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Rauschgift-Patrouille

 

 

Tropenglut und Leidenschaft

Eine Reihe einzigartiger tropischer Erzählungen

 

Rauschgiftpatrouille

 

W. v. Neuhof

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 16

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1933 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16

 

1. Kapitel.

Vor achtzehn Jahren: Tschandu!

Sie hatten der blendend schönen Frau Theresa von Bruck alle den Hof gemacht, angefangen von dem vornehmen Lord Ritchell, dem Gouverneur von Chartum, bis hinab zum jüngsten Leutnant der zahlreichen Garnison mit seinem kampfgestählten Offizierkorps. Sie hatten ihr Blumen und Gedichte und Andenken ins Hotel geschickt und hatten mit ihr im neuen Palast Seiner Exzellenz des Gouverneurs getanzt und für Minuten den gertenschlanken Leib der berückenden Frau Theresa in den Armen gehalten und die Köpfe bei einschmeichelnden Walzermelodien zurückgebogen und einen verschleierten Blick aus den graublauen, langbewimperten Nixenaugen zu erhaschen versucht.

Und sie sahen dann um den etwas üppigen feingeschnittenen Mund mit den stets halb geöffneten, zartroten Lippen jenes Lächeln ungestillten Sehnens, das so voller Verheißungen war und das dennoch irgendwohin in die Leere, in die unermeßliche Weite der Träume zu flüchten schien.

Diese Augen und dieses Lächeln und die wundervolle Geschmeidigkeit dieses Frauenkörpers waren für lange Wochen der einzige Gesprächsstoff in der Europäerkolonie der berühmten blutgetränkten Hauptstadt des anglo-ägyptischen Sudan.

Den zugehörigen Gatten, den steifen, ungewandten deutschen Gelehrten Friedrich von Bruck tat man mit einem Achselzucken ab. Niemand nahm ihn für ernst, niemand begriff, wie diese Frau diesen Mann je hatte wählen können. Man bespöttelte ihn und seine Weltfremdheit, man bestach das Hotelpersonal, um herauszubringen, ob Professor von Bruck, der hier in Chartum im Auftrage der deutschen Regierung nach uralten Zeugen einer dahingeschwundenen Kulturepoche forschte, nicht vielleicht wollene echte Jägerhemden trüge.

Wollene Jägerhemden erschienen den an Seide gewöhnten Engländern als notwendiges Attribut eines deutschen verspießerten Gelehrten.

Aber niemand von all diesen unermüdlichen Courmachern der schönen Frau durfte sich rühmen, auch nur den allerbescheidensten Erfolg buchen zu können. Da war Hauptmann Charly Bewers vom Kamelreiterkorps, gewiß doch eine Persönlichkeit, die kein Mädchen, kein Weib übersehen konnte, denn Bewers verkörperte unbestritten den besten, schneidigsten, vollkommensten Typ des englischen Kolonialoffiziers. Hager, sehnig, braungebrannt, tollkühn, wortkarg, vornehm, stahlharte Augen, noch härtere Linien um die Kinnpartie und doch den ewig gleichen Anflug eines über alles erhabenen Lächelns auf dem rassigen Caesarengesicht, angebetet, angehimmelt von alt und jung, stille Sehnsucht aller Mütter mit heiratsfähigen Töchtern, Held unzähliger galanter Abenteuer, Zielscheibe heimtückischer Schüsse erbitterter Beduinenväter aus dem Eingeborenenviertel, – – auch Charly Bewers verschwendete seine bewährten Künste an dieser deutschen Frau völlig umsonst.

„… Sie hat kein Temperament“, sagte er im Sektzelt beim Gartenfest des Gouverneurs nach ergebnislosen sechs Wochen.

Als er dies sagte, lächelte er nicht.

Er war verärgert, er fühlte sich gedemütigt, er begann diese Frau zu hassen, die so unnahbar blieb wie der eisstarrende Gipfel des Gaurisankar und die doch so kameradschaftlich-herzlich, fast kindlich jedem gegenübertrat – jedem …

Als Charly Bewers dies erklärte, und als seine Freunde dazu beipflichtend nickten und sich insgeheim darüber belustigten, daß auch der schöne Charly diese deutsche kühle Nordlandsrose nicht für sich zu knicken vermochte, erstrahlte der Park des Palastes Seiner Exzellenz im Zauberlicht von Tausenden von bunten Papierlaternen, lag auch der weiche Silberschein des Mondes auf den duftenden epischen Sträuchern und den sanft rauschenden Palmen …

Eine Traumnacht war’s, in der die Klänge der Tanzkapelle durch die Parkwege hallten bis zu den einsamen Tennisplätzen.

Im Schatten des weißen zierlichen Pavillons saßen hier in zwei Korbsesseln zwei Menschen, die noch vor Stunden nichts voneinander gewußt hatten.

Reverend Oliver Brex, Missionar der anglikanischen Kirche, gleichzeitig geheimer politischer Agent seines welthungrigen Vaterlandes, war erst heute nachmittag nach monatelanger Abwesenheit aus den fernen Sudangebieten zurückgekehrt. Der Gouverneur, der die Reste der versprengten Mahdisten, die einst die Hauptstadt Chartum erobert und ein entsetzliches Blutbad angerichtet hatten, noch immer überwachen ließ, war mit Oliver Brex’ knappem Bericht außerordentlich zufrieden gewesen und hatte nachher den blassen, hageren Reverend, dessen schwarzer, hochgeschlossener Rock aus matter Seide die Farblosigkeit dieser starren Züge nur noch unterstrich, der überraschten Theresa mit den scherzenden Worten vorgestellt:

„Hier bringe ich Ihnen den besten Kenner des Sudan, meine verehrteste gnädige Frau … Reverend Oliver Brex hat Afrika besiegt. Die afrikanische Sonne kann ihm nichts anhaben, wie sie sehen … Er ist der einzige Engländer, der sich rühmen darf, genau so bleich und durchgeistigt nach London zurückkehren zu können, woher er vor fünf Jahren als Streiter Gottes hier eintraf. Ein seltener, seltsamer Herr“, fügte der weißbärtige Gouverneur etwas ernster hinzu.

Es klang fast wie eine Warnung.

Oliver Brex verzog keine Miene zu dieser immerhin zweideutigen Charakteristik seiner Person. Er verneigte sich nur abermals mit kühlster Gemessenheit vor der vielumschwärmten Frau, die bereits bei seinem ersten Anblick mit aller Deutlichkeit gespürt hatte, hier einem Menschen gegenüberzustehen, der in keinen einzigen jener Persönlichkeitsrahmen hineinpaßte, die ihr als vielerfahrener Weltdame trotz ihrer Jugend geläufig waren.

Der Gouverneur ließ die beiden allein und mischte sich wieder unter seine Gäste, die sich, und auch das merkte Theresa von Bruck sehr bald, geflissentlich von dem bleichen Reverend fernhielten.

Oliver Brex hatte nichts, aber auch gar nichts an sich, das ihm Freunde oder gar eine warmherzige Freundin hätte erwerben können. Sein mageres Asketengesicht mit den dünnen blutleeren Lippen, der messerscharfen Hakennase und den tiefliegenden dunklen Augen, die einen unnatürlichen Glanz besaßen und ebenso unnatürlich starr waren, dazu das schwarze, glatt zurückgestrichene Haar über einer vorgebauten knochigen Stirn und schließlich die unendliche Ruhe seiner Bewegungen und die bewußte Spärlichkeit seiner Gesten sowie seine ablehnende Verschlossenheit ließen es unbegreiflich erscheinen, daß dieser gegen alle Tropenregeln ganz in Schwarz gekleidete Missionar irgendwie durch seine Erscheinung die Eingeborenen für die Segnungen eines christlichen Religionsbekenntnisses gewinnen könnte. Von seiner Tätigkeit als politischer Agent war Theresa von Bruck nichts bekannt. Nur der engere Stab des Gouverneurs wußte hiervon, und diese Herren schwiegen, dafür waren sie eben Engländer und standen hier auf einem der gefährlichsten Posten des englischen Kolonialreiches.

„Es freut mich, gerade Sie kennengelernt zu haben, Ehrwürden“, sagte sie etwas zu überstürzt, weil sie sich seltsam unsicher fühlte. „Mein Mann, der Professor von Bruck, beabsichtigt übermorgen nach Ain Halfa aufzubrechen, wo sich weite Ruinenfelder befinden. Da die Gegend dort nicht ganz sicher sein soll, weil die Oase an die Sümpfe und Urwälder des unerforschten Dschebel Dscharani stößt, könnten Sie mir vielleicht einige Winke als bester Kenner des Sudan geben, wie man diese Gefahren vermeidet. Gewiß, der Gouverneur wird uns eine Eskorte von zwanzig Kamelreitern unter Hauptmann Bewers bewilligen, aber mein Mann ist davon nicht gerade entzückt …“

Der Reverend nickte unmerklich.

„England ist sehr höflich und sehr vorsichtig“, erwiderte er leise. „Der Nordwesten der Provinz Cordofan ist auch heute noch kein Gebiet für wissenschaftliche Experimente, gnädige Frau. Alles, was sich auf Ausgrabungen bezieht, ist ein gefährliches Experiment. Die Eingeborenen betrachten jede derartige Tätigkeit als Beeinträchtigung altüberlieferter Rechte. Bleiben Sie Ain Halfa fern. Das ist mein Rat.“

Er sprach trotz der Monotonie seiner an sich klaren, hellen Stimme mit einem Nachdruck, als wüßte er über Ain Halfa weit mehr, als er zugeben mochte.

Theresa war das Zurückschrecken vor allerletzten Konsequenzen fremd.

Nicht etwa, daß diese zierliche, verwöhnte, im tiefsten Herzen nur immer berechnende Puppe jenen wahren Mut besessen hätte, der stets nur der Ausfluß eines starken, in sich gefestigten Charakters sein kann.

Nein, dazu war die aschblonde Theresa viel zu unausgeglichen. Ihr verträumtes, sehnendes Lächeln und der verschleierte Blick, der irgendwo in den Sternen das unfaßbare Glück einer alles umstürzenden Leidenschaft zu suchen schien, waren nur Zeichen einer unstillbaren Neugier und Sensationslüsternheit. Ihre sportliche Betätigung als Autofahrerin, Bergsteigerin, Jägerin und Reiterin bedeuteten ihr nur günstige Gelegenheiten, einmal zu versuchen, ob ihr auch das Tollkühnste gelingen würde und ob andere bei den gleichen Versuchen ihr Leben einbüßten. Sie war eine Va-Banque-Spielerin aus Sucht, die Extravaganz bis zum Äußersten auszukosten.

„Ich kenne keine Furcht!“, erwiderte sie fast herausfordernd auf Oliver Brex’ Warnung hin. „Ich liebe die Gefahr … Auch meinem Manne darf niemand mit derartigen Bedenken kommen. Mag er ein recht weltfremder Gelehrter sein, bei ernsten Anlässen versagt er nie, obwohl …“

Sie verstummte plötzlich, drehte den Kopf und blickte zu einer Gruppe von Herren hinüber, in der die blondbärtige, etwas gebeugte Reckengestalt des Professors sofort auffiel.

„Obwohl …“, ermunterte Oliver Brex sie zum Weitersprechen. „Ich glaube, gnädige Frau, daß die Einschränkung, die Sie diesem Urteil über Ihren Herrn Gemahl hinzufügen wollten, nicht gerade sehr günstig ausgefallen wäre.“

„Sie sind sehr ehrlich, Ehrwürden“, erklärte sie mit demselben vertraulichen, leicht koketten Lächeln wie vorhin. „Würden Sie mir daher nicht auch die Gefahren näher bezeichnen, die uns in Ain Halfa drohen könnten?“

Oliver Brex, der steif aufgerichtet und mit etwas selbstbewußt zurückgeneigten Kopf vor ihr stand, während er zwei Finger seiner Rechten zwischen die Knöpfe seines ernsten, schwarzen langen Rockes geschoben hatte, schaute jetzt zu dem mitten auf der weiten Rasenfläche errichteten Tanzplatz hinüber, der durch zwei Scheinwerfer beleuchtet wurde. Die Musik begann gerade den Walzer aus Sydney Jones’ berühmter Operette „Die Geisha“.

Seine Mundwinkel zogen sich in so klarer Verachtung und Geringschätzung dieses lärmenden, farbenfrohen gesellschaftlichen Treibens tief herab, daß Theresa erstaunt fragte:

„Sie lieben derartige Veranstaltungen nicht. Weshalb sind Sie dann überhaupt hier erschienen?!“

Er blickte sie groß an. Sie fühlte abermals das Bezwingende dieser schillernden Augen, und ein Frösteln überlief sie trotz der heißen, fast windstillen Tropennacht.

„Ich kam Ihretwegen“, entgegnete er schroff und verletzend ehrlich. Nur Ihretwegen … Hauptmann Bewers erzählte mir von Ihren … Erfolgen hier …“

Sie spürte den beißenden Spott, und Unwillen und Empörung trieben ihr eine heiße Blutwelle bis zu den widerspenstigen Stirnlöckchen.

„… Ich wollte Sie kennenlernen und mir selbst ein Urteil über Sie bilden. Bewers meinte, Sie besäßen kein Temperament, Sie seien ein schöner seltener Schmetterling, dessen lockende Farben auf den Flügeldecken nur bunter Staub sind. Bewers ist eine Gewaltnatur, und Gewaltmenschen haben kein Verständnis für kompliziertere Wesen. Ihnen fehlt das große Erlebnis. Ihre Ehe ist zweifellos nur ein Geschäft gewesen. Bruck entstammt altem märkischen Adel, der sein Wappen durch günstige Ehen frisch vergolden ließ. Ihr Vater ist tot … Seine Firma wurde von den großen Konzernen aufgesogen, und er verarmte. Derartige Heiraten sind kein Erlebnis, das eine Frau wie Sie zum wahren Selbst ausreifen lassen könnte. Sie vergeuden Ihr eigenes Ich für ein Nichts. Sie warten und hoffen beständig auf irgend etwas, das Ihnen nur unklar als Sehnsucht vorschwebt. Sie werden einen Lebensweg gehen, der wie die Straße zwischen lächerlichen Schaubuden eines Vergnügungsparkes ist, und am Ende Ihrer Tage werden Sie bei der Schlußabrechnung über Ihr Dasein traurig feststellen: Zwecklos, sinnlos, da das große, einzige, wahrhaft aufrüttelnde Geschehnis fehlt!“

Theresa hatte den Kopf immer tiefer gesenkt. Oliver Brex’ brutal offene Sätze umrauschten ihre kleinen Ohren mit den schillernden Brillanten in den dünnen, fast durchscheinenden Ohrläppchen wie Fanfarenstöße, drangen tief in ihr Innerstes ein und ließen sie erbleichen.

Sie empfand keine Demütigung, keinen Ärger, keine Gereiztheit gegen diesen Fremden, der wie ein Beichtvater und zugleich wie ein kundiger Seelenchirurg ihre Schwächen und Fehler und geheimsten Gedanken bloßlegte. Seine Worte waren Messerschnitte, unter denen die geschickt verschleierte Oberflächlichkeit und Eitelkeit dieser all ihrer Weibesmacht entblößten Frau still und widerstandslos verbluteten.

Demütig, armselig stand sie vor ihm. Ihre knospende Brust unter dem hauchdünnen Seidenschal flog in raschen ängstlichen Atemzügen. Diesem klassisch schönen festen Busen sah niemand an, daß Frau Theresa daheim in Berlin ein einjähriges Mägdlein, ihr Kind, unter treuer Obhut von Amme, Kinderfräulein und Diener zurückgelassen hatte.

Theresa von Bruck kam gar nicht der Gedanke, wie seltsam es doch sei, daß dieser Mann, dieser schwarzgekleidete blasse Wahrheitsfanatiker so verblüffend richtig über ihre Lebensverhältnisse Bescheid wußte. Sie spürte seine unendliche Überlegenheit nur wie etwas Schicksalhaftes, Vorherbestimmtes, und als er, abermals in seiner kühlen monotonen Art, ihr die entlegenen Tennisplätze als günstigsten Ort für eine intimere Aussprache vorschlug – er sagte tatsächlich intimer –, folgte sie ihm willenlos in dem nicht mehr wegzuweisenden Gefühl, daß es gegen Oliver Brex’ Persönlichkeit kein Sichauflehnen gäbe.

Der süße, süßliche Walzer, der das Geschick der kleinen japanischen Geisha Mimosa San verherrlichen sollte, war beendet. Eine Truppe eingeborener Tänzerinnen und Musikanten mit Trommeln, Pauken, ortsüblichen Zupfgeigen und Tambourins betrat das Tanzpodium.

Die lärmende, grelle, aufreizende Musik der Farbigen erstarb hinter dem einsamen Paare, und Hauptmann Bewers, der Brex nicht aus den Augen gelassen hatte, sagte spöttisch zu dem Adjutanten Seiner Exzellenz:

„Brex’ neuestes Opfer …!! Er macht die Weiber erst toll durch seine gut angelernten Mätzchen eines Übermenschen, und dann erklärt er ihnen. „Bedaure, – – für Schäferstündchen ist meine Zeit zu kostbar!“ – Und die düpierten Schäflein heulen sich die Augen naß …!“

Major Fitzmoor streute mit dem Zeigefinger die Aschenspitze von seiner Zigarre und musterte Bewers dann etwas mißbilligend.

„Ich denke, Sie sind Brex’ Freund?!“

„Ich?! – Wer ist sein Freund?! Niemand!“

„Bitte, – – Seine Exzellenz bestimmt …“

Bewers kniff die Augen klein.

„Exzellenz sollte Brex einen Aufpasser mitgeben. Wissen wir, was der fromme Herr dort in der Wildnis während seiner monatelangen Abwesenheit wirklich treibt?! Hier ist er ja nur für Tage anwesend, und …“

Fitzmoor unterbrach ihn streng. „Beenden wir das Thema. Sie sind in Ihrer Eitelkeit gekränkt, Bewers … Das ist’s … Mit Ihnen hat die schöne Frau noch keine Spaziergänge in die verschwiegene Dunkelheit unternommen.“

Bewers verneigte sich steif vor dem Major und schritt davon. Er glaubte Oliver Brex richtiger einzuschätzen, ais diese blinden Herren vom Gouvernement den bleichen Missionar kannten. Der Hauptmann hatte schon seine Gründe dafür, Oliver Brex mit Argwohn zu verfolgen. Gerade er, dem es oblag, mit seinen tapferen Dromedarreitern endlose Patrouillenritte zu unternehmen, traute den Reverend nicht über den Weg. Aber Beweise gegen ihn besaß er nicht. Sein Verdacht war mehr gefühlsmäßig und vielleicht dadurch berechtigt, daß Oliver Brex’ unnatürlich blasse Gesichtsfarbe stets einen merkwürdig gelblichen Schimmer hatte und der Halbmond seiner Fingernägel schwach opalisierte.

„… Der Bursche hat ein Quäntchen Araber- und Negerblut in den Adern“, hatte Charly Bewers gefolgert.

Er traute keinem Mischling, und mochte die Blutverfälschung auch nur noch so dünn sein und der Betreffende in Oxford studiert haben und nebenher den Doktortitel führen dürfen, den Oliver Brex freilich niemals benutzte. –

Im Schatten des Pavillons der Tennisplätze, deren weiße Kalkstriche und straff gespannte Netze im Mondlicht wie eine Schändung der wundervollen blütenfrohen Bäume und Büsche ringsum sich ausnahmen, hatte Oliver Brex wortlos eine kurze Pfeife mit einem eigentümlich geformten, aus Achat geschnittenen Kopf aus der Innentasche seines Rockes hervorgeholt und dazu ein flaches Silberbüchschen und eine silberne spitze Nadel.

Theresa von Bruck beobachtete ihn mit Staunen, dann mit Entsetzen.

Der Reverend spießte ein winziges braunrotes Kügelchen auf die Nadel, legte es in die kleine Öffnung des winzigen Pfeifenkopfes und rieb ein Zündholz an.

All das tat er mit einer gewissen Feierlichkeit.

Mit schwachem Knistern fing das Kügelchen Feuer, Brex sog den Rauch tief in die Lungen ein und atmete ihn bedächtig wieder aus. Der schwache Wind hüllte Theresa für Sekunden in eine seltsam aromatisch duftende Wolke.

Der Reverend lächelte nachsichtig.

Theresa hatte die Hände um die Lehnen des Korbsessels gekrallt und sich weit vorgebeugt.

„Mein Gott, – – Sie sind Opiumraucher?“ flüsterte sie scheu.

Brex bejahte. Er tat noch einen Zug.

„Sind Sie ebenfalls wie so viele der irrigen Ansicht, daß Opiumrauchen schädlich sei?!“

Er schüttelte leicht den Kopf.

„Nur der übermäßige Opiumgenuß ruiniert Körper und Hirn … Opium, in der Form von Tschandu genossen, ist ein harmloses Belebungsmittel. In Persien zum Beispiel hätten die Läufer, die noch vor zwanzig Jahren den Kurierdienst ausschließlich besorgten, niemals so ungeheure Strecken zurücklegen können, wenn nicht die Opiumpfeife sie stets begleitet hätte … Und hier im Sudan würden die Anhänger des Mahdi niemals mit solcher Todesverachtung gegen die englischen Schnellfeuergeschütze angerannt sein, wenn nicht diese köstliche Droge all ihre seelischen Hemmungen, also Todesangst als Hauptsächlichstes, beseitigt hätte …“

Theresa starrte den blassen Mann in die jetzt fast zärtlich leuchtenden Augen.

„Aber … aber … Opium gilt doch allgemein für äußerst verderblich“, sagte sie vollkommen verwirrt.

„Man könnte dasselbe von allen harmlosen Lebensmitteln behaupten, gnädige Frau, denn übermäßiges Essen ist ebenfalls schädlich, besonders in heißen Zonen.“

Inzwischen hatte Theresa von Bruck neuen Anlaß gefunden, ihre Meinung über dieses Rauschgift mit aller Entschiedenheit zu vertreten.

„Hauptmann Bewers äußerte letztens, als er meinen Mann und mich durch das Eingeborenenviertel geleitete und uns einige verdächtige Kaffeehäuser zeigte, daß die immer deutlicher spürbare Aufsässigkeit der farbigen Bevölkerung wahrscheinlich auf Opiumgenuß zurückzuführen sei. Die Polizei hat auch auf sein Betreiben den Karawanenverkehr schärfer überwacht und fünf Beduinen verhaftet, die zwischen Früchten versteckt größere Mengen reinen Opiums in die Stadt einschmuggeln wollten. Leider sind die fünf Leute in der nächsten Nacht auf bisher ungeklärte Art aus dem Gefängnis entwichen. Bewers meint, die Verseuchung Chartums mit Opium erfolge ganz systematisch und hänge aufs allerengste mit der gespannten politischen Lage in Europa zusammen. Wenn Rußland zum Kriege gegen die Mittelmächte schritte, erklärte er weiter, könnte England nicht untätig bleiben, und dann sei der Sudan für eine neue Aufstandsbewegung reif, da die Eingeborenen sehr wohl wußten, wie notwendig England dann jeden einzelnen Mann und alles Kriegsmaterial auf dem Kontinent brauche. Bewers blickt jedenfalls sehr ernst in die Zukunft, und wie weit der Europäerhaß hier in Chartum bereits durch dieses schändliche Gift aufgepeitscht ist, haben wir drei damals am eigenen Leibe erfahren: Wir wurden vor der kleinen Akbar-Moschee mit Steinen beworfen, und der Hauptmann sah sich genötigt, ein paar scharfe Schüsse abzugeben.“

Theresa hatte in Erinnerung an den einen faustgroßen Stein, der ihren linken Oberschenkel getroffen und dort einen noch heute sichtbaren blaugrün verfärbten Fleck zurückgelassen hatte, sich immer mehr ereifert und ihre Stimme immer stärker anschwellen lassen.

„… Sie werden doch zugeben müssen, Reverend“, schloß sie ihre leidenschaftlichen Sätze, „daß es mir als Frau, als Europäerin unbegreiflich erscheint, wie Sie, gerade Sie als Geistlicher und Missionar eine Unsitte mitmachen können, die nach Ihren eigenen Angaben die natürlichen Hemmungen der menschlichen Seele beseitigt und somit das Tierhafte im Menschen freiwerden läßt, denn die Todesverachtung der Mahdisten war doch letzten Endes nur ein blinder Rausch, und …“

Sie schwieg, denn Oliver Brex hatte ihr plötzlich ein in einen kleinen Seidenschal gehülltes Päckchen hinübergereicht.

„Bitte! Versuchen Sie’s! Dann urteilen Sie“, sagte er nur. „Die Strapazen, die ich freiwillig in der Wildnis auf mich nehme, wären für den kräftigsten Mann nicht auszuhalten, wenn ich nicht diese Medizin mit mir führte.“

Er sprach ohne jede Prahlerei mit einer bei ihm so selbstverständlich erscheinenden Schlichtheit, daß Theresa von Bruck die unwillig abwehrende Handbewegung ebenso schnell zu einer mehr scherzhaften Geste abschwächte und lediglich entgegnete: „Falls Sie mir eine Opiumraucherausrüstung schenken wollen, muß ich zu meinem Bedauern dankend ablehnen.“

Und doch fühlte sie bereits getreu ihrer ganzen Charakterveranlagung in Wahrheit den brennenden Wunsch, wirklich einmal den Versuch zu wagen, wie dieser weißliche aromatische Rauch auf ihren widerstandsfähigen Körper wirken würde.

Der Reverend enthüllte auch bereits, als hätte er ihre Ablehnung niemals ernst genommen, mit schnellen Griffen eine ganz neue kurze Opiumpfeife, ein goldenes Schächtelchen und eine silberne spitze Nadel.

„Man soll sich nie ein Urteil über Dinge anmaßen, gnädige Frau, die man nicht kennt …“, hörte sie ihn wie aus weiter Ferne sprechen, so leise und so seltsam weltentrückt war der Tonfall seiner Stimme. „Die Eingeborenen dort im Nordosten nennen mich Tschandu, und Tschandu ist das für den Pfeifengenuß besonders präparierte Opium. Ich habe diesen Namen niemals als Herabsetzung empfunden. Im Gegenteil, dieser Titel wird von den Stämmen des Inneren, die mich kennen, mit den Begriffen übermenschlicher Widerstandsfähigkeit, Energie und größter geistiger Regsamkeit aufs innigste verknüpft … Bitte, – – die Pfeife ist gefüllt … Atmen Sie den Rauch ganz tief ein … Die Opiummenge ist so winzig, daß Sie zunächst gar nichts von einer Wirkung spüren werden … – Bitte!!“

Es war wie ein Befehl, und Theresa gehorchte, nahm das Mundstück zwischen die Lippen und sah das Flämmchen des Zündholzes aufblitzen. Klopfenden Herzens und dennoch neugierig wie stets, sog sie den warmen weißen Rauch wie den einer Zigarette in die Lungen ein. Drei Züge tat sie, und schon beim dritten spürte sie eine wunderbare körperliche Frische und geistige Belebtheit, dann nahm Brex ihr die kostbare kleine Pfeife aus den Fingern …

„Genug!“ sagte er.

Theresa lehnte sich mit einem Seufzer wohligsten Behagens zurück. Ihre Gedanken flossen mit einer Klarheit und plastischen Lebendigkeit dahin, als wäre in ihrem Hirn eine verborgene Pforte einer ihr bis dahin unbekannten Geisteskammer gesprengt worden. Sie fühlte sich über sich selbst hinaus wachsen, selbst die leichte Mattigkeit, die als Folge eines unbedeutenden Malariaanfalles zurückgeblieben war, schien wie weggezaubert, all ihre Sinne zeigten eine erhöhte Aufnahmefähigkeit und Spannkraft, ihr Gehör, selbst ihre Augen hatten teil an dieser wunderbaren Anfeuerung, und kaum war sie sich nun dieser verblüffend schnellen, im einzelnen kaum zu zergliedernden Wirkung bewußt geworden, als sie kindlich-lebhaft wie ein Backfisch über ein köstliches Geschenk in die Hände klatschte und dem Reverend zurief:

„Ein Wunder hat sich an mir vollzogen, und es ist weit schneller eingetreten, als Sie mir prophezeiten, Mister Brex …“

Die Mondscheibe war derweil weiter gewandert und hüllte das farblose Asketengesicht des Missionars in ein unirdisch bläulich-grünliches Licht.

Er lächelte wieder. Es war nicht das Lächeln eines mit kaltem Raffinement auf die Untergrabung der Willenskraft dieser schönen, leider innerlich so leeren Frau ausgehenden Schurken.

Nein, – sein bis dahin so starres Antlitz erstrahlte nun in einer tiefen, warmen Zärtlichkeit und glich bei dieser Beleuchtung einer eigentümlich gefärbten Bronze irgendeines altgriechischen Gottes, der den Sehnsüchtigen mild-gütigen Herzens ein ungeahntes Liebesglück beschert.

Seine schmale, trotzdem muskulöse Hand, die genau so gepflegt war wie die einer Weltdame aus den vornehmsten Kreisen seiner englischen Heimat, legte sich mit sanftem Druck auf Theresas übereifrige, freudige Hände und hielt sie mit leicht sich verstärkendem Druck fest umklammert.

„Man applaudiert im Theater zu den erfundenen Schicksalen von Fantasiefiguren und zu den Leistungen der Schauspieler, Theresa …“, sagte er mit unmerklichem Tadel. „Man applaudiert nicht zu den Wirkungen eines Göttergeschenkes, wie es das Tschandu darstellt … Das ist Entweihung, Profanierung. Wenn ich dir, Theresa, dieses Köstliche darbot, dann geschah’s nur deshalb, um die herkömmlichen Hemmungen deiner Seele zu lösen und dir wie in einem Zauberspiegel dein wahres Selbst zu zeigen. Bisher warst du nur ein Schmetterling, dessen Farbenpracht lediglich aus allerfeinsten Stäubchen bestand, wie Bewers nicht ganz unrichtig bemerkte.

Er neigte sich vor, und sein warmer Atem traf zärtlich ihre glühenden Wangen.

Theresa von Bruck kam es gar nicht in den Sinn, daß dieser Mann, den sie erst vor einer Stunde kennengelernt hatte, hier über alle Begriffe menschlicher und gesellschaftlicher Moral mit einer Selbstverständlichkeit sich hinwegsetzte, als ob ihm alles gestattet sei, als ob er nicht im geringsten daran zweifelte, mit seiner unvermittelten Liebeserklärung bei ihr auf keinerlei Widerstand zu stoßen.

Nichts, was da wie ein glitzernder Quell über seine Lippen strömte, dünkte ihr leere Phrase. Es war auch kein seichtes, abgenutztes Wortgeplätscher, es war das fanatische Ringen eines Feuergeistes um die Liebe eines Weibes, die diesem düsteren Gottesstreiter den Nymbus eines antiken Heros verlieh, wie etwa die feingeschliffenen Verse eines Homer ihn zu schildern vermögen.

„… Theresa, Menschen, die das Schicksal füreinander bestimmt hat, bedürfen nicht endloser Wochen, um sich gegenseitig auf dem üblichen Wege konventionellen Verkehrs lieben zu lernen. Liebe lernt man nicht, Liebe fliegt dem Begnadeten zu wie der Duft jener afrikanischen Jasminsträucher dort, den auch keine Macht der Welt zu unterdrücken vermag, es sei denn, man tötete jene zartroten Blüten durch Feuersgewalt … Liebe, die von der Vorsehung geschenkt wird, gleicht dem Fluge jener Kranichscharen dort über uns, deren Flügel du rauschen hörst und deren Wanderfahrten zu neuen sicheren Horsten von einem göttlichen Naturgesetz bestimmt werden, genau wie das Suchen und das Sichfinden zweier Menschen …“

Oliver Brex hatte sich erhoben, hatte gleichzeitig Theresa in die Arme genommen und sie sanft an sich gepresst. Gerade die feinfühlige Zurückhaltung dieser ersten Liebkosung entwaffnete die halb betäubte, halb willenlose Frau so vollkommen, daß sie sich voller Hingebung in seine Arme schmiegte und sich mit ihrem überwachen Geiste wirklich einredete, an ihr wäre ein unbegreifliches Wunder geschehen und sie hätte tatsächlich jenen Grad von innerer Reife und geistiger Werte erreicht, der diese heimliche Liebesstunde alles Unmoralischen entkleidete.

Als Oliver Brex sie nun küßte und zwischen den immer heißeren, glutvolleren Vereinigungen ihrer Lippenpaare abermals Worte eines geradezu schwärmerisch-erhabenen Glückes fand, flog durch Theresas überhitztes Hirn wie ein fremder, häßlicher Spuk die Erinnerung an die ersten Tage ihrer Ehe. Die brutale Kraft, mit der ihr Gatte einst von ihrem Leibe Besitz ergriffen hatte, erschien ihr in diesen Minuten, wo jede gerechte Kritik ihr selbst unbewußt ausgeschaltet war, wie das gierige, zügellose, sie entehrende Gewaltwerk eines Barbaren.

Im hellen Mondlicht standen sie da, der schwarzgekleidete geheimnisvolle Tschandu und das in heller, fließender Seide prunkende blutjunge Weib des deutschen Gelehrten, ihre Gestalten verschmolzen ineinander, der Nachtwind wehte Theresas Gewand um die dunkle Silhouette ihres Geliebten, neue Kranichscharen zogen mit mißtönendem Kreischen von einem Nilarm zum andern, Flamingos, in Pfeilform geordnet, strichen so niedrig über den Park hinweg, daß der Luftzug ihrer Schwingen Theresas glühendes Gesicht mit kühlen Wellen traf …

Dann irgendwo im Gebüsch ein seltsam schriller Vogelruf, und blitzartig lösten sich Oliver Brex’ Lippen und Arme von der Geliebten.

„Es kommt jemand“, flüsterte er hastig.

„Meine Ohren sind stets wach …“

Nochmals ertönte derselbe Vogelschrei.

Brex trat zurück. Sein Gesicht war starr und kalt. Mit flinken Händen hüllte er die für Theresa bestimmte Opiumpfeife, das goldene Büchschen und die silberne Nadel in das Seidentuch.

„Da, verbirg’s in deinem Busenausschnitt. Und wenn die Sehnsucht dich packt nach dem, was nur ich dir schenken kann, dann atme den heiligen weißen Rauch ein und denke an mich, deinen Tschandu. – Leb wohl … Wir sehen uns wieder …“

Wie ein Schatten glitt er in die Büsche mit so überaus gelenkigen Bewegungen, daß wohl niemand dem Reverend Oliver Brex diese Leopardenähnlichen, aalglatten, einen völlig anderen Menschen enthüllenden lautlosen Sprünge und diese eilfertige, noch geräuschlosere Flucht zugetraut hätte.

Minuten später betrat Hauptmann Charly Bewers den Platz. Er fand die schöne Frau allein, in einen Korbsessel lässig und mit noch verträumterem Lächeln als sonst hingestreckt.

In derselben Minute berührte eine braune Hand, die aus einer schmierigen Eingeborenenjacke sich hervorstreckte, den Arm des bleichen Asketen.

„Schon gut, Cheffrem“, flüsterte der Reverend dem Beduinen zu … – Was er noch leiser, fast ohne die Lippen zu bewegen, zu seinem Getreuen sprach, bedeutete Kampf und Tod und das Heraufbeschwören einer ihm selbst verhüllten dunklen Zukunft. –

… Acht Wochen später traf Hauptmann Bewers als einziger Überlebender in Chartum ein.

Und wieder sechs Wochen darauf brachte eine Karawane, die das Gebiet von Ain Halfa gestreift hatte, eine Europäerin mit nach Chartum, die man neben ihrem toten Reitdromedar halb verschmachtet in der Wüste aufgelesen hatte.

Und abermals vier Wochen später flammte der große Weltenbrand an den Grenzen Ostpreußens und jenseits des Rheines auf, Ströme von Blut versickerten im granatenzerpflügten Erdreich, Verwesungsgeruch dunstete über zerfetzten Leibern, der rollende Donner unendlicher Geschützsalven trug die stummen Anklagen eines um seine Existenz ringenden, von Feinden eingekreisten, von trügerischen Freunden verlassenen deutschen Volkes zwecklos zu den ewig flimmernden, ewig rätselvollen Gestirnen empor.

Am 1. Februar 1915 schenkte Theresa von Bruck in der Privatklinik eines ebenso berühmten wie witzigen und äußerst kostspieligen Frauenarztes ihrem zweiten Kinde das Leben.

 

2. Kapitel.

Nach achtzehn Jahren: Tschanda!

Draußen fauchte ein bösartiger Aprilsturm, der mit seinen Windstößen und plätschernden Regengüssen und knatternden Hagelschauern gerade die Mansardenwohnung der verwitweten Theresa von Bruck als Hauptangriffspunkt gewählt zu haben schien.

In dem kleinen Salon dieser dürftigen Behausung, der mit seiner unmodernen, zusammengewürfelten Einrichtung diese Bezeichnung kaum rechtfertigte, brannte auf dem ovalen, mit einer verblichenen Plüschdecke belegten Tisch vor dem hochlehnigen Rippssofa eine Stehlampe mit gelbem Seidenschirm und gab nur oben genügend Licht, Frau Theresa die Arbeit an der feinen Stickerei zu gestatten.

Nur die weißen, schmalen, schon etwas faltigen Hände Frau Theresas und ein Teil der bunten Stickerei waren hell beleuchtet. Der übrige Raum lag im warmen Dämmerschein, der freilich zu den Gedanken und Empfindungen der drei hier weilenden Personen wenig paßte, denn weder die scharfen, wenn auch noch immer reizvollen Züge der Dame des Hauses noch die Mienen des gelangweilten Brautpaares strahlten irgendwie Wärme oder stille Freude des Behagens aus.

Frau Theresa hatte sich wie stets bei ihrer Arbeit, die ihr von einem holländischen Interessenten überraschend gut bezahlt wurde, vollkommen in ihre liebsten, schmerzlichsten und aufregendsten Erinnerungen eingesponnen.

Jeder Nadelstich, den sie tat, war wie eine Abwehr gegen die Gespenster der eigenen Unzulänglichkeit und damit auch gegen die Schatten der Vergangenheit. Zuweilen zuckte sie erschrocken zusammen, wenn der Hagel wie Flintenkugeln gegen das Zinkblech des Mansardendaches knatterte. Dann hob sie den Kopf und blickte verwirrt umher. Es ärgerte sie, daß dieser lächerliche Lärm des Unwetters ihren Nerven derart zusetzte. Sie hatte weiß Gott andere Dinge erlebt, und die zahmen Zeitungsberichte von Schießereien zwischen politischen Gegnern in den nördlichen und östlichen Vierteln Berlins entlockten ihr nur ein geringschätziges Lächeln … Zwischen den Ruinenfeldern Ain Halfas war es toller hergegangen …

Das Brautpaar wieder, zwei Menschen, die schon nach kurzem Verlöbnis die gründlichen Irrtümer in der anfänglichen gegenseitigen Wertschätzung eingesehen hatten und die doch durch die Verhältnisse aneinandergekettet blieben wie ein Gespann von Rassepferd und herausgeputztem Zirkusgaul, hingen wohl andersgearteten, aber ebensowenig erfreulichen Gedanken nach, und schwiegen sich aus, weil sie sich wirklich nichts mehr zu sagen wußten. Im Grunde hielt nur noch eines sie zusammen: Tschandu!!

Und dabei kannten weder Heribert Gardner noch Edda von Bruck diesen Ausdruck und ahnten erst recht nicht, weshalb Frau Theresa es gegen den Widerstand der Behörden durchgesetzt hatte, daß ihre jüngere Tochter Tschanda, Theresa, Charta getauft wurde. In den Bekanntenkreisen Frau Theresas hatte man sich über diese Afrika-Schwärmerei, wie man es zu nennen beliebte, weidlich belustigt und sich im übrigen allmählich von der einst so verwöhnten und vielumschwärmten Frau unauffällig zurückgezogen, da deren Vermögensverhältnisse sich immer mehr verschlechterten. Es sickerte sehr bald nach Professor von Brucks vorbildlichem Heldentode in den Ruinen von Ain Halfa mit aller Bestimmtheit durch, dass Friedrich von Bruck seine Expeditionen und Forschungen größtenteils selbst finanziert und dabei seine Kapitalien bis auf einen geringen Rest verbraucht hatte, und auch dieser Rest schwand durch die Inflation völlig dahin.

Gegenüber alledem hatte die aus ihrer bisherigen Gesellschaftssphäre herausgerissene Frau eine immerhin erstaunliche Elastizität und Anpassungsfähigkeit bewiesen. Die Übergangszeit in die ärmlichen Verhältnisse, die durch die billige Mansardenwohnung in der alten engen Straße des Berliner Westens gekennzeichnet wurden, währte nur kurze Zeit.

Diese seelische Wandlung und dieses Sichabfinden mit einer im Grunde verhaßten Armut waren nicht ausschließlich einer neu erwachten Charakterstärke zuzuschreiben. Nein, die Hauptzüge der Gesamtveranlagung Theresas waren die gleichen geblieben. Äußere, fremde Einflüsse erleichterten ihr diese innere Umstellung. Sie hatte schon als Mädchen, damals mehr aus Spielerei, im Entwerfen von Stickmustern viel Talent bewiesen, und als nun die bitterste Not sie zum Geldverdienen zwang, war eine kleine Amsterdamer Firma irgendwie auf ihre Arbeiten aufmerksam geworden. Es paßte vollkommen in das Charakterbild Theresas hinein, daß sie sich niemals darüber Gedanken gemacht, weshalb wohl der Inhaber dieser Firma, ein Herr Pieter van Zeerten, regelmäßig jeden Monat bei ihr erschien, die fertigen Arbeiten mitnahm und – die Hauptsache – stets so bezahlte, daß Theresa vor wirklicher Not geschützt blieb.

