirnschuß abbekommen, obwohl Hackney und sie nur durch Tischbreite voneinander getrennt gewesen.
Die Wunde blutete stark, – nun, im Verbinden war ich kein Neuling, und in kurzem konnte ich sie auf das Sofa betten und mich auch um den Professor kümmern.
Er lebte noch … Auch das war ein Wunder. Die Kugel der Baronin hatte ihn dicht über dem Herzen getroffen, meine Kugel saß etwas mehr seitwärts.
Ich hob seinen Kopf, – seine Augen ruhten unheimlich stier auf meinem schweißfeuchten Gesicht, und dann lächelte er mich an – – so voll teuflischen Hohnes, daß ich zurückzuckte.
Klar und laut sagte er, während bereits weiße Flecken um seine Nase den unmittelbar bevorstehenden Tod anzeigten:
„O’Brien lebt noch!! O’Brien wird …“
Er schwieg …
Er richtete sich auf und horchte … Irgendwo in der Nähe auf See war einen Explosion erfolgt, deren Schallwellen die Fensterscheiben klirren ließen …
Stuart Hackney fiel langsam zurück …
„Ver… verfluchte Engländer, – – doch – – doch verloren …!“
So starb Professor Doktor Stuart Hackney.
Ich mußte mit allem rechnen, mit einem Angriff derer, die dort unten verborgen waren. Daß in den Naturfundamenten des Turmes sich Hohlräume befanden, dafür besaß ich genügend Beweise. Der erste Beweis war das Boot mit den beiden Gentlemen mit den Seidentüchern vor den Gesichtern gewesen, die den Scheinüberfall auf Hackney inszeniert hatten, damit jeder Verdacht von ihm genommen würde. Er selbst hatte diesen Überfall gewollt, angeregt, befohlen. Er war damals mit dem Mülleimer mit den Scherben des Glases nach unten gegangen und hatte angeordnet, was er für notwendig erachtete, seine Gegner zu täuschen.
Es waren Hohlräume vorhanden, und ihr Zugang lag im Kellergeschoß, war jedoch tadellos maskiert. Helga Barns Vater hatte Aufzeichnungen hinterlassen, war Taucher gewesen, kannte die Klippen bis tief ins Meer hinab. Für mich stand es fest, daß Kapitän Barns Papiere dem Baron Ballholm irgendwie zugänglich gewesen und daß das große Geheimnis, die große Entdeckung des Barons mit diesen Aufzeichnungen und mit dem unterseeischen Höhenzug aus rötlichem Sandstein aufs Engste zusammenhingen. – Wie, – das würde die Zukunft herausbringen, falls es überhaupt noch eine „Zukunft“ für mich geben würde.
Mit diesen Gedanken horchte ich an der Eisentür, die frisch geladene Waffe in der Hand.
Hackney hatte mir mit O’Brien gedroht …
O’Brien steckte unten in den Höhlen – irgendwo …
Und anderes ging mir durch den Sinn. Was hatte der Knall zu bedeuten gehabt, der die Scheiben klirren ließ und der Hackney den Fluch über die Lippen preßte …?!
„Verfluchte Engländer … – Doch verloren!“
Das war vielsagend gewesen. Das blieb trotzdem unklar.
Der Sturm heulte und pfiff draußen in dem Geländer der Plattform, und irgendwoher kam der Sirenenton eines Dampfers, der gegen den Orkan sich zu behaupten suchte.
Wenn nur die Baronin erwachen würde …! Sie kannte sicherlich den Zugang zu den Höhlen unten …
Sie rührte sich nicht. Sie atmete schwach, aber ruhig, und ihre Wangen hatten auch bereits wieder etwas Farbe bekommen.
Ich war auf mich allein angewiesen.
Die mich am stärksten quälende Frage war die nach der Ursache der starken Explosion. Es konnte eine Seemine gewesen sein, weit eher wohl ein dicht über der Wasserlinie abgefeuerter Torpedo. Der Knall war für eine Mine zu stark gewesen.
Dann vernahm ich ein helles Schnurren …
Es kam aus der Richtung eines der Schränke.