Als ihre Kinder heranwuchsen und die Unkosten des Haushaltes sich steigerten, erhöhte van Zeerten ganz von selbst den Preis, und Edda und Tschanda konnten so erzogen werden, daß sie einmal in besseren Stellungen ihren Lebensunterhalt sich verdienen könnten.

Wiederum gingen Jahre dahin. Aus den hübschen Backfischen Edda und Tschanda wurden frühreife, ernste junge Mädchen, die nunmehr mit zu den Kosten des Haushaltes etwas beisteuerten und die es mit ihren Pflichten und mit ihrer ganzen Lebensführung sehr ernst nahmen, obwohl es selten ein so ungleiches Geschwisterpaar gegeben haben dürfte wie dieses. Nur in dem einen Punkt glichen sie einander: In dem frühreifen Zielbewußtsein ihrer Daseinsgestaltung. Im übrigen gab es keine Berührungsflächen zwischen ihnen, genau so, wie auch das Verhältnis zu Frau Theresa jeglicher wahrer Wärme entbehrte.

Nun war dieser Aprilabend herangekommen, der jählings wie mit rauher Sturmhand diese drei Menschen und ihre spärlichen Freunde und Bekannten in einen Wirbel neuen Geschehens hineinreißen sollte.

Heribert Gardner in seiner Sofaecke gähnte diskret und betrachtete mißbilligend die alte Stutzuhr auf dem Wandbrett, die soeben die elfte Stunde verkündet hatte. Er blickte etwas scheu zu seiner Schwiegermutter hinüber, die nach dem letzten sehr dünn und sehr nervenpeinigend aufklingenden Schlage der Stutzuhr die blonde Edda fragend und mahnend angeschaut hatte.

Gardner, dessen allzu regelmäßige, nichtssagende Züge selbst durch das eingefrorene überlegene Lächeln ihre Nüchternheit und deutlich spürbare erkünstelte Straffheit niemals verwischen konnten, stellte alles in allem den Typ jener goldenen Jugend und jener Lebemannswelt dar, die ohne innere Werte in einer Zeit der bewußten Verflachung jeglicher Persönlichkeitsmerkmale das eigene Ich trotzdem überschätzt und die bedenkenlos auf das zersetzende Schlagwort von mondänen kosmopolitischen Ansichten eingeschworen ist. Als einziges Kind schwerreicher Eltern, die ihn zunächst allzu sehr verwöhnt und dann mit Sorgen seine Fortentwicklung zu einem oberflächlichen Nichtstuer verfolgt hatten, ohne die Kraft aufzubringen, rechtzeitig einzugreifen, hatte er schließlich auch seine Verlobung mit Edda von Bruck durchgesetzt, die bei einer größeren Firma als Korrespondentin und Sekretärin des Generaldirektors tätig war. Dort hatte er Edda auch kennengelernt, hatte sich auf seine Art hoffnungslos in sie verliebt, und sich stets von der allerbesten Seite gezeigt, während er um sie warb.

Bei Edda war’s auch keine himmelstürmende Liebe gewesen, die sie veranlaßt hatte, Gardner ihr Jawort zu geben. Seine zarten Aufmerksamkeiten hatten ihr gefallen, und als sie seine Eltern kennenlernte und die Geheimrätin sie unter vier Augen flehentlich gebeten hatte, ihrem haltlosen großen Jungen eine Stütze und Lebensinhalt zu werden, tat Edda diese um den einzigen Sohn so überaus besorgte vielfache Millionärin, die zuerst so energisch gegen dieses Verlöbnis gewesen, aufrichtig leid. Sie, die selbst niemals wahrhaft innige Mutterliebe erfahren hatte, sah die stattliche, stolze, imponierende Geheimrätin vor ihren eigenen Augen zu einem verschüchterten, verängstigten Wesen zusammenschrumpfen, das für die gefährdeten Seele ihres einzigen Sohnes von Edda Hilfe und Rettung erhoffte.

Damals bei dieser denkwürdigen Aussprache zwischen den beiden Frauen hatte Edda noch zu Gunsten Heriberts angenommen, daß das besorgte Mutterauge die Gefahr für den großen unfertigen haltlosen Jungen überschätzte. Sehr bald lernte sie anders denken. Nur drei Monate lag diese Verlobung zurück, – – und heute?!

Daß es zwischen dem Brautpaar noch nicht zum offenen Bruch gekommen, hatte eben seine ganz besonderen Gründe. Unter diesen Gründen spielte die Rücksichtnahme Eddas auf die Geheimrätin Gardner die allergeringste Rolle, obwohl das junge Mädchen ihre Schwiegermutter aufrichtig verehrte. Der Geheimrätin zuliebe jedoch ihr Lebensglück und ihre Zukunft zu opfern, wäre für Edda nie in Frage gekommen. Dazu kannte sie das Leben und sich selbst doch zu gut. Sie wußte, was die Ehe bedeutete, und ihre sittlichen Grundsätze waren zu gefestigt, um ihren Körper etwa für die Gardner’schen Millionen zu verkaufen. Der beste Beweis ihrer zielbewußten Denkungsart, die nicht nur dem Augenblick Rechnung trug, war der, daß sie ihre Stellung als Sekretärin trotz des entsetzten Widerspruchs ihrer Schwiegereltern beibehalten und ihrer Mutter nachdrücklichst verboten hatte, von Gardners auch nur die geringste Unterstützung oder gar kostbare Geschenke anzunehmen.

Edda von Bruck war äußerlich und innerlich eine echte, wahre Nachkommin des alten märkischen Adelsgeschlechts, – die letzte Bruck, wie sie zuweilen in stillen Stunden des Überprüfens ihrer Umwelt sich selbst sagte. Sie besaß jene klare, ruhige Schönheit, die auf jede künstliche Nachhilfe verzichten kann und verzichten muß, wenn sie nicht einen fremden Zug in das Gesamtbild hineintragen will. Das reiche blonde Haar, eine Schattierung heller als das ihrer Mutter trug sie noch in dickem Flechtenkranz am Hinterkopf aufgesteckt. Die blaugrauen Augen, echte Bruckaugen, zeigten den metallischen Schimmer einer Willensstärke, die ein Erbteil ihres oft bespöttelten Vaters war, der dennoch mit vorbildlicher Tapferkeit in den Ruinen von Ain Halfa das Lager gegen den Ansturm der mordlustigen Beduinen verteidigt hatte und als Held verblutet war.

Ein eigentümlicher Reiz und Liebreiz umstrahlte ihre straffe Persönlichkeit. Aber hinter diesem wahrhaft mädchenhaften, weiblichen Wesen zeigte sich stets wie eine unbewußt betonte Umrahmung der grüblerische Ernst und die Zielklarheit einer früh im Lebenskampf gereiften Vollnatur. Edda von Bruck kannte keine Halbheiten. Wo sie einmal gegen ihre Grundsätze handelte, geschah’s aus behutsamer Überlegtheit. Ihr Leitmotiv war: Die Lauen speit der Himmel aus!

Und doch …

Als sie jetzt die mahnend fragenden Blicke der ahnungslosen Mutter spürte, mußte sie sich zugestehen, daß sie seit Wochen gegen ihre Grundsätze gehandelt hatte und ebenso seit Jahren Dinge ängstlich von sich gewiesen hatte, die wie Gespenster fortwährend durch diese kleine Wohnung geisterten.

Diese Selbsterkenntnis machte sie scheu und unsicher. Hinzu kam noch ihr ungeklärtes Verhältnis zu ihrem Verlobten, dem sie seit Tagen nicht einmal mehr die harmlosesten Zärtlichkeiten gestattete.

Der Aprilsturm draußen legte gerade eine Atempause ein. Edda wußte, was die Mutter vorbringen würde. Heribert Gardner rückte nervös sein Einglas zurecht. Auch er ahnte, daß heute eine große Aussprache unvermeidlich sei. Er fürchtete ihre Fragen. Die Finger seiner Linken trommelten auf der Sofalehne, er duckte sich zusammen, sein eingefrorenes Lächeln schwand.

„Tschanda kommt abermals so spät heim“, ließ sich Frau Theresas sonore Stimme mit ungewohnter Schärfe vernehmen. „Das geht unmöglich so weiter … Wenn der Justizrat in seinem Büro so viel zu tun hat, mag er sein Personal ergänzen. Es ist jetzt nach elf Uhr, und Tschanda ist noch nicht zu Hause. Ich dulde das nicht. Ich werde den Justizrat anrufen und ihm das Ungehörige dieser Ausnutzung seiner Stenotypistinnen einmal gründlich vorhalten.“

Sie legte die Brille auf ihre Stickerei und erhob sich halb.

Edda, die inzwischen zu einem bestimmten Entschluß gekommen war, bat die Mutter mit einer schnellen, fast schroffen Handbewegung, ihren Sessel nicht zu verlassen. Sie hatte ihre kleinmütige Verzagtheit und Unsicherheit überwunden und fügte ohne jede Schärfe hinzu: „Tschanda belügt uns, Mama. Ich wollte dich schonen, ich habe Tschanda so und so oft ins Gewissen geredet, aber es hat nichts geholfen. Sie verbat sich jede Einmischung in ihre persönlichen Angelegenheiten und nannte Heribert und mich verachtenswerte Spione …“

Ein neuer Hagelschauer milderte mit seinem peinvollen Lärmen die letzten anklagenden und ehrlich empörten Sätze der älteren von Bruck.

Frau Theresa brauchte einige Zeit, den Sinn der Worte Eddas voll zu erfassen. Sie war noch immer eine schöne Frau, und wenn sie sich etwas herrichtete, konnte sie getrost für die älteste der Geschwister gelten.

„Tschanda belügt uns?!“ wiederholte sie, Edda starr und groß anblickend. „Wie meinst du das?! – Tschanda ist keiner Lüge fähig“, verteidigte sie ihre Jüngste nur sehr matt.

Heribert Gardner hüstelte trocken. Er sah das häusliche Gewitter heraufziehen, und alles, was ihm unbequem, umging er stets mit größtem Geschick. Hier war er an seinen Platz gebannt, hier würde er Zeuge spielen müssen, und – – er fürchtete Tschanda. Sie würde ihn verachtungsvoll und so unverhohlen geringschätzig anschauen, wie sie dies schon oft getan hatte bei ganz geringfügigen Anlässen. – „Du bist ein jämmerlicher Feigling“, hatte sie noch letztens in der eleganten Bar zu ihm so laut gesagt, daß die Umstehenden belustigt gekichert hatten.

„Tschanda macht keine Überstunden“, sagte Edda kalt und erwiderte den feindseligen Blick der Mutter mit einem kampflustigen Zurückwerfen des Kopfes. „Sie ist in schlechte Gesellschaft geraten, in einen Kreis von internationalen Lebemännern und Künstlern, zu dem auch dein vielgepriesener Geschäftsfreund Pieter oder Peter van Zeerten gehört …“

Es gab jetzt für sie keine Hemmungen mehr. Was gesagt werden mußte, sollte heute endlich rücksichtslos ausgesprochen werden.

Gardner duckte sich noch scheuer in seine Sofaecke hinein. Diesen Ton kannte er an Edda … In demselben Tone hatte sie ihm vor einer Woche erklärt, als er sie wieder einmal in einem Anfall von Lüsternheit allzu stürmisch küssen wollte, diese Art Intimitäten müßten zwischen ihnen ein Ende haben … „Ich denke, wir kennen uns nun …! Ein Handkuß genügt!“ – Törichterweise hatte er damals auftrumpfen wollen. „Du vergißt, daß du mir zumindest zu Dank verpflichtet bist, denn ich habe Tschadas Abwege bloßgelegt und schweige zu alledem …!“ – Nie wieder hätte er sich zu einer solchen Äußerung hinreißen lassen. – „Du bist noch weniger wert, als ich bisher glaubte“, hatte Edda erwidert, ihm den Rücken gekehrt und das Zimmer verlassen. Gardner blieb wie ein geprügelter Hund zurück.

Dieselbe Edda sprach hier mit erhobener Stimme nun auch das Niederschmetterndste für die verwirrte, völlig überraschte Frau Theresa aus:

„Tschanda verkehrt in Luxusstätten, Tschanda hat sich ein abscheuliches Laster angewöhnt, Mama … Ich darf nicht länger schweigen. Heribert hat sie wiederholt getroffen, hat es mir erzählt, und als ich letztens Tschandas Schrank durchsuchte, fand ich eine Opiumpfeife mit einem kostbaren Achatkopf, ein goldenes Büchschen voller Opiumpillen zum Rauchen und eine silberne spitze Nadel … Als ich sie in Gegenwart Heriberts zur Rede stellte, lachte sie mich aus … Opiumrauchen sei völlig unschädlich … Und ihr letzter Trumpf war: „Mama raucht ja auch zuweilen Opium – zuweilen …! Vielleicht habe ich von ihr diese Leidenschaft geerbt, die sie sich wohl damals in Chartum angewöhnt haben wird …“ Jedenfalls waren all meine Ermahnungen und Bitten fruchtlos … Tschanda – du kennst sie ja – hätte mich geschlagen, mich mißhandelt, wenn ich nicht schleunigst mit Heribert ins Nebenzimmer geeilt wäre.“

Frau Theresa war unnatürlich bleich geworden. Sie mußte für einen Moment die Augen schließen und blitzschnell nach der Tischkante greifen. Mit beiden Händen klammerte sie sich daran fest und wandte all ihre Kraft an, um sich aufrecht zu halten und nicht vom Sessel zu gleiten. Die Knöchel ihrer Hände wurden schneeweiß unter der Überanstrengung der Muskeln. Ihr Oberkörper schwankte in kurzem Kreisbogen mehrmals nach links, – genau wie ein in der Finsternis pfadlos Umherirrender immer von der gewollten geraden Richtung nach links abirren und schließlich einen Kreis beschreiben wird, da dieser Drang nach links ein Naturgesetz beim Menschen ist, fußend auf der stärkeren Durchblutung der linken Körperhälfte infolge der Lage des Herzens. In diesen Sekunden, in denen ein Schwindelgefühl besonderer Art Frau Theresa in einen jählings sich vor ihr auftuenden Abgrund zu reißen drohte, erschien wie eine Vision vor ihren geschlossenen Augenlidern ein weiter mondheller Tennisplatz mit weißen Kalkstrichen und straff gespannten hellen Netzen, überflutet von bläulich-grünem Mondlicht und umgeben von der Farbenorgie tropischer Sträucher … Sie hörte den Ruf dahinziehender schwarzer Kraniche und Flamingos, sie hörte verwehte Klänge von Tanzmusik und eine seltsam eindringliche Stimme … Oliver Brex und die Vergangenheit sprachen zu ihr. Aber dieses Bild verschwamm und formte sich zu dem eines weißen stolzen Hauses an einem weißen Seeufer, zu riesigen Brotfruchtbäumen und Palmen, die über das flache Dach hinwegragten, und zu einer schatten Veranda, zu zwei Liegestühlen und zwei Menschen darin: Sie und er! – Und er erzählte, redete wieder einmal über sein unerschöpfliches Lieblingsthema, über die göttliche Droge Opium. Und jenseits des stillen Urwaldsees im breiten Tale zwischen grünüberspannten Felsenwänden wogte es wie ein brennend rotes Meer: Mohn, rotblühende Mohnstauden zu Millionen … – – Mohn, aus dem das Opium gewonnen wurde …

… Eine Hand berührte Frau Theresas Schulter, und Eddas besorgte Stimme bat:

„Trinke, Mama … Ich hätte rücksichtsvoller sein müssen …“

Sie öffnete die Augen und atmete den Duft des Wermutweines ein, der ihr aus dem Weinglase kräftig und aromatisch in die Nase stieg. In Oliver Brex’ verborgenem Reiche hatte es gleichfalls Wermutsträucher dicht vor der Veranda des weißen Hauses gegeben, und nachts hatten die blütenschweren Pflanzen wahre Duftorgien gefeiert.

Frau Theresa trank und wurde frei von den Gespenstern der Vergangenheit. Aber die Gegenwart trat ihr dafür um so unbarmherziger gegenüber: Tschanda rauchte Opium, log und besuchte teure Vergnügungsstätten!

„Mama, es ist doch ganz ausgeschlossen, daß du selbst diesem Laster frönen sollst … Nicht wahr?!“

Dieser winzige Nachsatz, dieses kurze und doch so schwerwiegende „Nicht wahr?!“ enthüllte alle Zweifel und Befürchtungen Eddas und klang gleichzeitig wie eine versteckte Mahnung, auf alle Ausflüchte zu verzichten.

Theresa fröstelte … Sie fürchtete dieses Einst, das für sie Oliver Brex hieß. Und doch gab es noch heute stille nächtliche Minuten, in denen urplötzlich ein wildes Sehnen in ihr emporquoll nach jenem Zauberlande, dessen unumschränkter Herr und Gebieter ihr Liebhaber damals gewesen war und es heute noch sein mochte. Es war ein Sehnen, wie es vielleicht ein unreifes Kind nach den Wundern des Schlaraffenlandes empfindet, von denen es in Märchenbüchern gelesen hat und deren Vielgestaltigkeit sich die kindliche Fantasie noch weiter ausgebaut hat. Neugier war das Grundelement dieser Sehnsucht, Neugier, was wohl aus Oliver und seinem heimlichen Reiche geworden sein mochte. Theresa wußte darüber nichts, gar nichts, die drohende Kriegsgefahr hatte sie damals eiligst in die Heimat zurückflüchten lassen, und von Stund an war Oliver Brex für sie wie ausgelöscht, aber nicht aus ihren verborgensten Gedanken. Wenn diese Neugier, diese noch immer aufflackernde Sensationslüsternheit sie befiel, dann holte sie aus den Tiefen einer mit nichtigen Andenken gefüllten Lade das Wertvollste hervor, das ihr von jenen traumhaft unwirklichen Wochen verblieben war: Ihre Opiumrauchergarnitur, eingehüllt in dasselbe Seidentüchlein von einst, als der bleiche Reverend ihr diese Gabe mit einem trockenen „Bitte“ überreicht hatte … Dann versank sie unter dem Einfluß des weißen Rauches in die farbenfrohe Pracht des Sudan, in die Gluthitze der endlosen Wüsten und in den fieberschwangerem Odem der Urwaldsümpfe von Dscharani … Für Minuten … Bei weit geöffneten Fenstern, damit der aromatische Duft ihr Laster niemandem verrate …

Jetzt war ihr Geheimnis entdeckt. Leugnen wäre zwecklos gewesen. Zweifellos hatte Tschanda sie einmal trotz aller Vorsichtsmaßregeln durch das Schlüsselloch beobachtet.

Blitzschnell eilten ihr diese Gedanken durch das erregte Hirn. Ihre Antwort auf Eddas Frage erfolgte ohne merkliche Verzögerung.

Frau Theresa stellte das Weinglas auf den Tisch und blickte mit dem verträumten Lächeln von einst zu ihrer Ältesten empor, die noch immer neben ihr stand.

„Kind, du sprachst vorhin von einem abscheulichen Laster und meintest damit das Opiumrauchen. Hierüber kann man doch sehr verschiedener Ansicht sein. Opium und Opium ist ein Unterschied …“ – Sie schlug unwillkürlich einen lehrhaften Ton an. Es war vielleicht am harmlosesten, diese Dinge auf das Gebiet wissenschaftlicher Erörterungen hinüberzuspielen. „Zum Rauchen bedient man sich eines besonderen Präparats aus Opium, des sogenannten Tschandu, eines mit Hilfe eines bestimmten Schimmelpilzes gegorenen Opiums …“

Unfreiwillig, unbewußt, lediglich im Eifer, das ganze Thema in eine unverfängliche Form zu zwängen, war ihr das Wort Tschandu über die Lippen geschlüpft. Die Wirkung merkte sie erst zu spät. Edda war unwillkürlich mit halb erhobenen Händen, als wollte sie etwas Grauenhaftes von sich fortweisen, einen Schritt zurückgewichen.

Sogar Heribert Gardner war auf die Füße gesprungen und beugte sich weit vor, indem seine Augen ängstlich zwischen Mutter und Tochter hin und her glitten.

„Tschandu?!“ flüsterte Edda tonlos. „Mama, ist das die Erklärung für meiner Schwester ungewöhnlichen Namen, die wahre Erklärung? Du hast stets behauptet, du hättest als Gefangene der Dscharani-Beduinen eine dir lieb gewordene Dienerin gehabt, die dir auch die Flucht ermöglicht hätte, und dieses braune Mädchen sollte Tschanda geheißen haben … Doktor Terkellen, der doch den ganzen Sudan genau kennt, hat mir gegenüber noch letztens wieder erklärt, ein Mädchenname Tschanda sei ihm völlig fremd. – Mama, Tschandu, das Rauschgift, und Tschanda klingen so verfänglich ähnlich …“

Es hatte einst eine Zeit gegeben, zu der Frau Theresa noch jung, elastisch und geistesgegenwärtig genug gewesen war, einen derartigen Angriff mit einem erstaunten Augenaufschlag und ein paar noch verwunderteren Worten abzuwehren. Aber die Jahre ihres gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Niedergangs waren doch nicht ohne Wirkung geblieben. Zuweilen spürte Theresa dieses Nachlassen ihrer Spannkraft mit solcher Eindringlichkeit, daß sich ihrer ganz im allgemeinen eine gewisse Unsicherheit bemächtigt hatte. Jetzt, wo ein Teil ihres Geheimnisses durch sie selbst bloßgelegt worden war, vermochte sie ihrem ältesten Kinde nicht mehr in die Augen zu blicken. Sie errötete bis zur Stirn, senkte schnell den Kopf und beschränkte sich auf die wenig angebrachte Erwiderung:

„Dir mag Doktor Terkellen, der doch schließlich nur ein reicher Globetrotter und kein Forscher ist, wohl maßgebend sein, – mir nicht …! Tschanda ist ein Mädchenname, ein Frauenname, – ich muß das wohl besser wissen, mein Kind.“

Freilich wußte Frau Theresa es besser. War es doch der Name, den Oliver Brex ausschließlich für sie erfunden hatte, in dem er alle ungestüme Süße seiner Liebe mitklingen ließ und den er ihr einst ins Gesicht geschrien hatte als bitterste Anklage über die grenzenlose Enttäuschung, die sie ihm bereitet hatte …

Über Eddas Nasenwurzel hatten sich, als ihre Mutter so geringschätzig über Rolf Terkellen sprach, ein paar scharfe Falten gebildet. Wenn es einen Mann gab, zu dem Edda in grenzenloser Bewunderung aufschaute, so war es Terkellen. Ihn irgendwie herabgesetzt zu sehen, empfand sie als persönliche Kränkung. Terkellen, dem das Haus gehörte, in dem Theresa mit ihren Kindern die billige Mansardenwohnung gefunden hatte, bewohnte das erste und zweite Stockwerk des Gebäudes, lebte jedoch zumeist im Ausland und hatte sich nie um eine ärztliche Praxis bemüht, es auch nie nötig gehabt. Die meisten, die ihn nur flüchtig kannten, hielten ihn für einen Altertumsforscher mit dem Titel eines Doktors der Philosophie.

„Ein Afrikareisender, der ein von der Fachpresse außerordentlich günstig beurteiltes Werk über das moderne Innerafrika geschrieben hat, dürfte kein Dilettant sein“, verteidigte Edda den Hausgenossen mit auffallender Heftigkeit. „Terkellen ist es doch auch gewesen, der einwandfrei nachwies – was die Engländer bisher stets abstritten –, daß in Chartum kurz vor Kriegsbeginn ein Eingeborenenaufstand ausbrach, der nur mit Mühe und unter Anwendung brutalster Gewalt niederschlagen werden konnte … Das muß sich noch zu derselben Zeit ereignet haben, Mama, als du noch krank und schwach von den Strapazen deiner abenteuerlichen Flucht dort weiltest … – Terkellen wollen wir aus dem Spiel lassen“, fügte sie schnell nach einem flüchtigen Blick auf ihres Verlobten fast lauerndes Gesicht hinzu. „Auch der Gleichklang der Namen Tschandu und Tschanda soll nicht weiter erörtert werden. Hier geht es um Wichtigeres, um Tschandas Seelenheil … An die Ungefährlichkeit des Opiumgenusses glaube ich nicht. Tschanda ist seit Wochen völlig verändert. Du selbst, Mama, hast ihre nervöse Gereiztheit wiederholt gerügt. Wir müssen Mittel und Wege finden, unsere Jüngste dem Einfluß dieses Holländers van Zeerten zu entziehen, denn ich, Mama, habe mir seit langem über van Zeertens scheinbar so selbstloses Interesse für uns allerlei Gedanken gemacht und werde nun erst recht den Verdacht nicht los, daß er im Auftrage eines anderen handeln könnte, der dich von Ägypten her kennt.“

Nun war endlich auch das ausgesprochen, was Edda seit Monaten schwer bedrückt hatte. Sie atmete erleichtert auf, und als sie bemerkte, wie die Mutter mit noch tiefer gesenktem Kopf die Finger so fest ineinanderschlang, daß sich abermals die Knöchel weiß abzeichneten, ward ihr das zur Gewißheit, was Terkellen letztens vorsichtig angedeutet hatte: Daß van Zeerten in Amsterdam überhaupt kein einschlägiges Geschäft für die Verwendung feiner Stickereien besäße und zumeist in Berlin in einem Hotel wohne und seine monatlichen Reisen von Amsterdam nach Berlin nur vortäusche. „Dagegen unterhält er lebhafte Beziehungen zu Chartum“, hatte Terkellen weiter erklärt, „bezieht von dort reichliche Geldmittel und dürfte alles in allem eine etwas problematische Natur trotz seines Biedermannstyps sein.“

Ja, – van Zeerten war eine zweifelhafte Persönlichkeit, und die Überzeugung, daß der massige, stiernackige Holländer lediglich im Auftrag dritter Personen handelte, weckte in Eddas mißtrauischer Seele nur neue ungewisse Befürchtungen.

Sie lehnte jetzt neben dem Sessel der Mutter und schaute ernst und gedankenvoll vor sich hin …

Heribert Gardner, der zu seiner Befriedigung und Beruhigung feststellen konnte, daß das heraufziehende Familiengewitter ohne stärkere Einschläge wieder abflauen würde, hatte wieder in seiner Sofaecke Platz genommen und spielte den anscheinend gelangweilten Beobachter. Aber in seinem eitlen, engen Herzen regte sich längst die Eifersucht auf Doktor Rolf Terkellen, und wenn er nicht Eddas kalt-ablehnende, warnende Blicke so sehr gefürchtet hätte, würde er vorhin mit Freuden Frau Theresa beigesprungen sein und Terkellen als prahlerischen Dilettanten gleichfalls angeprangert haben.

Frau Theresa waren Eddas Andeutungen über van Zeertens fragwürdige Rolle als wohlmeinender Geschäftsfreund zur schreckvollen Offenbarung geworden. Noch nie hatte sie sich die Mühe gegeben, van Zeertens Entgegenkommen, Charakter und Gesamtpersönlichkeit irgendwie zu analysieren, niemals war in ihr der Argwohn wach geworden, der scheinbar so gutmütige Holländer könnte ein Vertrauter Oliver Brex’ sein.

In diesem Punkte überschaute sie das heimtückische Spiel weit besser als Edda.

Brex vergaß nie, vergaß nichts, vergab nie, vergab nichts …! Die Engländer in Chartum hatten dies im Juli 1914 zu spüren bekommen, und wenn sie, Theresa von Bruck, nicht gewesen wäre, würde der ganze Sudan noch heute unter einer neuen Mahdistenherrschaft stehen und kein Engländer wäre in jenen kritischen, ängstlich verheimlichten Tagen mit dem Leben davongekommen …

Oliver Brex kannte kein Erbarmen.

Noch jetzt sah sie ihn vor sich stehen mit flammenden Augen und zuckenden Gesichtsmuskeln, noch heute hörte sie die haßerfüllten Anklagen dieses genialen Fanatikers und dann die eisig kalte Zielsicherheit seiner ungeheuerlichen Mordpläne …

Und da hatte damals das Grauen sie gepackt. Da hatte sich, mehr unbewußt als bewußt, das Blut der Europäerin in ihr gemeldet …

Sie war bleich geworden wie er … In ihren Augen las er sein Geschick: Der wilde Ausbruch seines fanatischen Hasses war bei ihr auf Widerstand gestoßen, hatte keinen Widerhall gefunden …

Er hatte die Frau verloren, die er, der vortreffliche Menschenkenner, weit überschätzt hatte. Er hatte sie zu sich und seiner infernalischen Größe emporzuheben gedacht und sie war klein und kleinlich und unbedeutend und hohl geblieben. Selbst die Liebesorgien zauberhafter Tropennächte, in denen er sein Herzblut und sein ganzes Sein auf sie zu übertragen gehofft, waren nutzlos, sinnlos gewesen, eine Vergeudung seiner besten Kräfte an eine spielerische Weibesnatur, die in allen Regungen, Fähigkeiten und Handlungen tief, tief unter ihm stand. Eine Odaliske, ein Haremsweib vielleicht … Aber auch nichts weiter.

Drei Tage darauf war Theresa dem Tschandu entflohen.

Und jetzt?! Er, der Tschandu, lebte noch, er wußte, daß sie ihn verraten hatte. Nun rächte er sich an ihrem Kinde, der haßzerfressene Tschandu, – – durch das Tschandu … –

Ein Geräusch an der Flurtür des Salons ließ die drei Menschen mit rascher Kopfbewegung in die behagliche Dämmerung hineinstarren … Die Tür hatte sich geöffnet, und Tschanda, wie immer in Schwarz gekleidet, wie immer mit elfenbein-farblosem Gesicht, brennenden großen Augen und glatt zurückgestrichenem, schwarzen Haar lehnte am Türrahmen. Ihre weiße schmale Hand tastete nach dem Lichtschalter. Der Kronleuchter flammte auf.

„Ich liebe die Dämmerung nicht“, sagte sie mit seltsam eintöniger Stimme, die jeder Fremde für gekünstelt gehalten hätte.

Dann schob sie – auch eine ihrer Eigentümlichkeiten, zwei Finger zwischen die Knöpfe ihrer schwarzen Bluse und fügte noch leiser und monotoner hinzu:

„Es ist etwas spät geworden, Mama … Aber der Justizrat …“

Sie brach jäh ab. Frau Theresa hatte die dunklen Schattenringe unter Tschandas flirrenden Augen bemerkt, war rasch aufgestanden und trat dicht vor ihre Jüngste hin.

„Du lügst!“ rief sie heiser und doch ohne echte Empörung. Sie rief es nur, weil Edda und deren Verlobter mit anwesend waren und von ihr doch zweifellos eine scharfe Äußerung erwarteten. Nur deshalb.

Denn – seltsam genug! – gerade jetzt, wo sie Tschanda durch Oliver Brex bedroht sah, war urplötzlich das in ihr erwacht, was bisher nie in wahrer Wärme vorhanden gewesen: Das Muttergefühl!

Tschanda blickte die Frau, die ihr das Leben gegeben, groß und kalt an. Ihr eigenartig anziehendes Gamingesicht, das überall auffallen mußte, blieb steinern wie stets.

„Hat Edda Denunziantin gespielt?!“ meinte sie leichthin. „Nun gut, – – ich habe gelogen. Ich bin nicht feige. Ich war in der Padischah-Diele und habe getanzt. Wollt ihr etwa hier über mich zu Gericht sitzen …?! Es macht fast den Eindruck.“

Ihr Atem traf die zitternden Nasenflügel ihrer Mutter, und Frau Theresa wich langsam zurück.

„Du … hast Opium geraucht, Tschanda …“, flüsterte sie mit trockener Kehle …

„Ja – – auch das!“

„Aber nicht das unschädliche reine Tschandu, sondern Droß, die Rückstände aus den Pfeifen“, hauchte Theresa angstvoll. „Droß ist Gift, wird mit Betel und Tamarindensaft vermischt und erzeugt ärgste Beschwerden … Dein Atem riecht nach Droß, Tschanda … – Um Gottes willen, – Hilfe, – – sie wird ohnmächtig …“

Tschandas Augenlider waren herabgesunken, eiskalte große Schweißperlen waren ihr auf der Stirn erschienen, ihre Gestalt verlor die zwanglosselbstsichere Haltung, und ohne auch nur einen Laut von sich zu geben, stürzte sie vornüber in die ausgebreiteten Arme ihrer Mutter.

 

3. Kapitel.

Doktor Rolf Terkellen.

Zwei Treppen tiefer waren vor wenigen Minuten im Herrenzimmer Doktor Terkellens die Wandleuchter neben der Klubecke eingeschaltet worden, und der ehrwürdige Diener des Eigentümers dieser behaglichen Behausung ordnete mit flinken Händen Zigarren und Zigarettenkästchen, Likörflaschen, Gläser, Tassen und eine Teemaschine auf dem runden Tisch zu einem gefälligen Stillleben.

Nachdem er sein Werk nochmals prüfend überschaut hatte, denn Tschan Kai besaß einen ausgesprochenen Schönheitssinn wie so viele Chinesen, wandte er sich dem Kamin zu, schürte die Glut, legte Buchenscheite nach und blieb dann neben der Tür mit über der Brust gekreuzten Armen abwartend stehen.

Sein zerknittertes, altes Gesicht mit den nur leicht geschlitzten Augen und dem winzigen Näschen behielt allzeit denselben Ausdruck einer erhabenen Ruhe bei. Es gab fast nichts, was Tschan Kai je aus dem seelischen Gleichgewicht hätte bringen können. Seit acht Jahren betreute er nun seinen Herrn mit vorbildlicher Geschicklichkeit, Pünktlichkeit und grenzenloser Verehrung. Er war auf etwas ungewöhnliche Art zu dieser Vertrauensstellung gelangt, seine Heimat war die einstige deutsche Kolonie Kiautschau, wo er Hausmeister eines höheren deutschen Beamten gewesen. Nach dem Kriege hatte Tschan Kai des Schicksals nie zu enträtselnde Prüfungen geduldig hingenommen, war aus Not Heizer auf einem zwischen Kalkutta und Hongkong hin und her pendelnden älteren Frachtdampfer geworden, der auch über zwanzig Passagierkabinen verfügte, und nur seiner rechtzeitigen Warnung hatten es die Besatzung und die Fahrgäste zu danken, daß die angeblich sehr harmlosen vierzig Plantagenkulis, sämtlich Chinesen, rechtzeitig an Bord als Piraten erkannt und in Eisen gelegt wurden.

Auf diese Weise war Terkellen, dessen bisheriger indischer Diener sich plötzlich als Dieb entpuppt hatte, auf den alten Tschan aufmerksam geworden. Da Tschan fließend Deutsch sprach und nebenbei noch mehrere andere Sprachen beherrschte und vorzügliche Zeugnisse vorweisen konnte, hatte Terkellen ihn in seine Dienste genommen und dies nie bereut.

Tschan trug in Berlin nur außerhalb des Hauses europäische Kleidung. Er liebte dunkelviolette Seide, und seine bequeme, praktische und würdige Heimatstracht mit dem Seidenkäppchen und den dicksohligen Filzschuhen paßte vortrefflich in den Rahmen der Behausung Doktor Terkellens hinein, deren meiste Räume die exotischen, sehr wertvollen Sammlungen des Arztes enthielten.

Dann tat sich die Tür auf, und ein äußerlich sehr ungleiches Freundespaar betrat das Herrenzimmer. Rolf Terkellen war ein hagerer, großer Mann schwer bestimmbaren Alters mit einem ungewöhnlich unregelmäßigen, fast häßlichen und dennoch seltsam anziehenden bartlosen, gebräunten Gesicht. Sein Freund Hektor Pelcherzim, von Beruf Sportberichterstatter und nebenher eifrigster Segelflieger, war einen guten Kopf kleiner und glich einem ausgedörrten Jockey, der soeben seinen Gaul zum Siege gesteuert hat. Pelcherzim gehörte zu jenen unverwüstlichen, sonnigen Naturen, die selbst im Tode noch unbesorgt-heiter lächeln würden.

Tschan hatte sich verneigt, hatte die Klubsessel zurechtgerückt und war abwartend zurückgetreten.

Terkellen musterte ihn fragend aus schmalen Augenschlitzen, während Pelcherzim bereits Platz genommen und einen Walzer pfeifend sein Likörglas gefüllt hatte.

Terkellen und Tschan waren auf ihre gegenseitigen Eigentümlichkeiten vollkommen eingespielt. Der Chinese begann ohne Aufforderung zu sprechen.

„Mir ist bekannt geworden, Herr Doktor (hiermit umschrieb er behutsam seine Art von Spionagesystem), daß Fräulein Tschanda vorhin in einer Autotaxe heimkehrte und in dem Separee ihres Stammlokals mit van Zeerten eine längere Unterredung hatte und dabei fünf Pfeifen schlechtesten Droß’ rauchte.“

Pelcherzim, der soeben das Likörglas hatte leeren wollen, war plötzlich aufgesprungen. Seine scharfen, gesunden Züge mit den eigentümlich hellen großen Augen verloren das gewohnte Lächeln.

Terkellen schob das massiv gebaute Kinn noch weiter vor, schien irgend etwas zwischen den großen gesunden Zähnen zu zerkauen und blinzelte Tschan nachdenklich-finster an.

„Sonst nichts, Tschan?“

„Vorläufig nicht, Herr Doktor … Meine bezahlten Augen wachen.“

Terkellen nickte. „Deine Landsleute sind hoffentlich zuverlässig. Hier braut sich irgendein Unwetter zusammen. – Es ist gut, Tschan …“

Der Chinese verbeugte sich knapp und glitt unhörbar hinaus.

Hektor Pelcherzim hustete kräftig, da Terkellen allzu geistesabwesend in die flackernde und knisternde Kaminglut starrte.

„Rolf, was fürchtest du?“

„Ich fürchte etwas, aber ich vermag nicht zu sagen, was … Es ist ein Jammer um das ranke Mädel …“

Dann setzte er sich und winkte Pelcherzim beruhigend zu. „Tschan ist auf dem Posten … Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Hektor. Freilich wäre es für uns beide bekömmlicher gewesen, wenn du Tschanda von Bruck nie kennengelernt hättest, denn dein Lächeln trügt, du nimmst das Leben genau so bitter ernst wie ich, und wir beide sind nicht oberflächlich genug, fremde Schicksale bewußt zu übersehen.“

Auch Pelcherzim nahm wieder Platz, griff nach einer Zigarette, rieb ein Zündholz an und betrachtete mit gutmütig-nachsichtigem Lächeln die straffe, in einen tadellos sitzenden Smoking gekleidete Gestalt des Freundes.

„Fremde Schicksale, Rolf?!“ korrigierte er die Äußerung des andern. „Du hast Edda und Tschanda hier in deinem Hause aufwachsen sehen, du hast droben bei Brucks häufig verkehrt, bevor Edda diesen faden Heribert unbegreiflicherweise dir vorzog …“

Terkellen, der soeben den Tee der Maschine in seine Tasse fließen ließ, warf sehr kühl ein: „Gestatte … Ich habe mich nie um Edda beworben … Ich bin ihr Freund gewesen, ihr väterlicher Freund, ich bin fünfzehn Jahre älter als sie. Der Unterschied ist zu groß.“

Pelcherzim lachte freimütig. „Du siehst nicht nach fünfunddreißig aus, Rolf. Du könntest ebensogut fünfzig wie fünfundzwanzig sein. Leute wie du werden nie alt. Du trinkst keinen Alkohol, du rauchst nicht, du bist nur aus Stahlnerven, Eisenmuskeln und sehr viel klugem Hirn zusammengesetzt und …“

„Lassen wir das Thema“, schnitt Terkellen ihm in seiner zuweilen recht schroffen Art das Wort ab. „Nur eins noch, Hektor: Ich darf dir das, was ich hinsichtlich Tschandas vermute, nicht mitteilen. Es wäre unehrenhaft. Ich bin kein Ehrabschneider. Sollten die Dinge freilich eine Wendung nehmen, wie ich sie allen Ernstes befürchte, müssen jegliche Rücksichten fallen. Es mag dir genügen: Ich habe nicht ohne begründeten Anlaß den Sudan zwei Jahre durchstreift und dabei das Liebste verloren, das meine Eltern mir zurückließen …“

Er hob die Hand, beschattete die Augen und ließ den Kopf für Sekunden etwas sinken.

Im Zimmer war’s still geworden. Nur die Buchenscheite im Kamin knallten, und draußen tobte der deutsche Aprilsturm als Vorzeichen des nahenden Frühlings.

Pelcherzim legte die Zigarette weg und beugte sich über den Tisch. Seine Züge waren hart und unbeugsam wie die des Freundes. Das Lächeln, das in seiner natürlichen Liebenswürdigkeit so bestrickend und einnehmend wirkte, war vorläufig ausgetilgt. Es ging hier um zu ernste Dinge.

„Rolf“, sagte Pelcherzim mit gleichfalls veränderter Stimme, deren Klang nun verriet, welche Energiemengen in diesem kaum mittelgroßen Körper aufgespeichert waren, „ich fürchte, du klammerst dich in diesem Falle zu stark an deine Ehrauffassung. Schalten wir Tschanda zunächst einmal aus. Willst du es dulden, daß Edda, die du liebst, diesen herausgeputzten Narren heiratet, den niemand für voll nimmt?! Gardner ist ein kindischer Narr. Eine Halbnatur in allem. – Und Edda? Ich behaupte, und ich bin ein leidlich guter Beobachter, daß sie nur niemals gewagt hat, auch nur mit dem sehnsüchtigen Gedanken zu spielen, du könntest ihre Neigung je erwidern. Du bist Frauen gegenüber – verzeihe! – zu sehr Herrenmensch. Du wirkst erkältend, sobald zärtlichere Empfindungen in Frage kommen. Edda mag sich über ihre Gefühle nie recht klar geworden sein. Das ist deine Schuld. Du behandelst sie noch heute als unreifen Backfisch, freilich mit der dir eigenen väterlichen Güte und Nachsicht. Du sahst sie heranwachsen … Als kleines Mädel tollte sie hier in deiner Wohnung umher, als heranreifendes Weib schwärmte sie dich an und war Inges beste Freundin, und als du ohne Inge aus dem Sudan heimkehrtest, hast du selbst die unüberbrückbare Schranke des stets betonten Altersunterschiedes zwischen euch aufgerichtet. Es ist schon so, Rolf: Edda wagte nicht zu hoffen, und im Zwiespalt ihrer Empfindungen wählte sie Heribert Gardner.“

Rolf Terkellen hatte eine eigentümliche Art, mit den nervigen Fingern seiner Linken sein stark entwickeltes Kinn immer dann ganz sanft zu streicheln, wenn er sehr angestrengt nachdachte. Diese unermüdlichen Fingerbewegungen erweckten den Eindruck, als suchte er die tiefen Falten um den Mund zu glätten und in seinem Gesicht dadurch den so übertrieben vorherrschenden Zug von rücksichtsloser Energie abzuschwächen.

Er blieb eine geraume Weile still.

„Und Tschanda und du?“ fragte er dann ungewöhnlich milden Tones.

Pelcherzim wurde erregt. „Du weichst mir wie immer aus“, meinte er ärgerlich. „Hast du Edda abgeschreckt oder nicht? Antwort!“

Terkellens linke Hand sank herab. Seine dunklen Augen, in denen mitunter ein schwermütiger Glanz die Härte des offenen, freien und klaren Blickes mildern konnte, waren seitwärts gerichtet.

„Edda war bereits mit fünfzehn Jahren ein ausgereifter, fertiger Mensch. So frühreife Naturen, deren vorzeitige Reife durch die Lebensumstände, nicht etwa durch sogenannte geniale Anlagen bedingt ist, sind sich auch über ihre Gefühle klar. Edda hat in mir nie etwas anderes gesehen als den guten Freund. Deine anderslautenden Folgerungen sind irrig.“

Pelcherzim lächelte jetzt sehr überlegen.

„Du bist nur ein wandelnder Beweis dafür, daß selbst die klügsten Männer in Liebesfragen gänzlich blind sein können. Behalte du deine Meinung, – ich behalte meine Überzeugung. Die Zukunft wird lehren, wer recht hat.“

Er wurde wieder ernst. „Nun zu Tschanda und mir … Als ständiger Gast deines Hauses habe ich Tschandas Entwicklung zum reifen Weibe genau so verfolgen können wie du. Gewiß, sie erschien seltener hier bei dir, sie hatte schon als Kind eine ganz eigene Art von Zurückhaltung, Verschlossenheit und kühler Anmaßung. Es war stets etwas Fremdartiges an ihr, genau wie ihr Äußeres in nichts an den blonden Familientyp derer von Bruck erinnert. – Weshalb blickst du mich plötzlich so überrascht an, Rolf? Dachtest du, ich wäre blind?!“

Doktor Terkellen schüttelte den Kopf. „Du bist leider zu wenig blind, wie mir nun klar wird. Sprich weiter …“

Hektor Pelcherzim trommelte etwas nervös mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte. „Es gibt da nicht mehr viel zu sagen … Ich habe um Tschanda geworben, andere haben es getan, aber niemand hatte Erfolg … Zuweilen glaubte ich hoffen zu dürfen, diese eigenartig anziehende Mädchenblüte würde sich mir erschließen. Dann tauchte der Holländer mit Tschanda in den Tanzdielen und Luxusbars auf … Ich hasse diesen aufgeschwemmten, grinsenden Burschen, der für seine Niedertracht eingesperrt werden müßte. Fünf Opiumpfeifen, – – als Tschan dir dies meldete, setzte mein Herzschlag aus! Das Mädchen sinkt, rutscht ab, wird … verkommen … Das befürchtest du gleichfalls, Rolf. Hilf mir und ihr … Du kannst es!“

„Ich könnte es, ja …“ sagte Terkellen leise. „Ich werde es tun, wenn die Zeit da ist … Nur einen Irrtum möchte ich berichtigen, Hektor: Tschanda wird nicht sinken. Im Gegenteil … Tschanda wird vielleicht, vielleicht eine kleine Königin werden …“

Pelcherzim griff über den Tisch nach des Freundes Hand. Seine Züge hatten sich entfärbt … In seinen Augen flackerte die Angst …

„Was redest du da, Rolf?! Königin?! Königin?! Das kann doch nur heißen, daß ein Halbnegerfürst des fernsten Sudan die schöne Europäerin seinem Harem einverleibt gehabt hatte?!“

Er zog seine Hand zurück und sprang auf, ging um den Tisch herum und stellte sich neben den Sessel des Freundes. „Rolf, mal ganz ehrlich! Keine Andeutungen mehr, kein Ausweichen! Tschanda hat afrikanisches Blut in den Adern, – das ist’s, das erklärt alles, das ist die richtige Deutung für ihren Elfenbeinteint, für ihr schwarzes Haar, für die dunklen, starren Sphinxaugen!“

Terkellen hob den Kopf und schaute den Freund mitleidig an.

„Armer Kerl, – – es stimmt …! Tschanda ist die Tochter Tschandus, eines Engländers, der England glühend haßte und …, – hallo, was gibt’s, alter Heide?!“

Der Chinese war lautlos eingetreten.

„Herr Doktor, Fräulein Edda bittet Sie, sofort mit den nötigen Medikamenten nach oben zu kommen, da ihre Schwester ohnmächtig geworden und nicht wieder zu erwecken ist. – Fünf Pfeifen schlechtesten Opiums waren zu viel“, fügte er von sich aus mit besonderer Betonung hinzu. –

Auf dem Diwan im Salon Theresas lag die wachsbleiche Tschanda und atmete kaum merklich. Ihr ganzes Gesicht glänzte von klebrigem, kaltem Schweiß, der immer wieder aus den Hautporen hervordrang, so oft auch Edda die Haut mit Kölnischem Wasser abrieb. Tschandas mattschwarze Seidenbluse war geöffnet, und Edda erneuerte soeben die Herzkompresse, als Doktor Terkellen hastig eintrat. Er nickte Edda nur flüchtig zu, schaute sich ebenso flüchtig im Zimmer um, sah weder Frau Theresa noch den Verlobten Eddas und fragte kurz:

„Wo sind Ihre Frau Mutter und Ihr Bräutigam?!“

Edda, noch völlig verstört infolge des offenbar bedenklichen Zustands der Schwester, stammelte zusammenhanglos:

„Ich habe Heribert nach Hause geschickt … Er war hier überflüssig … Mama ist in ihrem Zimmer … Mama behauptete, Tschanda habe zuviel Opium geraucht … Das heißt, sie nannte für Opium einen anderen Namen …“

„Tschandu etwa?“ Rolf blickte das Mädchen, das er heimlich liebte, fast durchbohrend an.

Edda errötete. Sein schroffer Ton verletzte sie. Außerdem kam ihr voller Schrecken zum Bewußtsein, daß sie durch ihre übereilte Erwähnung des Opiums die Mutter schwer bloßgestellt hatte.

„Nein, Mama gab diesem Opiumpräparat einen anderen Namen.“

Terkellen lachte bitter.

„Wahrscheinlich mit dem Namen Droß …! – Ihre Frau Mutter weiß auf diesem Gebiet erstaunlich gut Bescheid!“

Daß er heute hier in dieser nächtlichen Stunde, wo man ihn als Arzt gerufen hatte, selbst Edda gegenüber ein Benehmen zeigte, das seiner vornehmen, gütigen Natur gar nicht entsprach, hatte allerdings andere Gründe. Das Gespräch mit seinem Freunde Pelcherzim hatte in seinem Herzen Wunden aufgerissen, die er durch eine Radikalkur der Willensanspannung bereits vernarbt geglaubt hatte. Er war wie so viele wirklich intelligente Menschen gerade in Dingen, die seine eigene Person betrafen, ein blinder Tor. Er hatte sich nun einmal in den Gedanken verbissen, Edda empfände für ihn nichts als Freundschaft, und hiervon kam er nicht los. Ihre einst sehr vertraulichen und geradezu herzlich-geschwisterlichen Beziehungen waren ja auch seit dem Auftauchen Heribert Gardner als Bewerber Eddas sehr schnell abgeflaut. Rolf hatte sich absichtlich zurückgezogen und war dann für Monate nach Tunis gereist. Erst ein Brief Tschans hatte ihn zur schleunigsten Rückkehr bewogen. Tschan, dem Terkellen die Überwachung des fragwürdigen Holländers überlassen hatte, war in Sorge wegen Tschandas immer häufigeren Besuchs elegantester Gaststätten und hatte in seinem in sehr blumenreicher Sprache gehaltenen Schreiben um ganz genaue Anweisungen gegenüber der sich offenbar zuspitzenden Sachlage gebeten.

Edda von Bruck fand erst nach einigen krampfhaft hastigen Atemzügen eine Antwort auf Terkellens rücksichtslose Bemerkung über ihrer Mutter erstaunliche Vertrautheit mit Opiumpräparaten.

„Möglich, daß Mama das Präparat mit Droß bezeichnete …“, sagte sie weit förmlicher, als sie je mit Terkellen verkehrt hatte. Sie wollte Frau Theresa um jeden Preis vor dem Verdacht schützen, etwa selbst diese teuflische Droge als Anregung zu benutzen. „Ich habe mir den Namen nicht gemerkt, Herr Doktor … – Halten Sie Tschandas Zustand für bedenklich?“

Er blickte sie noch immer an. Die Falten, die sich von seinen Mundwinkeln zum Kinn hinabzogen, vertieften sich noch, während er unbewußt nur ihre blonde Schönheit wie ein berauschendes Getränk genoß und bewußt dieses Mädchen vor dem Fluch derselben Halbheit bewahren wollte, der ihrer Mutter Daseinsweg als trauriges Kennwort begleitet hatte. In diesen Minuten war er nicht mehr der diskret-elegante Weltmann Doktor Rolf Terkellen, nicht mehr der Millionär mit dem warmen Herzen, sondern nur noch der Sohn seines eisenharten Vaters, eines westfälischen Bauern, der das Glück gehabt hatte, in den Tiefen seines Torfmoors auf Kohle zu stoßen und der diese Glückschance tatkräftig festgehalten und in ehrlicher Arbeit ausgenutzt hatte.

Seine Stimme wurde voller, rauher, klang wie ein Grollen. „Ich denke, Sie wollten stets nach dem kernigen Bibelwort handeln, daß der Himmel die Lauen ausspeit, gnädiges Fräulein … Und was tun Sie jetzt?! Dort liegt Ihre Schwester, ein Opfer dunkler Mächte, die sich zur Wehrlosmachung ihrer Beute eines Rauschgiftes bedienen! Und Sie wissen das und versuchen trotzdem vor mir, dem Sie einst als Freund blind vertrauten, den wahren Sachverhalt zu verschleiern! Ich bin für keine Halbheiten. Niemals! Entweder biegen oder brechen. Entweder klar und kraftvoll ein Ziel im Auge haben, oder genau so geschmeidig und rückgratslos werden wie die meisten Menschen von heute … Die erreichen vielleicht auch ihr Ziel. Und das ist gewöhnlich die Füllung der eigenen Tasche. Hier mag’s um ähnliche unsaubere Dinge gehen, ich betone, um ähnliche unsaubere Dinge. Und dazu wollen Sie, Edda von Bruck, willig Ihre Hand zur Hilfeleistung hergeben?! Schämen Sie sich, Mädchen! Die Ärmste dort, die, wie mir schon der starke Schweißausbruch zeigt, mit den Folgen einer schweren Opiumvergiftung kämpft, wird sich von selbst erholen, denn sie ist zäh und gesund. Aber all das andere, das mit Tschandas Verführung zum Genuß des schädlichen Droß’, dieses billigsten, verderblichsten Teufelzeuges, zusammenhängt, wird sich niemals von selbst einrenken. Da ist der Holländer Pieter van Zeerten, dieser seltsame Wohltäter und Liebhaber von Stickereien, die er hier in seinem Hotel zerreißt und dem Portier zum Verbrennen übergibt, wie mir bekannt ist, – da ist als Hauptperson Ihre Mutter, die behauptet, im Sudan wäre der Name Tschanda sehr häufig … Ja, Tschandu ist dort sehr häufig, nicht aber Tschanda … Und da war vor achtzehn Jahren in Chartum ein Reverend Oliver Brex, Missionar, Geheimagent und nebenher wohl ein Aufwiegler schlimmster Sorte … Nach dem blutig niedergeschlagenen kurzen Eingeborenenaufstand in Chartum im Juli 1914 wurde dieser Mann nie mehr gesehen. Der neue Gouverneur von Chartum, ein General Bewers, den Ihre Mutter persönlich von früher her kennen dürfte, hat mir unter vier Augen einiges erzählt, das mich veranlaßt, nachher Ihre Mutter um eine Unterredung zu bitten … Ich will klar sehen. Ich will nicht, daß der Name von Bruck, der eines berühmten Forschers und der zahlloser tapferer Offiziere der alten preußischen Armee, in noch schmutzigere Geschichten hineingezogen wird. – Raucht Ihre Mutter gleichfalls Opium, – Ja oder Nein?“

Dieses kurze, abgehackte, abschließende und jedes vorsichtige Ausweichen oder Herumreden von vornherein ausschaltende Ja oder Nein entsprach so ganz Rolf Terkellens ureigenster Natur. Es war das untrügliche Zeichen eines Herrenmenschen im besten Sinne des Wortes. Daß es gleichzeitig, wenn der Ton und die Umstände schlecht gewählt waren, tief verletzen und zum Widerstand aufreizend wirken konnte, dies mochte Terkellen in dieser ungewöhnlichen Stunde übersehen haben. Er war über sein Ziel ungewollt hinausgeschossen, und die Folgen blieben nicht aus.

Edda von Bruck war einen Schritt zurückgewichen und hatte die Hand auf die Lehne des nächsten Stuhles gelegt, um eine Stütze zu finden. Terkellens Andeutungen über die Vorgänge in Chartum vor achtzehn Jahren bestätigten ihr nur einen Verdacht, den sie bisher als unsinnig stets zurückgewiesen hatte.

Sie war totenbleich, als sie nun den Kopf etwas drehte und das schweißfeuchte Gesicht ihrer Schwester musterte. – War es ihre Schwester? War es nur ihre Halbschwester?! War Tschanda nicht wirklich ein fremdes Reis am alten Stamme der blonden Brucks?! Hatte es je eine geborene Bruck mit so straffem schwarzen Haar und solchem Elfenbeinteint und solchen Augen gegeben?! Nie – – nie! Aber wenn sie an das Bild dachte, das in ihrer Mutter Zimmerchen stand und das nur aus einer illustrierten englischen Zeitung herausgeschnitten und doch so sorgfältig aufgeklebt und so kostbar eingerahmt war, dann hatte sie vielleicht die Erklärung für den Namen Tschanda und für der Schwester fremdartige Schönheit gefunden …

„… Ein Bekannter von früher …“, hatte die Mutter alle Fragen nach dem düsteren Priester auf dem Bilde stets abgetan …

Und nicht anders umging sie stets alle Einzelheiten aus der Zeit ihrer Gefangenschaft bei den Dscharani-Beduinen, beließ es stets bei allgemeinen Redensarten, verschanzte sich hinter der Furcht vor diesen Erinnerungen und hielt es genau so mit den Vorgängen in den Ruinen von Ain Halfa, mit jener blutigen Nacht, als die braunen Angreifer das Lager gestürmt hatten.

Edda von Bruck glaubte jetzt zu wissen, was damals in Wahrheit geschehen. Die Schuld ihrer Mutter wuchs dadurch über die Grenze gewissenloser Leichtfertigkeit weit hinaus, wurde vielleicht gar zur Blutschuld, zum grauenvollen Einverständnis mit der Niedermetzelung der ganzen Expedition, von der ja nur ein Mann mit dem Leben davongekommen: Ein Hauptmann Bewers, Kommandeur des Dromedarreiterkorps von Chartum!

Noch einen letzten Blick warf sie auf die schmale, zierliche Gestalt der Schwester. Dann drehte sie sich langsam Rolf Terkellen wieder zu. Sie fühlte es im voraus, daß ihre Stimme ganz fremd klingen würde. Trotzdem sprach sie. – Die Lauen speit der Himmel aus! Sie wollte nicht lau sein. Wenn es hier um die Ehre des Namens Bruck ging, dann war sie die einzige, die ein Recht und auch die Pflicht hatte, diesen Namen zu schützen, selbst Terkellen gegenüber. Niemals durfte die Wahrheit an den Tag kommen. Und gerade weil Rolf Terkellen ein Ehrenmann war, würde er aus Ehrgefühl fortan diese Dinge ruhen lassen.

Sie schaute ihn an. Sie sah ihn nur wie durch Nebelschwaden. Sein Gesicht erschien ihr fremd in seiner abwartenden Härte.

Sie sprach …

„Wer gibt Ihnen ein Recht, Herr Doktor, für die Reinhaltung des Namens Bruck sich einzusetzen?! Wer?! Ich nicht, meine Mutter nicht, niemand, nur Sie selbst! Der einzige, der hierzu berufen ist, wäre mein Verlobter … wäre Heribert Gardner, von dem Sie allerdings nicht viel halten dürften …“

Mit voller Absicht erwähnte sie Gardner. Sie ahnte, daß dies Terkellen irgendwie wehetun würde. Und das wollte sie.

„Nicht wahr, Sie schätzen Heribert als Schwächling ein?“ fuhr sie trotzig und aufreizend fort. „Ja oder nein, – – Schwächling oder Mann?“

Terkellen horchte auf. Noch nie hatte Edda ihm gegenüber einen spöttischen Ton angeschlagen. Dieses „Ja oder Nein?“ war beabsichtigt, war Spott, weil er selbst auf diese knappe Schlußformel eingeschworen war. Terkellen durchschaute jetzt Eddas Taktik. Aber er durchschaute sie nicht ganz, und gerade das, was er in ihrem Benehmen unrichtig deutete, sollte die an sich schon kritische Szene zu einem für beide Teile höchst bedenklichen Ende führen. Er war der irrigen Meinung, es käme ihr nur darauf an, die zwischen ihnen bereits bestehende Entfremdung noch zu vergrößern, er glaubte in diesem Augenblick mit aller Bestimmtheit, daß sie Heribert Gardner wirklich liebe und daß sie nur ihrem Verlobten einen Einblick in diese dunklen Familienfragen gönnen und zugestehen wolle. Er selbst sollte ausgeschaltet werden, die jahrelange Kameradschaft sollte kurzer Hand zerschlagen werden wie ein nutzlos gewordenes Gefäß, das einmal einen gar köstlichen Wein geborgen hatte.

Nun gut, wenn sie es darauf anlegte, seine Freundschaft von sich zu werfen, – mochte sie’s tun!

Ein unendlich bitteres Gefühl quoll in Terkellen, alles andere überflutend, empor. Auch er war nur ein Mensch, kein Gott, auch seine Gedanken und Folgerungen konnten einmal falsche Wege nehmen. Hier war’s der Fall.

Er ahnte nicht, wie unendlich schwer es dem Mädchen, das ihm da totenbleich gegenüberstand, geworden war, diesen Sturm des Unwillens in ihm zu entfachen, wie wenig ihre Worte und deren schriller, verletzender Ton echter Überzeugung entsprangen.

Terkellen hatte eine ganz eigene Art, bei bestimmten Gelegenheiten, wo andere vielleicht den Kopf empört zurückwerfen und eisigste Unnahbarkeit andeuten wollen, sein stark gebautes Kinn etwas zu senken und dann den Unterkiefer vorzuschieben.

Und dieses Antlitz, in dem jede Linie ihre eigene Sprache von ungezügelter Willensanspannung und von Nichtachtung des augenblicklichen Gegners redete, hatte Edda nun in unverschleierter Klarheit vor sich. Die wallenden Nebel vor ihren Augen waren gewichen. Ihre Erregung hatte den Höhepunkt überschritten und verebbte. Aber in demselben Moment, wo sich die Reue bei ihr meldete, weil sie vor Terkellen hier ihr wahres Ich gewaltsam verzerrt hatte, sah sie dieses Gesicht mit dem vorgestreckten Unterkiefer, diese dicken Faltenstränge und diese zugekniffenen Augen unter der gekrausten Stirn. Sie erschrak. Sie schaute ganz scheu und tastend in diese einst so wohlvertrauten Züge und fand darin nichts mehr von jenem Terkellen, dem sie bis zuletzt gestattet hatte, sie scherzend und gütig nur mit „Mädel“ anzureden.

„Gardner ist ein Schwächling – ja!“ sagte Terkellen merkwürdig gepreßt. „Wenn Gardner nur ein Fünkchen Verstand und Intelligenz besäße, hätte er diesen holländischen Schwindler van Zeerten längst beobachten lassen, denn er überschaute das sich zusammenbrauende Unheil weit besser als ich … Und was tat er?! Nichts! Er ließ sich von Ihnen, mein gnädiges Fräulein, heimschicken wie ein überflüssiges Anhängsel, und das ist er auch nur! – So, nun kennen Sie meine Ansicht über ihn“, fügte er tief Atem holend hinzu, „Die Lauen speit der Himmel aus …! Sie haben mir erklärt, daß ich mich gefälligst nur um meine Angelegenheiten kümmern soll, – ich erkläre Ihnen ebenso rückhaltslos: Gardner ist ein Schwächling, was nicht seine Schuld sein mag, vielmehr die einer falschen Erziehung. Aber aus Schwächlingen können Männer werden … Geben Sie ihm eine Aufgabe, die den vollen Einsatz seiner wirklich vorhandenen Werte verlangt, und er wird sich vielleicht ändern …“

Mit jedem Wort dieser Nachsätze, die sein anfängliches vernichtendes Urteil über den verwöhnten, verzärtelten Lebemann etwas abschwächten, glitt auch sein Gesicht stufenweise in die alte Form zurück, und als er nun nach einer abschließenden stummen Verbeugung vor Edda sich der Kranken zuwandte und seinem Arztbesteck die bereits gefüllte Injektionsspritze mit dem wirksamsten Gegenmittel gegen das verderbliche Droß entnahm, lag in seinen Zügen nur ein Ausdruck stillen Mitleids und freudiger Hilfsbereitschaft. Er desinfizierte eine Stelle am linken Unterarm durch Betupfen mit einer Jodlösung, trieb die nadelfeine Spritze in das Fleisch und vollendete die Injektion mit einer Sachlichkeit, die auf Edda, deren Augen ihn unablässig umfingen, genau so warnend und abschreckend wirkten wie seine kühlen Abschiedsworte. Hätte Rolf Terkellen ihre zaghaften Blicke richtig gedeutet, würde er gewußt haben, daß Edda erneut einen harten Kampf mit sich selbst ausfocht …

Ein einziges freundliches, wärmeres Wort von ihm, und sie wäre aufschluchzend in seine Arme geflüchtet und hätte den ganzen Jammer ihrer verzweifelten Unsicherheit und Ungewißheit über Vergangenes und Gegenwärtiges an seiner Brust ausgeweint.

„… Ihre Schwester wird nun in einen sehr tiefen, gesunden Schlaf hinübergleiten und morgen früh vollkommen frisch sein … – Empfehlen Sie mich bitte Ihrer Frau Mutter, gnädiges Fräulein …“

Die Tür klappte hinter ihm leise zu.

Edda von Bruck stand wie erstarrt und ängstlich horchend da, rührte sich nicht und … hoffte. Ihr Herz schrie ihr in heißer Qual vorwurfsvoll zu. „Das kann ja nicht sein, – so könnt ihr beide doch nicht auseinandergehen, Rolf und du, – – der gütige Freund und sein liebes kleines Mädel, – nein, das darf nicht sein! Er wird zurückkehren, – – rufe ihn, – – rufe ihn, ehe es zu spät ist …!“

Draußen schnappte nun auch die Flurtür ins Schloß. Edda fuhr sich wie aus einem häßlichen Traum erwachend mit zwei Fingern über die Stirn und preßte die Fingerspitzen dann gegen die hämmernde Schläfe … Alles um sie her drehte sich, ihre Widerstandskraft war erschöpft, und langsam sank sie vor dem Diwan in die Knie und ihr Kopf fiel schwer auf den jungen, festen Busen ihrer Schwester Tschanda. Sie wurde nicht ohnmächtig, sie verlor nicht einen Augenblick das Bewußtsein. Sie war nur matt, müde, sterbensmüde. Ihre Gedanken, beeinflußt durch die Berührung ihrer Stirn mit der nackten Brust der Schwester, flossen träge und ließen von der Person Terkellens ab und beschäftigten sich mit Tschanda.

Tschandas Körper hatte einen eigentümlichen Duft. Selbst ihr Achselschweiß roch mild nach Ambra. Aber auch dieser Duft gemahnte Edda jetzt an die grauenvolle Vergangenheit. Das Fremdartige der äußeren Erscheinung Tschandas und das ebenso eigenartige ihres Verhaltens und ihrer spärlichen Gesten und ihre eigentümlichen Angewohnheiten wurden durch diesen Körperduft noch unterstrichen.

Es war derselbe Ambrageruch, den man in Ägypten den Königsdynastien als Zeichen ihrer Gottgleichheit nachsagte.

Dieser Duft war ein einwandfreier Beweis der wahren Herkunft Tschandas. Tschanda war keine Bruck, sondern eine Tochter jenes unheimlichen Missionars, jenes Engländers Oliver Brex.

Und Oliver Brex hatte vielleicht Eddas Vater in den Ruinen von Ain Halfa im Einverständnis mit Frau Theresa ermorden lassen, um diese zu seiner Geliebten zu machen.

Eddas Kopf sank wieder herab. Ihre immer reichlicher fließenden Tränen benetzten Tschandas duftende Haut, und ihre Lippen flüsterten zwischen den prallen, sanften Hügeln der Brüste ihrer Halbschwester das traurige Geheimnis ihres Herzens wie in die verschwiegene Öffnung eines Beichtstuhls:

„Ich liebe dich, – ich liebe dich, Rolf, und ich wies gerade dich, gerade dich zurück, – – ich, dein kleines liebes Mädel von einst … Aber ich mußte es tun. Nie darf die Welt diese ungeheuerliche Schande erfahren …!“

 

4. Kapitel.

Theresas Totenandacht.

In der Finsternis einer Dachstube des gegenüberliegenden Hauses zischelte eine heisere Stimme: „Der Teufel hat seine Hand im Spiel …! Da, schau hin, – es ist Terkellen … Er hat die Fenster noch weiter aufgerissen … Tschanda liegt auf dem Diwan … Und dort steht die andere, die Blonde …“

In der pechschwarzen Dunkelheit dieser Unwetternacht waren hier in der schlecht möblierten Dachkammer nur die Schatten zweier Männer zu erkennen, der eine groß und massig, der andere schmal und überschlank …

Die heisere Stimme zischelte von neuem: „Da – – er verabfolgt ihr eine Spritze … Sie wird sehr fest schlafen. Wir dürfen nicht länger zögern. Terkellen und dieser verfluchte alte Chinesenschuft mit seiner Meute von Landsleuten sind ohnedies hinter uns her! Der Satan mußte mich reiten, daß ich die heutige Dosis übertrieb! Aber die Sache drängte, und Tschandas unbequeme Fragen durfte ich nicht beantworten … Gafiri, du fährst sofort zum Flugplatz und bestellst für die frühen Morgenstunden eine große sichere Maschine. Spare nicht mit dem Gelde … Ein Päckchen Dollarnoten schläfert jedes Gewissen ein, und manche dieser Deutschen sind noch so verdammt unmodern. Dann begibst du dich zu Menelos und hältst das Auto bereit. Vergiß nicht die Stricke, eine Strickleiter und Dietriche … – Verschwinde jetzt … Auch Terkellen entfernt sich … Zwischen ihm und der Blonden hat’s Zwist gegeben … Um so besser für uns … Beeile dich …“

Der zweite Schatten glitt in die vollkommene Finsternis zurück, eine Tür knarrte, Treppenstufen knarrten, ein Hagelschauer knatterte herab …

Drüben schloß Edda mit rotgeweinten Augen müde die Fenster und die Vorhänge, breitete eine warme Decke über die Halbschwester, zog ihr behutsam die Schuhe aus, rückte die Kissen zurecht und schaltete das Licht aus und betrat den kleinen Flur, wo eine altmodische blaue Ampel dürftige Helle spendete. Edda schlich auf Zehenspitzen bis zur Tür des Zimmerchens ihrer Mutter, bückte sich und stellte fest, daß das Schlüsselloch mit einem farbigen Tuche verhängt war und daß drinnen Licht brannte. Leise seufzend richtete sie sich auf und betrat den Nebenraum mit den kleinen schmalen eisernen Betten und den bescheidenen Frisiertischen. Langsam, matt, bedrückt und in dumpfem Bangen vor der Zukunft setzte sie sich auf den Bettrand und schaute das große, protzige Bild ihres Verlobten an …

„Aus Schwächlingen werden Männer, vielleicht!“

Es war, als ob noch immer Terkellens Stimme in ihren Ohren nachklang.

„Vielleicht …!“ flüsterte sie ohne viel Vertrauen.

Ihre Gedanken glitten ungehemmt weiter …

„Und wenn er sich änderte?! Du wurdest ihn ja doch nicht lieben können … Du liebst ja den anderen, den, der dich aufwachsen sah, dessen Heim dein Heim gewesen, dessen aufrichtige selbstlose Freundschaft dir gehörte …“

Wie unter fremden Zwang streckte sie die Hand aus, nahm das große, prunkende Bild und schob es irgendwohin unter ein paar verblichene Zeitungen, die sie einst mühsam sich verschafft hatte, weil sie Berichte über Friedrich von Brucks klägliches, aber tapferes Ende enthielten. –

Nebenan, von Edda nur durch eine Mauer von anderthalb Ziegelsteinen getrennt, horchte Frau Theresa, zusammengekauert in dem einzigen Sessel des Zimmerchens hockend, mit gespitzten Ohren auf jedes Geräusch. Als sie hörte, wie Edda ihre Tür verriegelte, erhob sie sich und blickte unschlüssig das Bild des Oliver Brex auf dem kleinen Schreibtisch an. Minuten verharrte sie regungslos, bis die zwingende Kraft der Augen des Gebieters von Dscharani, deren eigentümlicher Einfluß selbst dem Bilde entstrahlte, ihren letzten Widerstand besiegt hatte.

Tschandas heutiger körperlicher Zusammenbruch würde schnell vorübergehen. Aber weniger schnell konnte sie selbst mit den ihr unklaren Gründen für des Holländers van Zeerten Verhalten und Verführungskünsten fertig werden. Was beabsichtigte dieser breitschultrige Mann mit seinem verdächtigen und gefährlichen Interesse für die Familie Bruck?!

Frau Theresa wollte hierüber einen sie selbst befriedigenden Aufschluß erhalten. Hierzu mußte sie ihr Hirn zu gesteigerter Leistungsfähigkeit anspornen. Es galt, Schlußfolgerungen aus Kleinigkeiten zu ziehen und so ein klares Bild zu gewinnen. Dazu brauchte sie künstliche Anregung.

Tschandas Ohnmachtsanfall hatte auch noch anderes in ihr zu frischem, fast greifbar gegenwärtigem Rückerinnern geweckt: Das große, berauschende, blutige und doch zauberhafte Einst, als sie Oliver Brex’ Sultana gewesen!

Theresa war keine intelligente Frau. Sie hatte stets nur, was geistige Werte betraf, zum Durchschnitt gehört, und was moralische Qualität anging, nicht einmal diesen Durchschnitt erreicht. Sie war nicht schlecht und verdorben in dem Sinne, daß sie ohne Selbstkritik bewußt das Böse gutgeheißen und mitgemacht hätte. Der Grundzug ihres Charakters war von Kindheit an derselbe geblieben: Sie wollte glänzen, wollte eine Rolle spielen, nebenher aber verdarben ihre unstillbare, besonders geartete Neugier und ihr Sensationshunger immer wieder die Erreichung dieser eitlen Ziele. Trotzdem war ihr jetzt in reiferen Jahren, wo ihre Charakterschwächen immerhin durch Lebenserfahrung gemildert waren, allmählich die beglückende Erkenntnis aufgegangen: Daß in jenen Wochen, in denen sie die Sultana von Dscharani hatte spielen dürfen, ihr Dasein seine einzigen wahren Höhepunkte erreicht hatte, wenn auch der Abschluß dieser in vielem so märchenhaften Episode ein geradezu grausiges Erwachen war!

Diese Erkenntnis, in der das Trübe und Häßliche und Demütigende wie stets durch die Zeit seine schärfsten Spitzen verloren hatte, war mit der Grund ihrer verschwiegenen, nächtlichen und einsamen Rückfälle in ein berauschendes Laster, das für sie letzten Endes nur eine ungewöhnliche Totenandacht darstellte.

Wie einer fernen Gewalt gehorchend – und so war es stets, wenn sie das Schlüsselloch verhängt hatte und keine Überraschung mehr zu fürchten brauchte – entnahm sie der einen Schieblade ihres kleinen Damenschreibtisches ein buntschillerndes Päckchen und ein zweites, das ein eng zusammengefaltetes farbenfrohes hauchdünnes Odaliskenkostüm enthielt, das sie einst für billiges Geld von einer Bekannten erstanden hatte.

Ihr Morgenrock glitt herab, und die Schreibtischlampe mit dem rosigen Schimmer färbte das noch immer feste, faltenlose Fleisch ihrer Arme, Schultern und der ideal geformten Büste zu blutwarmem Leben. Das zweite Päckchen entrollte sich, Theresa schlüpfte in die weiten grünseidenen Hosen von türkischem Schnitt, in das perlenbesetzte Jäckchen und enthüllte dann erst das einstige, erste Geschenk des geheimnisvollen Asketen Oliver Brex: Die Opiumraucherausrüstung, von der sie sich nicht einmal bei ihrer überstürzten Flucht getrennt hatte.

Wie damals so oft im weißen Bungalow am weißen Seeufer häufte sie auch hier inmitten der Weltstadt Berlin mit ihren nüchternen Straßenzügen, verräucherten Häusern und lebenskampfmüden Menschenmassen viele weiche Kissen auf dem Teppich auf, ließ sich mit untergeschlagenen Beinen darauf nieder und öffnete das goldene Schächtelchen, das nur noch fünf Tschandupillen enthielt. Sie spießte eines der kostbaren Kügelchen auf die silberne Nadel, preßte es in den Achatkopf der Pfeife, rieb ein Zündholz an, hörte das feine Knistern der Pille und sog den weißen Rauch ganz tief und ganz langsam in die Lungen ein …

Drei Züge genügten bereits, bei ihr jenes Gefühl erhöhter geistiger Spannkraft und wunderbarer körperlicher Leichtigkeit zu erzeugen, das ihr nicht nur die Vergangenheit in plastischen, scharfen Bildern ganz nahe rückte, sondern auch jenes heimtückische Auslösen aller sittlichen Hemmungen hervorrief, das für den Opiumgenuß so überaus kennzeichnend ist und den Opiumraucher, selbst den mäßigsten, auf eine Stufe mit dem nur seinen Instinkten gehorchenden Tier stellt. In diesem Auslöschen dieser moralischen Bindungen liegt ja gerade das ungeheuer Verderbliche des „weißes Rauches“.

Man spricht zuweilen irrtümlich von „schwarzem Rauch“ und meint damit die Rauchwölkchen einer Opiumpfeife. Dies ist unrichtig. Das reine Tschandu verbrennt mit hellen Wölkchen, nur das durch andere Stoffe künstlich gestreckte Droß erzeugt braunschwarzen Rauch.

Frau Theresas wahre Umwelt versank … Das Einst mit seinen grellen Farben der sengenden Sonne Afrikas entstieg dem Nebelgrau der Vergangenheit wie ein Rundpanorama, über dessen Einzelheiten ihre in sich gekehrten Blicke prüfend und abwägend hingleiten wollten. Oliver Brex’ eigentümlich monotone Stimme drang an ihr Ohr, und als sie nach dem sechsten Zuge aus der kostbaren Pfeife diese weglegte und stier vor sich hinschaute, hätte ihr trunkenes Hirn ganze Sätze der oft so packenden Schilderungen des gelehrten Reverends wiedergeben können, aber auch die vielleicht zu streng wissenschaftlichen Erläuterungen ihres Gatten über Fragen, die während des Rittes der Expedition nach den Ruinen von Ain Halfa als gerade aktuell sich in den Vordergrund drängten …

Theresa hockte nicht mehr auf dem hohen, weichen Berg von Kissen, sondern saß im Dromedarsattel und war umgeben vom Schweißgeruch der Tiere, von den Ausdünstungen der eingefetteten Leiber der eingeborenen Diener und von dem kräftigen Duft der Zigaretten, die Hauptmann Charly Bewers, stumm und finster neben ihr reitend, andauernd rauchte. An ihrer linken Seite trabte ihr Gatte dahin, bereits jetzt begeistert durch die Hoffnung, in Ain Halfa den Nachweis führen zu können, daß die Ruinenfelder römischen Ursprungs seien.

„Das römische Weltreich“, trug Friedrich von Bruck am dritten Reisetage seinen wenig aufmerksamen Nachbarn umständlich vor, „hatte besonders unter der Herrschaft des Kaisers Claudius seine allmächtigen Arme auch nach Ägypten ausgestreckt. In den nordöstlichen Gebirgen und Wüsten gibt es besonders zwei Stätten, die auf einen zwar primitiven, aber sehr ausgedehnten Minenbetrieb und auf große römische Niederlassungen hinweisen. Die eine liegt am heutigen Dschebel-ed-Duchan, dem Berge des Rauches, den der Geschichtsschreiber Plinius Porphyrberg nennt, die zweite am Dschebel Fatirah, der damals Mons Claudianus[1] hieß. Kriegsgefangene, Sträflinge und Legionäre bewohnten jene großen Ortschaften, man fand Gold, Granaten, Onyx, Achat, Jaspis, Amethyste, und riesige Karawanen schafften die Ausbeute der Bergwerke zur Küste. Man legte eine wohlgepflegte Straße mit Brunnen und Stationshäusern an und verlud die größeren Steinblöcke auf zweirädrige Karren, die von Kamelen und Ochsen gezogen wurden. Daß aber die Römer jemals so weit nach Süden bis in den heutigen Sudan hinein vorgestoßen sein sollten, war bisher mehr als zweifelhaft … Freilich machte der Eroberer- und Unternehmungsgeist jener alten Römer vor keinen Hindernissen halt. Wir werden uns nun ja sehr bald davon überzeugen können, ob die Annahme meines englischen Kollegen Wilkinson wirklich zutrifft …“

Der blondbärtige, hünenhafte Gelehrte sah nicht das versteckte Gähnen des Hauptmanns Bewers und ebensowenig die verträumte, zerstreute Miene seines jungen Weibes. Bewers und Theresa dachten an andere Dinge, in deren Mittelpunkt Reverend Oliver Brex stand. Bisher hatte Theresa jede Aussprache unter vier Augen mit dem äußerst mißtrauischen Hauptmann vermeiden können. Aber sie spürte deutlich, daß er nur auf eine Gelegenheit wartete, ihre Beziehungen zu Brex irgendwie zu klären. Damals vor Tagen an den Tennisplätzen in jener mondhellen Festnacht im Gouvernementspalast hatte sie ihn mit der durchsichtigen Ausrede fortweisen können, sie hätte Kopfschmerzen. Bewers merkte, daß sie ihm auswich. Gerade er, der seit Jahren in Chartum in Garnison lag und dem man das Dromedarreiterkorps und die Patrouillenritte in die entlegensten Oasen übertragen hatte, war auch außerhalb des Eingeborenenviertels von Chartum auf verdächtige Anzeichen einer geheimen Gährung unter den verschiedenen Völkerschaften des Südwestens gestoßen, während Oliver Brex’ Berichte an den Gouverneur stets beruhigend lauteten. Bewers traute dem blassen Reverend und Geheimagenten weniger denn je …

Frau Theresas Erinnerungen übersprangen eine Lücke von fünf Tagen, – – vor ihren starren, schillernden Augen tauchten die Ruinen auf, dazwischen Palmen, Büsche, eine plätschernde Quelle, Lagerzelte, ruhende Tiere, flackernde Feuer und die regungslosen Silhouetten der Wachtposten, die sich auf ihren erhöhten Standplätzen scharf vom ausgestirnten Firmament abhoben …

Bewers stand vor ihr. Er hatte sie endlich allein erwischt, als sie in dem schillernden Teiche zwischen den Trümmern römischer Behausungen ein Bad genommen hatte. Des Engländers braunes Gesicht war hart und rücksichtslos.

„Antworten Sie mir! Wollten Sie sich mit Brex hier irgendwo treffen?“

Theresa fand ihr harmlosestes, kindlichstes Lächeln.