Ich versperrte die Tür, eilte hin, riß den Schrank auf und fand hinter Bücherreihen ein Telephon …
Ich nahm den Hörer ab und flüsterte in die Muschel:
„O’Brien?!“
Eine Weile nichts …
Eine rauhe Stimme nun, erregt, überschnappend:
„Sie haben U 1 torpediert, Hackney …! Das verdammte englische Großboot ist nicht gesunken, nur der Kommandant Isley ist ersoffen … Wir haben uns täuschen lassen … Der U-Kreuzer sucht mit Scheinwerfern die Westwand ab … Sollen wir etwas unternehmen?“
„Nichts, O’Brien … Verhaltet euch ruhig.“
Pause …
Mein Blut brauste in den Ohren …
Dann ein grimmer Fluch …
„Sie sind gar nicht Hackney, Sie Schuft …!!“
Ein Klicken …
Stille …
Ich ahnte, was kommen würde …
Ein Sprung brachte mich zum Wandbrett, ich nahm die beiden Laternen herab …
Plötzlich erloschen sämtliche Lichter.
Ich tastete nach der Tischplatte, nach dem Feuerzeug Hackneys …
Das Flämmchen puffte auf, beide Laternen brannten …
Ich steckte auch die Pistole Hackneys und der Baronin zu mir und schlich zur Tür, die nach innen schlug. Rechts neben der Tür stand ein schwarzer Schrank. Ich öffnete die Eisentür, der Treppenschacht war dunkel, und ich hörte nichts Verdächtiges.
Ich schob den Schrank samt dem Teppich vor die Türöffnung, und oben blieb noch ein freier Raum von etwa zwanzig Zentimeter Höhe.
Dann sah ich die andere schmale Eisentür, die in Hackneys kleinen Schlafraum führte. Es gelang mir, sie aus den Angeln zu heben und sie oben auf den Schrank zu stellen. Ich war jetzt gewappnet, die eine Laterne stellte ich neben das freigelassene kleine Loch, ich selbst stand auf einem Wandbrett, und ich konnte die Wendeltreppe bis zur ersten Biegung überblicken.
Ich legte die Pistolen und die Patronenrahmen in Griffnähe …
Nun mochten sie kommen …
Plötzlich verstärkte sich die Helle drunten in der Treppenbiegung.
Jemand kam mit einer Laterne …
Ich drehte meine Laterne halb herum, und unten tauchte ein Arm auf, der eine große Karbidlaterne hielt.
Ein Mann trat um die Biegung, hinter ihm ein zweiter.
Der mit der Laterne war der dicke, aufgeschwemmte O’Brien, der andere ein mir Fremder. Sie starrten nach oben, und sie sahen wohl die helle Rückwand des Schrankes.
Sie flüsterten …
Der zweite zog eine Stielhandgranate ab und reckte den Arm hoch … Wartete … zählte …
Ich wartete nicht. Ich hatte eine Coldpistole, und meine beiden Schüsse saßen dort, wo sie sitzen sollten.
O’Brien und der andere polterten die Stufen abwärts, die Laterne klirrte, dann ein ungeheurer Knall, meine Barrikade wankte, die Rückwand des Schrankes zersplitterte, und die Eisentür drohte umzukippen. Ich packte schnell zu …
Unten ein geradezu tierisches Wutgebrüll …
Mindestens ein Dutzend Stimmen …
Der nervenpeinigende Lärm dieser enttäuschten Gegner erstarb, und ich drehte meine Laterne wieder mit der Vorderseite nach rechts …
Die Treppe wurde hell …
Ich biß die Zähne zusammen …
Vor der Biegung lag auf der Stufe ein einsamer gräßlicher Menschenkopf …
Wie vom Scharfrichter vom Rumpfe getrennt, – – O’Briens Kopf …
Ich war froh, daß die Baronin noch immer ohne Bewußtsein. Selbst mir würgte etwas in der Kehle …
Unten zischelten hastige Stimmen …
Dann abermals hellerer Lichtschein, und eine breite Platte schob sich um die Biegung, – eine der kleinen Eisentüren …
Sie war mit Stricken umwunden, an denen die Angreifer diesen Schild emportrugen.
Ich kam nicht zum Schuß …
Ich beobachtete …
Sie machten halt, – – ein Arm mit einer Handgranate erschien über dem Oberrand der Tür, – – und meine Cold bellte zweimal wütend auf.
Der Kerl ließ die Granate fallen, brüllte vor Schmerz, und in wilder Hast bewegte sich die Tür abwärts und verschwand.
Die Handgranate lag fünf Stufen höher als der einsame Schädel …
Ich sprang von der Barrikade herab, und dann erfolgte auch schon das, was erfolgen mußte: Eine unheimliche Explosion …, – meine Barrikade flog auseinander und das Poltern des umgekippten Schrankes und der herabfallenden Eisentür, das Klirren der zerplatzten Fenster und das Heulen der hereinstoßenden Windstöße hatten Erika Ballholm jäh ins Bewußtsein zurückgerufen.
Sie saß aufrecht, blickte verständnislos umher, starrte den toten Hackney an und sank wieder zurück.
Ich war neben ihr …
„Trinken Sie, Baronin, trinken Sie!!“
Ich stützte sie, und sie zitterte in meinem Arm.
„Was … ist … geschehen …?“
Ich konnte ihr keine langen Erklärungen geben …
„Man greift uns an, – ich muß die Barrikade wieder aufrichten … Liegen Sie still … – Ich habe keine Zeit …“
Diese Frau vom Leuchtturm war ein bewundernswertes Wesen.
Sie ließ die Füße vom Sofa gleiten … „Ich helfe Ihnen … Ich will nicht sterben … Mein Mann lebt, und ich habe nicht zwei Jahre lang nach ihm gesucht, um schließlich selbst zu Grunde zu gehen …“
Sie trank abermals … Ihre Augen glitten umher … Sie stemmte die Hände auf eine Sessellehne und überwand die Schwäche …
Ich richtete den Schrank wieder auf, und als ich dabei den Treppenschacht hinabblickte, kam um die Biegung ein einzelner Mann, glattrasiert, in einem hellen Flanellanzug, sehr blaß, aber mit leuchtenden Augen, die mich fragend musterten.
Der Mann sah dem verwahrlosten Erik Ballholm in nichts mehr ähnlich. Der Mann hielt in jeder Hand eine Pistole …
„Abelsen?“, rief er …
Ich konnte nicht antworten.
Die Baronin stieß mich beiseite, und Ballholm war mit zwei Sätzen bei ihr, umfing sie und küßte sie …
Er sprach kein Wort …
Er hatte sein Weib fest an sich gedrückt, und sein Gesicht war in ihren wehenden Haaren vergraben.
Eine scharfe Zugluft pfiff jaulend durch das Zimmer und heulte dumpf im Treppenschacht.
Dann gab Ballholm seine Frau frei.
„Abelsen, eine Decke …!“
Er hüllte sie ein, auch ihren Kopf, und winkte mir.
„Nehmen Sie die Laterne … Ich trage Erika hinab, – der Anblick da unten ist nichts für sie!“
Als wir in das unterste Stockwerk gelangten, empfing uns greller Lichtschein großer Handscheinwerfer …
Englische U-Bootmatrosen standen umher, in der Westmauer klaffte eine große quadratische Öffnung, und auf der dort sichtbaren eisernen Treppe saß Jack Garson und rauchte eine Zigarette …
Er hatte den einen Arm in der Schlinge und blickte mich müde an. Er sah hohläugig und erschöpft aus, und sein Gruß war nur ein gleichgültiges Nicken.
Ballholm sagte kurz und befehlend:
„Gehen wir hinab! Wir haben hier nichts mehr zu suchen …“
Er betrachtete die Käfige mit den kranken Vögeln.
„Nehmt sie mit! Beeilt euch!“ Er sprach englisch, und die Matrosen gehorchten.
„Die Tiere sollen nicht jämmerlich umkommen“, erklärte Ballholm mir mit einem ernsten Lächeln. „Sie lieben Tiere, Abelsen, – ich auch.“
Garson drückte mir die Hand.
„Ich bin wie im Traum“, meinte er nur …
Er erhob sich und stapfte abwärts.
Die Eisentreppe lief in einem natürlichen Felsenstollen in die Tiefe bis zu einer großen Eisentür, neben der allerlei Kisten, Tonnen, Kochgeräte und anderes standen.
Garson öffnete, und eine eisige Luft schlug uns entgegen. Auch hier brannten Laternen, die Grotte war nicht groß und hatte noch eine zweite Tür.
Wir mußten uns hier bereits fünfzehn Meter unter der Höchstgrenze des Wasserspiegels befinden …
Der Polizeiinspektor drückte die schwere Tür auf, und ich blinzelte in einen übergrellen Lichtstreifen hinein. Fünf Meter unter mir schimmerte in dieser Riesengrotte stilles Wasser, und der U-Kreuzer lag ruhig in diesem Wunderhafen, dessen kompliziertes Schleusensystem ich nie aus der Nähe anstaunen konnte.