„Ich verstehe Ihre sonderbaren Fragen überhaupt nicht … Was geht mich der Reverend denn an?!“

Sie zog den weiten Mantel enger um den schlanken Leib …

„Finden Sie es übrigens eines Gentlemans würdig, Hauptmann Bewers, einer verheirateten Frau zu dieser nächtlichen Stunde nachzuschleichen?! Ich habe gebadet, und …“

„Spärlich bekleidete Körper übersehe ich, weil ich sie hier jeden Tag sehe …“

Sein schroffer Ton und die Brutalität, mit der er sie mit Neger- und Halbnegerweibern auf eine Stufe stellte, gaben ihr den Vorwand, ihm wortlos den Rücken zu kehren und eiligst zwischen den Steinblöcken zu verschwinden. Als sie gerade im Zelte ihres Gatten angelangt war, der noch an dem kleinen Klapptisch eifrig seine Notizen ergänzte, verstummte das vom Nachtwind herübergetragene Kläffen, Knurren und häßliche Lachen von Schakalen, Füchsen und Hyänen, die draußen am Wüstenrand um die Überreste einer von Bewers erlegten Antilope stritten, so plötzlich, daß Theresa unwillkürlich den Zeltvorhang in der Hand behielt und angespannt lauschte.

Der schrille Pfiff eines Nachtfalken zerschnitt die beklemmende Stille, viermal wiederholte sich der helle, überlaute Pfiff und Theresa wechselte die Farbe. Ihr Herz schlug schneller, das Blut brauste ihr in den Ohren, und am liebsten hätte sie in diesem entscheidenden Augenblick das getan, wozu sie ihr jäh erwachtes Gewissen mit aller Macht drängte: Ihren Gatten gewarnt! – Sie wußte ja, was der Pfiff bedeutete, sie ahnte auch, weshalb die vierfüßigen Aasfresser dort draußen so plötzlich ihr Gezänk eingestellt hatten. Die Stunde der Entscheidung war da, und diese Stunde fand Theresa hilflos, gelähmt und zitternd vor Furcht und peinvoller Erwartung als eine Mitschuldige des bleichen, haßzerfressenen Asketen vor. Halbirre Gedanken taumelten durch ihr Hirn … Brex hatte versprochen, ihren Gatten zu schonen und nur im äußersten Notfalle Gewalt anzuwenden … Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie wollte schreien, sie brachte keinen Ton über die zuckenden, trockenen Lippen. Dann blitzten auch schon die ersten Schüsse auf, hellbraune Mäntel flatterten wie Riesenfledermäuse, urplötzlich aus dem zerklüfteten Boden wachsend, über die Ruinenblöcke, und in sinnlosem, panischem Schrecken rannte Theresa dem nahen dunklen Eingang eines noch leidlich gut erhaltenen Steinhauses zu und verkroch sich weinend und schluchzend hinter einer steilen Schutthalde. Sie preßte die Finger gegen die Ohren, nur um nichts von dem Lärm des blutigen Kampfes zu vernehmen, und als dann beim ersten Morgengrauen ein hochgewachsener junger Krieger mit eigentümlich hellbrauner Hautfarbe und fast europäischem Gesichtsschnitt die bewußtlose Theresa in den Tragkorb eines Lastdromedares legte, kreisten bereits über der Ruinenstadt die Aasgeier mit heiserem Krächzen … –

Abermals übersprang Theresas vergiftetes Hirn einige Tage aus jenen Zeiten des Dromedareilrittes zum verborgenen Reiche des Sultans Tschandu. Ihre flirrenden Blicke fraßen sich fest an dem Bilde des Oliver Brex’, – – sie sah sich und ihn und den schlanken, athletischen Krieger auf der Veranda des weißen Bungalow, und sie hörte ihre kreischende, von Empörung bebende Stimme wie damals rufen:

„Mossala Dschin behauptet, du hättest ihm den Befehl erteilt, rücksichtslos anzugreifen! Ich will die Wahrheit wissen! Mein Gatte soll ebenfalls tot sein … Du wärest ein Wortbrüchiger, wenn du meinen Gatten gemordet hättest …“

Das waren die ersten Worte, die seit vielen, vielen Stunden über Theresas Lippen kamen.

Brex trug einen weißen, tadellos sitzenden Tropenanzug und hatte für diese Stunde auf seine prunkvollere Pracht verzichtet. Er wollte sich ganz als Europäer geben, um die Frau, deretwegen er soviel gewagt hatte, nicht in demselben Augenblick zu verlieren, wo sie vollkommen in seiner Macht war. Was er von ihr ersehnte und erhoffte, sollte sie ihm freiwillig gewähren. Er wollte sie zu nichts zwingen.

Seine oft so unergründlichen Augen glitten von den vor Entrüstung und heller Verachtung stammenden Zügen Theresas zu dem hoch aufgerichtet, trotzig und freimütig dastehenden Mossala Dschin hinüber.

„Was befahl ich dir?“ fragte er kalt.

„Du befahlst, dir diese Ungläubige zu bringen“, erwiderte der Beduine, der ein fehlerfreies Englisch sprach, mit kühnem Zurückwerfen des Kopfes.

„So?! Und was befahl ich weiter?!“ meinte der Tschandu noch leiser.

In das hellbraune Gesicht des jungen Arabers, der auf seine nahe Verwandschaft mit Osman Digna, dem berühmten Feldherrn des Mahdi, außerordentlich stolz war, flutete eine dunkle Blutwelle. Seine schwarzen Augen mit den überlangen, fast frauenhaften Wimpern bekamen für Sekunden einen eigentümlichen Glanz. Aber die Lider senkten sich schnell, und seine Antwort klang lediglich freimütig und vielleicht etwas bedauernd:

„Sultan Tschandu, du wolltest kein Blutvergießen. Aber Hauptmann Bewers ließ die weiße Frau beständig überwachen, und es war unmöglich, sie zu entführen oder unbemerkt noch länger in der Nähe von Ain Halfa mit meinen Kriegern zu bleiben. Ich mußte angreifen. Meine Leute hatte schwere Verluste, und du weißt, daß sie im Kampf nicht zurückzuhalten sind …“

Der Tschandu betrachtete ihn mit einer Aufmerksamkeit, als hätte er soeben an diesem Halbfranzosen eine überraschende Entdeckung gemacht.

(Osman Digna, nicht Digma (vom arabischen dikn, der Bart) stammte aus Rouen, soll mit wahrem Namen George Nisbet geheißen haben[2], wurde einer der reichsten und zugleich ehrgeizigsten Männer in Suakin, schloß sich 1882 der Erhebung des Mahdi an, verlor in den Kämpfen gegen die englisch-ägyptischen Truppen den linken Arm und fiel erst 1900 durch Verrat den Engländern in die Hände. Er ist wahrscheinlich standrechtlich erschossen worden. Genaue Angaben über sein Ende fehlen. Er hinterließ mehrere Kinder, deren unversöhnlicher, fanatischer Haß gegen die Engländer im Jahre 1903 bis 1904 einen neuen Mahdistenaufstand aufflackern ließ, der aufs blutigste unterdrückt wurde.)

Minutenlang herrschte auf der schattigen großen Veranda, deren Boden mit feinsten bunten Bastmatten bedeckt war und deren geflochtene Sitzmöbel die zierliche Arbeit des Baggara-Volkes im Südosten zeigten, eine so beklemmende Stille, daß Theresa ihr eigenes Herz ruhelos pochen hörte.

Sie starrte den Tschandu erwartungsvoll an, dessen rechte Hand die Pistolentasche streichelte, die er nie ablegte.

Aber Oliver Brex war kein Mann vorschneller Tat. Mossala Dschin besaß unter den verschiedensten Stämmen, die einst dem Mahdi blindlings Gefolgschaft geleistet und den ganzen Sudan, die Hauptstadt Chartum und Nubien dazu hatten mit erobern helfen, zu viele Freunde und Anhänger.

„Du magst deine Pflichten unrichtig ausgelegt haben, Mossala“, sagte er mit einer verabschiedenden Handbewegung, deren hoheitsvolle, selbstbewußte Würde Theresa den ersten ungefähren Begriff von der Machtfülle und der Herrschernatur des Tschandu gab. „Ich danke dir, Mossala. Geschehenes läßt sich nicht mehr ändern, und die Folgen nehme ich allein auf mich.“

Theresa kam sich in diesem Augenblick hilflos wie ein unreifes Kind und auch genau so überflüssig vor. Gerade weil sie Oliver Brex zu Unrecht beschuldigt hatte, die Verantwortung für den Tod ihres Gatten zu tragen, und weil sie nun eingesehen hatte, daß dieser etwas zu selbstherrliche Mossala Dschin weit über seine Befugnisse und die ihm erteilten Befehle hinausgegangen und wohl insgeheim ein Widersacher seines Herrn und Gebieters war, fand sie angesichts dieser ganzen ungewöhnlichen Situation nicht die rechten Worte, diese mehr als seltsame Begrüßungsszene nunmehr in wärmere, herzlichere Bahnen zu lenken. Mit tief gesenktem Kopf stand sie da und fühlte nur das bange Klopfen ihres Herzens und dazu eine Leere im Hirn, die sie vollständig lähmte.

Oliver Brex trat plötzlich auf sie zu. Mit einer überaus zarten Handbewegung hob er ihren Kopf so weit, daß Theresa ihn anblicken mußte. Um seine Lippen lag ein wahrhaft gütiges, verstehendes Lächeln, als er genau so herzlich sagte: „Es ehrt dich nur, Theresa, daß du von mir diesen Aufschluß über den Tod deines Gatten gefordert hast und dazu noch in so scharfem Tone. Es hätte deinem Charakter ein sehr schlechtes Zeugnis ausgestellt, wenn du den Mann so schnell vergessen haben würdest, dessen Namen du trägst. Du mußtest für ihn eintreten, ob du ihn liebtest oder nicht. Die Ehe muß stets ein Band zwischen zwei Menschen bilden, das zumindest gewisse Pflichten in sich schließt.“

Dann führte er ihre Hand leicht an seine Lippen.

„Ich begrüße dich hiermit in meinem Reiche, Theresa, heiße dich innigst willkommen und will dir nun sofort deine Räume zeigen und deine Dienerinnen vorstellen, damit du dich von den Strapazen des Eilrittes erholen kannst.“

… Und abermals übersprangen nun die Erinnerungen der einsamen Frau, die hier Tausende von Meilen von Cordofan entfernt die Vergangenheit wieder aufleben ließ, drei volle Tage, in denen Oliver Brex ihr lediglich mit der zarten Aufmerksamkeit eines aufrichtigen Bewerbers gegenübergetreten war, in denen Theresa in ihren prunkvollen Zimmern oft genug sich allein überlassen blieb und trotz ihrer Oberflächlichkeit begriff, in wie vornehmer Art der von ihr so unrichtig beurteilte Tschandu es ihr überließ, Zeit und Stunde zu bestimmen, wo seine Liebe und sein Bestreben, ihre Seele umzumodeln und ihrer äußeren Schönheit würdig zu gestalten, ihren Lohn und ihre Krönung finden würden.

Und auch die Nacht kam … –

Aber diese Nacht hier im nordischen Berlin mit ihren heulenden Windstößen, plätschernden Regengüssen und knatternden Hagelschauern fand dieselbe Frau, die später, als sie über den Tschandu die volle Wahrheit aus seinem eigenen Munde erfahren hatte, kleinmütig und ohne Verständnis für die tiefsten Beweggründe seines Kampfes gegen England voller Grauen geflüchtet war, heute unter dem Einfluß des Rauschgiftes überwach und doch nicht fähig, ihre eigene Unvollkommenheit und ihre Schwächen mit derselben Ehrlichkeit zu überschauen und zu rügen, mit der sie Oliver Brex jetzt volle Gerechtigkeit widerfahren ließ und jeden Verdacht von sich wies, er könnte mit dem Holländer van Zeerten im Bunde stehen und seines eigenen Kindes Tschanda junge Seele durch das entnervende Droß vergiften wollen. Nein, eine solche Handlungsweise paßte nicht in Oliver Brex’ Charakterbild hinein. Mochte er auch als Fanatiker der englischen Weltmacht Abbruch zu tun versucht haben: Was hier diese dunklen Ereignisse mit Tschanda anging, daran hatte er keinen Anteil. Vielleicht lebte er überhaupt nicht mehr … Wie sollte denn aus jenem entlegenen Winkel der großen Sudanprovinz Cordofan eine für das Weltgeschehen so bedeutungslose Nachricht bis nach Berlin gelangen, daß der berüchtigte Tschandu irgendwie vom Tode ereilt worden sei?!

Plötzlich fuhr ihr Kopf empor. Mit ihren überwachen Sinnen hatte sie auf dem schrägen Zinkdach ein kratzendes Geräusch wahrgenommen. Sie hatte lange genug in der Wildnis gelebt, um die Geräusche eines Unwetters von denen zu unterscheiden, die durch andere Ursachen hervorgerufen wurden. Sie flog empor. Ein ungewisser Argwohn bestimmte sie dazu, erst die Lampe auszuschalten, bevor sie den Fenstervorhang zurückschlug. Draußen lastete schwärzeste Finsternis über dem Dächermeer, der Schein der Straßenlaternen kämpfte umsonst gegen die dicht herabgleitenden Regenschnüre an. Dann glomm unweit der Dachluke, die links neben dem Fenster sich befand, ein ganz matter Strahlenkegel auf …

Theresa taumelte zurück, stolperte über die Kissen, sank in die Knie, raffte sich wieder auf und wollte die Tür öffnen und zu Edda hinübereilen. Aber sie zauderte, – rechtzeitig war ihr eingefallen, in welch lächerlichem Gewande sie steckte und wie sehr der Geruch in ihrem Zimmer an das heimliche, seltene Laster erinnerte …

Kostbare Minuten gingen so verloren.

 

5. Kapitel.

Tschandas Flucht.

Rolf Terkellen hatte dem Freunde nur angedeutet, was droben bei Brucks vorgefallen war. Pelcherzim merkte ihm an, daß er vieles verschwieg. Er fragte nichts, er wußte, daß seine teilnahmsvollsten Fragen Terkellens düstere Stimmung nur verschlimmern würden.

Wohl zehn Minuten lang sprach keiner von beiden ein Wort. Jeder hing seinen wenig angenehmen Gedanken nach.

Dann glitt der lautlose Tschan ins Zimmer. Sein unaufgefordertes Erscheinen bedeutete nie etwas Gutes. Terkellen schüttelte den schweren Ballast seiner Enttäuschungen von sich und fragte hart und auf alles Mögliche gefaßt:

„Was gibt’s denn wieder, alter Heide?“

Tschan atmete hastig. Er, der sich rühmen durfte, durch nichts aus dem seelischen Gleichgewicht zu geraten, stammelte heiser und überhastet:

„Die gnädige Frau und Fräulein Edda sind in der Diele. Man hat Tschanda entführt – über das Dach … vor wenigen Minuten … Frau von Bruck hat es zufällig gesehen … Der Diwan, auf dem Tschanda schlief, ist leer …“

Mit geradezu kläglicher Miene stand er jetzt da.

„Ich begreife nicht, wie das geschehen konnte“, stotterte er und blickte seinen Herrn scheu an. „Finschu ist so zuverlässig. Finschu bewachte drüben das Haus und die Dachkammer, und …“

„Finschu wird im Himmel sein“, stieß Terkellen zwischen den halb geschlossenen Kiefern hervor. „Platz da, Tschan … Hektor, komme mit. Hier darf keine Sekunde verloren gehen …“

In der geräumigen Diele saßen Frau Theresa und Edda mit blassen, verstörten Gesichtern. Terkellen nickte ihnen nur zu. „Bleiben Sie sitzen, meine Damen … Tschanda ist bestimmt entführt worden? — Gnädige Frau, keine langatmigen Erklärungen … Was sahen Sie vom Fenster aus? Tschanda muß nach der Injektion, die ich ihr verabfolgte, kaum zu erwecken gewesen sein …“

Theresa rief unter trockenem Aufschluchzen:

„Sie war wach … Sie hatte meinen Mantel an und meinen Hut auf, die im Flur hingen. Sie ist freiwillig mit den beiden Leuten durch die Dachluke geklettert. Der eine war ein ganz dunkelhäutiger Mann.“

Bisher hatte sich Hektor Pelcherzim, den Tschandas Flucht vielleicht am allerstärksten beunruhigte, gewaltsam beherrscht. Unglücklicherweise verlor er gerade jetzt die Nerven, als Tschan aus dem Hintergrunde der Diele in Bezug auf den von Theresa erwähnten Dunkelhäutigen vernehmlich flüsterte:

„Ein Araber namens Gafiri, der hier ein Teppichgeschäft als Deckmantel für Rauschgifthandel betreibt …!“

Rauschgift …! Das war wie ein Stichwort für den fiebernden Pelcherzim. Auch er konnte genau so offenherzig und rücksichtslos sein wie Terkellen.

„Das ist Ihre Schuld, gnädige Frau, nur Ihre Schuld!“ sagte er schneidend und blickte Theresa drohend und geringschätzig an. „Wir wissen, von wem Tschanda dieses Laster geerbt hat und wer hier alle Welt genarrt hat: Sie!!“

Terkellen, dessen Augen unschlüssig auf Edda ruhten, als ob er von ihr zumindest eine Bitte um Beistand und ein einziges versöhnendes Wort erwartete, sah Edda noch tiefer erbleichen.

„Schweige gefälligst, – mäßige dich, Hektor!“ fuhr er den Freund unwillig an. – Es war bereits zu spät. Edda war aufgesprungen. Die glühende Röte der Empörung flutete ihr ins Gesicht.

„Und das wagen Sie meiner Mutter in Gegenwart Tschans ins Gesicht zu schleudern!“ rief sie Pelcherzim erbittert zu. „Mama, – wir haben hier nichts mehr verloren … Es war überhaupt ein Fehler, diese Herren zu bemühen. Heribert steht uns näher, ich werde ihn anrufen und die Polizei gleichfalls verständigen. – Entschuldigen Sie die abermalige Belästigung, Herr Doktor Terkellen … – Bitte, kein Wort mehr … Wir bedürfen eines Mannes mit Taktgefühl und Beherrschtheit … Guten Abend, meine Herren!“

Sie schob die willenlose Theresa in den Flur hinaus, und der flinke Tschan war eilends bei der Hand, die Tür hinter ihnen mit tiefer Verbeugung zu schließen.

Pelcherzim zog verlegen die Nase kraus und meinte zerknirscht:

„Ich bin ein Heuochse, Rolf …! Entschuldige, aber es stimmt: Ein Heuochse!“

Terkellen streichelte äußerlich vollkommen ruhig sein Kinn.

„Sage das nicht“, meinte er gelassen. „Es kann Herrn Heribert Gardner nichts schaden, wenn er auf einen Weg gedrängt wird, der vielleicht zum Mannestum emporführt. – Ich scherze nicht, keineswegs“, fügte er auf einen unsicheren Blick Pelcherzims hinzu. „Nebenher ist es selbstverständlich, daß auch wir drei, Tschan mit eingerechnet wie immer, die Sache ganz energisch anpacken. Tschan, du bekümmerst dich um Finschus Verbleib … Wir …“ – er überlegte kurz – „wir beide, Hektor, nehmen ein Auto, stecken unsere Pässe zu uns, das nötige Geld und eine Zahnbürste und fahren zum Flughafen. Heute benutzen alle, die es sehr eilig haben, ein Flugzeug, und van Zeerten nebst Anhang dürften es mehr als eilig haben. Du triffst uns also auf dem Flugplatz Tempelhof, alter Tschan … – Vorwärts, nun wird sichs zeigen, ob wir oder van Zeerten schlauer und flinker sind.“ –

Heribert Gardners Diener war nach seines Herrn Ansicht eine Perle. In der Tat verfügte dieser geschmeidige Francois über alle jene vielfachen Fertigkeiten, die man von einem perfekten Kammerdiener verlangt, wenn man einen Typ von Gardners Art darstellt.

Francois war gerade dabei, seinen Herren zu entkleiden und zu versuchen, dessen gereizte Stimmung durch allerlei Gesellschaftsklatsch mit pikantem Einschlag zu zerstreuen.

„Bitte … Hier ist der Schlafanzug … Es trifft wirklich zu, Herr Gardner, daß der Holländer Pieter van Zeerten in Amsterdam keinerlei feste Wohnung oder ein Geschäft, sondern nur eine Geliebte hat, die …“

„Woher wissen Sie das?“ fragte Gardner mürrisch.

Der staatenlose Herr Francois Lebattier, der das Deutsche mit leichtem Akzent sprach und seinem Gesicht nach irgendwo aus Südfrankreich oder vom Balkan oder aus galizischen Gefilden stammte, säuselte pfiffig grinsend: „Oh, ich habe meine Beziehungen …!! Prima Beziehungen …! Ich weiß zum Beispiel genau, daß all die Stickereien, die Frau von Bruck dem ungeschlachten Holländer verkauft, ins Feuer wandern und daß van Zeerten regelmäßig Geldsendungen aus Chartum von einem griechischen Kaufmann Menelos erhält, dessen Sohn seit Monaten hier in Berlin“, – – er schwieg und horchte … „In der Bibliothek schlägt das Telefon an, Herr Gardner … Entschuldigen Sie, — sind Sie daheim?“

„Nur für meine Braut …“

Francois verschwand, und Gardner zog die Kleider des Schlafanzuges über und fluchte leise. Er war heute mit sich und aller Welt unzufrieden. Das Verlöbnis mit Edda hatte Formen angenommen, die er als Kränkung und Herabsetzung empfand. Das ganze Milieu bei Brucks hatte ihm überhaupt niemals zugesagt. Die dort aus allen Ecken hervorgrinsende Ärmlichkeit als Zeichen gesellschaftlichen Niederganges stieß ihn geradezu ab. Er besaß weder soziales Verständnis noch die Fähigkeit, sich in anders geartete Verhältnisse einzufühlen. Seine Wohnung war übermodern, aber durchaus unpersönlich eingerichtet. Die hellen Seidentapeten schimmerten erkältend, die kostbaren Gemälde kamen überhaupt nicht zur Geltung.

Francois trat hastig ein. „Das gnädige Fräulein ist am Apparat, Herr Gardner.“

Der fast kahlköpfige Diener, auf dessen Scheitellinie ein Grätenmuster von restlichen schwarzen Haaren mit Pomade fest angeklebt war, hatte eine infame Art, dieses „gnädige Fräulein“ so gereckt und so eigentümlich zu betonen, daß die Nichtachtung, die er für erwerbstätige Mädchen empfand, unverschämt klar zu Tage trat.

„Dann geht es Tschanda schlechter …“ meinte Gardner gähnend und ohne jede Teilnahme. „Ich möchte nur wissen, was ich dabei helfen könnte?! Bin ich Arzt?!“

Er betrat die Bibliothek, und Francois folgte ihm unverfroren. „Fräulein Tschanda raucht Opium“, sagte der aalglatte Musterdiener hinter seinem Rücken.

Gardner drehte sich mit einem Ruck um. „Woher wissen Sie das?!“ fragte er verblüfft und mißtrauisch. „Wir reden noch nachher darüber … Spionieren Sie etwa?!“

„Ja“, und Francois lächelte stolz und zeigte seine Goldzähne unter der hochgezogenen Unterlippe.

„Hallo, Edda … Hier Heribert … Hat sich Tschandas Zustand verschlechtert? Das sollte mir leidtun …“

Ja, es sollte ihm eigentlich leidtun. Aber es war nur eine Redensart.

„Heribert“, kam Eddas erregte Stimme durch die Leitung, „Tschanda ist entführt worden, — nein, mit van Zeerten geflüchtet … Mama nimmt an, daß der Holländer sie nach dem Sudan bringen will … Wir wollten zuerst Terkellens Hilfe in Anspruch nehmen, aber dessen Freund Pelcherzim wurde Mama gegenüber so unhöflich, daß wir Terkellens Wohnung sofort wieder verließen. Du hast nun die beste Gelegenheit, Heribert, einmal zu beweisen, daß du dich restlos für mich einsetzen willst … Komme sofort zu uns. Du stehst uns am nächsten, und da du bereits verschiedene Auslandsreisen unternommen hast, dürfte …“

Gardner unterbrach sie mit einer gewissen Würde. „Ihr könnt euch vollkommen auf mich verlassen … Ich habe ja noch im vorigen Jahre mit Francois Nordafrika besucht. – Auf Wiedersehen also. Ich werde mich beeilen.“

Er legte den Hörer auf die Stützen und wandte sich an seinen ihm unentbehrlichen Diener. Es schmeichelte ihm, daß Edda ihm soviel Vertrauen entgegenbrachte. Mit der ihm eigenen Selbstgefälligkeit erklärte er Francois, daß seine Schwiegermutter und seine Braut sein sofortiges Eingreifen erbeten hätten, weil Tschanda geflüchtet sei.

Francois nickte dazu. „Das sah ich kommen, Herr Gardner … Ich halte Zeerten für einen Mädchenhändler …“

„Den Verdacht hegte ich längst … Sie begleiten mich, Francois. Besorgen Sie eine Autotaxe. Was ziehe ich übrigens an? Man muß sich doch den Umständen gemäß kleiden.“

„Den dunklen Sportanzug und Schnallgamaschen, Herr Gardner“, erklärte Francois prompt.

„Glänzende Idee! Legen Sie mir die Sachen bereit …“

Auf diese Weise dauerte es eine volle Stunde, bevor Gardner die Wohnung seiner Schwiegermutter betrat, in der er zu seinem Mißvergnügen ein paar Kriminalbeamte antraf, die weder von ihm noch von seiner schicken Aufmachung viel Notiz nahmen, genau wie Edda ihn mit den kühlen Worten empfing: „Das hat etwas sehr lange gedauert, Heribert …“ und ihm nur zwei Finger reichte.

Theresa von Bruck hatte inzwischen eine für sie sehr qualvolle Viertelstunde durchlebt. Die Fragen der Beamten waren ihr höchst unbequem gewesen, und als sie sich gar noch durch die unvorsichtige Erwähnung des Reverends Oliver Brex gründlich festgefahren hatte, mußte sie ihre Zuflucht zu allerlei kleinen Lügen nehmen, um ihren Verdacht zu begründen, daß man ihre Jüngste gerade nach dem Sudan verschleppen wollte.

„Dieser Brex war zuletzt mein Feind … Ob er noch lebt, weiß ich nicht …“

Dabei blieb sie.

Dann schnurrte das Telefon. Edda meldete sich. Terkellens harte Stimme schlug an ihr Ohr. Sie errötete und wandte den anderen hastig den Rücken zu.

„… Ihre Schwester ist mit einer großen dreimotorigen Maschine, die Zeerten gekauft hat, vor zwanzig Minuten vom Flughafen Tempelhof in Begleitung des Holländers, eines Arabers und eines Griechen aufgestiegen … Da der Pilot und der Bordmonteur offenbar von Zeerten bestochen worden sind und sehr viel Brennstoff mitgenommen haben, dürfte es unmöglich sein, die Flüchtlinge noch irgendwo anzuhalten. Ich rate Ihnen, Ihren Verlobten zu bewegen, sich mit Ihrer Frau Mutter und Ihnen sofort auf dem Luftwege nach Chartum zu begeben und von dort aus Nachforschungen anzustellen. Ihre Frau Mutter dürfte wissen, wer als treibende Kraft hinter dieser nur halb gezwungenen Entführung Ihrer Schwester steckt …“

Terkellen schwieg für Sekunden.

„… Noch eins, gnädiges Fräulein … Im Hause gegenüber in einer Dachstube hat mein Diener Tschan unter dem Bett einen halbtoten, durch Messerstiche schwer verletzten Landsmann namens Finschu gefunden, der dem Holländer wohl im Wege war … Verständigen Sie die Polizei hiervon. Der Verwundete liegt im Elisabeth-Krankenhaus. Die Ärzte hoffen, ihn durchzubekommen. Das wäre alles.“

Edda fühlte sich tief beschämt. Während sie selbst und Heribert noch gar nichts zur Aufklärung des Verbleibs Tschandas erreicht hatten, war Terkellen bereits mit gewohnter Energie und Umsicht dem Holländer wieder auf die Spur gekommen. Ein schmerzlich-süßes Gefühl verdrängte jedoch ebenso schnell diese Empfindung ehrlichen Beschämtseins, als Terkellen doch noch und weit wärmeren Tones hinzufügte:

„Vielleicht sehen wir uns in Cordofan irgendwo wieder. Pelcherzim und ich steigen in wenigen Minuten auf … Alles Gute bis dahin, kleines Mä…“, – aber er verbesserte sich schnell, und seine Stimme bekam wieder den metallischen Kang: „Alles Gute also, gnädiges Fräulein …“

Edda lächelte still vor sich hin. „Kleines Mädeln hatte Rolf wie einst sagen wollen. Und wie unendlich lieb hatte diese vertrauliche Anrede stets aus seinem Munde geklungen! Wie oft hatte sie als wirklich kleines Mädel aus seinem Schoße gesessen und sich von ihm die wundervollen Märchen aus dem Orient erzählen lassen, die er so gut kannte und so farbenfroh und spannend zu Gehör zu bringen wußte …

Sinnend und völlig gefangen genommen von den Erinnerungen an ihre durch Terkellens stete Fürsorge etwas sonniger gestaltete Kindheit wandte sie sich den anderen wieder zu. Der argwöhnische, eifersüchtige Gardner brauchte nur einen Blick in ihr Gesicht zu werfen.

„Terkellen war am Apparat. Was wollte er denn?“

„Ja – – Terkellen“, nickte Edda und strich sich leicht über die Stirn. „Er hat bereits festgestellt, auf welchem Wege Tschanda ihre Flucht fortgesetzt hat.“ Sie wiederholte Rolfs knappe Angaben, nur das „kleine Mädel“ erwähnte sie nicht.

Gardner putzte nervös sein Monokel. Er rang mit einem Entschluß. Sollte er abermals hinter diesem anmaßend-selbstsicheren Burschen zurückstehen?!

Er klemmte das Einglas ein und richtete sich straff auf. „Mama, Edda, macht euch reisefertig … Nehmt nur das Nötigste mit. Auch ich werde eine große, sichere und bequeme Maschine kaufen … – Ich erwarte euch auf dem Flugplatz Tempelhof. Entschuldigt mich jetzt. Ihr sollt euch in mir nicht getäuscht haben. Geld spielt keine Rolle …“

Edda streckte ihm beide Hände hin. Es geschah aus ehrlicher Dankbarkeit – nur deshalb. Leider mischte sich jetzt der mit anwesende Kriminalkommissar ein und verdarb Gardner den seiner Eitelkeit schmeichelnden Abgang.

„Einen Augenblick, Herr Gardner … Wir haben diesen van Zeerten längst als verdächtig beobachten lassen …“ Er schaute Theresa flüchtig an. „Wir sind dabei auf sehr eigentümliche Beziehungen gestoßen, die Zeerten zum Sudan unterhält. Ich will jetzt ganz offen sein. Zeerten ist zweifellos Rauschgiftschmuggler und bezieht aus dem Sudan große Mengen Opium, wir konnten ihn jedoch nie überführen. In Chartum wohnt da ein alter Grieche Themistokles Menelos, der …“ – abermals hatte er Frau Theresa scharf gemustert … „gnädige Frau“, führte er den begonnenen Satz in veränderter Form zu Ende, „kennen Sie den Griechen von früher her? Nach unseren Informationen war er 1914 an dem Aufstand in Chartum irgendwie mitbeteiligt, sollte sogar vor ein Kriegsgericht gestellt werden, schwindelte sich aber sehr geschickt heraus …“

Theresa fühlte, daß sie blaß geworden war. Ob sie Menelos kannte!! Der Tschandu hatte sie ja damals nach jenem Gartenfest beim Gouverneur in Menelos’ Teestube bestellt, wo er ihr nochmals in seiner bezwingenden Art seine Liebe erklärt und dann alles Nähere mit ihr für ihre Flucht in sein verborgenes Reich vereinbart hatte.

Theresa raffte sich auf. Sie mußte lügen – mußte … Sie sah ihr Geheimnis immer ärger bedroht. Tschandas wahre Herkunft durfte nie an den Tag kommen.

„Man sprach nichts Gutes über diesen Menelos“, erwiderte sie krampfhaft gleichgültig tuend. „Ein Hauptmann Charly Bewers, glaube ich, erzählte mir damals von dem Griechen …“

Der Kommissar, der schon vorhin deutlich bemerkt hatte, daß diese Frau vieles verheimlichte, wandte sich wieder Heribert Gardner zu.

„Ich bin bereit, Ihnen ein Empfehlungsschreiben an den Polizeichef in Chartum mitzugeben, Herr Gardner, bitte Sie aber, dann dort auch in unserem Interesse zu arbeiten und uns durch Funkmeldungen über das Wichtigste auf dem Laufenden zu halten.“

„Wird geschehen!“ sagte Gardner sehr kurz und bestimmt. Er war von dieser Wendung der Dinge aufs angenehmste überrascht. Er sah seine Person in den Vordergrund gerückt, und mit dem amtlichen Empfehlungsschreiben in der Tasche konnte er Terkellen leicht den Rang ablaufen und zukünftig die erste Rolle spielen. Dann würde auch Edda erkennen, was er in Wirklichkeit zu leisten vermochte und daß hinter Rolf Terkellens großspurigem Benehmen sehr viel hohler Bluff verborgen war … So glaubte er, oder besser, so redete er sich’s ein.

„Ich darf mich dann wohl jetzt entfernen“, verabschiedete er sich eiligst, nickte den Damen nur zu und kletterte dann wieder zu seinem vielerfahrenen und unentbehrlichen Francois in die Taxe.

„Wir haben fortan eine Mission, Francois“, erklärte er großartig und ließ sich dann näher darüber aus.

Francois grinste noch stärker. – Während Gardner dann mit einem Vertreter der Lufthansa umständlich verhandelte, begab sich der vortreffliche Diener in eine Telefonzelle und ordnete an, daß sofort eine bestimmte Depesche nach Chartum aufgegeben würde. Der Mann am anderen Ende des Drahtes kicherte höhnisch, als er vernahm, daß Gardner den Polizeichef in Chartum nötigenfalls in Anspruch nehmen würde.

Das heimliche Rauschgift-Syndikat besaß überall sehr kluge, sehr gut bezahlte und sehr verschwiegene Agenten.

 

6. Kapitel.

Die Notlandung.

Die Hyänenmutter hatte ihr Wochenbett in einer Felsenhöhle der Ostwand des Wadi Tarbu aufgeschlagen und ihren Herrn Gemahl durch kräftige Bisse schon vor Tagen verscheucht, da vor dessen Gefräßigkeit nicht einmal die beiden grunzenden und schmatzenden Jungen sicher waren.

Das Tal, das nur während der Regenzeit Wasser führte, besaß eine für die westlichen Gebiete Cordofans überaus üppige Vegetation, die sich freilich auf Palmen, Stachelmimosen, Akazienbüsche, Tamarinden und endlose Dornenfelder beschränkte. Nur ein vereinzelter Baobab mit zahllosen schenkeldicken Luftwurzeln und einem riesigen Blätterdach, in dem Affen und Aasgeier einträchtiglich nebeneinander hausten, stand am Ostrande der Talschlucht, umgeben von hohen, halbtrockenen Grasbüscheln.

Der Morgen zog herauf, die Sonne kämpfte noch gegen die Dunstmassen am Horizont, als die Hyänenmutter ihre stinkende Wochenstube verließ, um drüben bei den kahlen Felsenhügeln der öden Wüste an den Resten einer von einem Leoparden gerissenen Säbelantilope ihren Hunger zu stillen.

Daß sie heute bei Tagesanbruch noch argwöhnischer als sonst den Platz aufsuchte, wo sie sich mühelos sättigen konnte, hatte seine guten Gründe. Die Sehschärfe aller Hyänen ist gering, ihr Geruchssinn und ihr Gehör dagegen sind vortrefflich ausgebildet. Vorhin, als sie ihre beiden Jungen gesäugt hatte, war an ihr Ohr ein Knattern gedrungen, das sie zunächst für Salven und Schüsse kämpfender Beduinen hielt. Die Gegend hier um das Wadi Tarbu war eben die gefährlichste Ecke der Provinz Cordofan. Senussi kamen häufig von Norden her über die Grenze, im Westen lag der einzige Urwald- und Sumpfgürtel des Dschebel Dscharani mit seinem bunten Völkergemisch von seßhaft gewordenen Mahdisten-Flüchtlingen, mehr nach Süden zu hausten die kriegerischen Baggara[3], die das französische Protektorat über das einst freie Dar Fur nur aus Klugheit anerkannt hatten.

Außerdem hatte die vorsichtige Hyänenmama auch noch ein merkwürdiges Sausen in der Luft und ein paar starke Explosionen wie Kanonenschüsse vernommen, und all das veranlasse sie, heute noch mißtrauischer als sonst ihren Weg fortzusetzen.

Die Hyänenmutter schnupperte noch argwöhnischer. Sie roch den Rauch eines Lagerfeuers, aber es war nicht der stinkende Dunst des landesüblichen Kamelmistes, sondern zweifellos der Qualm trockenen Holzes. Beduinen sind viel zu faul, Holz zu sammeln. Ererbter Instinkt sagte der mißmutigen Bestie, daß dort Europäer lagerten. Mit Weißen hatte sie ihre allerschlechtesten Erfahrungen gemacht. Kein Eingeborener verschwendet so leicht Pulver und Blei an eine Hyäne, deren Fell ja doch zumeist wertlos ist, weil die unsauberen Aasfresser unter Hautkrankheiten leiden und ihr Pelz zu viele kahle Stellen aufweist. Die Europäer dagegen, die aus Neugier mit ihren modernen Büchsen und wohlgefüllten Säckeln die Steppen in großen Touristentrupps durchschwärmen, knallen alles nieder, was ihnen vor das Rohr kommt.

Die schlechte Laune der alten, kundigen Hyänenmama steigerte sich noch, als sie nach erneutem Schnüffeln festgestellt hatte, daß der Brandgeruch genau von ihrer Freßstelle herüberwehte, wo sie die Reste des Antilopenbocks so sorgsam mit trockenen Dornbüschen – auch mit dem Hinterteil – gegen die schäbige Konkurrenz der Aasgeier und Schakale dicht bedeckt hatte. Ihr überaus häßliches, dummes Gesicht mit den kurzsichtig blinzelnden Augen verzog sich jedoch plötzlich zu einem gierigen Fletschen, und beinahe hätte sie vor Freude ihr abscheuliches Triumphlachen ausgestoßen, als sie den Duft noch warmen Gescheides mehr von links spürte und dort zwischen den Felsen auch das Krächzen und Heulen und Kläffen von Aasgeiern, Schakalen und Füchsen vernahm. Sie setzte sich schleunigst in Galopp, benutzte nutzte einige Büsche als Deckung, machte dann jedoch plötzlich halt und starrte angestrengt im Lichte der ersten Sonnenstrahlen nach dem seltsamen Ungetüm hin, das da wie ein riesiger Vogel auf der glitzernden Lehmerde hockte.

Es war inzwischen so hell geworden, daß sie noch mehr Einzelheiten unterscheiden konnte. Undeutlich erkannte sie drei Männer, die sich neben dem ruhenden Vogel hin und her bewegten. Unweit davon stand ein Zelt, und vor dem Zelt brannte ein Feuer. Die Hyäne windete lüstern.

Pelcherzim, der neben Tschan Kai am Feuer saß, legte das Fernglas weg. „Es war eine Hyäne, die soeben Junge geworfen hat. Man sah es an den Zitzen, Tschan. Mit dem Zielfernrohr hätte ich ihr bequem eins aufbrennen können.“

Tschan drehte die Gazellenkeule über der Glut und meinte im Tone leichten Vorwurfs:

„Schon Ihr Schuß auf die Gazelle war überflüssig und kann uns ungebetene Gäste bescheren, Herr Pelcherzim …!“

Der Sportberichterstatter, der die zweimotorige Maschine nach zwei Zwischenlandungen glücklich bis hierher gesteuert hatte, wo der eine Motor plötzlich streikte, lachte sorglos. „Wir sind mindestens dreißig Meilen vom Ostrande des Dschebel Dscharani entfernt, alter Heide, und die Gegend ist vollkommen unbewohnt. Sie sind ein Schwarzseher und Miesmacher, Tschan, und Rolfs Stimmung ist auch nicht die beste … So wortkarg wie heute war er noch nie.“

Hektor Pelcherzim blickte forschend nach dem Flugzeug hin, wo Rolf Terkellen regungslos am Fahrgestell lehnte und nach Westen in die Ferne des kristallklaren blauen Horizontes blickte.

„Erinnerungen …!“ sagte der Chinese leise. „Erinnerungen an Fräulein Hilde, seine Schwester, über die niemand mehr sprechen darf. Sehen Sie dort den vereinzelten Baobab[4], Herr Pelcherzim? Diese Art Bäume sind hier selten. Der riesige Baobab ist ein Kennzeichen des Wadi Tarbu. Zweihundert Meter nach Norden zu lagerten wir damals im Wadi Tarbu, als unser Fräulein vor nunmehr zweieinhalb Jahren spät abends noch zur Talhöhe emporkletterte und … nicht wiederkam. Wir hatten fünf Baggarajäger bei uns, vorzügliche Fährtenleser, und auch der Doktor kann doch jede Spur verfolgen. Der Sturm, der um Mitternacht einsetzte, vereitelte alle Bemühungen. Wir haben dann ein Jahr lang, unterstützt von den Behörden, alle Ortschaften, Oasen, Zeltlager und sogar das Urwaldreich Dscharani abgesucht. Fräulein Hilde war nicht zu finden. Das wissen Sie ja alles, Herr Pelcherzim … Es darf nur nicht darüber gesprochen werden. Man soll keine Wunden aufreißen, die zu heilen beginnen …“

Tschan seufzte leise.

Pelcherzim hatte überrascht den Kopf gehoben.