„An Bord!“, befahl Ballholm …
Eine Planke wippte, ein Offizier salutierte, und wir stiegen in den Mittelturm hinab.
Garson hatte recht: Es war wie ein Traum!
Es lag etwas Unwirkliches über alledem …
In der Offiziersmesse saßen Menschen, die uns auch nur stumm begrüßten: Doktor Johannsen, Frau Barn, Helga, Gerhard Schließer …
Erik Ballholm trug sein Weib zu einem kleinen Sofa und wandte sich dann mir zu.
„Abelsen, Sie tragen die Verantwortung, Sie hätten hier zu befehlen … Aber der Menschheit ist am meisten damit gedient, daß Sie mich handeln lassen.“
Ich überlegte. Dann zog ich ihn in eine Ecke und fragte ihn etwas.
Er bejahte. „Es wäre ein Unglück für die Welt, wenn der Turm bestehen bliebe.“
Wir beide schritten hinaus in den Kommandoturm.
Der Offizier machte mir gegenüber dieselbe Bemerkung:
„Sie tragen die Verantwortung, Mr. Abelsen …“
„Das weiß ich. Tun Sie, was der Baron wünscht.“
Der U-Kreuzer fuhr rückwärts, – es gab einen leichten Stoß, und plötzlich wurde der Turm außen von hereinströmendem Wasser überflutet. Die Schrauben arbeiteten mit voller Kraft, und das Boot drängte sich zwischen den großen eisernen Schleusentoren hindurch in das offene Meer.
Gleich darauf tauchte das Boot empor, aber nur so weit, daß der Turm freilag. Der Scheinwerfer vorn zeigte uns die wogende See und den Leuchtturm.
„Zwei Torpedos zu gleicher Zeit!“, sagte Ballholm kalt.
Der Offizier wagte bescheiden einzuwenden: „Vielleicht sind noch Arbeiter in dem tiefen Stollen, Sir Ballholm.“
Der Baron, der doch alles andere als gefühlsroh war, erwiderte schroff: „Es geht hier um die Menschheit, nicht um Menschen. In den Kohlenbergwerken sterben auch Hunderte, nur weil die Steinkohle gebraucht wird. Das, was jene Leute zutage fördern, wird nicht gebraucht.“
Der Offizier bekam etwas starre Augen … Schweigend wandte er sich um und steuerte das Boot mehr nach Süden, wo die See ruhiger war. Dann gab er die nötigen Befehle telephonisch nach dem vorderen Torpedoraum. Das Boot hob sich noch mehr, der Leuchtturm von Hangerupp war im Scheinwerferlicht klar und deutlich zu erkennen, und die Schrauben schlugen langsam rückwärts. Dann sprangen fast gleichzeitig an der Westseite der Klippe zwei gewaltige Fontänen empor, und hinter uns ertönte eine leise Frauenstimme:
„Dein Geheimnis stirbt, Erik …“
Der Baron machte seiner Gattin am Turmfenster Platz, legte ihr den Arm um die Schultern und schwieg.
Die beiden Wassersäulen drüben sanken wieder in sich zusammen, sekundenlang ereignete sich nichts, bis der massive Turm wie eine dünne Kiefer im Wirbelwind sich urplötzlich nach Westen neigte und mit würdevoller Ruhe in die See stürzte, so daß nur Teile des untersten Geschosses noch über die heranrollenden Wogen als letzte Reste emporragten.
So geräuschlos, so beängstigend schnell war für uns diese Katastrophe erfolgt, daß ich unwillkürlich noch angestrengter hinüberblickte, um den Turm von Hangerupp mir wieder vor Augen zu zaubern. Es erschien mir undenkbar, daß er für alle Zeit vernichtet sein sollte, und die schweren Atemzüge des jungen Offiziers neben mir verrieten eine ähnliche Gemütsbewegung.
Baron Ballholm richtete sich aus seiner vorgebeugten Haltung wieder auf und sagte anerkennend:
„Es waren vorzügliche Treffer, Mr. Seams, – wir können jetzt in die Bucht einlaufen. Meine Frau bedarf ärztlicher Pflege, ebenso Inspektor Garson, und die armen Vögel müssen auch bequemer untergebracht werden. Im übrigen ist es nun an Ihnen, lieber Abelsen, die Oberleitung der Aktion zu übernehmen, obwohl es kaum noch etwas zu tun gibt. Hackneys Filialen in Europa kennen wir durch die in der Turmgrotte aufgefundenen Papiere, und Schließer hat bereits einige Dutzend Funkdepeschen abgeschickt. Die Gefahr ist für alle Zeit beseitigt.“ –
Es war ein ganz kleiner Kreis, der morgens drei Uhr im Speisesaal des Strandhotels sich in einer Klubecke versammelt hatte. Tim Kröger servierte uns den Kaffee und einige Erfrischungen, und dann enthüllte Baron Ballholm mit wenigen Worten auch das letzte, was es überhaupt noch zu dieser Abseitsgeschichte zu sagen gab.