„Wie, ihr wart damals auch in Dscharani, Tschan? Das ist mir ganz neu.“

Der Chinese prüfte den Braten mit der Messerspitze, nickte trübe und erwiderte zögernd: „Unter uns gesagt, Herr Pelcherzim: Mein verehrter Doktor hat Dscharani vor Ihnen nie erwähnt, weil er auf Frau von Bruck Rücksicht nahm. Er mag damals schon von General Bewers, dem jetzigen Gouverneur von Chartum, mehr über Frau von Brucks Beziehungen zu dem berüchtigten Tschandu erfahren haben, als er selbst mir eingestand.“

Pelcherzim schob sich den Tropenhelm unwillig ins Genick und meinte ärgerlich: „Zum Henker, Tschan, ich will endlich klar sehen … Tschanda ist mir lieb und wert, und – na, kurz und gut: Lebt dieser Brex noch?“

Tschan hob die Schultern. „Nirgends wird so viel gelogen, soviel verheimlicht und vertuscht als in den halbzivilisierten Randgebieten des Sudan. Tatsache ist, daß damals, als Juli und August 1914 in Chartum der Aufstand aufflackerte und nur durch die rechtzeitige Warnung Frau Theresas niederschlagen werden konnte, Hauptmann Bewers den Tschandu mit einem Expeditionskorps in seinem Schlupfwinkel angreifen und vernichten sollte. Die englischen Truppen stießen auf keinen Widerstand, im Gegenteil, der neue Sultan von Dscharani kam ihnen entgegen, erklärte, daß der Tschandu entflohen und von seinen eigenen Leuten getötet sei und bewirtete Bewers mit allem Prunk, versprach die Zerstörung der ungeheuren Mohnfelder, duldete es auch, daß Hauptmann Bewers dreißig Soldaten zurückließ und zeigte nicht die geringste Neigung, etwa die Politik des Tschandu Brex fortzusetzen, obwohl gerade Sultan Mossala Dschin als Enkel des berühmten Osman Digna, des Feldherrn des Mahdi, allen Grund zum Haß gegen die Engländer hatte. Er ist eben ein sehr kluger Mann, dieser Mossala Dschin, er wußte genau, daß die Gelegenheit zu einem neuen Aufstand für alle Zeiten verpaßt war, und er hat seine Einstellung zu den anglo-ägyptischen Behörden bis heute nicht geändert. Trotzdem …“ – der alte Tschan überlegte – „ja, trotzdem würde ich dem Burschen nie trauen. Er hat es eben damals 1914 verstanden, das Mischvolk der Dscharani dadurch gegen den Tschandu aufzuhetzen, weil dieser Frau Theresa als Europäerin bei sich behielt – – für lange Wochen, bis sie entfloh … Den Tschandu selbst hat sie nie verraten, hat nur angegeben, sie hätte aus den Gesprächen der Dscharani entnommen, daß in Chartum und im Sudan ein neues Blutbad drohe.“

Der Chinese hatte mit größtem Ernst gesprochen, und Hektor Pelcherzim hatte noch aufmerksamer zugehört. Tschan deutete nun auf den fernen riesigen Baobab: „Jedenfalls, – wir wollen gerade hier niemals auf Fräulein Hildes Verschwinden irgendwie hinweisen … Zwischen den Luftwurzeln des Baobab hatte sie ihren Lieblingsplatz, von dort verschwand sie in jener Nacht. Lassen wir die Vergangenheit ruhen. Die Gegenwart verlangt ohnedies den vollen Einsatz unserer Kräfte von uns.“

Pelcherzim kam aber doch noch einmal auf das unerwünschte Thema zurück: „Tschan, ich frage nicht aus Neugierde. Aber ich bin für klare Verhältnisse. Wenn der Tschandu nicht mehr in Dscharani herrscht und vielleicht gar tot ist, wer in aller Welt hat dann diesen üblen Burschen van Zeerten durch Vermittlung des Griechen aus Chartum die Geldsummen geschickt und den Holländer veranlaßt, Tschanda zur Flucht zu verleiten?! Ich habe doch schließlich kein Brett vor dem Schädel, aber daraus werde ich nicht schlau. Tschanda mit ihrer geradezu hochmütig-eisigen Verschlossenheit und Zurückhaltung ist doch nicht so leicht durch läppische Märchen für irgend etwas einzufangen! Wenn das Mädel einen nur anschaut, glaubt man stets, sie klappte einem das Hirn und das Herz auf und läse darin wie in einem offenen Buche!“

Der Chinese beugte sich noch weiter über seinen dampfenden Braten. „Mossala Dschin …!“ flüsterte er ganz leise. „Und mein verehrter Herr vermutet dasselbe … – Über unsere Notlandung und den Motordefekt macht er sich keine Gedanken, im Gegenteil, wir haben hier am Wadi Tarbu einen sehr günstigen Ausgangspunkt für unsere Nachforschungen zufällig gefunden. Ihn bedrücken nur die Erinnerungen, – das ist’s!“

Pelcherzims mageres, braunes Jockeigesicht bekam einen weicheren Ausdruck, das ihm nun einmal eigentümliche scheinbar so lebensfrohe, beinahe leichtsinnige Lächeln verschwand, und um den kleinen, stets wie zu vergnügtem Pfeifen gespitzten Mund mit den etwas nach oben gebogenen Winkeln erschienen ein paar scharfe Falten.

„Armer Kerl, der Rolf!“ sagte er mehr zu sich selbst. „Dieses so verdammt ungerechte Leben erspart ihm weiß Gott keine Bitternisse! Dabei hätte gerade er es verdient, daß die Vorsehung ihn mit Sammethandschuhen über alle Enttäuschungen und über allen Kummer elegant und vornehm hinweghöbe!“ Dann stand er auf, reckte sich, gähnte laut und fragte kurz:

„Ist die Gazellenkeule gar, du unerreicht vielseitige Perle von einem Koch?“

„In fünf Minuten … – Vielleicht holen Sie den Doktor, Herr Pelcherzim … Es tut auch nicht gut, daß er so viel allein bleibt und grübelt …“

Pelcherzim stutzte, als er Terkellens Züge prüfend und mitleidig nun aus nächster Nähe musterte.

„Fällt dir dort drüben etwas Ungewöhnliches auf? Daß die Paviane, die auf der anderen Seite des Baobab hausen, nur von Mahdisten irgendwie hierher verpflanzt sein können, unter denen ja auch einige Stämme des abessinischen Hochlandes sich befanden, haben wir bereits erörtert …“

„Die Baumkrone interessiert mich nicht, nur die Rinde“, erwiderte Terkellen mit nachdrücklicher Betonung. „Ich habe sehr gute Augen, Hektor … Die Entfernung bis dorthin beträgt keine dreihundert Meter, und die junge Araberin, oder was es sonst für eine hellhäutige Farbige sein mag, hätte vorsichtiger sein sollen. Der Baum ist hohl, wie die meisten Baobabs es sind, und vor zweieinhalb Jahren hatte das geräumige Baumloch noch keine Rindentür wie jetzt. Ich weiß es leider sehr genau. Wenn das Mädchen, dessen Gesicht ich nur ein paar Sekunden sah, allein wäre, würde ich längst hinübergegangen sein. Araberinnen pflegen sich jedoch hier in diesem unsicheren Grenzstrich Cordofans nicht ohne Begleitung aus ihren Dörfern zu entfernen.“

Pelcherzim hatte inzwischen sein Fernglas, das ihm am gelben Riemen um den Hals hing, auf den Riesenbaum eingestellt, trotzdem jedoch sehr aufmerksam zugehört. Sein vorzügliches Zeißglas holte ihm den Baumgiganten in fast greifbare Nähe heran. Seine Blicke fraßen sich an den höchsten Spitzen der Krone förmlich fest.

„Donnerwetter, – eine Antenne!“ rief er halblaut. – Seine oft so burschikos-ungezwungene Art konnte er auch jetzt nicht verleugnen. „Zum Henker, – – meinst du, daß der Sultan Mossala Dschin durch diese nur schwer bemerkbare Rahmenantenne nebst Sender und Empfänger, die er in seinem Gebiet nicht zu montieren wagt, heimlich Verbindung mit Chartum unterhält?!“

Terkellen nickte. „Wahrscheinlich …! – Innerafrika ist im Grunde noch genau so „Schwarzer Erdteil“ mit weißen Flecken auf den Landkarten wie vor fünfzig, achtzig, ja hundert Jahren. Die weißen Flecken, die einst auf den Atlanten unerforschtes Gebiet bezeichneten, kann man heute nach dem Vordringen europäischer Zivilisation als Kulturtünche bezeichnen. Die ungeheuren Menschen- und Rassenmengen Afrikas bleiben sich und dem Althergebrachten treu. Sie nutzen nur moderne Errungenschaften aus, soweit es ihnen vorteilhaft dünkt.“

Pelcherzim schaute den Freund gespannt an.

„Du hältst Mossala Dschin für einen der gefährlichsten Eingeborenen … Sage es nur ganz offen.“

Terkellens Blick schweifte als einzige Antwort nach der Baumkrone hinüber, aber dieser Blick war so sorgenvoll-ernst und so eindeutig, daß Pelcherzim nur zwischen den Zähnen hervorpreßte: „Dann sind die Behörden blinder als du, Rolf! Dann unterschätzt auch General Bewers diese Araber!“

„Halbaraber“, verbesserte Terkellen düster. „Genau wie der Tschandu Brex in seinen Adern ein Quäntchen Araberblut pulsieren spürte und England fanatisch und satanisch haßte, nicht anders kann man die Intelligenz des Sultans von Dscharani und sein fabelhaftes diplomatisches Geschick auf seine französischen väterlichen Ahnen zurückführen.“

Terkellens knochiges Gesicht hatte jetzt um den Mund und um das Kinn jene übereinanderliegenden Faltenwülste bekommen, die seinem Gesicht einen Ausdruck unbändiger Willenskonzentration verliehen. Mit weit vorgeschobenem massigen Unterkiefer fügte er abschließend hinzu, indem er die Worte fast zerkaute: „Mossala Dschin hat sich auf einen Handelszweig geworfen, der Millionenverdienst einbringt. Der Tschandu, sein Vorgänger und der eigentliche Gründer von Dscharani, baute Mohn in riesigen Mengen an, um die Eingeborenen leichter für seine hochfliegenden Pläne einzufangen. Sein Nachfolger ist Rauschgifthändler. Opium ist und bleibt der teuflische Extrakt, aus dem die Chemie die hauptsächlichsten Rauschgifte gewinnt: Codein, Narkotin und wie sie alle heißen! — Sultan Mossala ist Rauschgifthändler und Börsenspieler und Großunternehmer! Milliarden will er besitzen. Besitzt er sie, wird er an sein Hauptwerk herangehen: Afrika zu befreien, die Europäer wegzufegen! Er arbeitet auf lange Sicht … Er läßt sich Zeit … Zehn, zwanzig, dreißig Jahre spielen im Völkerleben gar keine Rolle. Mossala ist heute fünfundvierzig. Nach, sagen wir, zwanzig Jahren dürfte er … beginnen können … Und der „Beginn“ ist dann das, was ihm heute unmöglich ist, weil ihm die Geldmittel fehlen. So schätze ich ihn ein, und so ist es.“

Hektor Pelcherzim, jetzt selbst mit angesteckt von diesem brennenden Problem Afrika, fragte atemlos: „Und weshalb ließ er Tschanda durch van Zeerten aus Berlin wegschaffen?!“

Terkellen lachte hart und trocken. „Weshalb? Glaubst du, der Tschandu war arm?! Weißt du, was ich vermute? Oliver Brex muß ein Verwandter des zweiten Mahdi gewesen sein. Es gab ja zwei, und der Nachfolger des wahren Kalifen fiel zwar ebenfalls in offenem Kampfe, hinterließ aber, und das ist Tatsache, ungeheure Schätze, die zumeist aus den Gewölben des gleichfalls besiegten Kaisers von Abessinien stammten. – Der Tschandu lebt“, fügte er noch gepreßter hinzu. „Der Tschandu Brex weigert sich, seine Schatzkammer zu verraten. Vielleicht, so spekuliert Mossala Dschin, verrät er sie seiner Tochter. Und dann, das übrige kannst du dir denken …! Hier hast du das Motiv für Tschandas Verführung zum Opium und zu ihrer Entführung!“

Er hatte sich zuletzt halb umgewandt und die Worte dem Freunde förmlich ins Gesicht gezischt, ins Hirn gehämmert.

Pelcherzim, der vorhin abermals sein Glas auf den Baobab gerichtet hatte, war froh, daß seine Hände seine Wangen verdeckten. Er fühlte, daß er die Farbe gewechselt hatte. Was Terkellen soeben entgangen war, – er hatte es gesehen, und sein Herzschlag hatte erst ausgesetzt und dann zu rasen begonnen.

Jetzt hielt er den Atem zurück, spürte das Blut zu Kopfe steigen, ließ das Glas sinken und sagte etwas heiser, aber ebenso nachdrücklich:

„Die Beduinin dort im Baobab wollen wir uns mal näher ansehen … Wir tun am besten, von verschiedenen Seiten heranzuschleichen … Du von links, ich von rechts … Die Regenrinnen geben uns Deckung.“

Tschan kam wild mit den Armen fuchtend herangetrippelt. Er war empört … Die Gazellenkeule wurde kalt …

„Hol’ der Teufel dich und deine Keule!“ fauchte Pelcherzim ihn wütend an. „Du bleibst hier stehen … Du paßt auf den Baobab auf …“

Der arme alte Tschan war viel zu verblüfft über Pelcherzims Grobheit, als daß er Einwendungen gewagt hätte.

Pelcherzim schritt der nächsten Vertiefung zu, die wie ein dunkler, steiniger Zickzackstrich den Boden der Wüste durchschnitt, und auch Terkellen verschwand nach der anderen Seite hin.

Tschan nahm seinen Tropenhelm ab und blickte den beiden mit verkniffenen Lippen nach, kratzte sich mißmutig den Kopf und setzte sich dann aufseufzend auf das Fahrgestell des Flugzeugs.

Jetzt öffnete sich die Rindentür, Pelcherzim lag dicht davor, ein Frauenkopf erschien, Tschan entfiel das Glas, und sein Mund blieb vor Schreck und Staunen und freudiger Überraschung weit offen …

 

7. Kapitel.

Sultan Mossala Dschin und ein Gottesurteil.

Hektor Pelcherzim besaß zwar nicht die Reckengestalt des trojanischen Helden, dessen Namen er als Vornamen ohne sein Dazutun trug, aber er war doch in allem ein ganzer Kerl. Wie hätte er sonst auch der einzige und beste Freund eines Rolf Terkellen sein können!

Im Gegensatz zu Tschan war er jetzt keineswegs mehr über den Anblick der jungen Beduinin irgendwie überrascht.

Zwischen ihm und Hildegard Terkellen hatte stets nur ein ganz zwanglos freundschaftliches, kameradschaftliches Verhältnis bestanden. Hilde war kein Mädchen nach Pelcherzims Geschmack, das heißt, kein Mädchen, dem man etwa den Hof zu machen wagen durfte. Für einen harmlosen Flirt selbst nur in neckischem Tone wäre sie nie zu haben gewesen. Sie war zu schwerblütig dazu. Das Bauernblut in ihren Adern, dieses urgesunde, kraftvolle Blut westfälischer Erde, kannte wohl Leidenschaft und restlose Hingabe, aber keine Tändelei: – „Du bleibst stets ein großer lieber Junge mit gemäßigten Flegeljahren“, hatte sie einmal ganz ernst als Siebzehnjährige zu Hektor gesagt, als er sie, da die kameradschaftliche Anrede Du zwischen ihnen bestehen geblieben war, aus reinem Übermut hatte küssen wollen.

Über drei Jahre lag dieser kleine, scheinbar bedeutungslose Zwischenfall zurück. Nun sah Pelcherzim die ehrliche Freundin, die nie ein Blatt vor den Mund nahm, lebend, frisch, tief gebräunt, aber in seltsamer Vermummung hier wieder.

Ihre Antworten auf seine Fragen verwirrten und entsetzten ihn.

In Hildes Augen flackerte die Angst vor dem Bruder und nebenher ein gewisser verbissener Trotz.

„Du bist wirklich allein?“ flüsterte Pelcherzim nochmals und schmiegte sich noch enger an die nächste Luftwurzel und in die Grasbüschel hinein.

Hilde errötete tief. Die Verlegenheit, mit der sie kämpfte, war so offenkundig, daß Hektor bangster Ahnungen voll eine neue Frage stellte. Aber sie schüttelte den Kopf dazu, stieß plötzlich die Tür, die sich nach innen öffnete, noch weiter auf und deutete mit leuchtenden Augen auf eine kleine Hängematte aus feinstem Bast, in dem ein Bündelchen mit rosigem Gesichtchen ruhte.

„Mein Kind!“, erklärte sie leise.

Pelcherzim wurde es fast schwarz vor den Augen. Seine Nerven waren allzeit in bester Ordnung gewesen. Hier rebellierten sie. Er kannte ja Terkellens strenge, unerbittliche Grundsätze. Zu weiteren Fragen blieb ihm keine Zeit. Er mußte handeln, er mußte Hilde vorläufig verbergen.

Schnell teilte er ihr das Nötigste mit. „Zögere nicht …! Ich beschwöre dich! Nimm den Säugling und krieche hier die tiefe Regenrinne entlang … Ich werde Rolf entgegengehen und ihn fernhalten … Auf Tschan ist Verlaß … Er soll dich im Flugzeug verbergen – – vorläufig! Nur schnell …“

Er warf einen sorgenden Blick zur Seite. Von Terkellen war noch nichts zu sehen.

„Schnell!“ mahnte er nochmals. Die schlanke Frau in den leuchtenden Seidengewändern mit dem feinen Kopfschleier hob ihr Kind aus der Hängematte, bückte sich, griff nach einem kleinen Lederpäckchen und huschte an Pelcherzim vorüber in das steinige, jetzt leere Bett des Regenbaches. Als sie an dem Jugendfreunde vorüberkam, entglitt ihr das Lederpäckchen, und Pelcherzim sah zwischen den Grasbüscheln den verstreuten Inhalt. Er erbleichte so tief, daß er im Gesicht aschgrau wurde.

„Lasse das Teufelszeug liegen!“ zischte er, seiner Sinne kaum mehr mächtig.

„Dann wäre ich schon längst reif für ein Krankenhaus!“ war die scheue Antwort.

Pelcherzim duldete, daß sie die Gegenstände wieder aufraffte und schritt dann nach Süden dem Freunde entgegen. Er mußte ein qualvolles Stöhnen hinabwürgen, ihm war zu Mute wie einem Trunkenen. Seine Gedanken taumelten ziellos durch sein überhitztes Hirn.

„Hallo, Rolf …!!“ rief er von der Talhöhe hinab.

Terkellen kniete am Boden und hob kaum den Kopf.

„Eine Dromedarfährte, noch ziemlich frisch, Hektor! – Wie steht’s mit der Beduinin?“

„Ausgekniffen“, lachte Pelcherzim. „Der hohle Baum ist leer … – Er fühlte selbst, wie gequält sein Lachen klang.

Ihm war überhaupt so eigentümlich zu Mute, er vermochte seine Stimmung nicht recht zu ergründen. Daß Hilde ebenfalls dem Tschandugift verfallen war, trat weit in den Hintergrund. Er begriff sich selbst nicht. Er hätte den Vater des Kindes der Jugendfreundin mit den bloßen Händen erwürgen mögen … Er kannte den Mann nicht einmal. Daß Hilde hier in Cordofan Mutter geworden und ihre Reinheit weggeworfen hatte, dünkte ihn wie eine Beleidigung seiner persönlichen Ehre.

Terkellen rief abermals: „Das Dromedar gehört sicherlich der Araberin und dürfte hier in der Nähe verborgen sein. Die Talwände haben genug tiefe Spalten und Höhlen, und wenn wir das Tier finden, ist uns auch das Mädchen sicher. Bemühe dich nur zu mir herab …“

Das Wadi machte nach Norden zu eine Biegung, und vor dieser Krümmung war ein hoher Berg von Steinen und Felsbrocken durch die Regenfluten aufgetürmt worden. Die Freunde umgingen das Hindernis und erblickten nun vor sich nichts als kahle, rötliche Steinwände, über die lediglich Dornenranken mit weißen und rosa Blüten ihre dichten Gehänge als Zierde hinausgeschoben hatten. Einige dieser Dornenzungen reichten sehr tief herab, die Dromedarfährte verschwand hinter einem dieser stacheligen Teppiche, und als Terkellen mit dem Büchsenkolben das Pflanzengewebe emporhob, wurde eine Felsspalte freigelegt, die sich nach hinten erweiterte. Hier ruhte ein faul und behaglich kauendes, gesatteltes Dromedar, neben ihm aber lagen zwei kostbar verzierte Tschanaks (Satteltaschen der Senussi), deren feines buntes Ledergeflecht in den Farben dem des Zaumzeuges und der Satteldecke entsprach.

Terkellen trat ein. Auch Pelcherzim drängte sich näher. Die Angst schnürte ihm plötzlich wieder die Kehle zusammen. Wenn Rolf hier in den Satteltaschen etwas fand, das er als Hildes Eigentum erkannte, würde die wahre Sachlage kaum mehr zu verheimlichen sein.

Seine Besorgnis erwies sich als überflüssig.

„Warten wir hier“, meinte Terkellen, nachdem er die Tschanaks, die nur Proviant enthielten, flüchtig durchsucht hatte.

Da das Tageslicht durch die Dornenvorhänge nur stark abgeschwächt hereindrang, bemerkte Terkellen erst nach einer Weile, daß das Dromedar ein weibliches Tier mit prallen Zitzen war, deren Länge und Röte verriet, daß die Dromedarstute vor kurzem ein Junges geworfen hatte.

„Ein Baggara-Dromedar“, erklärte er dem zerstreuten Pelcherzim. „Die Baggara zeichnen ihre Tiere … Du siehst die drei Kreuzschnitte auf dem linken Hinterschenkel.“

Hektor dachte nur an Hildes Kind und an das teuflische Tschandu.

Terkellen ließ eine Viertelstunde verstreichen. Er hatte dem Freunde Schweigen geboten und spähte dauernd in das Wadi hinab.

„Sie kommt nicht … Sie hat uns also beobachtet. Nehmen wir das Tier mit“, entschied er in seiner bestimmten Art.

Als sie sich dem angeschwemmten Wall wieder näherten, sahen sie eine starke Rauchsäule drüben fast kerzengerade in die Luft steigen. Um die Qualmmassen, die sich hoch droben erst zu einem breiteren Schleier ausdehnten, kreisten Aasgeier, deren erregtes Krächzen die friedliche Stille dieses sonnenklaren Morgens mit häßlichen Lauten entweihte. Terkellen begann zu laufen.

„Der Baobab brennt!“ rief er dem Freunde zu. „Da ist irgend eine Teufelei im Spiel!“

Kaum hatten sie die Krümmung des Wadi hinter sich, als sie auch das Fanal des lodernden Riesen gewahrten und dicht daneben eine Anzahl Dromedarreiter, unter denen ein hochgewachsener Araber mit schwarzem Spitzbart auf einem fast weißen Reittier sofort auffiel.

Terkellen blieb stehen, so plötzlich, als hielte ihn die Faust eines Giganten zurück. Sein sehniger Leib krümmte sich etwas zusammen, und voller Schrecken gewahrte der ahnungslose Pelcherzim im Gesicht des Freundes einen Zug so grimmiger Wildheit und so unverschleierten Hasses, wie er dies noch nie an Terkellen beobachtet hatte.

Terkellens vorgeschobener Unterkiefer war von Wulstfalten umgeben, seine kräftigen Zähne rieben sich aneinander, und kaum verständlich gurgelte er hervor:

„Mossala Dschin, Sultan von Dscharani!!“

Aber genau so blitzartig wie sein Gesicht sich zu dieser fast abschreckenden Grimasse verzerrt hatte, glitten seine Züge wieder in die gewohnte Form zurück, und überrascht und dennoch etwas nachdenklich wiederholte er:

„Mossala Dschin!! – Du hast Glück, Hektor. Du lernst den interessantesten Mann kennen, der je den hellhörigen Engländern blauen Dunst vormachte! – Weiter …! Er hat uns bemerkt …“

Der Sultan von Dscharani begrüßte Terkellen mit zwangloser Liebenswürdigkeit, ebenso Pelcherzim. Sein hellbraunes Gesicht hatte edle, reine Züge, seine Augen leuchteten harmlos-triumphierend, und mit größter Genugtuung erklärte er dann:

„General Bewers, mein Freund, kann mir dankbar sein … Endlich haben wir heute die geheime Sendestation entdeckt und vernichtet, deren Zeichen in Chartum seit Monaten gehört wurden, ohne daß es gelang, durch Anpeilen den Standort des Senders zu entdecken …“

Terkellen und Pelcherzim hatten genau denselben Gedanken: Sie bewunderten die Unverfrorenheit dieses Lügners, erkannten aber auch seine schnelle Entschlußfähigkeit und die Tatkraft der Durchführung durchaus an. Mossala Dschin war allerdings hierbei weit über das Ziel und das Zulässige hinausgeschossen. Ob General Bewers es gerade billigen würde, daß der Sultan in verdächtiger Hast den ganzen Baumriesen mit allen eingebauten Apparaten ohne vorherige gründliche Durchsuchung und ohne Schonung der kostspieligen Anlage vernichtet hatte, blieb doch sehr fraglich.

Terkellen beteiligte sich zunächst nicht weiter an dem Gespräch, das zwischen dem von Kopf bis Fuß europäisch gekleideten Sultan, der auf der Brust eine Ordensschnalle trug und perfekt das Englische beherrschte, und zwischen Pelcherzim sich entspann, sondern beobachtete mit dem mitleidigen Interesse des Naturfreundes den Brand des sicherlich mehrere hundert Jahre alten Giganten, der als gewaltige Feuersäule eine unerträgliche Hitze ausströmte. Zuweilen erfolgten kleinere Explosionen hohler Aststücke, zuweilen prasselten aus der Krone verkohlte Holzmengen herab, zuweilen sauste auch ein jämmerlich verbrannter Kadaver eines Affen oder eines noch nicht flüggen Aasgeiers hernieder. Diese barbarische, übereilte und nur durch die Angst veranlaßte Feuersbrunst, die Fremden könnten den Sender irgendwie entdecken, gewann noch dadurch eine gesteigerte Bedeutung, daß Terkellens feine Nase einen kräftigen Benzingeruch gespürt hatte und auch unweit der auf ihren tadellosen Reittieren abwartend in engem Trupp vereinten dreißig Dscharani mehrere Benzinkannen stehen sah. Mossala Dschin hatte also, um den Baobab schnellstens und gründlichst zu vernichten, offenbar von Tschan die Herausgabe von Benzin verlangt.

Terkellen tat so, als übersähe er dies. Er übersah nichts. Regungslos starrte er nach dem flammenden Riesenfanal hinüber, und die Finger seiner Linken massierten sanft das kantige Kinn, während seine Augen von den Lidern halb bedeckt blieben. Sein Argwohn, Mossala Dschin habe mit seiner Leibwache auserwählter Krieger die Beduinin verfolgt, sie hier im Baobab vermutet und sie mit verbrennen wollen, nahm immer bestimmtere Formen an. Mit Hilfe des Benzins und trockener Gräser und Dornen und Mimosen mußte der Baumgigant im Nu aufgeflammt sein.

Dann erinnerte sich Terkellen eines ähnlichen Erlebnisses während einer Gewitternacht in der südlichsten Provinz des Sudan, in Bahr el Gazal. Dort war durch Blitzschlag ein ebenso uralter Pisang in Brand geraten.

Kaltblütig wartete er auf das, was kommen mußte. Der Sultan, jetzt allmählich einsilbiger geworden, stand mehr abseits und ebenfalls völlig ungeschützt da. Terkellen forderte hier ein Gottesurteil heraus. Die spärlichen Büsche boten nur ungenügend Schutz. Mossala Dschin hatte keine Ahnung von der ungeheuren Sprengwirkung des Wasserdampfes, der sich in den Hohlräumen des Stammes ansammelte und zur jähen Explosion führen mußte.

Die Aasgeier kreisten noch immer droben um die Rauchpinie wie unter einem aufgespannten Regenschirm. Ihr wütendes Krächzen mischte sich in das jämmerliche Heulen und Quiken einiger Paviane, die übel zugerichtet die nächsten Felsen noch glücklich erreicht hatten. Die Hitze war so intensiv, daß die nahen Dornenfelder allmählich ihren Blütenschmuck verloren, austrockneten, Feuer fingen und knisternd und knallend ebenfalls auflohten.

Vom Flugzeug her kam der alte Tschan herbeigeschlichen. Er hatte ein sehr schlechtes Gewissen seinem Herrn gegenüber, und nur die innige Freude über das Wiedersehen mit der duftenden Tuberose, seinem Liebling, beruhigte sein ehrliches Herz über die Unaufrichtigkeit, zu der er sich nun Terkellen gegenüber gezwungen sah. Er schlurfte, um alle verräterischen Fährten zu tilgen, in der Regenfurche entlang, die Pelcherzim benutzt hatte. Bisher hatte ihn niemand bemerkt, und wo in der Regenrinne sandige Stellen die Spuren besonders scharf festgehalten hatten, verwischte er sie schleunigst mit seinen derben Tropenstiefeln.

Dann erfolgte das, was Terkellen hatte kommen sehen. Der obere Teil des Stammes des Baobab, wo die Hauptäste abzweigten, flog mit ungeheurem Knall auseinander. Ein gefährlicher Regen von brennenden Geschossen übersäte in weitem Umkreis das Wadi und droben die Wüste. Die Dromedare stoben mit hellen schrillen Schreckenschreien samt ihren Reitern auseinander. Meterlange Holzsplitter fegten wie Lanzen durch die brodelnde Luft, und eines dieser Geschosse traf den Sultan direkt unter dem Georgskreuz in die Brust, durchbohrte den weißen Rock und blieb zwischen den Rippen stecken.

Mossala Dschin war meterweit rückwärtsgetaumelt, griff mit den Händen haltsuchend umher und sank bewußtlos in den Sand.

Rolf Terkellen und Pelcherzim waren mit einigen Hautkratzern davongekommen. Terkellen hatte wieder für Sekunden jenen Ausdruck scheinbar ungebändigter Wildheit im Gesicht, der auch Edda von Bruck so stark abgestoßen hatte.

Ein hartes kurzes Auflachen kam über seine Lippen. „Gottesgericht, Hektor! Er oder wir. Ihn hat’s getroffen. Nun bin ich Herr von Dscharani …! Bevor der Bursche da gesund wird, falls er überhaupt mit dem Leben davonkommt, dürften wir all seine Geheimnisse aufgedeckt haben.“

Er beugte sich über den Sultan, zog den Holzsplitter heraus, verband die zackige Wunde und war so sehr mit seinen ärztlichen Pflichten beschäftigt, daß er für Pelcherzim und Tschan zunächst kein Auge hatte.

„Tschan, wo hast du Hilde untergebracht?“ flüsterte Hektor sorgenvoll.

„Im Flugzeug, in der zweiten Kammer hinter dem Proviant“, wisperte der Chinese und musterte Pelcherzim forschend von der Seite. „Hat sie Ihnen mitgeteilt, wer der Vater ihres Kindes ist?! Was soll nur werden?! Wenn der Doktor davon erfährt, wird er …“

„Tschan, hierher!“ Terkellen hatte sich aufgerichtet. „Ihr beide, Hektor und du, bringt die Maschine nach Dscharani. Ihr seht drüben im Westen die Bergkette … Merkt euch die beiden spitzen Kegel. Zwischen diesen läuft die neu angelegte Straße durch die Sümpfe bis zum Dscharani-See … Laßt das Flugzeug mit Hilfe des noch intakten Motors rollen. Beeilt euch. Ich begleite den Sultan und seine Reiter …“

Es war Rolf Terkellen, die Kraftnatur, der Unbeugsame, Zielbewußte, der diese Befehle erteilte. Widerspruch fand er nicht. Pelcherzim und Tschan waren froh, mit Hilde zunächst einmal allein zu sein.

Die Reiter kehrten zurück. Diese Leibgarde Mossala Dschins bestand zumeist aus Halbnegern, aus Baggaras, hohen schlanken Gestalten in fast weißen Burnussen mit seltsamen Frisuren: In der Mitte ein kunstvoll durch Hammelfett aufgetürmter Haarwust, von dem gedrehte Strähnen bis tief ins Genick und über die Ohren hinabfielen. Außer diesen Baggaras, Nachkommen der Hamiten, die zumeist einen gemilderten Negertyp darstellen, gab es noch unter den Kriegern einige Schilluks und mehrere Golos vom Bahr el Gazal, athletische Neger reinsten Blutes, den Massai der südlicheren Steppen nicht unähnlich. Eines hatten alle diese nunmehr zum Dscharani-Stamm durch den Tschandu verschmolzenen Vertreter der ehemaligen Mahdi-Anhänger gemeinsam: Neben einem schrankenlosen Fanatismus den ranzigen Hammelfettgeruch oder besser Gestank und das Hali, das heilige heimliche Zeichen der Mahdisten: Ein Stück durchlochten rötlichen Schiefers mit eingeritzten Koransprüchen an dicker Schnur um den Hals wie einen Orden. Ihre Bewaffnung bestand aus Vorderladerflinten mit Perkussionsschlössern, aus Lanzen mit breiten blanken Spitzen und ebenso breiten Haumessern in Lederscheiden. Einige führten auch vorsintflutliche Revolver.

Terkellen, der sich mit ihnen bequem verständigen konnte, befahl dem Führer der Leibgarde, für den Sultan eine Krankenbahre aus Ästen herzustellen, die zwischen zwei Reitdromedaren aufgehängt werden sollte. Die Dscharani zeigten sich durchaus willig und gehorsam. Sie hatten ein schlechtes Gewissen, ihre abergläubischen Herzen sahen in der Explosion des brennenden Baobab und in der Verwundung ihres Gebieters eine Strafe für so manche heimliche Gewalttat, die bisher ungesühnt geblieben.

Terkellen merkte es den auffallend eifrigen und recht schweigsamen Kriegern an, daß sie Eile hatten, das Wadi zu verlassen. Er beobachtete sie insgeheim, überwachte die Herstellung der Tragbahre, und ihm entging es auch nicht, daß sie ganz leise miteinander flüsterten und immer wieder scheu nach den Resten des Baobab hinüberblickten.

Tschan brachte ihm das Nötigste, was er nach Dscharani mitnehmen wollte. Der Chinese war bekniffen und verlegen, Terkellen fühlte, daß Tschan ihm etwas verheimlichte. Er besaß Menschenkenntnis genug, gerade des Chinesen verändertes Benehmen auf eine sehr triftige Ursache zurückzuführen. In diesem Falle freilich irrte er sich über die Gründe, die des treuen Tschan Verhalten so spürbar beeinflußten.

„Tschan!!“

Der Alte hob den Kopf.

„Machst du dir Vorwürfe, weil du dem Sultan das Benzin überließest? Glaubst du etwa, die Araberin sei in den Baobab zurückgekehrt und dort mit verbrannt?“

Tschan war auf seine Art ein Philosoph. „Herr Doktor, die Dscharani wollten morden, das ist mir hinterher klar geworden.“

Rolf Terkellen nickte kurz. „Das wollten sie. Die Araberin muß für sie irgend eine Gefahr bedeutet haben. Schaut euch hier nach ihr um, sobald ich mit dieser braunen Bande unterwegs bin. Sie kann nicht weit geflohen sein, diese Fremde. Du verstehst etwas von Fährtenlesen. Ich verlasse mich auf dich.“

Der Chinese schnallte der Dromedarstute Hildes ein paar Ledersäcke an den Sattel und schwieg vorsichtig. Terkellen wurde noch stutziger. Er schritt auf die nur noch qualmenden Überreste des Baumgiganten zu, dessen unversehrt gebliebenen Wipfelteile das Feuer erstickt hatten. Mit einer der langen Lanzen der Dscharani stocherte er in der schwelenden Glut, aber er stieß nur auf die verkohlten Überbleibsel von Affen und jungen Aasgeiern, auf geschwärzte Metallteile des Senders und ausgeglühte Drähte.

Tschan belauerte das Tun seines Herrn mit geheimer Angst. Auch die Dscharanikrieger flüsterten noch leiser und noch scheuer miteinander. Inzwischen war die Sonne immer höher gestiegen, die angenehme Kühle der ersten Morgenstunden war gewichen, die Luft über der Wüste flimmerte meterhoch wie über einem erhitzten Dampfkessel, und die Fernsicht war dafür immer klarer geworden. Die Dscharani-Berge mit den anschließenden Bergketten des weit imposanteren Dschebel Ain, das nach Norden zu die Grenze zur Libyschen Wüste bildet, lagen fast greifbar nahe. Mit bloßem Auge erkannte man eine endlose Karawane, die, begleitet von modernen Lastautos, auf der alten Karawanenstraße nach Süden der Hauptstadt Cordofans El Obeid entgegenzog.

Terkellen gab die zwecklose Nachsuche in den Brandtrümmern auf. Als er die Lanze über einen Haufen grauer Asche hingleiten ließ und bereits halb sich weggewandt hatte, fand die breite Stahlspitze irgendwo Widerstand, und Terkellen riß den Schaft mit aller Gewalt nach hinten und zog aus dem Aschenberg einen Karabinerlauf hervor nebst Schloß, — die Holzteile waren verschwunden. Es war ein verschmutztes, ausgeglühtes Stück Eisen, nichts mehr, und doch weiteten sich Terkellens Augen in ungläubigem Staunen. Er schleifte seinen Fund durch den Sand, säuberte ihn auf diese Weise, bückte sich, kniete sogar nieder und betrachtete die Metallreste der Waffe aus nächster Nähe. Seine Lippen schlossen sich dabei immer fester, ein schmerzhafter Stich durchzuckte sein gerade an diesem Orte von trübsten Erinnerungen gequältes Herz: Er hatte Hildes leichte Damenbüchse erkannt! – Es war kein Karabinerrohr, es waren die Stahlteile jener Waffe, die seine Schwester seit Jahren besessen hatte!

Terkellen brauchte Minuten, um über die neu erwachten Erinnerungen jener aufregendsten und trostlosesten Zeit seines Lebens hinwegzukommen. Er war keine jener weichlichen Naturen, die Geschehenes nicht zu verwinden vermögen. Aber gerade das Geheimnisvolle, das mit Hildes Entführung zusammenhing, und die völlige Ungewißheit über das Schicksal der Schwester hatte ihn niemals innerlich zur Ruhe kommen lassen. Diese Überbleibsel einer Waffe, deren Gewicht, Konstruktion, Schußleistung und Verzierung von ihm seiner Zeit den Mauserfabriken genau angegeben worden waren, konnten nur die der Büchse Hildes sein. Eine solche Waffe gab es nicht als Massenartikel. Außerdem erkannte er ja genau die Gravierungen am Laufe. Jeder Zweifel war ausgeschlossen, und diese Erkenntnis erschütterte ihn derart, daß er erst durch den Zuruf des Führers der Dscharanikrieger aus seinem dumpfen Brüten geweckt wurde.

Der Sultan war zu sich gekommen. Er lag bereits auf der durch Gras und Decken weich gepolsterten Bahre, er sah wohl etwas bleich aus, aber in seinen Augen glühte ein heimliches Feuer, und seine gelblichen Zähne kauten nervös die Unterlippe.

Terkellen erhob sich. Wie stets hatte er auch jetzt die Kraft gefunden, die trüben Gedanken von sich zu weisen. – „Tschan, bewahre das da auf!“

Mossala Dschin fragte unvermittelt, – das Sprechen fiel ihm schwer, da die Lunge offenbar mit verletzt war: „Weshalb wollen Sie so eilig nach Dscharani, Mr. Terkellen?!“

Trotz seiner oft recht impulsiven Natur sah Rolf rechtzeitig ein, daß einem Manne wie Mossala Dschin gegenüber Ehrlichkeit nur leichtfertige Torheit gewesen wäre. „Ihre Verletzung, Hoheit, verlangt sorgsamste ärztliche Behandlung“, lautete seine knappe Antwort. „Ich bin Arzt … Ich stelle Ihnen mein Wissen zur Verfügung …“

Der Sultan lächelte etwas. „Zu liebenswürdig, Doktor … – Gut, brechen wir auf … Mein bescheidenes Heim am Dscharani-See bietet allerdings mehr Bequemlichkeiten als die Wüste …“

 

8. Kapitel.

Im Palast von Dscharani.

Edda von Bruck dehnte wohlig die Glieder unter der dünnen Seidendecke, die sich fast zärtlich um ihren schlanken Körper schmiegte. Als sie sich nun auf den rechten Arm stützte und ihre braune flinke Dienerin beobachtete, die soeben die Fenstervorhänge aufzog, klirrte die Metallmatratze des eisernen Bettes ganz leise … Vom Seeufer her ertönten die verschiedenartigsten Vogelrufe, im Parke schnatterten halbzahme Affen, pfiffen Singvögel ihr Morgenlied, und von der großen Veranda, deren Dach gerade unter Eddas Fenstern lag, vernahm das junge Mädchen das sorglose Lachen Heriberts und die dunkleren, tieferen Stimmen des Sultans und des Generals Bewers.

„Wie spät ist es eigentlich, Fatima?“ fragte sie die junge Araberin, die mehr europäisches als farbiges Blut in den Adern hatte.

„Soeben hat die Turmuhr Sieben geschlagen“, erklärte Fatima in fließendem Englisch.

Edda erschrak. Sieben Uhr! Das war für den Sultanspalast die festbestimmte Frühstückszeit.

„Du schliefst so sehr fest, Herrin“, entschuldigte sich Fatima, weil sie Edda nicht rechtzeitig geweckt hatte.