„… Die Gräfin Stettendonk war mit Ihnen, lieber Doktor, seit langem befreundet. Durch die Gräfin lernten meine Frau und ich das Seebad Hangerupp kennen. Frau Barn übergab mir einmal die Aufzeichnungen ihres verstorbenen Mannes, ich fand darin einige Stellen, die nur sehr vorsichtige Andeutungen enthielten, und diese veranlaßten mich, in aller Stille mit einem ganz modernen Taucheranzug die Naturfundamente des Turmes zu besichtigen. So entdeckte ich unter Wasser die große Grotte und drang in einen Stollen ein, der nach Nordost verlief. Hackney bediente die Luftpumpe. Als ich wieder nach oben gestiegen war, brachte ich eine Zacke Gold mit … Der Stollen dort in der Tiefe war mit dicken Adern reinen Goldes durchzogen, die zweifellos durch frühere Vulkanausbrüche aus dem Erdinnern, das ja bestimmt schwere flüssige Metalle enthält, nach oben gedrängt worden war. Ich ahnte, daß dort Reichtümer lagerten, die in Zahlen nicht ausgedrückt werden können, und ich wollte im Interesse der Allgemeinheit meinen Fund verschweigen. Hackney ging zum Schein darauf ein. Was er später tat, wissen Sie. Er war ein ebenso genialer Kopf wie brutaler Charakter. Er setzte mich gefangen, nachdem er insgeheim alle Vorbereitungen getroffen hatte, und nur die Energie meiner Frau sollte ihm sehr bald gefährlich werden … Ihnen, lieber Abelsen, danke ich hiermit nochmals für Ihr geschicktes Eingreifen. Sie hatten sehr bald erkannt, daß Erika gegen Hackney arbeitete, und die englische Regierung wird Ihre Verdienste anzuerkennen wissen. – Sie entschuldigen mich jetzt. Meine Frau erwartet mich.“
Mit einem strahlenden Lächeln schritt dieser etwas widerspruchsvolle Mann hinaus, die Tür klappte zu, und Jack Garson mit seinem bandagierten Arm bemerkte nur so nebenbei: „Ich wunderte mich jetzt über nichts mehr … Wenn mir jemand nächstens erzählt, er habe einen Edelstein so groß wie ein Haus gefunden, muß ich auch das glauben.“
Regierungsrat Schließer nickte eifrig. „Es gibt eben nichts Unmögliches, Garson … Aber die Hauptsache bleibt, daß es keinen Professor Hackney mehr gibt!“
Am nächsten Nachmittag hatte sich die See vollkommen beruhigt. Es war Ebbezeit, und ich fuhr mit meinem neuen Trasso ganz allein zu den rötlichen Klippen und den Turmresten von Hangerupp hinaus.
Wir kletterten über die nassen Felsen, und als wir droben auf den Mauertrümmern saßen, entfaltete ich die für mich vor einer Stunde eingetroffene Depesche …
Was da über die mir verliehene Auszeichnung stand, war mir sehr gleichgültig.
Da stand jedoch noch weiter:
„Falls Sie bereit sind, mit denselben Vollmachten nach dem Tsad-See zu gehen, bitten wir um Ihren baldigen Besuch …“
Tsad-See?
… Ich blickte über das Meer …
Tsad-See?
… Mein Blick schaute fremde Bilder, schwarze Menschen, endlose Karawanen, endlose Steppen, endlose Urwälder …
Der Hund neben mir heulte klagend und weckte mich …
… Ein zweites Motorboot nahte … Lachen erklang … Helga Barn winkte mir übermütig zu, und Gerhard Schließer schwenkte seinen Strohhut …
Die Lebenden kamen, und mit ihnen kam die Daseinsfreude, die Hoffnung auf die Zukunft, – und ich, der Mann aus dem Abseits, lächelte das stille Lachen der Wissenden …
… Tsad-See, – – vielleicht … vielleicht …
Nächster Band:
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