Eddas leicht gebräuntes Gesicht bekam einen nachdenklichen Ausdruck. „Oh – ich hatte seltsame Träume“, meinte sie sinnend. – Ihre Blicke glitten zum anderen Fenster hin … Über den gelben Sonnenvorhängen waren die feinen handgestickten Stores angebracht, die Mossala Dschin aus Tripolis bezogen hatte. Eddas blaugraue Augen hafteten plötzlich wie gebannt auf einer bestimmten Ecke der orientalischen Gewebe. Sie sah dort eine Zacke der Umrahmung des Mittelmedaillons herabhängen. Das Gewebe war zerrissen.

Edda setzte sich mit einem Ruck vollends aufrecht und suchte sich den wirren Traum der verflossenen Nacht nochmals zu vergegenwärtigen. Ein leises Unbehagen beschlich sie dabei. War denn wirklich jemand bei ihr im Zimmer gewesen?! Entsprach es auch der Wirklichkeit, daß der Fremde bei seinem eiligen Rückzug den kostbaren Vorhang zerrissen hatte?!

Fatima war derweil nebenan in das Badezimmer gehuscht und ließ die Wanne vollaufen, legte Bademantel und Tücher bereit und entfernte sich in ihrer lautlosen Art, die so sehr an die des alten Tschan erinnerte.

Kopfschüttelnd verließ Edda das Bett, streifte den hauchdünnen Schlafanzug ab und huschte in das Badezimmer.

Das Wasser war lau und vollkommen klar. Die Pumpanlage, die das Seewasser in den mit als Wasserturm eingerichteten neuen Teil des Palastes hinaufbeförderte, stand mit einer Filtereinrichtung in Verbindung. Alles, was die Technik zur Bequemlichkeit Seiner Hoheit irgend hatte leisten können, war hier in Dscharani zu finden, sogar elektrisches Licht. Als Edda vor nunmehr vier Tagen zusammen mit General Bewers, ihrer Mutter, ihrem Verlobten und Bewers’ Adjutanten von Chartum hier eingetroffen war, hatte sie all das voll bestätigt gefunden, was der galante Gouverneur ihr vorausgesagt hatte. „Glauben Sie ja nicht, Dscharani wäre etwa ein Niggerdorf mit einem sehr fetten, in einer alten Generalsuniform steckenden Beherrscher. Dscharani ist zweifellos wohl der kleinste, aber dafür auch der zivilisierteste Staat am Nordwestrande des Sudan. Sie werden staunen, Miß Bruck!“ – Und ob Edda gestaunt hatte! Schon die Landung auf dem kleinen Flugplatz außerhalb des Urwald- und Sumpfgürtels dieses Hochlandgebietes bewies ihr, daß Mossala Dschin in wenigen Jahren mit Hilfe europäischer Ingenieure und Techniker und durch seine zielbewußte Energie geradezu Fabelhaftes geschaffen hatte. Von dem Flugplatz lief die sauber geebnete Autostraße, vorläufig die einzige in Nordwestcordofan, auf einem festen Damm durch die früher so gefürchteten Sümpfe. Der Sultan hatte die gefährlichen Mückenschwärme, die einst die Malaria als ständigen tödlichen Gast hier hausen ließen, restlos beseitigt. Neben dem Fahrdamm von zehn Meter Breite roch es noch heute überall intensiv nach Petroleum. An anderen Stellen war der Urwald, der auf den Sumpfinseln in üppigster tropischer Pracht den allerbesten Nährboden gefunden hatte, niedergebrannt worden, Kanäle durchzogen die einstige Wildnis, Reisfelder gediehen hier neben Getreide und Gummiakazien, die wie Soldaten scharf ausgerichtet ihre jungen Stämme in den Sonnenglast des Himmels reckten. In zwei ganz neuen Rolls Roice-Autos hatte der Sultan seine Gäste durch seinen ersten Minister feierlichst abholen lassen. Eine Ehreneskorte von hundert Kriegern begleitete die Wagen. Bewers war in Chartum nicht dazu zu bewegen gewesen, den Sultan unangemeldet zu überfallen, wie er sich ausdrückte. Über Eddas und Heribert Gardners Argwohn gegen Mossala hatte er nachsichtig gelächelt, obwohl festgestellt wurde, daß der doch höchst verdächtige Teestubenbesitzer Themistokles Menelos aus Chartum plötzlich irgendwohin ins Innere gereist war. Gouverneur Charly Bewers, der nur erst an den Schläfen leicht ergraut war und sich sehr wenig verändert hatte, begnügte sich damit, seiner einstigen flüchtigen Neigung Theresa von Bruck aufs ritterlichste abermals ein wenig den Hof zu machen. Frau Theresa erschien wunderbar verjüngt, ihre Augen hatten den verträumten, ziellos-sehnsüchtigen Ausdruck von einst wiedergefunden, und General Bewers durfte ihr mit Recht das Kompliment machen, daß die Jahre an ihr spurlos vorübergegangen seien. – „Wie an Ihnen, General“, hatte Theresa heiter und etwas kokett erwidert. – Chartum wurde für sie zum Jungbrunnen. Den wahren Grund ahnte niemand. Theresa von Bruck hatte sich gleich am ersten Abend ganz allein nach den Tennisplätzen geschlichen, hatte zwei der ihr verbliebenen Tschandupillen dort in aller Heimlichkeit geraucht und so ein fast zauberhaftes Erlebnis heraufbeschworen, das ihr zunächst nur wie ein unwirklicher Traum vorgekommen war … –

An all dies und noch an vieles andere dachte Edda von Bruck, als sie nun den feinen Sprühregen der Dusche über ihren nackten, junonischen Leib herniederrieseln ließ und dadurch auch den letzten Rest der Schlaftrunkenheit und der Nervenabstammung nach den wirren Träumen verscheuchte. Ein eigentümlicher Zustand erhöhten Wachseins stellte sich bei ihr ein, und gerade diese gesteigerte geistige Regsamkeit führte dazu, daß sie auch ihr Verhältnis zu Rolf Terkellen nochmals vorurteilslos überprüfte.

Während sie, in den Bademantel gehüllt, auf dem Rande der weißen Kachelwanne saß und ihre Haut leicht frottierte und der große Kristallspiegel an der gegenüberliegenden Wand ihr jede Einzelheit ihres untadeligen Körpers zeigte, rief sie sich die Wiedersehensszene mit Rolf in allen Kleinigkeiten ins Gedächtnis zurück. Terkellen hatte sie unten auf der großen Veranda, zunächst hinter dem Liegestuhl des Sultans stehend, nur sehr förmlich begrüßt. Edda merkte, daß seine Aufmerksamkeit in der Hauptsache ihrer Mutter und deren Verhalten galt. Aber Frau Theresa hatte durch nichts verraten, daß ihr diese weiße Veranda mit dem wundervollen Blick über den schmalen, aber sehr langen See bekannt sei. Bewers wieder hatte das Peinliche dieses Wiedersehens durch seine etwas laute, polterig-joviale Art abgeschwächt, hatte sich bei Mossala Dschin für die Vernichtung des geheimen Senders bedankt und den Sultan gleichzeitig zu seiner schnellen Wiederherstellung beglückwünscht. „Es wäre jammerschade gewesen, Hoheit, wenn Sie durch die Explosion des Baobab das Leben eingebüßt hätten … Sie sind noch zu weit höheren Dingen berufen.“ Er lächelte dazu und zeigte seine prächtigen gesunden Zähne. Terkellen hatte aufgehorcht. Edda sah es … Sie kannte ihn. Irgend etwas in Bewers’ harmlosen Worten schien ihn stutzig gemacht zu haben. Dann gab es sehr bald eine günstigere Gelegenheit für sie, Terkellen unter vier Augen zu sprechen. Er hatte sich verschlossener und ernster denn je in die entfernteste Verandaecke zurückgezogen und spielte hier mit einem der zahmen Affen. Edda trat zu ihm. Bewers’ laute Stimme berichtete gerade dem Sultan von Tschandas Flucht aus Berlin. Mossala Dschin lächelte nur. „Van Zeerten? – Kenne ich nicht …“ – Dann hatte Edda freimütig Terkellen die Hand hingestreckt. „Ich danke Ihnen, daß auch Sie sich um Tschanda bemühen, Herr Doktor …“, – sie sprach so herzlich, daß Terkellen ihr die Reue über ihr schroffes Benehmen in Berlin beim letzten Zusammensein in der Diele seiner Wohnung anmerken mußte. – Er gab ihre Hand fast verletzend schnell wieder frei, schaute sie nur flüchtig aus harten Augen an, blickte zur Seite und meinte ablehnend: „Ich bin in der Hauptsache meiner Schwester wegen hier, gnädiges Fräulein … – Es freut mich, daß Sie eine so günstige Witterungslage während Ihres Fluges hierher überall antrafen … Wir wurden leider unterwegs aufgehalten. Wie gefällt Ihnen Dscharani?“ – Diese seine rücksichtslose Art, das Gespräch sofort auf unpersönlichere Dinge abzubiegen, hätte Edda von Bruck wohl aufs neue empört, wenn sie nicht deutlich beobachtet haben würde, daß er die Gruppe drüben – den Sultan, Bewers, Gardner, Theresa und Pelcherzim, nicht einen Moment aus den Augen ließ und offenbar möglichst viel von deren Unterhaltung auffangen wollte. – Die folgenden Tage bestärkten sie nur in der Annahme, daß Terkellen sich mit bestimmten Absichten trüge, die seine ganzen Gedanken in Anspruch nahmen und ihm für nichts anderes Zeit ließen. Er wohnte mit Pelcherzim und Tschan weit ab vom Palast in einem Parkhäuschen dicht am Seeufer, wich ihr geflissentlich aus, schreckte auch die andern durch seine wortkarge, gereizte und wohl bewußt unliebenswürdige Stimmung ab und war zumeist mit Pelcherzim und Tschan hoch zu Dromedar unterwegs und kehrte nie ohne Jagdbeute von diesen Ausflügen zurück.

Während sie nun eiligst ihre Morgentoilette vollendete, fügte es sich, daß sie sich einmal weit zum Fenster hinauslehnte und durch eines der halb hochgeklappten Fenster des Verandadaches Teile der Unterhaltung zwischen dem Sultan, Bewers und ihrem Verlobten auffing. Die drei mußten allein sein und wohl schon gestern dasselbe Thema erörtert haben. Heribert Gardner sagte gerade mit seiner leicht näselnden Stimme:

„Du lieber Himmel, – was verlangen Sie, ein Bauernsohn!! Ihm fehlt die Kinderstube!“

Bewers tieferes Organ erwiderte sehr bedächtig: „Auch heute hat er meine Begleitung schroff abgelehnt, gewiß … Aber … Kinderstube, Mr. Gardner?! Ich kenne Terkellen sehr gut. Ich behaupte, er sucht immer noch nach seiner Schwester und muß irgendeine Spur entdeckt haben, der er nun insgeheim nachgeht. Der Mann weiß, was er will … Der ist aus Teakholz geschnitzt, und Teakholz fault nicht irgendwie an, Mr. Gardner. Seine Hoheit wird Ihnen das bestätigen, auch das andere, daß die drei Unzertrennlichen und gleichzeitig unsere drei Außenseiter Terkellen, Pelcherzim und Tschan zu schlau sind, Spione hinter sich zu dulden …“

Eine Weile blieb es still. Dann meldete sich Mossala Dschin nach kurzem Hüsteln. Seine Lunge war noch immer angegriffen. „Gut, ich gebe zu, daß ich die drei beobachten lasse, General, allerdings ohne Erfolg. Sie entschlüpften meinen Spähern stets. – Woher haben Sie davon Kenntnis erhalten, daß ich Terkellen einige Aufpasser nachschickte?“ Sein Ton klang jetzt so lauernd, daß es nicht einmal Edda entging.

Bewers zwangloses Lachen war die Harmlosigkeit selbst. „Mein Adjutant Simkinson ist keine große Leuchte, aber verschwiegen … Ich hatte genau dasselbe getan wie Sie, Hoheit. Simkinson sollte doch mal feststellen, was die drei eigentlich dauernd droben in den Bergen treiben. So merkte mein trefflicher Simkinson, der übrigens Ihren Musterdiener Francois mitgenommen hatte, daß Sie, Hoheit, auch hier den alten orientalischen Brauch aller Herrscher anwenden, jeden Fremden überwachen zu lassen, was ich nur billigen kann, zumal dadurch eine gewisse Gewähr gegeben ist, daß nicht etwa einer Ihrer noch etwas fanatischen Untertanen, die dort in den westlichen Schluchten des Dschebel hausen, leichtsinnigerweise den Finger krümmt … Ein hinterlistiger Schuß auf Terkellen würde unsere freundschaftlichen Beziehungen stark trüben, und ich erwarte bestimmt, daß derartiges nicht „zufällig“ geschieht …“

Charly Bewers sprach auch das letzte ohne besondere Betonung hin. Edda jedoch, deren Herz plötzlich aus Angst um Rolfs Leben ungestüm zu pochen begonnen hatte, hörte sehr wohl so etwas wie eine nachdrückliche Warnung heraus. Um so empörter war sie, als Gardner eifersüchtig und gehässig wie stets bemerkte, wenn Terkellen Seiner Hoheit Spione irreführe, um allein und unbeobachtet zu bleiben, sei niemand dafür verantwortlich zu machen, falls ihm einmal etwas zustieße. „Es braucht ja nicht gerade eine Kugel zu sein … Von Nordwesten her kommen oft genug, wie Hoheit letztens betonte, auch räuberische Tuaregs über die Grenze, und ein Lanzenstich ist ja vollkommen geräuschlos.“

Edda hätte in diesem Augenblick am liebsten ihrem hämischem Verlobten zugerufen, er solle sich schämen, so unverblümt einem Mann den Tod zu wünschen, an den er in keiner Weise auch nur im entferntesten heranreiche. Sie fieberte vor Empörung, und dies um so mehr, als Heribert schamlos genug war, in Gegenwart Terkellens diesem gegenüber hier ein so respektvolles Benehmen zu heucheln, als ob er des anderen geistiges Übergewicht neidlos anerkannte.

Ein Geräusch hinter ihr zwang sie, ins Zimmer zurückzutreten. Fatima, ihre junge Dienerin mit den dunklen Mandelaugen und dem merkwürdig traurigen Zug um den Mund, war erschienen, um sich nach den Wünschen ihrer Herrin zu erkundigen. Schon längst hatte Edda das bescheidene hübsche Mädchen einmal fragen wollen, was ihre junge Seele – Fatima war kaum vierzehn Jahre alt und doch schon völlig erblüht – so sehr bedrücke. Heute fiel ihr, obwohl ihre Gedanken völlig von der Sorge um Terkellen in Anspruch genommen waren, ein ängstlicher, scheuer Zug im Antlitz der hellhäutigen Beduinin auf, und ohne Zögern nahm Edda die Gelegenheit wahr, diesem halben Kinde einen Beweis ihrer Teilnahme und ihrer Zufriedenheit zu geben.

„Hast du irgendein Leid zu tragen, Fatima?“ meinte sie mit so weicher Herzlichkeit, daß die Araberin wie überrascht aufhorchte und sie ganz eigentümlich anblickte. „Du kannst dich mir getrost anvertrauen, Kind …“, fügte sie noch wärmer hinzu und legte dem Mädchen ihre Hand auf die Schulter. „Sprich dich doch aus … Was bedrückt dich?“

Fatimas Gazellenaugen füllten sich langsam mit Tränen. Ihr Kopf neigte sich noch scheuer nach vorn.

„Mir fehlt nichts, Herrin“, erwiderte sie lauter als nötig. „Mir fehlt gar nichts … Ich bin glücklich, dir dienen zu dürfen.“

Edda wurde schon durch den überflüssigen Kraftaufwand der Stimme Fatimas etwas stutzig. Plötzlich begriff sie dann … Das braune Kind hatte den Arm etwas gehoben und deutete mit dem abgespreizten Daumen nach der Tür. Es war eine ganz unauffällige Geste. Der Lauscher hinter der Tür konnte davon nichts wahrnehmen.

Edda traf durchaus den hier nötigen harmlosen Ton, als sie lächelnd erklärte, sie freue sich herzlich, daß Fatima sich glücklich und zufrieden fühle … „Ich werde nun nach unten frühstücken gehen, Fatima … Mittags lege mir meinen Reitanzug zurecht. Der Besuch der Oase Ain Halfa, wo sich auch das Grab meines Vaters befindet, soll nun nicht länger hinausgeschoben werden.“

Sie schritt zur Flurtür, öffnete sie, fand den hellen Flur völlig leer, schloß die Tür wieder und drehte sich nach Fatima um.

„Wer?!“ fragte sie kurz.

„Francois“, hauchte Fatima angstvoll.

„Und er zwingt auch dich zum Spionieren?“

„Ja …“

„Weshalb gehorchst du ihm …?“

Fatima öffnete die Lippen, wollte etwas entgegnen, brachte jedoch kein Wort hervor.

Edda trat rasch dicht vor sie hin. „Antworte!“ befahl sie energisch.

Ein unendlich hilfloses Zucken lief über das Gesicht der Araberin hin.

Wieder öffnete sie die vollen, jetzt so farblosen Lippen … Ihr Atem traf Edda aus nächster Nähe.

Edda mußte alle Gewalt anwenden, um nicht aufzuschreien. Sie hatte den häßlichen süßlichen Geruch des teuflischen „Droß“ gespürt.

Dann war auch Fatima endlich fähig, das entsetzliche Wort zu formen.

„Tschandu …!!“ hauchte sie … „Herrin, hüte dich …! Dscharani ist ein Land des weißen heiligen Rauches, ist die Hölle … Hüte dich!“

Edda krallte die Finger in die Handflächen. Mit einem Schlage war hier eine bunte, prächtige, landschaftlich überaus reizvolle Kulisse zur Seite geschoben worden und sie erblickte das, was diese Kulisse verdeckt hatte: Heuchelei, Niedertracht, Feindseligkeit, durch Rauschgift zerstörten Eigenwillen!

Sie fand die Kraft, all dies in Sekunden zu überwinden, denn Francois, der ihr schon stets einen geheimen Widerwillen eingeflößt hatte, wäre mißtrauisch geworden, wenn sie noch länger im Zimmer verweilt hätte.

Zärtlich und dankbar strich sie über Fatimas braune Wange hin, nickte ihr ernst zu und entfernte sich. Wie im Traum schritt sie die breite, mit kostbaren Läufern belegte Treppe hinab und begegnete unten im Vorraum, der halb als Audienzsaal hergerichtet war, ihre Mutter, die mit eigentümlich leuchtenden Augen vor einem Gemälde stand, das Mossala Dschin von einem berühmten englischen Maler hatte anfertigen lassen. Es stellte den Tschandu Oliver Brex, seinen Vorgänger, so dar, wie Theresa ihn hier einst wiedergesehen hatte: Im weißen, tadellos sitzenden Tropenanzug, der das Unheimliche seiner Erscheinung nur wenig milderte, mit dem bleichen Charakter-Kopf, den starren Glutaugen und dem frei zurückgestrichenen schwarzen Haar, – so hatte der Londoner Künstler in allen Einzelheiten vollendet getroffen. Es war der Kopf eines Gottes und eines Teufels zugleich.

Als General Bewers vor einem Jahr dieses kostbar gerahmte große Gemälde zum ersten Male gesehen hatte, war der Sultan Mossala Dschin um eine Antwort auf die Frage, weshalb er mit dem Hochverräter Brex diesen Kult treibe, nicht eine Sekunde verlegen gewesen. „Bedenken Sie, Exzellenz, daß der berüchtigte Tschandu immerhin derjenige Mann war, der die flüchtigen Mahdisten hier zu einem neuen Volke zusammenschweißte. Die Pietät gebot mir, dies anzuerkennen.“

Bewers hatte kein Wort dazu gesagt. Daß der Tschandu auf der Flucht erschossen worden war, hatte England der Mühe überhoben, den intelligenten Aufrührer einzufangen und vor ein Standgericht zu stellen, wodurch nur unliebsames Aufsehen hervorgerufen worden wäre. Was General Bewers, der sich übrigens im Weltkrieg an der Flandernfront ausgezeichnet hatte und schnell befördert worden war, im übrigen über des Sultans „Pietät“ dachte, behielt er wohlweislich für sich.

Auf Frau Theresa hatte das Gemälde vom ersten Augenblick an eine geradezu magische Anziehungskraft gehabt. Nach ihrem spätabendlichen einsamen Erlebnis vor acht Tagen an den Tennisplätzen des Gouverneurpalastes in Chartum war sie innerlich wie ausgewechselt. Die Vergangenheit hatte für sie ein so verändertes Aussehen erhalten, daß die Rückwirkungen auf ihr bisher so wenig gefestigtes Gefühlsleben nicht ausbleiben konnten. Äußerlich gab sie sich wie bisher betonte sogar ihre Oberflächlichkeit, Gefallsucht und ihr Geltungsbedürfnis bewußt noch stärker. Sie hatte ihre Gründe dafür.

Frau Theresa hatte Eddas Erscheinen im Audienzsaal nicht bemerkt. Regungslos stand sie vor dem Bilde, versunken in Erinnerungen, die nunmehr sonnenhell und ohne jede Trübung waren, und gleichzeitig besorgt und angstvoll darüber nachgrübelnd, wie die Gegenwart mit ihren schwierigen Fragen mit diesem Einst zu einem harmonischen Ausklang gebracht werden könnte.

Edda sah nur das Profil der Mutter, aber der tiefe Schmerz, den Theresas Züge verrieten, und der sinnende, bange Blick konnten ihr nicht verborgen bleiben. Die Vorhalle war erfüllt von farbigem Sonnenlicht, das durch die bunten oberen Fenster hereinfiel. Ein schwacher Duft von Sandelholz und Weihrauch verstärkte noch den Eindruck, als befände man sich hier in einer Kirche. Im Hintergrunde war eine Estrade errichtet, auf der ein Thronsessel von Elfenbein mit Goldeinlagen stand. Hinter dem Thronsessel hing eine zerfetzte Kampffahne der Mahdisten über einer Art Altar, neben dem altägyptische hochbeinige Räucherbecken ihren Platz hatten, denen beständig ein feiner Qualm wohlriechender Harze entstieg.

Edda beobachtete die Mutter. In ihrem Herzen erwachte zum ersten Male angesichts der schmerzlichen Versunkenheit Frau Theresas echt weibliches Mitgefühl, Verstehen und kindliches Zusammengehörigkeitsgefühl. Sie erriet, daß ihre Mutter diesen Brex doch geliebt hatte, mochten auch erst die Jahre der Einsamkeit die Erkenntnis dieser Liebe gestärkt haben. Sie hüstelte leise und trat näher. Frau Theresa wandte langsam den Kopf. Mutter und älteste Tochter standen sich zum ersten Male gerade hier im fernen Erdteil in demselben Hause als Frauen mit Frauensorgen und mit innigem gegenseitigen Verstehen gegenüber, in dem Tschanda in berauschenden Umarmungen als Pfand dieser Liebe empfangen ward.

„Mama, du hast Brex sehr lieb gehabt?“ flüsterte Edda und spürte, wie sie vor innerer Bewegtheit die Farbe wechselte. Ihre Hände waren kalt vor Erregung, als sie nach denen der Mutter tastete, und deren Finger waren warm und weich und durchpulst von heißen Erinnerungen.

Frau Theresa blickte Edda mit zuckenden Lippen und leicht flatternden Lidern an. Eine einzelne Träne stahl sich zwischen den langen Wimpern hervor.

Sie nickte unmerklich. „Ich … liebe ihn jetzt“, sagte sie schlicht und ehrlich. „Damals war ich nicht reif genug für seine Liebe und für seine weitschauenden Pläne, die auch mich ändern wollten. Er war kein schlechter Mensch, Edda … Ein Aufrührer, ja, ein Hasser Englands, ein Fanatiker seines Hasses … England trägt selbst die Schuld daran … Achtzehn Jahre mußten hingehen, bevor ich Oliver Brex voll begriff und einsah, daß ich ihn liebte. – Tschanda ist sein Kind“, fügte sie nach kurzer Pause hinzu. „Ich bin stolz darauf. Für deines Vaters Ermordung trägt Oliver keine Verantwortung. Mossala Dschin ließ die Expedition überfallen, um seinem damaligen Herrn, meinem Tschandu, Schwierigkeiten zu bereiten und hinterher die Dscharani gegen ihn aufzuhetzen, weil Brex mich, eine Ungläubige, gewählt hatte. Wenn du hiermit das vergleichst, was Bewers uns über das Ende der Herrschaft des Tschandu und …“ – sie zögerte – „und über seinen Tod erzählte, wirst du meine Angaben nicht anzweifeln. Menschen solchen Formats und so voller Charakterwidersprüche wie Oliver gedeihen nur unter der sengenden Sonne der Tropen und in den unendlichen Weiten dieser Steppen …“

Edda war erschüttert durch die schrankenlose Aufrichtigkeit der Mutter. Sie glaubte ihr, und aus diesem Glauben heraus wuchs das Sehnen, das sie dazu veranlaßte, die Mutter nun fest in die Arme zu schließen. Aber in dieser innigen Umschlingung und unter dem wahrhaft zärtlichen Kuß der mütterlichen Lippen fand Edda auch den Mut, ihrem eigenen Herzenskummer offene Worte zu verleihen. Nun, da sich ihre Seele aufgetan hatte, strömten hastig gehauchte Sätze unaufhaltsam über ihre Lippen, und diese Sätze klangen aus in der verzehrenden Angst um Rolf Terkellens Leben …

Theresa bog den Kopf zurück, lächelte geheimnisvoll und tätschelte beruhigend ihres Kindes tränenfeuchte Wangen.

„Sei ohne Sorge, Kind, Terkellen ist Manns genug, sich zu schützen, außerdem wacht die Vorsehung über ihm … – Komm’ nun … Auch ich habe noch nicht gefrühstückt …“

Aber Edda hielt die Mutter noch zurück.

„Ich hatte nachts einen recht peinigenden Traum, Mama … Auch das möchte ich dir anvertrauen. Ich fürchte, Teile dieser Traumgesichte waren Wirklichkeit. Es muß jemand durch das Fenster bei mir eingestiegen sein, ich fand eine zerrissene Stelle in dem Fenstervorhang, und …“

Theresa wich jetzt ihren Blicken aus. „Trinke nie die Limonade, die man dir für die Nacht bereitstellt … Gieße sie in das Waschbecken, sagte sie schnell und merklich verlegen. „Gehen wir, Kind … Und … hoffen wir …“

Mit diesen unklaren Andeutungen beendete sie diese intime Aussprache, die ihr endlich das geschenkt hatte, was bisher zwischen Mutter und Kind nie hatte erblühen können: Wahre Innigkeit, gegenseitiges Verstehen und gegenseitiges Sicheinfühlen in die feinsten Seelenregungen.

 

9. Kapitel.

Der Smaragd des Kalifa Abdullahi.

Terkellen, Pelcherzim und Tschan waren an diesem Morgen bereits um vier Uhr aufgebrochen und hatten wie stets die Stadt Dscharani, die sich in ein weites Tal der Berge einschmiegte, in großem Bogen nach Süden hart an der Grenze der auch hier kultivierten Urwaldsümpfe umritten. Außer der eigentlichen Stadt Dscharani gab es in den fruchtbaren Schluchten des Dschebel überall kleinere Niederlassungen, in denen zumeist reinblütige Neger, ebenfalls Mahdistenflüchtlinge, wohnten, ihre Felder durch ihre Weiber bestellen ließen, Viehzucht trieben und mehr oder weniger faulenzten, falls sie nicht gerade in den nördlicheren Steppen der Jagd nachgingen.

Es war jetzt sieben Uhr morgens. Terkellen trabte weit voraus über ein ödes, kahles Plateau, und Pelcherzim und Tschan, die ja kein ganz reines Gewissen hatten, sprachen wieder einmal in abgerissenen Sätzen über Hildes unerklärliches Verschwinden aus dem Flugzeug. – Am letzten Abend vor dem Eintreffen auf dem Flugplatz Dscharani hatten Hektor und der Chinese unweit der äußersten Ausläufer der Oase Ain Halfa gelagert, und hier war das Unfaßbare geschehen: Als die beiden Hilde das Abendessen in die Kabine brachten, fanden sie Mutter und Säugling nicht mehr vor. Sie suchten nach Spuren, aber der Boden war zum Teil felsig, und Hilde und ihr Kind, über dessen Herkunft und Vater sie nie sprach, blieben unauffindbar.

In jener Nacht hatten Pelcherzim und Tschan kein Auge zugetan. Sie hatten ihre Streifzüge bis zu den ersten Palmengruppen von Ain Halfa ausgedehnt. Ein hoher, fester, endloser Stacheldrahtzaun und zwei Dscharani-Posten wehrten ihnen das Betreten der Oase. Mit den Dscharani konnten sie sich nicht verständigen. Aber schließlich bemerkten sie eine Warnungstafel der Verwaltung der Provinz Cordofan: Ain Halfas Südhälfte war für jeden gesperrt, da man dort die Leprakranken des Landes in einer großen, gegen die Außenwelt streng abgeschlossenen Niederlassung vereinigt und die Bewachung dem Sultan Mossala Dschin übertragen hatte. Im klaren Mondlicht hatten Pelcherzim und Tschan von der Spitze einer Palme aus nur Teile der uralten Ruinenstätte und einzelne Hütten der Aussätzigen, Felder und weidenden Herden zu erspähen vermocht.

Tief niedergeschlagen waren sie umgekehrt. Hildes Verschlossenheit über all das, was ihr hier in den fast zweieinhalb Jahren zugestoßen, machte es noch schwieriger, auch nur irgendeine Richtlinie für ein zweckmäßiges, ferneres Verhalten zu finden. Hilde hatte nicht einmal zugeben wollen, daß der Sultan damals ihre Entführung veranlaßt hatte. Pelcherzim und Tschan trafen in Dscharani wieder mit Terkellen zusammen, der den gefundenen ausgeglühten Büchsenlauf nie mehr erwähnte. Selbst Hektor und dem Chinesen gegenüber zeigte er sich von einer oft verletzenden Wortkargheit und bestimmte über sie mit einer Selbstverständlichkeit, als ob er es nicht einmal nötig hätte, ihnen den wahren Zweck der täglichen Jagdausflüge zu verraten. Nur das beklemmende Schuldbewußtsein, den Freund zu täuschen und ihm über die angeblich geflüchtete junge Araberin Lügen aufgetischt zu haben, hielt Pelcherzim davon zurück, sich gegen diese Behandlung aufzulehnen.

Die drei Reiter befanden sich hier auf diesem Plateau ungefähr in einer Höhe mit der weiter südlich in der Wüste gelegenen Oase Ain Halfa. Auch heute hatten sie des Sultans geschickte Spione mühelos abgeschüttelt. Terkellen bog jetzt nach rechts ab. Die Gegend war völlig unbewohnt, und die kahlen rötlichen Felsen warfen die Hitze der stechenden Sonnenstrahlen um diese Stunde atembeklemmend zurück. Terkellen schonte weder sich noch sein Tier noch seine Freunde. Er wollte Mossala Dschin entlarven, alle teuflische Schlauheit sollte dem Sultan nichts helfen, der Tag der Abrechnung würde kommen.

Finster vor sich hinbrütend und trotzdem die Augen überall, alle Sinne angespannt, beobachtete er jetzt den einsamen, zerlumpten Wanderer, der da vor ihm im Schatten der Felswände mit seinem Lastkamel am Leitstrick langsam gen Süden zog. Der alle Bursche mit dem zerlöcherten Burnus und der fettriefenden Tellerfrisur war ein Halbneger, ein Mann vom Stamme der südlichen Boma.

Terkellen, der noch magerer geworden war, so daß die Falten um sein kräftiges Kinn noch dicker erschienen, lächelte verstohlen. Es war ein drohendes Verziehen der Mundwinkel. Das war nun ja der sechste einsame Wandrer, dem er heute begegnete, an sich wohl nichts Auffallendes, da in Dscharani täglich ein Gemüse-, Obst- und Geflügelmarkt abgehalten wurde und da zahlreiche Eingeborene in einzelnen Gehöften auf kleinen fruchtbaren Terrassen des Dschebel hausten. Trotzdem hatte Terkellen alle Ursache, gerade den heutigen Marktbesuchern mit ihren hochbeladenen Lasttieren einiges Mißtrauen entgegenzubringen. Einem Landfremden wären diese braunschwarzen Händler vielleicht harmlos erschienen. Rolf wußte jedoch, daß diese Leute Dscharani erst zu einer Zeit erreichen konnten, wo der Markt der Tageshitze wegen längst beendet war.

Er hielt auf den graubärtigen Boma zu, der ihn mit dem landesüblichen „Sallam, Ferengi[5]“ begrüßte, wobei er den Talgkegel, an dem er gerade kaute, vorher in die flache, schmierige, runzelige Hand spie.

Der Boma stank, wie alle seine Stammesbrüder, intensiv nach ranzigem Hammelfett. Genau wie in den Eisregionen des hohen Nordens der Eskimo ohne seine Traneinreibung nicht auskommt und ohne Trangeruch nicht denkbar ist, ebenso sind gewisse tropische Gebiete durch ihre zur Haar- und Körperpflege benutzten Fette scharf von einander abgegrenzt. Im eigentlichen Arabien stößt man überall auf den nasenbeleidigenden „Duft“ ranziger Butter, an der Westseite des Roten Meeres dagegen auf den von Hammelfett, das stets einen untilgbaren Bockgeruch zur Folge hat. Die Abessinier bevorzugen Rizinusöl, Ägypten und Nubien und der Sudan bekennen sich in der Hauptsache ebenfalls zum Hammelfett, und die sogenannten Salb- oder Talgkegel der Nubier sind allmählich Gemeingut vieler äthiopischer Stämme geworden. Schon auf uralten ägyptischen Bildwerken findet man auf dem Scheitel der dargestellten Personen, zumeist Frauen, diese rötlichen Kegel angedeutet. Es handelt sich dabei also um einen Brauch, der den Jahrtausenden getrotzt hat, und um weiter nichts als rohes, ungeschmolzenes Schaffett, das im Munde durch energisches Kauen ein lockeres, schwammig-schaumiges Aussehen erlangt, und nachher selbst in der prallen Sonne nur langsam zerfließt.

Terkellen fragte den Alten, was er hier in der Einöde treibe. Er gab sich keine Mühe, etwa irgendwie eine nur harmlose Neugierde vorzutäuschen.

„Ich sammele Gras auf den Abhängen“, erwiderte der Boma gleichmütig, schob seinen Talgkegel wieder in den Mund und wollte weiter.

„Bleibe!“ befahl Terkellen herrisch. „Lasse dein Tier niederknien und öffne den Tragballen!“

Der Alte nickte mit stoischer Ruhe. „Wie du willst, Ferengi …!“

Er löste die Lederschnüre, und halbdürres Gras, wie es an den schattigen Fleckchen der Berglehnen wuchs, quoll hervor.

Inzwischen waren Pelcherzim und Tschan herbeigekommen und warteten gespannt die weitere Entwicklung der Dinge ab.

Aus Terkellens halb geschlossenen Augen flog ein forschender Blick rundum. Dann wandte er sich an den Chinesen, der stets einen Baggara-Speer mit sich herumschleppte. „Stoße mit aller Kraft in den Grasballen hinein! – Tu’s, – auf meine Verantwortung.“ Er hatte sich der deutschen Sprache bedient. Der Boma konnte daher nur aus der Armbewegung Tschans auf dessen Absichten schließen. Urplötzlich wurde er lebendig, verfärbte sich und sprang schützend vor den in Leder gehüllten Ballen.

„Herr, es ist nicht mein Sohn … Es ist eine Ferengi, eine Missi …“

„Eine Europäerin?!“ fragte Terkellen zweifelnd.

Er hatte hier einen ganz anderen Fang erhofft. Schon gestern und vorgestern waren ihm und seinen Begleitern heimtückische Kugeln aus schwer erreichbaren Schlupfwinkeln um die Ohren geschwirrt. Heute rechnete er mit einem noch unverfroreneren Attentat. Von wem diese hinterlistigen Angriffe ausgingen, wußte er. Er hatte geglaubt, glaubt, Mossala Dschin habe harmlos erscheinende Spione über das ganze Dschebel verteilt. Diese Annahme stimmte wohl auch. Nur gerade dieser Boma gehörte offenbar nicht mit dazu. Terkellen brauchte sich auch nicht länger darüber den Kopf zu zerbrechen, wer die weiße Missi, die europäische junge Dame, sei. Die obere Grasschicht des Ballens teilte sich, hob sich, – zuerst wurde ein buntes Seitentuch sichtbar, das zu einem Turban und zugleich zum Nackenschleier geschlungen war, dann erschien ein zart gebräuntes schmales Gesicht mit einem messerscharfen Näschen und dunklen, trotzigen Augen …

Tschanda von Bruck schälte sich mit einem geschickten Sprung aus ihrem Graslager hervor, schüttelte die ihrem khakifarbenen Sportanzug anhaftenden Halme von sich und schaute ihre drei Berliner Bekannten mit jenem spitzbübisch-überlegenen Lächeln, das ihr zuweilen eigen war, nacheinander an und weidete sich an deren wirklich nicht zu verhehlenden Verblüffung. Selbst Rolf Terkellen, der doch für gewöhnlich seine Züge sehr gut in der Gewalt hatte, mußte es sich hier gefallen lassen, daß Tschanda gerade ihn mit der zweifelhaften Schmeichelei beehrte. „Nun, Herr Doktor, auch einmal so etwas aus dem seelischen Gleichgewicht geraten?! Ach ja, – – Tschanda von Bruck liebt derartige Überraschungen!“

„Nun werden Sie mich natürlich fragen, wo ich herkomme, Herr Doktor“, fügte das ranke Mädel nach kurzer Pause hinzu. „Da, – wenn Sie sich mal gefälligst den alten Osmali genauer betrachten wollen: Eigentlich sollte mir ja genau so zu Mute sein wie ihm! Er hat Angst vor seinem Auftraggeber, und ich müßte diesen Mann ebenso fürchten, obwohl er, mir nichts zuleide tat, im Gegenteil. Er war’s ja, der mich diesem Holländer regelrecht entführte, nachdem wir kaum gelandet waren … Er war’s auch, der mich in Osmalis Hütte unterbrachte, er wollte jetzt, daß ich heimlich nach Dscharani geschafft würde, und er erteilte mir auch bestimmte Anweisungen, die mir im Endzweck unklar blieben. Mehr kann ich Ihnen beim besten Willen nicht erzählen … Ich weiß nichts mehr, über Nebensächliches verliere ich keine Worte …“

„Und wer war dieser Mann?“ forschte Terkellen scheinbar gleichgültig. „Nach Osmalis Angst zu schließen, muß er so etwas wie der leibhaftige Gottseibeiuns sein.“

„Ich sah ihn nur zweimal und nur nachts, Herr Doktor“, erwiderte Tschanda bereitwilligst, und ihr Gesichtchen bekam dabei einen so nachdenklichen Ausdruck, als ob sie ihr ganzes Erinnerungsvermögen zusammenraffte, um Terkellen recht erschöpfend Auskunft zu geben. „Jedenfalls ist der Mann ein älterer Beduine mit grauem, fast weißem Spitzbart, spricht nur sehr gebrochen englisch und hat seinen Kopf mit einem Schleier umhüllt. Vielleicht weiß Osmali Genaueres über ihn … Ich habe von dem Manne nur den Eindruck gewonnen, daß er unter den Eingeborenen viele geheime Anhänger besitzt und daß man ihm blindlings gehorcht.“

Terkellen schaute den alten Boma prüfend an, der noch immer heftig zitterte und sich kaum aus den Füßen halten konnte. „Osmali, kannst du mir sagen, wer dieser Araber ist?!“ fragte er möglichst freundlich, um den Halbneger zum Sprechen zu bewegen. Aber alle seine Versuche scheiterten, wie sehr bald ersichtlich wurde, an Osmalis abergläubischer Angst. Der Boma hätte sich eher die Zunge herausschneiden lassen, als auch nur ein Sterbenswörtchen zu viel zu verraten. Er verschanzte sich hinter der immer aufs neue wiederholten Beteuerung, es würde ihm sein Leben kosten, wenn er auch nur den Namen des „Herrn der Steine“ in den Mund nähme.

Terkellen, die Büchse im linken Arm, streichelte nach alter Gewohnheit nachdenklich sein faltiges, kräftiges Kinn.

„Fräulein Tschanda, wissen Sie, daß Ihre Frau Mutter und Ihre Schwester sich im Palast in Dscharani befinden?“ begann er sein weiteres Verhör.

„Der graubärtige Araber ist über alle Vorgänge in Dscharani aufs beste orientiert“, lautete Tschandas prompte Entgegnung. „In der verflossenen Nacht war er sogar in Eddas Zimmer und wollte ihr eine Botschaft übermitteln, wurde jedoch durch Gardners Diener Francois verscheucht, der das Türschloß auch von außen öffnen kann und Eddas Limonade durch einen Zusatz von Opium und Haschichextrakt zu vergiften pflegt.“

Pelcherzim nahm diese Mitteilung mit einem kräftigen Fluche hin, während Rolf Terkellen lediglich bestätigend erklärte. „Dann habe ich den „Herrn der Steine“ vergangene Nacht aus nächster Nähe im Park von Dscharani gesehen, da ich den Palast zu beobachten pflege. Also Herr Francois Lebattier mit den angeklebten Scheitelresten gehört auch zu dem großen Rauschgiftkonsortium! Armer Gardner, er hält auf ihn so große Stücke!“

Tschanda verschlang förmlich Terkellens ironische Sätze. Ihr Gesicht hatte sich vor Eifer gerötet, und sofort griff sie nun das Stichwort auf und meinte beipflichtend:

„Ja, van Zeerten ist bestimmt Rauschgifthändler! Er hat es mir gegenüber mit aller Unverfrorenheit eingestanden.“

„Und trotzdem sind Sie mit ihm hierher nach Cordofan geflogen …?!“

„Ja. Und Ihnen ist am allerbesten bekannt, weshalb ich scheinbar seinen Lockungen unterlag, Herr Doktor“, rief Tschanda plötzlich mit einer so jäh hervorbrechenden Leidenschaftlichkeit, daß ihre dunklen, starren Augen wie von innerem Feuer aufglühten. „Weshalb hier noch weiter mit halben Wahrheiten operieren?! Der Tschandu Oliver Brex ist mein Vater, und van Zeerten lieferte mir die einwandfreiesten Beweise dafür und stachelte mich auf, meines Vaters Tod zu rächen, wozu nicht viel Überredungstalent gehörte … Mein stilles Sehnen hat mich stets unbewußt hierher gezogen, in meiner Seele lebte beständig das unklare Bild dieser Berge mit ihrer durchsichtigen Luft. Van Zeerten versprach mir, mich an meines Vaters einsames Grab zu führen und …“ – jetzt zögerte sie doch, ihre ehrgeizigen Hoffnungen einzugestehen – „und mich zur Sultana von Dscharani zu machen. Deshalb folgte ich ihm …“

Terkellen betrachtete sie mit stiller Anteilnahme. „Armes Kind, ist Ihnen denn nie der Gedanke gekommen, Zeerten könnte mit dem Sultan gemeinsame Sache machen und nur Ihren Haß künstlich nähren und durch das teuflische Droß noch steigern, nur um ganz andere Absichten zu verwirklichen?!“

Das junge Mädchen, das sich bei seinen letzten Sätzen halb erhoben hatte, sprang nun vollends auf die Füße.

„Absichten, Herr Doktor?! Welche?! Sprechen Sie! Ich bin ehrlich gewesen! Seien Sie es auch!“

Terkellen nahm ihre kleine schmale Hand und entgegnete begütigend. „Kind, der Tschandu Brex, Ihr Vater, muß vorausgesehen haben, daß Mossala Dschin ihn verdrängen wollte, und da mag er, so vermute ich, rechtzeitig die Schätze des letzten Mahdi, die recht beträchtlichen Wert gehabt haben sollen, beiseite geschafft haben … Van Zeerten, behaupte ich weiter, weiß genau, daß Ihr Vater noch lebt, von Mossala Dschin gefangen gehalten wird, und beider Absicht ging eben dahin, durch Sie Ihren Vater zu zwingen, das Versteck anzugeben.“

Tschanda lachte belustigt auf. Ihre Heiterkeit war vollkommen natürlich und ungezwungen. „Aber Herr Doktor, daran glauben Sie doch selbst nicht!! Ein Schatz! Das klingt dann doch zu märchenhaft!! Gewiß, in meine Träumereien paßt ein Gewölbe mit qualmenden altertümlichen Öllampen und ganzen Bergen von Edelsteinen …“, – jählings brach sie ab, wurde sehr blaß, starrte Terkellen unsicher an und griff dann in die Außentasche ihrer wie angegossen sitzenden leichten Jacke, holte einen grünen Stein hervor und hielt ihn Terkellen hin.

„Da, – den gab er mir gestern nacht vor Osmalis Hütte, und er sagte dazu …“ – sie konnte nur flüstern und die Worte ganz abgehackt hervorstoßen … – „und sagte dazu, daß, falls das Fatum uns für ewig trennen sollte, ich diesen Stein an einen redlichen Juwelier verkaufen könnte …“

Terkellen nahm den grünen Stein mit den Fingerspitzen entgegen …

„Ein Smaragd“, erklärte er, sich mit aller Gewalt zu einem nüchtern-sachlichen Tone zwingend. „Ein Smaragd von solcher Größe, solchem Feuer und solcher Form und so eigentümlichem Schliff, daß jeder, der die Geschichte des Mahdistenreiches kennt, auch diesen Stein sofort in das blutige, streng historische Geschehen einzureihen vermag … Es ist …“ – er holte tief Atem – „es ist der halbmondförmige Smaragd vom Turban des zweiten Mahdi, und dieser Stein stammt aus der Schatzkammer des Kaisers von Abessinien …“

 

10. Kapitel.

Am Wrack des Flugzeugs van Zeerten.

Etwa zu derselben Zeit, als Tschanda und Terkellen die einsame Hütte des alten Osmali in einer schwer zugänglichen Schlucht des Ostrandes des Dschebel erreicht hatten, trafen ganz überraschend frühzeitig Hektor Pelcherzim und der Chinese auf der großen Veranda des Sultanpalastes ein, wo man bereits im Aufbruch nach der Oase Ain Halfa begriffen war.

„Wo steckt Terkellen?“ fragte Bewers zum dritten Male. „So reden Sie doch endlich, Pelcherzim! Ist irgend etwas Unvorhergesehenes geschehen?“

„Ja“, erwiderte Hektor mit immer noch spröder Kehle. „Man scheint Terkellen überfallen zu haben … Tschan und ich hatten uns von ihm getrennt. Er war hinter einem Wildschaf her, dann hörten wir Schüsse, konnten jedoch nachher keinerlei Spuren entdecken … Anscheinend ist Terkellen nach Osten zu in die Steppe geflüchtet, die Entfernung war für unsere Gläser zu weit, wir sahen nur schnell sich bewegende Punkte, also Reiter, und vor diesen einen einzelnen Punkt, das kann Terkellen gewesen sein.“

Pelcherzim brachte diese Fantasiegeschichte mit größter Glaubwürdigkeit vor. Insgeheim beobachtete er andauernd unter den wie vor Erschöpfung herabgesunkenen Lidern das Gesicht des Sultans, der wie stets in seinem Liegestuhle zwischen Kissen und Decken ruhte und noch immer den nicht völlig Wiederhergestellten spielte. Er bemerkte auch, daß in Mossala Dschins dunklen, langbewimperten Augen zuerst ein triumphierendes Leuchten erschien, dann jedoch ein Ausdruck von Unruhe und Besorgnis, als Bewers weiterfragte:

„Wo geschah das, Pelcherzim?“

„Im Nordostteil des Dschebel, irgendwo auf einem der vielen Plateaus …“

Der General war erstaunt. „Im Nordosten?! Ich denke, Ihr Jagdgebiet liegt im Süden.“

Jetzt meldete sich der Chinese in seiner stillen, unaufdringlichen Art und gab den Dingen eine neue Wendung. „Mir sei erlaubt darauf hinzuweisen, daß Miß Edda und Hauptmann Simkinson fehlen … Hat sich Miß Edda entfernt?“

Gardner, der gemacht nachlässig an einer Zigarette sog, meinte ärgerlich: „Sie hatte wieder einmal ihren Kopf für sich und ist vorausgeritten. Im übrigen geht Sie das gar nichts an, Tschan …“

Der Chinese verbeugte sich. „Entschuldigen Sie, Mr. Gardner, — es geht mich sehr viel an. Mein Herr verlangt von mir offene Augen.“ – So bescheiden auch das klang, die versteckte Drohung im letzten Satz war unverkennbar.

Pelcherzim wandte sich an den General, der plötzlich nachdenklich über den blanken Spiegel des Sees auf die Reisfelder drüben blickte.

„Und Ihr Adjutant?! Ist Hauptmann Simkinson auf der Jagd?“

Bewers nickte zerstreut. „Schon möglich … Das Dienstliche haben wir bereits erledigt … Er ist Herr seiner Zeit.“

Francois stand neben der Tür zum Audienzsaal. Pelcherzim warf ihm einen flüchtigen Blick zu, trank sein Glas leer und erklärte, Tschan und er würden sich nun den Ausflüglern anschließen. „Terkellens Fluchtrichtung verlief nach Ain Halfa zu. Ich werde im Nordwesten der Oase nach Spuren suchen.“

General Bewers drehte den Kopf ebenfalls nach Francois hin, und der nachdenkliche Zug in seinem braungebrannten, kerngesunden Gesicht ging blitzschnell in ein kurzes grimmiges Lächeln über.

„Gut also, – brechen wir sofort auf … – Hoheit, die Autos stehen ja bereit“, sagte er trotzdem wie gänzlich uninteressiert.

Der Hauptweg durch den Park, der zum Fahrdamm durch den Urwaldgürtel führte, war von riesigen Bäumen aller Art eingefaßt und lief zunächst am Seeufer entlang.

Als die vier Autos sich in Bewegung setzten, wie immer von des Sultans Leibwache eskortiert, bemerkte Pelcherzim, daß man seinem Wunsche, auch Reittiere mitzunehmen, bereitwilligst entsprochen hatte. Drei Krieger der Leibgarde führten zwölf gesattelte und zum Teil hochbeladene Dromedare am Leitseil.

Mossala Dschin, Frau Theresa und Bewers saßen in dem ersten Wagen, der es dem Sultan gestattete sich lang auszustrecken. Pelcherzim und Tschan benutzten den letzten Waagen für sich allein. Sie wollten ungestört sein, es gab so vieles zu besprechen. Kurz vor der Stelle, wo die Allee in den Damm einbog, hatte man den Park so weit abgeholzt, daß der neue steinerne Anbau des Palastes, der dem ursprünglichen weißen Bungalow erst ein imponierenden Gepräge verlieh, sofort ins Auge springen mußte. Mossala Dschin hatte dort eine genaue verkleinerte Nachbildung der berühmten Moschee Sultan Ahmed I. in Stambul erbauen lassen, deren schlanke Minaretts sogar noch die Wipfel des höchsten Baobabs des Parkes überragten. Dieser Park, in Terrassen angelegt und mit zahlreichen maurischen Pavillons, Springbrunnen und Sandstein- und Marmorfiguren geschmückt, stellte dem künstlerischen Geschmack Seiner Hoheit das beste Zeugnis aus.

Pelcherzim und Tschan hatten sich gleichzeitig im Auto halb erhoben und musterten mit ihren Ferngläsern, von demselben Gedanken getrieben, die Spitze des östlichen Minaretts, die sogar von der Wüste her zu sehen war.

Dann setzten sie sich wieder. Hektor neigte sich näher zu Tschan hin. „Bemerktest du etwas, Tschan?“ flüsterte er gespannt.

Der Chinese verzog die dünnen Lippen. „Mein Herr befahl mir, offene Augen zu haben. Das Blinklicht gab Signale. Der Sultan wird eines Tages vor sechs Gewehrmündungen stehen, falls nicht …“ – er hob die mageren Schultern.

Und nun war Edda allein vorausgeritten. Pelcherzim und Tschan hegten dieselben Befürchtungen für ihre Sicherheit. Was lag näher, als daß Mossala Dschin den gefährlichen Terkellen durch einen Anschlag auf Edda so schwer zu treffen suchte, daß Terkellen anderweitig vollauf beschäftigt würde?! Wenn der Sultan Edda verschwinden ließ – und was er alles wagte, bewies ja die Vernichtung des Baobab im Wadi Tarbu! –, würde Rolf alle anderen Pläne zurückstellen und nur nach Edda suchen.

Pelcherzim teilte seine Befürchtungen dem alten Chinesen mit, aber Tschan verzog abermals die dünnen Lippen zu einem halben Grinsen und sagte nur:

„Hauptmann Simkinson!!“

„Wie, der lächerliche eitle Strohkopf sollte Edda schützen wollen?!“ flüsterte Pelcherzim geringschätzig.

„Ein General Bewers wählt keinen Strohkopf zum Adjutanten … Simkinson ist anders, als er sich zeigt …“

„Ein mäßiger Trost!“ – hiermit endete das Gespräch. Pelcherzim wollte in Gegenwart des braunen Schofförs, der seinem Herrscher sicherlich blindlings ergeben war, nicht allzu lange diese leise Unterhaltung fortsetzen, obwohl er noch über vieles Tschans Ansicht gern gehört hätte.

Im dritten Wagen saßen Heribert Gardner und auf dem Rücksitz sein unübertrefflicher Francois. Gardner zeigte weder für die Naturschönheiten noch für die verschiedenen Eingeborenentypen und Lastfuhrwerke, denen man begegnete, das allergeringste Interesse. Dscharani langweilte ihn. Nur die ersten drei Tage hatte er hier Berlin nicht vermißt.

Die kleine Autokarawane und die Eskorte bogen am Flugplatz vorüber in die ebenfalls ganz neu angelegte Straße ein, die nach der Leprakolonie Ain Halfa führte. Linker Hand zogen sich die Vorberge des Dschebel Dscharani in vielleicht fünf Meilen Entfernung hin, rechts und geradeaus gab es nur öde, wellige Steppe mit wenigen grünen Flecken und desto mehr steinigen Regentälern. Trotzdem stieg hier und dort Rauch auf, Hütten duckten sich unter den Schatten der spärlichen Bäume, kleine Herden weideten auf den grüngelblichen Grasflächen, von halberwachsenen Burschen und zahllosen fetten, zottigen Hunden bewacht, die unter Schutzdächern von Blättern und Zweigen vor der stechenden Sonne Zuflucht gesucht hatten. Neben dem Wege standen die dünnen eisernen Masten der Telefonleitung, die die Leprasiedlung mit Dscharani verband. Holzmasten, selbst aus Teakholz, wären hier in kurzem von der großen Wanderameise zerstört worden, die Nordwestcordofan genau so häufig gefährdet, wie es Heuschreckenschwärme tun.

Pelcherzim nahm jetzt das Fernglas kaum mehr von den Augen. Der alte Osmali hatte erklärt, die Stelle, wo seine Hütte läge, sei von der Steppe aus an der Form der benachbarten Bergspitzen zu erkennen. Auch Tschan gab scharf acht, und als sie sich darüber einig waren, daß sie sich nun mit Osmalis verstecktem Gehöft ungefähr auf einer Höhe befinden müßten, wollte Hektor gerade halten lassen, als auch die vorderen Wagen von selbst stoppten.

Bewers kam auf Pelcherzim zu.

„Sehen Sie die Aasgeier drüben in den Hügeln? Der Sultan meint, dort müßten frische Kadaver liegen …“ – Seine Stimme klang etwas gepreßt. Er dachte an Terkellen und dessen Verfolger. Vorläufig hielt er Pelcherzims Geschichte über den Überfall für glaubwürdig. „Wir wollen hinüberreiten, Pelcherzim … Man kann nie wissen …! Diese scheußlichen Vögel haben immerhin ein Gutes für menschenleere Gebiete: Sie sind Warner und Mahner!“

Acht Reiter trabten durch den hier völlig kahlen, feinkörnigen Sand den flachen Hügeln zu, aus deren Abhängen stellenweise rötliches oder hellgraues Gestein hervorragte. Der General, Pelcherzim und Tschan waren weit voraus. Charly Bewers machte jetzt aus seinen Befürchtungen kein Hehl mehr.

„Pelcherzim, – – und Sie?! Sie sind ja so wortkarg?!“ – Ein scharfer prüfender Blick streifte den Deutschen.

„Sorgen um Edda!“ stieß Hektor kurz hervor.

Man bog gerade in eine steinige weite Mulde ein. Der General riß sein Dromedar zurück.

„Verdammt!!“ entfuhr es ihm.

Mit überlautem Kreischen und Krächzen flatterte ein ganzer Schwarm Aasgeier empor und kreiste wütend über die Störung in engen Spiralen über dem völlig ausgeplünderten Wrack eines großen Flugzeugs, neben dem sechs völlig kahl genagte menschliche Skelette und ein von den Aasvögeln bereits halb zerfetztes totes Dromedar lagen, das jedoch noch keinerlei Verwesungsgeruch ausströmte.

Pelcherzim und Tschan hatten einen schnellen beredten Blick gewechselt. „Die Lichtsignale!“ wisperte der Chinese. „Das Dromedar ist frisch erschossen worden …!“

Bewers hörte davon nichts. Die Aasgeier lärmten zu stark.

„Es ist die von van Zeerten gekaufte dreimotorige Maschine“, sagte Pelcherzim ganz laut. „Wer sind die Toten?!“ – Er glitt aus dem Sattel, schritt vorwärts, und Bewers und Tschan folgten ihm, während Gardner und Francois sowie die drei Dscharani-Krieger sich mehr im Hintergrund hielten.

Von dem großen Flugzeug fehlte alles, was nicht niet- und nagelfest. Die Steppenbewohner hatten es allmählich vollkommen abgewrackt und sogar die Motoren mitgeschleppt. Die Maschine bildete nur noch ein Gerippe, sogar die Tragflächen waren größtenteils verschwunden, und der ringsum tief aufgewühlte und von zahllosen Spuren bedeckte Boden bewies, daß tatsächlich irgend ein wandernder Beduinenstamm zufällig diese kostbare Beute gefunden und gründlichst abmontiert hatte, ohne sich um die menschlichen Gebeine, die noch jetzt von rotbraunen Ameisen wimmelten, viel zu kümmern. Es geschah ja oft genug, daß gerade aus der Libyschen Wüste fremde Araber über die Grenze Cordofans vorstießen und den sehr ergiebigen Bir Sotahl (Brunnen) an den Ostabhängen des Dschebel Ain aufsuchten und gleichzeitig eins der Dörfer der Bajuda-Steppe überfielen und ausplünderten. Dieses Grenzland blieb nun einmal ein böser Wetterwinkel, und selbst Sultan Mossala Dschins weitreichender Einfluß hatte hieran nichts ändern können oder wollen.

Tschan untersuchte die menschlichen Skelette am sorgfältigsten. Aus Kleinigkeiten, besonders Kleiderfetzen und Zähnen, vermochte er mit ziemlicher Sicherheit anzugeben, wer die Lebenden einst gewesen. Van Zeerten, Menelos, der Araber Gafiri, der deutsche Flugkapitän und der deutsche Bordmonteur. Nur das sechste Skelett, das durch den Bau des Beckens und seine geringe Größe und dünneren Knochen auf ein junges Weib hindeutete, bereitete ihm Schwierigkeiten. Bewers, der stumm und noch finsterer und drohender den Ausführungen des Chinesen lauschte, fragte schroff: „Kann es etwa Tschanda von Bruck sein?“

„Nein“, wisperte der treue Diener Terkellens noch leiser. „Miß Tschanda hat keine so breite Vorderzähne, Exzellenz. Dies Skelett rührt von einer Negerin her.“

Der noch so jugendlich aussehende General drehte sich halb nach Gardner um, der mit den andern gut zwanzig Meter abseits stand, und fragte dann erst mit rauher, gedämpfter Stimme:

„Weisen die Skelette Schußspuren auf, Tschan?“

„Nein, Exzellenz. Aber hier an den Rippen van Zeertens und des Flugkapitäns bemerke ich Absplitterungen. Die Leute sind durch Lanzenstiche von hinten ermordet worden, mithin ganz überraschend und hinterlistig.“

„Das dachte ich mir! – Und das frisch getötete Dromedar?“

„Schußloch hinter dem Ohr, Ausschuß vorn am Schädel, Exzellenz“, erklärte Tschan mit derselben kalten Sachlichkeit. „Eine moderne Repetierpistole, Kaliber 7,2 …“

„Also Ermordung von sechs Personen“, meinte er zwischen den halb geschlossenen Lippen hindurch in eigentümlich pfeifendem Tone. „Da wird Seiner Hoheit mustergültige Polizeitruppe Arbeit bekommen … Und die Herren werden zweifellos die Schuldigen herausfinden. Die finden alles … Sie kennen ja den Kapitän Vanderloop, den emsigen Chef der Polizei, auch ein gewesener Holländer, jetzt strammer Mohammedaner …“ – Das war so offensichtlich beißender Spott, daß Pelcherzim jetzt in vielem völlig klar sah. Bewers fügte bereits in einem Atem hinzu: „Sie werden noch nach Terkellens und seiner Verfolger Spuren suchen müssen … – Hallo, was ist denn da mit dem patenten Gardner los?!“

Heribert Gardner hatte beim Anblick der Skelette und des Dromedars mit dem aufgeschlitzten Bauche und den weit heraushängenden zerfetzten Eingeweiden in nervöser Hast drei Zigaretten hintereinander geraucht, war dann plötzlich totenbleich geworden und kauerte nun wie ein Sterbender auf einem großen Stein und fühlte sich so schachmatt, daß er jeden Augenblick ohnmächtig umzusinken fürchtete. Bewers war mit ein paar schnellen Schritten neben ihm, sah die dicken Schweißperlen auf dem fahlen Gesicht und beugte sich über ihn.

„Was fehlt Ihnen?! – Mann, raffen Sie sich auf …! – Hier, trinken Sie!“

„Es müssen … die Zigaretten sein …“, stammelte Gardner tonlos.

Sein Atem traf des Generals Nase. Bewers preßte die Augen ganz klein und blieb sekundenlang tief gebückt stehen.

„Unsinn, – – Zigaretten!“ sagte er barsch. „Trinken Sie!!“

Nachdem Gardner sich wieder etwas erholt hatte, begab sich der General, anscheinend über den Zwischenfall nicht weiter nachgrübelnd, zu Pelcherzim und Tschan zurück, die bereits ihre Tiere bestiegen hatten. Als er aber zwischen den Dromedaren stand und niemand sein Gesicht sehen konnte, sagte er mit einem Grimm und einer Wut, die dem beherrschten, reifen Manne sonst fremd waren: „Wieder das verfluchte Gift!! Wieder Opium!! Ich möchte nur wissen, wo sich die Mohnfelder befinden, aus denen es in diesen Mengen insgeheim gewonnen wird! Gardner ahnt nicht, wer und was ihn zu solch einer läppischen Figur macht! Schweigen Sie darüber, Pelcherzim! Wir sehen uns ja nachher bei den Ruinen wieder! – Allzu lange werden Sie ja kaum nach Terkellens Fährte zu suchen brauchen!“ Der klare, verständnisinnige Spott der letzten Worte forderte eine Entgegnung Pelcherzims geradezu heraus. Doch der Sportberichterstatter hielt sich auch jetzt an die Instruktionen seines Freundes, die in den ernsten Sätzen ausgeklungen waren: „Traue niemandem, Hektor! Bedenke stets, daß wir hier in Wahrheit mit einer brennenden Lunte auf einem offenen Pulverfaß sitzen. Mossala Dschin ist ein Halunke großen Ausmaßes und sein Gewerbe so schmutzig, daß wir von diesem sogenannten Sultan von Englands Gnaden alles zu erwarten haben!“

 

11. Kapitel.

„… Ich will für Rolf am Leben bleiben …!“

Edda von Bruck hatte nach der innigen Aussprache mit ihrer Mutter im sogenannten Audienzsaal des Schlosses nachher das Frühstück auf der Veranda kaum angerührt und nur mit größter Mühe sich an der allgemeinen Unterhaltung, die sich um den Ausflug nach Ain Halfa drehte, wenigstens zum Schein beteiligen können. Ihre Gedanken weilten unausgesetzt bei Rolf Terkellen, dessen Leben sie ernstlich bedroht wußte, wie ihr die erlauschten Gespräche der drei Herren offenbart hatten. Wenn Edda nun zu jenen Mädchen gehört hätte, die von Geburt an bis zur Reifestunde des Weibes niemals des Daseins kleinliche Bitternisse erfahren, dann würde sie der feigen Angst um den Geliebten als übertrieben von sich gewiesen haben.

Aber dieses Mädchen, das niemals in den letzten Jahren darüber hinweggekommen war, daß innerhalb des kleinen, bescheidenen mütterlichen Haushaltes ein dunkles Gespenst der Vergangenheit umging, besaß neben der Tatkraft auch die weitergehende Spannkraft, ein bestimmtes Wollen auch zu verwirklichen. Über ihre Gefühle Terkellen gegenüber war sie sich vollkommen klar. Sie liebte ihn. Aus dieser Liebe erwuchsen ihr Pflichten, und die augenblicklich notwendigste dieser Pflichten war, ihn zu warnen. Sie hatte auch Fatimas, ihrer gazellenäugigen Dienerin, eindringliche Mahnungen zur Vorsicht nicht vergessen. Sie spürte jetzt, daß all die Gäste des Sultans bis auf den heimtückischen, für die Gegenseite arbeitende Francois bereits in ein vorläufig noch unsichtbaren Netz verstrickt waren. Mit langem Zaudern war hier nichts getan. Zum Glück hatte sie einmal einer leisen Bemerkung Pelcherzims entnommen, daß Terkellen stets auf weiten Umwegen den Nordwestteil des Dschebel aufsuchte. Hiernach richtete sie sich, als sie unter dem Vorwand, den übrigen Teilnehmern des Ausfluges vorausreiten zu wollen, dicht hinter dem Städtchen Dscharani, das übrigens früher als Dorf und Oase und Brunnen selbst auf älteren Karten bereits als Bir el Dscharan (Brunnen der Geister) verzeichnet ist, im Schutze hoher Reisfelder und Büsche sofort nach Norden abschwenkte und sehr bald freies Gelände antraf, das ihr gestattete, dem prächtigen Tiere die Zügel freizugeben. In windschneller Gangart jagte sie weiter, machte nur auf Anhöhen halt und hielt Ausschau. So war sie noch keine anderthalb Stunden unterwegs, als sie während einer kurzen Rast auf einer Kuppe hinter sich und neben sich eine lang ausgereckte Reihe von beweglichen Punkten bemerkte. Sie riß ihr Fernglas an die Augen. Es waren Reiter auf zumeist dunklen Pferden in dunklen Burnussen mit Gesichtstüchern bis über die Nasenspitze hinweg, also offenbar Tuaregs, die selbst bis zum Dschebel Dscharani ihre Beutezüge als kühnste und nie zu bessernde Wüstenräuber ausdehnen. Sie erschrak, da die Einkreisung, die nur ihrer Person gelten konnte, fast vollendet war. Dieser öde Teil des Dschebel bot ihr, wie sie feststellen mußte, nur eine einzige Möglichkeit eines Durchbruchs nach Südosten, wo sie ein langgestrecktes Tal gewahrte. Erreichte sie dieses vor dem rechten Flügel ihrer Verfolger, dann war sie gerettet. – Das Reittier hörte kaum das aufmunternde Schnalzen ihrer Zunge, als es sich förmlich länger reckte und in einem Tempo dahinflog, daß Edda Mühe hatte, droben im Sattel das Gleichgewicht zu halten und nebenher noch den bis dahin mehr als Zierstück mitgeführten Karabiner zu laden. Ein Patronenstreifen entglitt ihr, sie kümmerte sich nicht darum, sie war froh, als der nächste Streifen glatt in der Kammer verschwand und das Schloß zuschnappte. Sie nahm keine Notiz von den beiden einsamen Eingeborenen, die mit hochbepackten Lastkamelen ihren Weg kreuzten und ihr sonderbar nachschauten. Sie schätzte die Zahl der Tuaregs auf dreißig, – was sollten ihr da die beiden alten Halbneger mit ihren Vorderladerflinten nützen?! Immer wieder blickte sie nur nach rechts und nach vorn zum Taleingang, taxierte die Entfernung und atmete auf, als lediglich zwei der im tollsten Galopp dahinsprengenden Gegner ihr vielleicht gefährlich werden konnten. Gewiß, ihre Schußfertigkeit hatte sie eigentlich erst hier in Dscharani auf dem Scheibenstand im Parke unter Anleitung Hauptmann Simkinsons so gefördert, daß sie es sich zutraute, auch aus dem Sattel einen Treffer anzubringen.

Die Minuten der Entscheidung waren da. Edda sah, daß die beiden Tuaregs ihr den Weg verlegen wollten, jedoch durch einen langen natürlichen Dornenwall zu einem weiten Bogen gezwungen wurden. Nur so erreichte sie als erste das Tal, von dem sie gehofft hatte, daß es sich bis in die Steppe hinabziehen würde.

Sie erbleichte, als sie sehr bald gewahrte, daß der Talboden anstieg, die Talwände näher und näher zusammenrückten und hinter der letzten Krümmung steile Felsen ohne jeden Paß oder auch nur schmalen Pfad zur Höhe all ihre Anstrengungen nutzlos machten. Sie war blindlings in eine Falle hineingestürmt, aus der es kein Entrinnen gab.

Edda sprang aus dem Sattel. Ihr Tier keuchte, war erschöpft, ihr blieb nur eine allerletzte Rettungsmöglichkeit: Zu Fuß dort an jener zackigen Wand emporzuklimmen! Vielleicht glückte es. Sie hängte den Karabiner über den Rücken und begann den mühsamen Anstieg. Ihre feinen Wildlederstulpenhandschuhe, ein galantes Geschenk des Generals, hatte sie schon vorher weggeworfen.

Ihre Hände bluteten sehr bald, ihr kurzer Reitrock ging in Fetzen, aber mit verbissenem Trotz kämpfte sie um ihre Freiheit, indem ihr als traurige Mahnung das Schicksal ihrer Freundin Hilde Terkellen vorschwebte, die, wie man allgemein annahm, ebenfalls von diesen wilden Nomaden und Frauenräubern entführt und nie wieder aufgetaucht war. Mit der Zähigkeit ihrer frischen Jugend und der Geschmeidigkeit ihrer zarten, trotzdem nicht verweichlichten Glieder überwand sie die ärgsten Schwierigkeiten und hatte bereits eine schmale Terrasse erklommen, als eine Kugel neben ihr am Gestein zerspritzte. Unten im Tale hielt die ganze berittene Schar der vermummten Wüstenräuber, und einige von ihnen schickten sich gerade an, ihr auf demselben steilen Wege von Zacke zu Zacke zu folgen, als Edda sich hinter einer Erhöhung des Terrassenrandes niederwarf, einen Stein ergriff und ihn über die Böschung rollte. Das Felsstück polterte, schlug andere Zacken los, ein Steinregen prasselte nieder, und ein gellender Schrei zeigte ihr an, daß zumindest einer der Felsbrocken getroffen hatte. Abermals knallten Schüsse, ein schrilles Wutgeheul ertönte, das in dem engen Tale mehrfach widerhallte, und als das blasse, vor Erregung keuchende Mädchen den Arm nochmals aus der Deckung zu heben wagte, streifte eine Kugel ihre Hand und riß über den Handrücken eine blutige flache Furche.

Edda sah sich verloren. Die Terrasse bot keinerlei Möglichkeit zur Fortsetzung der Flucht, und daß die enttäuschten Tuaregs es jetzt auf ihr Leben abgesehen hatten, wurde Edda von Sekunde zu Sekunde eindringlicher vor Augen geführt: Einige der Reiter erstiegen jetzt die gegenüberliegende Felswand, um ihr von dort, sobald sie mit ihr in einer Höhe wären, den Fangschuß zu geben.

Noch nie hatte Edda von Bruck auf einen Menschen gezielt, nie war ihr früher einmal der Gedanke gekommen, es könnte für sie die Stunde schlagen, in der sie in eine Lage geriet, wo sie ihr Leben mit der Waffe verteidigen und töten mußte, um selber dem Tode zu entgehen. Und sie wollte leben – – für Rolf! Gerade in diesen Minuten, wo ihr bisheriges Dasein, insbesondere ihre endlosen, von kleinlichen Sorgen ausgefüllten Jahre in Berlin wie ein unwirkliches Traumbild zerflatterten und nur eines aus dieser Zeit leuchtend und strahlend Bestand hatte, ihre Freundschaft mit Rolf und ihre glücklichen Stunden in seinem Heim, – gerade jetzt, wo sie sich auch an General Bewers’ Worte erinnerte, der den Heldentod ihres Vaters in den Ruinen von Ain Halfa mit beobachtet hatte und damals als einziger wie durch ein Wunder dem Gemetzel entgangen war, fand nicht nur ihre stille Liebe zu Terkellen jenen gewaltigen Auftrieb, zu dem stets aufrüttelnde äußere und seelische Vorgänge nötig sind.

Mit einem unendlich zärtlichen Lächeln um die sehnsüchtigen Lippen schob die Tochter des Professors Friedrich von Bruck nun vorsichtig den Karabinerlauf in den Sehschlitz der von ihr schnell errichteten Barrikade. Die seelischen Hemmungen, die es ihr unweiblich erschienen ließen, auf einen Menschen zu feuern, waren gewichen. Sie begriff plötzlich wie alle starken Naturen das große, alles überflutete Erlebnis des Kampfes Mann wider Mann und das Heroische des Einsatzes des eigenen Lebens. Sie war die Gehetzte, Verfolgte, sie war im Recht, ihr stand das göttliche Recht der Selbstverteidigung zur Seite. Gott mochte entscheiden, ob sie hier sterben sollte. Sie war noch nie eine Frömmlerin gewesen, aber ihr Glaube an eine gerechte Vorsehung stand mit ihrem Lebensgrundsatz im Einklang: Die Lauen speit der Himmel aus!

Und doch drückte sie nicht sofort ab, obwohl sie den einen der Kletterer drüben bereits vor Kimme und Korn hatte. Ihre Stimme gellte warnend auf … Was sie rief, wußte sie selbst kaum. Die Antwort war eine ganze Salve von unten, der Karabinerlauf flog zur Seite, und die Streifschußkugel surrte mit bösartigen Tönen in den Sonnenglast des wolkenlosen Himmels. Edda zielte von neuem. Ihr Zeigefinger krümmte sich um den Abzug, ihre Sinne loderten in nie gekannter Erregung, und abermals krachten unten die modernen Büchsen der Tuaregs, ein Stoß traf Eddas Kinn wie von der Faust eines Boxers, der Karabinerkolben war jedoch härter, Eddas Kopf flog nach hinten, ihre Hände ließen die Waffe fahren, schwarze Nacht breitete sich über ihre aufgerissenen Augen, und sie sank langsam zur Seite und blieb regungslos im Gestein liegen. Gestalten mit flatternden Mänteln erklommen die Nordwand, und der erste Tuareg schwang sich über den Terrassenrand und beäugte aus glühenden Augen die Bewußtlose, winkte seinen Stammesgenossen zu und holte Riemen und einen Lappen als Knebel hervor.

– Der alte Osmali ibn Darfa schritt neben seinem steifbeinigen Dromedar voraus, und Terkellen und Tschanda folgten in einiger Entfernung im gemächlichen Schritt. Sie hatten einander viel zu erzählen, Tschanda taute immer mehr auf, und die einstige Vertraulichkeit zwischen Rolf und ihr ward in kurzem wiederhergestellt, obwohl Tschandas Natur eine gewisse Verschlossenheit einst nie hatte ablegen können. Jetzt aber öffnete sie dem älteren Freunde ihre Seele und sprach nochmals von allem, was van Zeertens Heimtücke ersonnen, um sie für seine Pläne zu gewinnen. Dennoch erfuhr Terkellen nicht viel Neues. Vorsichtig suchte er zu enträtseln, wer der von Osmali so gefürchtete „Herr der Steine“ sei. Auch Tschanda wußte nichts Genaues. Sie blieb streng bei der schlichten Wahrheit, als sie Einzelheiten ihrer Entführung berichtete. Das dreimotorige Flugzeug van Zeertens war absichtlich nachts an bestimmter Stelle zwischen steinigen Hügeln im flachen Tale im langen Gleitflug niedergegangen. Das Mondlicht hatte die Orientierung für den ortskundigen Gafari erleichtert. Außerdem glaubte Tschanda auch zwischen den Felsen eine sehr hell brennende grüne Laterne bemerkt zu haben. Die Landung ging glatt vonstatten, Tschanda verließ die Kabine, um sich etwas Bewegung zu machen, und als sie sich kaum eine Strecke entfernt hatte, tauchte vor ihr urplötzlich der Fremde mit dem grauen Spitzbart und dem Gesichtsschleier auf.

„Tschanda von Bruck?“ fragte er.

Sie war ein wenig erschrocken. Sie bejahte schüchtern.

„Wissen Sie, welchen Schurken Sie ins Garn gegangen sind?“ meinte er mehr im Tone einer Behauptung als einer Frage in englischer Sprache.

Seine Stimme klang weich und scheuchte alle Ängste von ihr. Wieder bejahte sie.

„Folgen Sie mir“, sagte der Mann schlicht. „Sie sollen Ihres Vaters Grab sehen, Sie sollen den Sturz eines Verräters, eines vielfachen heuchlerischen Mörders, mit herbeiführen dürfen, aber Sie sollen nicht Mossala Dschin in die Hände fallen … Ich werde Sie zu einem Manne bringen, der Sie verbergen wird.“

Tschanda spürte, daß die Persönlichkeit des Fremden eine unerklärliche Macht ausstrahlte, und sie gehorchte ihm. In der Nähe standen zwei Reitdromedare, und als der Morgen graute, schlief Tschanda mit einem beglückenden Gefühl des Geborgenseins auf ihrer sauberen Lagerstatt in ihrem Schlupfwinkel sehr bald ein und verlebte dann ein paar ruhige Tage, in denen sie ohne alle Sorge auf das wartete, was der Fremde ihr verheißen hatte, bis in der verflossenen Nacht Osmali sie geweckt und sie gebeten hatte, vor die Hütte in die nachts so stark duftenden Büsche seines Gärtchens zu kommen. Der Herr der Steine erwarte sie dort. Die Unterredung war nur kurz gewesen, der Fremde erklärte ihr, er hielte es für angebracht, daß sie unerwartet im Palast von Dscharani erschiene, Osmali würde sie bis in die Nähe der Residenz bringen, wo sie dann General Bewers ins Vertrauen ziehen sollte, ohne ihn, den Fremden zu erwähnen und ohne je die nötige Vorsicht zu vergessen. „Nehmen Sie diesen Stein mit … Er wird Sie, falls die Dinge anders verlaufen, als selbst ich vorauszusehen vermag, vor Sorgen schützen …“ – Tschanda fühlte, daß der Mann nur ihr Bestes wollte, und sie betonte auch jetzt Terkellen gegenüber, daß sie dem Fremden blindlings vertraute. „Er hatte eine so gütige Art, Herr Doktor, daß mir die Tränen kamen, er streichelte meine Hand, und seine Stimme bebte, als er sich verabschiedete.“

Terkellen massierte nach alter Gewohnheit sinnend und grübelnd und alle Einzelheiten abwägend sein starkes Kinn. Er hätte Tschanda erklären können, wer der Herr der Steine war, wer es sein mußte. Der Halbmond-Smaragd vom Turban des letzten Mahdi ließ hier nur eine einzige klare Folgerung zu.

Die beiden schwiegen jetzt. Osmali bewegte sich auf Schleichpfaden vorwärts, die eine Fortsetzung des Gesprächs unmöglich machten. Man mußte einzeln gehen, zu sehr auf den Weg achten und näherte sich nun auch dem Gehöft des alten Boma, das unter dem weit vorspringenden Riesendach einer Felszunge auf einer Terrasse lag, während eine Anzahl bebauter Flächen verstreut unterhalb der Terrasse freundliche grüne Tupfen in das eintönige Landschaftsbild der nach Südosten sich öffnenden engen Schlucht hineinzauberten.

Terkellen wußte bereits, daß der betagte Halbneger hier ganz allein hauste, und sein Erstaunen war daher um so größer, als er das versteckte Gehöft in einem so sauberen und gepflegten Zustande vorfand, wie er dies als Kenner des Sudan nie bei einem solchen Einsiedler vermutet hätte. Selbst für ihn gab es hier allerlei Neues zu sehen. Der Rand der Terrasse war wohl absichtlich mit Akazien und Tamarinden und ein paar Dattelpalmen bepflanzt worden, um die dahinter liegenden, an die rückwärtige Bergwand sich anlehnenden Häuser zu verbergen, von denen das eine als Stall benutzt wurde. Die Bewässerung des Gärtchens erfolgte durch ein von erblindeten Dromedaren in Gang gehaltenes primitives, aber praktisches Schöpfwerk, ähnlich einem Göpelwerk unserer Bauerngehöfte. Die beiden blinden Dromedare schritten unablässig im Kreise umher und bförderten in fünf Eimern das kostbare Naß aus einem zwanzig Meter tiefen natürlichen Brunnen nach oben, wo es sich durch hölzerne Röhren auf die kleinen Äcker verteilte.

Die drei Steinhütten Osmalis (nach Landesart war Lehm, Kuhmist und Heu in feinstem Gemengsel als Mörtel verwendet worden) besaßen sauber gerahmte kleine Fenster mit starken Eisengittern, sehr feste Türen mit hölzernen Kunstschlössern und leichte Dächer aus Palmenblättern, die der Luft genügend Durchzug gewähren.

Der alte Boma holte unter einem Stein einen hölzernen Schlüssel von ganz eigentümlicher Form hervor, schob ihn in das Schlüsselloch der Tür seiner Hütte (Tschanda bewohnte die zweite) und öffnete mit einer gewissen Feierlichkeit – vielleicht war’s auch scheuer Stolz – die Tür. Terkellens Staunen wuchs, als er in ein Heim hineinblickte, das er bei diesem wenig sauberen und keineswegs appetitlichen Einsiedler niemals vermutet hätte. Tschanda stand mit einem rätselvollem Lächeln daneben.

„Nicht wahr, Herr Doktor, Sie sind verblüfft! Ich war es auch. Echte Teppiche, zierliche Möbel, ein weiß emaillierter eiserner Herd, Aluminiumgeschirr, – – der alte Osmali muß früher mal Bandit gewesen sein!“

Nun, dieser Bandit hatte es vorgezogen, allen unbequemen Fragen dadurch auszuweichen, daß er schleunigst zur Stalltür geeilt war und diese gleichfalls aufgeschlossen hatte. Gackernd und bellend, meckernd und blökend und miauend wälzte sich eine förmliche Tierwoge aus dem geräumigen Stalle ins Freie: Hühner, drei fette Hunde, Ziegen, Schafe, eine Katzenfamilie und als letzter ein Hyänenhund, der einen festen Beißkorb aus Eisenblech trug, also sicherlich nicht harmlos war. Das buntgemischte Viehzeug verteilte sich froh über die Terrasse, nachdem es seinen Herrn stürmisch begrüßt hatte.

Terkellen mußte lachen. Die Terrasse wimmelte jetzt von Tieren, und der hohe feste Zaun, der das Gärtchen umgab, war allerdings sehr am Platze.

Dann verschwand der Boma in einem Anbau des Stalles, und Tschanda erklärte neckend:

„Ahnen Sie, was er dort treibt, Herr Doktor? – Er badet, er … duscht …!! Er wird sofort in einem Anzug und Aufzug erscheinen, der nichts von dem Osmali übrigläßt, wie Sie ihn kennenlernten. Vorläufig will ich also hier die Hausfrau spielen. Treten Sie näher … Mein Sommerpalast dort ist übrigens noch europäischer eingerichtet …“

Rolf fand aufs neue bestätigt, daß Tschanda sich hier in ihrem Wesen sehr zu ihrem Vorteil verändert hatte. Sie gab sich weit freier und natürlicher als in Berlin. Die Heimatluft ihres Vaters schien auf sie nur günstig einzuwirken.

„Ich gratuliere, Osmali … Sie riechen jetzt geradezu nach Seife … Nur daß Sie schon wieder einen frischen Salbkegel in Ihr Haar getan haben, beeinträchtigt meine Freude ein wenig. Sagen Sie mal, wie lange wohnen Sie hier schon in dieser Einsamkeit?“

Der Boma wurde verlegen. „Es mögen achtzehn Jahre sein, Herr … Ich weiß es nicht mehr so genau.“

Terkellen hätte sein Verhör wohl noch fortgesetzt, wenn nicht der Hyänenhund des Boma, ein sehr kräftiges Tier, ein dumpfes warnendes Kläffen ausgestoßen hätte.

„Es kommt jemand den Pfad entlang“, flüsterte Osmali hastig. „Verbergen Sie sich in meiner Hütte …“

Um die letzte Biegung schwankte bereits ein Araber mit Gesichtstuch, der ein lahmes Reitdromedar hinter sich her zog. Der Mann blutete aus einem Stirnstreifschuß und taumelte mit letzter Kraft Terkellen in die ausgebreiteten Arme. Dabei verschob sich das Gesichtstuch, und die schweißglänzenden Züge Hauptmann Simkinsons wurden freigelegt.

„Retten Sie Miß Edda“, stieß der Adjutant des Generals heiser hervor. „Dort drüben, – – ein Schurkenstreich … – nur schnell, Mr. Terkellen …“

Dann sackte er völlig in sich zusammen und wurde ohnmächtig. Seine Hand hatte über die Schlucht hinweg auf die südlichen Anhöhen gedeutet.

Osmali rief leise: „Still!! Ich höre Schüsse. Da – – wieder, – – eine ganze Salve …!“

Terkellen vernahm ebenfalls das Gewehrfeuer. – Edda in Gefahr?! Wie kam Edda hierher?!

„Osmali, kann man drüben die Schluchtwand erklimmen“, fragte er überstürzt.

Er fieberte vor Angst. Er hatte Mossala Dschins Blicke nie vergessen, mit denen der Sultan Eddas nordische Schönheit heimlich und im düsteren Begehren verschlungen hatte.

Der alte Boma war schon in den Stall geschlüpft und kehrte mit zwei langen Basttauen, an deren Enden sich Eisenhaken befanden, zurück …

„Kommen Sie, Herr, folgen Sie mir … Miß Tschanda mag nach dem Hauptmann sehen …“

Nur mit Hilfe der Taue gelang es den beiden, den Weg bis zum Tale, woher die Schüsse erklangen, so abzukürzen, daß Terkellen in demselben Augenblick über der Terrasse erschien, als der Tuareg Edda den Knebel in den Mund zwängen wollte, wobei er die Zähne mit dem Messer zu öffnen suchte. Edda erwachte, sah den Tuareg über sich gebeugt, spürte die Riemen an den Handgelenken und schrie gellend auf.

Rolf Terkellen wagte den Sprung, landete dicht vor dem Frauenräuber, war im Nu wieder auf den Beinen und schlug mit dem Büchsenkolben zu, während Osmali bereits rücksichtslos in den eng zusammengedrängten Trupp unten im Tale hineinfeuerte.

Der Tuareg flog über den Rand der Terrasse den Abhang hinab, riß noch drei andere, an der Felswand klebende Stammesbrüder mit sich in die Tiefe, – ein scharfer Befehl ertönte von unten, und die Reiterschar verschwand wie ein Spuk mitsamt den Verwundeten.

Terkellen, den die Sorge um Edda zuletzt so grausam gefoltert hatte, daß er es zunächst kaum fassen konnte, die Geliebte doch noch vor einer schmachvollen Zukunft gerettet zu haben, vergaß in diesen Minuten all seine törichten Vorsätze, kniete neben der Geliebten, preßte ihren Kopf an sich und bedeckte ihr Gesicht mit fiebernden Küssen. Was scherte es ihn, daß Osmali Zeuge dieser Liebesszene wurde, was scherte es ihn, daß Edda noch immer dem anderen gehörte, dem faden Schwächling, der vielleicht nie seine unzulängliche Halbheit ablegen würde! – Er hatte Eddas Fesseln zerschnitten, er spürte den starken Druck ihrer Arme, spürte die ganze berauschende Süße ihrer Lippen und ihres sehnsüchtigen Anschmiegens an seine Brust. Die Welt versank für ihn, nur Edda und er lebten hier in einem Zauberparadiese längst erhofften Sichfindens, und als das Mädchen schließlich halb beschämt und mit verschleierten Augen sich losmachte, ihren Verlobungsring vom Finger zog und von sich schleuderte, da nahm Terkellen ihren Kopf nochmals zwischen seine starken Hände, schaute Edda lange an und flüsterte nur:

„Ich großer, großer Tor! Das hätten wir doch in Berlin weit bequemer haben können, mein Liebling!“

„Nein!“ rief Edda plötzlich sehr ernst werdend. „Nein, Rolf …! Vielleicht brauchten auch wir erst die geheimnisvolle Macht des Tschandu, um diese Schranken in uns niederzureißen!“

Terkellen schwieg und überlegte sich ihre Worte. „Wie meinst du das, Edda? Wie kommst du auf den Tschandu?!“

Sie schmiegte sich wieder fester an ihn und berichtete von ihrer Aussprache mit ihrer Mutter im Audienzsaal des Palastes.

„… Mama hat mir ein vollkommen anderes Bild von Oliver Brex gegeben, das zweifellos das richtige ist. Mag der Tschandu als Fanatiker und Hasser Englands gefehlt haben – wir wissen ja nicht, welcher Quelle dieser Haß entsprang –, als Mensch muß er eine überragende Persönlichkeit gewesen sein, deren Einfluß noch weiter fortwirkt, wie ich dies am deutlichsten an Mamas Wesen festgestellt habe. Ich bin ja so glücklich, Rolf, daß zwischen meiner Mutter und mir nun auch eine enge Seelengemeinschaft entstanden ist, und daß ich seit heute in Wahrheit eine Mutter gefunden habe!“ schloß sie tief bewegt ihre von wärmster Innigkeit getragenen Sätze.

Terkellens Finger streichelten ganz sanft ihre Wangen. Ein paar Tränen hatten sich aus den ernsten, graublauen Augen hervorgewagt. Er tupfte sie behutsam und zart mit dem Taschentuche weg und stellte Edda dann mit kraftvollen Armen auf die Füße. Sein Gesicht strahlte zwar noch im Widerschein der seligen Minuten, aber die scharfen Faltenwülste um Mund und Kinn bewiesen, daß dieser Mann niemals über einem Liebesrausch die zwingenden Gebote der Gegenwart vergessen würde. Bisher war kein Wort über Tschanda gefallen. Rolf liebte keine langatmigen Erklärungen.

„Wir haben Tschanda gefunden, und auch Hauptmann Simkinson weilt in Osmalis Hütte. Brechen wir auf, Edda. Ich fühle es, die Dinge treiben einer Entscheidung entgegen, bei deren Entwicklung ich nicht abseits stehen darf.“ Sein Blick schweifte sinnend in die Ferne, als suchte er dort irgendwie eine Erklärung zu finden für den ausgeglühten, verzierten Büchsenlauf, den er aus der Glutasche des Baobab geborgen hatte. Niemals mehr seit jener Stunde, da er ein erstes Erinnerungszeichen an die verschwundene Schwester auf diese Weise entdeckt hatte, war Hilde aus seinen Gedankenkreisen durch andere Vorfälle verdrängt worden. Er sprach nie darüber, genau wie er es in Berlin nicht gewünscht hatte, daß die Verschollene erwähnt würde. Aber er war ein sehr scharfer Beobachter, und wenn Pelcherzim und Tschan sich der Hoffnung hingaben, ihr bedrücktes Wesen wäre Terkellen verborgen geblieben, täuschten sie sich gründlich.

 

12. Kapitel.

Am Grabe Friedrichs von Bruck.

Der hohe Stacheldrahtzaun, der die Leprakolonie Ain Halfa umgrenzte und um den unausgesetzt die Wachen des Sultans von Dscharani patrouillierten, verlief im Norden quer durch die alte Ruinenstätte und ließ so die ehemalige hochgelegene Römerburg, das Kastell, und die wichtigsten und am besten erhaltenen Bauten sowie die verschütteten Zugänge zu den einstigen Bergwerken für den Besuch von Touristen und Gelehrten wie ehedem völlig frei. Zwischen den Trümmermassen standen in Gruppen Dattelpalmen, Feigenbäume, vereinzelte Baobabs und hochstämmige Mimosen, während Dornengewächse, Salzstauden und Gräser besonders an den Ostseiten der Steinhügel und Baulichkeiten dichteste Behänge von bunter Blütenpracht geschaffen hatten.

Das Kastell, in dem einst die römischen Legionäre gewohnt und die arbeitenden Sklaven und Kriegsgefangenen bewacht hatten, entsprach in der Gesamtanlage durchaus dem römischen Fort am Mons Claudianus. Ein Wachtturm und die Wohnung des Kommandanten waren am besten erhalten, und gerade hier hatte man unter dichten Staubschichten und Hängegewächsen Wandmosaikgemälde gefunden, die ganz zweifelsfrei altrömischen Ursprungs waren.

Friedrich von Brucks Grab befand sich mitten in dem sauber ausgeräumten Hofe des Kastells und bestand aus einer schwärzlichen Graniteinfassung und aus einem großen Naturblock von silbern schimmerndem Gneis. Eine schlichte Inschrift in deutscher und englischer Sprache gemahnte an den Heldentod des ernsten Gelehrten und seiner Begleiter.

Um die sechste Nachmittagsstunde, als die Sonne soeben hinter regenverheißendem Gewölk verschwunden war, belebte sich der Hof des Kastells mit Mossala Dschins Gästen. Der Sultan war in einem Feldstuhl von seiner Leibwache über die verfallene steile Treppe nach oben getragen worden und hielt sich mit den übrigen im Hintergrunde, während Theresa, die im Arm einen Buschen blühender Zweige hielt, zunächst allein dem Grabe zuschritt, dort eine Weile gesenkten Kopfes verharrte und dann das Grab bedächtig schmückte.

Diese Frau, die bisher nie völlig von den kleinen Eitelkeiten und Schwächen ihres Charakters sich hatte befreien können, heuchelte nicht, als die Erinnerungen an jene grauenvolle Nacht, wo der Angriff auf die Expedition erfolgte, jetzt ihre Augen mit Tränen füllten. Sie ließ heute dem Gatten, der als Mann zu sehr in seinen wissenschaftlichen Forschungen aufgegangen war, endlich volle Gerechtigkeit widerfahren. Ihre Naturen waren zu verschieden gewesen, als daß ein Ausgleich durch das enge Band der Ehe hätte stattfinden können. Theresas stummes Gebet kam aus ehrlichem Herzen. Gewiß, als Weib hatte sie immer nur den einen Mann geliebt, der ebenfalls nicht mehr unter den Lebenden zu weilen schien, – geliebt hatte sie nur Oliver Brex, den Tschandu, das wußte sie heute. Als sie nun die blütenschweren Zweige auf der Grabplatte ordnete, schweiften ihre Gedanken in die jüngste Vergangenheit zurück. Das Bild der mondhellen Tennisplätze im Park des Gouverneurpalastes stieg vor ihr auf, sie saß im Sessel, und sie wollte durch das Tschandu den Tschandu herbeirufen, und – – er war gekommen. – Sie erschauerte … Lähmendes Entsetzen über ihr freventliches Beginnen hatte sie gepackt. Sie hatte eine Geisterbeschwörung gewagt, und Schein und Wirklichkeit waren zu schwer zu trennenden Vorgängen in ihrem opiumberauschten Hirn verschmolzen.

Langsam wandte sie sich um und schritt wieder der Gruppe ihrer schweigenden Begleiter zu. General Bewers und Pelcherzim hatten sich abseits aus ein Mauerstück gesetzt, Tschan stand in der Nähe, weiter ab sah man den Sultan, umgeben von zehn seiner Leute, und am Torbogen des Hofeingangs lehnte Heribert Gardner, während Francois neben ihm nachdenklich und etwas bedrückt an seiner Unterlippe kaute.

Bewers hatte soeben Pelcherzim zugeraunt: „Der Gegenbeweis war nicht zu erbringen. Mossala Dschin behauptete damals, auf ausdrücklichen Befehl seines Herrn gehandelt zu haben, der Tschandu selbst war bereits tot, und im Grunde mußten wir noch froh sein, daß Mossala Dschin nicht ebenfalls in jenen kritischen Tagen einen Aufruhr anzettelte. Als Militär und Diplomat muß man oft beide Augen zukneifen … Nachher kann man sie ja desto weiter öffnen.“

Er erhob sich und ging Theresa entgegen. Er hatte noch immer eine kleine Schwäche für diese Frau, die so erstaunlich jung geblieben.

Theresa bedankte sich bei ihm für die sorgfältige Pflege des Grabes ihres Gatten. Bewers lehnte jeden Dank höflichst ab. „Gnädige Frau, die Oase Ain Halfa gehört noch mit zu des Sultans von der Kolonialverwaltung absichtlich erweitertem Gebiet. Mossala Dschin ist eben ein sehr pietätvoller Mann …“

Frau von Bruck spürte die feine, bissige Ironie. Ihre Augen schweiften zur Seite.

„Sagen Sie mir jetzt ganz offen, was Sie von der furchtbaren Entdeckung halten“, bat sie eindringlichst. „Wer ermordete die Insassen des Flugzeugs van Zeertens?“

„Beduinen!“ erwiderte der General achselzuckend. „In diesem Wetterwinkel Cordofans geben sich nicht nur die vierfüßigen Raubtiere, sondern auch die zweibeinigen gern ein Stelldichein.“

Theresa schaute ihn voll an. „Das glauben Sie ja selbst nicht, Bewers! Wozu dieses Versteckspiel unter alten Freunden?!“ Sie sprach noch leiser. „Ich will nichts mehr verheimlichen … Tschanda ist das Kind Oliver Brex’ … Sie werden das längst geahnt haben.“

„Ja …, das habe ich geahnt …“

„Brex ist … tot … vielleicht“, fuhr Theresa fort. „Brex hat sein Kind nicht nach Cordofan bringen lassen … Ich weiß es!“

Ihr Blick, der den des Generals festhielt, bekam einen eigentümlich weltentrückten Ausdruck.

„Woher wissen Sie das?!“ fragte der General ohne besonderes Interesse.

„Mein Gefühl sagte es mir.“

Charly Bewers’ gebräuntes Gesicht wurde hart in jeder Linie. „Gefühle trügen … Ich habe meine Spione, Theresa. Wer war der Mann, der vor Ihnen im Mondlicht an den Tennisplätzen stand, als Sie … Tschandu geraucht hatten?! Er sprach zu Ihnen, und Sie schienen einer Ohnmacht nahe. Was sprach er? Mein König hat mich in Chartum als Gouverneur eingesetzt, damit ich dieses Land von der Pest eines Rauschgifthandels befreie, den wir schon aus Gründen der eigenen Sicherheit nicht dulden können. – Wer war der Mann, was sprach er?“

Bewers wünschte nur eine Bestätigung seiner Vermutung zu erhalten, nichts mehr.

Theresas weltenferner Blick glitt zur Seite, umfing die Ruinen des Kastells und streifte das fast prunkvolle Grabmal ihres Gatten. Der schlanke, sehnige General Bewers, dessen Schläfen silbergrau unter dem Tropenhelm schimmerten, hatte den Oberkörper etwas vorgebeugt und ließ kein Auge von den immer noch so reizvollen Zügen der etwas verängstigten Frau, die ihr Geheimnis bisher so streng gehütet hatte. Theresa von Bruck kämpfte mit sich. Aber sie drängte schließlich doch alle Bedenken zurück.

„Es war Brex … oder sein Geist“, flüsterte sie scheu. „Er sagte nur, daß er mich nie vergessen habe und sich unendlich freue, mich wiederzusehen. Er fügte noch etwas hinzu, aber mir drohten die Sinne zu schwinden, ich schloß die Augen, und nachher war die Erscheinung verschwunden. Doch das Glücksgefühl, das mich erfüllte, und eine seltsame Klarheit des Geistes gaben diesem Erlebnis eine Bedeutung, die weit über die einer Vision hinausging.“

Bewers verbeugte sich leicht. „Ich danke Ihnen, Theresa …“ Er sprach überaus herzlich. „Wir wollen uns jedoch nicht länger absondern. Da, – Seine Hoheit ehrt gleichfalls Ihren toten Gatten …“

Sultan Mossala Dschin, der auch heute bis auf das Kopftuch europäisch gekleidet war, hatte seinen Tragestuhl zum Grabe tragen lassen, und die übrigen Herren hatten sich ihm angeschlossen. Er nahm einem der Offiziere seiner Leibwache die bereitgehaltenen Palmwedel und Blütenzweige ab und wollte sie gerade neben die Grabplatte legen, als von der Höhe des Wachtturmes einer der dort horstenden Aasgeier mit schrillem Krächzen herabflatterte und dann schwer und offenbar ohne Kraft auf das Gestein des Hofes aufschlug, wo er nach einigen matten Flügelschlägen verendete.

Der Sultan stutzte, seine dunklen Augen weiteten sich unnatürlich, und sein Gesicht verlor alle Farbe. Das war nun das dritte Mal, daß sich etwas Ähnliches ereignete, und da er befürchtete, Bewers könnte den toten Aasgeier näher untersuchen, rief er seinen Kriegern schnell gefaßt zu: „Entfernt den Vogel! Er entheiligt diese Stätte!“

Charly Bewers hatte bereits den kurzen gefiederten Pfeil bemerkt, der in der Brust des Aasgeiers steckte und an dessen herausragendem Ende ein Lederbeutelchen hing.

„Einen Augenblick, Hoheit!“ – Er wies mit energischer Handbewegung die Leibgarde zurück, die in auffälliger Hast den Kadaver umringt hatte.

Er bückte sich, schnitt das Lederbeutelchen ab, öffnete es und blickte hinein, schob es dann wortlos in die Tasche und wandte sich Mossala Dschin zu, der ihn aus halb geschlossenen Augen beobachtete.

„Seltsam, das Säckchen enthält Tschandu, in Stangenform gepreßt. Es scheint fast, als ob die Rauschgifthändler, hinter denen auch Sie so emsig her sind, Aasgeier zum Transport kleinerer Mengen Opium benutzen.“ Er lächelte dabei wie belustigt, und all die Gäste des Sultans, die ihn neugierig umdrängten, faßten seine Worte ebenfalls nur als Scherz auf …

Mossala Dschin blieb ernst. „Exzellenz, unterschätzen Sie diesen eigentümlichen Vorfall nicht. Diese Leute, die ihr verderbliches Treiben so schlau in völliges Dunkel zu hüllen wissen, wollen sich über uns, ihre eifrigen Gegner, doch offenbar nur lustig machen. Der Wachtturm muß sofort durchsucht werden. Irgend jemand hatte den Aasgeier schon vorher gefangen und ihm jetzt erst den Pfeil in die Brust gestoßen.“

„Ganz meine Ansicht“, nickte Bewers gleichgültig. „Ihre Leute werden nur nichts finden, fürchte ich. Inzwischen wollen wir es uns im Zeltlager gemütlich machen, die Zelte dürften bereits aufgestellt sein. Kommen Sie, gnädige Frau, die Fahrt hat Sie erschöpft …“ Und galant wie immer bot er Theresa den Arm und schritt mit ihr die verfallene Treppe hinab, machte nun auf einer der Zwischenbastionen, die einen teilweisen Überblick über die Leprakolonie gewährte, eine Weile halt und erklärte Theresa nochmals die Notwendigkeit, die vom Aussatz Befallenen aufs strengste abzusondern.

„… Der Sultan hatte die Kolonie einem deutschen Arzte namens Ferdinand Mechler unterstellt, der leider vor kurzem einem Unfall zum Opfer fiel, wie Sie ja schon gelegentlich in Dscharani gehört haben. Jetzt leitet ein arabischer Arzt aus Kairo diese Siedlung, und Mossala Dschin ist mit ihm außerordentlich zufrieden, was doch zweifellos eine Empfehlung für den neuen Doktor bedeutet.“

Theresa schaute mit Hilfe eines Fernglases über den hohen Stacheldrahtzaun hinweg, konnte jedoch nur einzelne Hütten, wenige Menschen in den Feldern und lediglich das Dach des großen Verwaltungsgebäudes und dessen Turm deutlich erkennen. Bäume und hohes Buschwerk hinderten einen freien Einblick in die Siedlung, die von keinem Gesunden der großen Ansteckungsgefahr wegen betreten werden durfte.

Bewers half Theresa auch die letzten Stufen hinab und wandte sich nach links, wo zwischen den verfallenen Unterkunftshäusern der römischen Sklaven im Schatten der Palmen und der Baobabs eine kleine Zeltstadt entstanden war. In der Nähe hielten die Automobile, die Dromedare grasten noch weiter hinten, Dscharanikrieger eilten hin und her, und die ersten Lagerfeuer flackerten auf und sandten ihre Qualmsäulen zum dunkel umwölkten Himmel empor. Es herrschte jetzt eine drückende, mit elektrischer Spannung überladene Hitze, kein Lüftchen regte sich, und der Rauch der Lagerfeuer, der nicht überall freien Abzug fand, sammelte sich in den stillen Baumkronen und empörte die dort hausenden Affen und Vögel, deren Kreischen und Krächzen Theresas Nerven geradezu peinigten.

Bisher war man über das Ausbleiben Eddas, die doch längst hier hätte angelangt sein müssen, selbst wenn sie einen Umweg gewählt haben würde, nicht weiter in Sorge gewesen. Aber Bewers’ beruhigende Versicherung, Edda könnte wirklich nichts zugestoßen sein, machten jetzt keinerlei Eindruck mehr auf Frau von Bruck.

„Bewers“, fagte sie sehr bestimmt, während sie vor dem großen Hauptzelt stehen blieben, das als gemeinsamer Aufenthaltsraum dienen sollte, „fürchten Sie denn so gar nicht für Eddas Sicherheit?! Bedenken Sie, was Pelcherzim über Terkellens Verfolgung durch Tuaregs berichtet hat. Und Pelcherzim und Tschan haben doch keinerlei Spuren von Terkellen gefunden. Täuschen Sie mich bitte nicht, Sie alter treuer Freund von einst, – in mir ist etwas erwacht, das längst weit ausgeprägter hätte vorhanden gewesen sein müssen: Das Muttergefühl!“

Der General empfand für diese Frau, an der die Jahre so spurlos vorübergegangen waren, in diesem Augenblick, wo der Ton ihrer weichen Stimme die sorgende Furcht des Mutterherzens so klar verriet, weit mehr als nur eine durch die Vergangenheit begründete Freundschaft. Er war Junggeselle geblieben, weil er, selbst eine Volknatur, auch in der Ehe und Liebe eine restlose Hingabe verlangte. Ihm war kein Mädchen, keine Frau begegnet, die ihn wie einst, da er noch Kommandeur des Dromedarreiterkorps gewesen, so entflammt hätte wie Theresa. Das war ihm erst später und allmählich zum Bewußtsein gekommen. Gewiß, auch die Theresa von damals hatte ihn enttäuscht. Jetzt lernte er sie von einer anderen Seite kennen. Fast andächtig betrachtete er ihr feines Gesicht, dem das Schicksal nun erst die Weihe innerer Reife und Ausgeglichenheit verliehen hatte. Heiß flutete es ihm zum Herzen, als er den zärtlich-vertraulich und doch so bang forschenden Ausdruck ihrer Augen gewahrte. Aber er wußte, diese Zärtlichkeit, dieser seltene Glanz der verträumten Augen galten nicht ihm. Mit einer schroffen Kopfbewegung wies er diese Anwandlung von zwecklosem Begehren zurück.

„Simkinson ist Miß Edda heimlich auf meinen Befehl gefolgt“, erwiderte er leise. „Und Simkinson ist ein gefährlicher Blender, Theresa. Er spielt den blasierten, afrikamüden Londoner Gardeoffizier auf meinen Wunsch. Außerdem dürfen Sie überzeugt sein, daß Pelcherzims Schauermär über Terkellen nur gut erfunden ist. Dieser Rolf Terkellen wird einen gewissen Herrn bestimmt entlarven, Terkellen ist ein Mann aus einem Guß. – Dies alles bleibt unter uns, liebe Freundin … Schauen wir uns die bereits gedeckte Tafel an …“ Er deutete in das geräumige, moderne Leinenzelt, wo auf Klapptischen die Diener und Köche Seiner Hoheit einen einladenden Imbiß auf blütenweißen Damasttüchern geschmackvoll aufgebaut hatten. Selbst gefüllte Blumenvasen fehlten nicht.

Während Mossala Dschin und seine Gäste noch bei der Mahlzeit saßen, ging ein kurzer Platzregen nieder. Irgendwo im Norden im Dschebel Ain entlud sich ein Gewitter, nachher herrschte angenehme Kühle, der Himmel blieb jedoch bedeckt, und der Ostwind frischte immer kräftiger auf. Die mit einem besonderen Proviant- und Küchenauto erschienenen Diener, deren stark operettenhafte Livreen eine kleine Geschmacksverirrung Seiner Hoheit darstellten, reichten gerade die wunderbarsten Früchte herum, als sich draußen unter den Dscharanikriegern eine gewisse Aufregung bemerkbar machte. Sie war begründet. Urplötzlich tauchte vor dem weit geöffneten Zelteingang im düsteren Glanz der durch Gewölk halb verdunkelten Abendsonne eine einzelne Dromedarreiterin auf, ließ ihr Tier gewandt niederknien und glitt aus dem Sattel. Sie trug einen braunen Burnus, der sie vollkommen einhüllte, dazu Kapuze und Gesichtsschleier. Nur die gelben feinen Reitstiefel mit den weichen Schnallgamaschen erinnerten an eine Europäerin, und gerade dieses zierliche Schuhwerk und die tadellos geformten Waden hätten es überflüssig gemacht, daß Edda von Bruck den Schleier mit einer gewissen herausfordernden Langsamkeit lüftete.

Frau Theresa flog ihr entgegen, wollte sie in ihre Arme ziehen, wich jedoch wieder entsetzt zurück, da ihrer ältesten Tochter Gesicht vielfache Kratzer von Dornen und außerdem am Kinn eine blaugrün verfärbte Anschwellung zeigten. Auch die Herren waren aufgesprungen, nur Mossala Dschin konnte als immer noch nicht völlig Genesener seinen Klappstuhl nicht verlassen und hatte im Augenblick auch nicht die geringste Sehnsucht danach, gerade Edda so ganz unvorbereitet unter die Augen zu treten. Seine fahlen Züge und das Vibrieren seiner durchscheinend dünnen Nasenflügel verrieten den kaum zu unterdrückenden Aufruhr seines Inneren, und er war froh, daß sich niemand zunächst um ihn bekümmerte. Mit finster gerunzelten Augenbrauen starrte er auf die erregte Gruppe von Menschen vor dem Zelte, und das Bewußtsein, heute die zweite böse Schlappe erlitten zu haben, da seine Krieger in dem altrömischen Wachtturm keinerlei Spuren von der Anwesenheit jenes Fremden entdeckt hatten, der in wohlüberlegter Absicht den Aasgeier in den Hof des Kastells hinabgeschleudert hatte, – dieses Bewußtsein, daß sein heimtückischer, nie zu fassender Gegner gleichzeitig an diesen gefährlichen deutschen Gästen wertvolle Verbündete gefunden haben könnte, bestärkte ihn nur in dem Entschluß, durch einen einzigen Gewaltstreich sich der immer bedrohlicher werdenden Umklammerung durch seine heimlichen Feinde endgültig zu entziehen.

Inzwischen hatte Edda scherzend und etwas übertrieben übermütig ihre Mutter und die Herren ringsum beruhigt.

„… Ein Sturz aus dem Sattel, – das war alles“, meinte sie vollkommen harmlos und glaubwürdig. „Ich war eben leichtsinnig. Ich wollte Ain Halfa durch die Berge erreichen, verirrte mich, sah von ferne einen Reitertrupp, der mir nicht ganz geheuer erschien, und entfloh allzu überstürzt, da ich die Leute für Tuaregs hielt … Ein Beduine, dem ich nachher begegnete, verkaufte mir die bessere Garnitur seines Burnus, und – – da bin ich! Wirklich, Mama, die Beule am Kinn hat gar nichts zu bedeuten, am übelsten ist es meinem Reitanzug ergangen, ich sehe nicht gerade salonfähig aus …“

Frau Theresa, die ehrlich beglückt war, die Vermißte nun wohlbehalten in die Arme schließen zu können, küßte sie herzlich und führte Edda dann ins Zelt und drückte sie in einen der Stühle. Pelcherzim war sofort mit einer Eislimonade zur Stelle, Bewers füllte ein Weinglas, und Mossala Dschin brachte ein paar höfliche Redensarten des Bedauerns mit gut geheuchelter Teilnahme an, fragte jedoch im selben Atem, ob es sich wirklich um Tuaregs gehandelt haben könnte.

Edda trank, betupfte sich die Lippen, schob die Kapuze des Burnus mehr nach hinten, so daß ihr zerzaustes Blondhaar in üppigen Wellen sichtbar wurde, und entgegnete achselzuckend, sie habe noch nie echte Tuaregs gesehen, allerdings hätten die Reiter sämtlich Pferde besessen und Gesichtstücher getragen.

Bewers beobachtete Edda nicht als einziger ganz heimlich, jedoch um so schärfer. Niemandem, der mit Edda bisher in Dscharani einige Tage zusammen verlebt hatte, konnte es entgehen, daß ihre Augen heute hier einen tiefen, schwer zu deutenden Glanz zeigten und daß ihre ganze Schilderung ihres Unfalls und kleinen Abenteuers von einer heiteren, fast glückseligen Wärme durchstrahlt war, als ob ihr Erlebnis ihr eine den Umständen nach unverständliche Freude bereitet hätte. Als Bewers dann wissen wollte, ob sie irgendwo frische Dromedarspuren entdeckt habe oder vielleicht sonstwie über Terkellens Verbleib etwas angeben könnte, erklärte sie leichthin, Doktor Terkellen sei alter Sudankenner und würde auch mit Tuaregs fertig werden … „Weshalb sondert er sich derart von uns ab?!“ fügte sie mit gut gespielter Gleichgültigkeit hinzu. „Ihre Ritte mit ihm in die Berge, Herr Pelcherzim, mußten ja schließlich einmal einen Zwischenfall heraufbeschwören“, warf sie dem Sportberichterstatter scheinbar sehr offenherzig vor und wiederholte nochmals, Rolf Terkellen sei ja schließlich hier kein Neuling wie etwa Heribert Gardner.

Gardner nahm diesen Nadelstich mit einer ernsten Verbeugung hin. „Vielleicht habe ich sehr viel zugelernt, Edda … Wir wollen abwarten.“

„Da bin ich aber wirklich neugierig“, sagte Edda leicht ironisch. „Übrigens habe ich deinen Verlobungsring geopfert. Ich hoffte, die Tuaregs dadurch aufhalten zu können, daß ich den Ring irgendwo ins Geröll warf. Er wird kaum wiederzufinden sein. Du bist mir doch nicht weiter gram deswegen?!“

„Nein.“ Gardner schaute sie fest an. „Ich wünsche dir, daß du anstelle meines Ringes einmal einen besseren und für dich passenderen erhältst. Möglich, daß ich auch diese Selbstverleugnung erst hier im Sudan mir aneignen konnte.“

Edda verstand ihn. Sie errötete, streckte ihm freimütig die Hand hin und meinte dankbar und sogar etwas gerührt: „Das war ein hübsches Wort von dir … Bleiben wir Freunde, Heribert.“

General Bewers lächelte unmerklich. Er war nicht blind. Dieses famose Mädel liebte Terkellen. Und Gardner hatte sich soeben sehr anständig und vornehm benommen und Edda freigegeben. Die Bemerkung von dem für Edda „passenderen“ Ring war in ihrer wirklichen Bedeutung nicht schwer zu ergründen.

 

13. Kapitel.

Der Gefangene in Ketten.

Der Sultan rief Bewers zu sich. „Exzellenz, Miß von Brucks Abenteuer erfordert gewisse Vorsichtsmaßregeln. Wir wollen die Damen nicht weiter beunruhigen. Begleiten Sie mich bitte zum Tor der Leprasiedlung. Ich werde mich dorthintragen lassen.“ Er sprach sehr leise, und der General entgegnete ebenso gedämpft. „Sie wollen Verstärkungen herbeordern, – ich kann Ihnen nur beipflichten, auch ich fürchte, wir gehen ernsten Stunden entgegen.“

Der Haupteingang zu der Leprakolonie Ain Halfa bestand aus zwei Stacheldrahttoren, die, mit einem Zwischenraum von acht Metern errichtet, einem Käfig glichen. Am linken Eisenpfosten des äußeren Tores waren eine elektrische Glocke und in einem regendichten Kasten ein Telefon angebracht. Um eine Flucht der Kranken noch mehr zu erschweren, hatte man hinter dem hohen Drahtzaun Dornen und Mimosen angepflanzt, die infolge guter Bewässerung bereits einen stellenweise schulterhohen Innenwall bildeten.

Der Sultan läutete, öffnete dann den Zinkblechkasten und hob den Hörer ab. Bewers stand neben ihm und schaute nachdenklich durch das Drahtgitter auf den Turm des fernen Verwaltungsgebäudes, wo nun Doktor Ibrahim Mostar als Direktor die etwa achthundert Kranken – Männer, Weiber und Kinder aller Altersstufen und Farben – selbstlos betreute.

„Sind Sie es, Doktor?“ fragte der Herrscher von Dscharani, als eine sonore Stimme an sein Ohr drang. – Es war Doktor Mostar.

„Telefonieren Sie sofort nach Dscharani“, befahl der Sultan kurz. „Es sollen schnellstens dreißig Mann Verstärkung hierher geschickt werden, schnellstens! Vierzig Leute sollen ferner die Plateaus im Nordwesten des Dschebel absuchen. Offenbar haben Tuaregs sich wieder einmal in unser Gebiet gewagt. Kapitän Vanderloop soll persönlich den Befehl über die vierzig Mann übernehmen und besonders nach Mr. Terkellen Ausschau halten, dem vielleicht etwas zugestoßen ist. Vanderloop soll mit allergrößter Energie vorgehen. Diese Banditen beginnen mir lästig zu werden.“

Dann wandte er sich, den Hörer noch in der Hand, an den General, der scheinbar gemütsruhig an seiner Verdauungszigarre sog. „Noch Ihrerseits Befehle, Exzellenz?“

Bewers verneinte zerstreut. Er besaß für seine Jahre noch immer tadellos scharfe Augen, und er glaubte sich kaum getäuscht zu haben, als drüben am Fuße eines Gestrüpps einer Dattelpalme eine ihm wohlvertraute Gaunervisage mit großer Hakennase einen Moment auftauchte und blitzschnell wieder verschwand. Herr Themistokles Menelos, Vater eines vielverheißenden Sprößlings, dessen Gebeine nun dort gen Norden in der Steppe von Ameisen sauber benagt wurden, schien hier bei Doktor Ibrahim einen sicheren, wenn auch gefährlichen Schlupfwinkel gefunden zu haben. Freilich konnte man sich bei steter gründlicher Desinfektion gegen die Ansteckungsgefahr, die bei Lepra sehr groß ist, zweckdienlich schützen. Trotzdem war Bewers erstaunt über diese vielsagende Beobachtung. Doktor Ibrahim hatte aus Kairo die allerbesten Empfehlungen der Regierung mitgebracht. Sollte der noch junge, aber auf dem Spezialgebiet der Lepra besonders ausgebildete Arzt etwa mit zu den Opium- und Rauschgifthändlern gehören?! Bisher hatte der General gegen diesen weltmännisch geschulten ägyptischen Arzt arabischer Abstammung keinerlei Mißtrauen gehegt. Das war nun anders geworden. Selbst wenn er, Bewers, was immerhin möglich war, durch eine Ähnlichkeit des alten Menelos mit einem der Kranken sich hatte täuschen lassen, was er übrigens für ausgeschlossen hielt, lag noch immer ein anderer sehr triftiger Anlaß vor, Ibrahim auf die schwarze Liste zu setzen, denn Bewers hatte ja sehr genau hingehorcht, was und wie der Sultan seine „Sicherheitsmaßnahmen“ anordnete, und die letzten Sätze mit ihrer verfänglichen Redewendung von „lästig werden“ konnten sehr gut einen geheimen Doppelsinn haben.

Der Sultan und der Gouverneur von Chartum kehrten zum Lagerplatz zurück, wo inzwischen alle verfügbaren Leute um die Zelte einen Dornenwall errichtet hatten. Bewers war wohl vorhin der Gedanke gekommen, das Lager in den Hof des Kastells zu verlegen, er war davon aber wieder abgekommen, weil weder die Reittiere noch die Autos die verfallene Treppe emporgeschafft werden konnten. Außerdem nahm der General auch kaum an, daß die „Tuaregs“ wirklich offen angreifen würden. Er besichtigte nun die getroffenen Verteidigungsmaßnahmen und die aufgestellten Dscharaniposten und schärfte diesen größte Wachsamkeit ein. An acht erhöhten Stellen der das Lager umschließenden Ruinen waren große Feuer angezündet worden, die durch das Holz schnell gefällter dürrer Bäume unterhalten wurden. Bewers verwünschte die dunkle, wolkige Nacht und das unübersichtliche Gelände, das er ja von früher her nur zu gut kannte. Allerlei Erinnerungen stiegen in ihm auf, die volle achtzehn Jahre zurücklagen. Damals hatte er hier fast an derselben Stelle Schulter an Schulter mit dem tapferen stillen deutschen Gelehrten gegen eine vielfache Übermacht gekämpft und war schließlich als einziger dem Blutbad entronnen.

Wahrscheinlich trugen diese Erinnerungsbilder einer verzweifelten Verteidigung gegen einen zu blindem Fanatismus aufgestachelten Gegner mit dazu bei, daß sein anfängliches Sicherheitsgefühl ernsthaften Besorgnissen Platz machte. Als er vor dem Gemeinschaftszelt wieder anlangte, wo die Ausflügler in sehr zwiespältiger Stimmung beieinander saßen, ordnete er doch noch an, daß die Wohnzelte vor die Eingänge einiger noch leidlich erhaltener Räume der Ruinen aufgestellt werden sollten, die bereits gründlich nach Schlangen, Skorpionen, kleinerem Raubzeug und Ameisen abgesucht und auch ausgeräuchert worden waren. Der Sultan war hiermit sehr einverstanden, ebenso seine Gäste, und Frau Theresa und Edda äußerten sogar noch besondere Wünsche, da in der einen Ruine sich jenes Wasserbecken befand, das schon einmal Frau von Brucks schlanken Gliedern ein erquickendes Bad ermöglicht hatte.

Um elf Uhr trat Ruhe im Lager ein. Theresa und Edda hatten sich in ihr Zelt zurückgezogen, links daneben stand das Pelcherzims, in dem auch Gardner und Tschan sowie Francois Unterkunft nahmen, rechts erhob sich das des Generals und seiner beiden ständigen Ordonnanzen, und ein Stück entfernt ragte das Prunkzelt des Sultans mit der flatternden Fahne von Dscharani in den träge dahinziehenden Qualm der Wachtfeuer hinein.

Die Steppe und die Ruinenfelder waren im Gegensatz zu der sehr trügerischen Ruhe im Lager jetzt zu ihrem gewohnten heimlichen nächtlichen Leben erwacht. Tierstimmen, die tagsüber geschwiegen, meldeten sich. Schakale kläfften, Hyänen stießen ihre häßlichen Schreie aus, die dem teuflischen Hohnlachen eines Satans glichen, Wüstenfüchse keckerten schrill und hungrig, und urplötzlich erhob sich im Norden auch das dröhnende, alles übertönende langgereckte U–ha … U–ha eines Löwen. Es klang wie das satte Gähnen eines vorsintflutlichen Ungeheuers.

Edda kauerte neben der Mutter auf deren Schlafmatratze und stellte horchend ihr schnelles, scheues Wispern ein. Sie hatte der Mutter nichts verschwiegen, eng umschlungen und noch völlig angekleidet saßen die Frauen da und lauschten sekundenlang. „Ein Löwe …!“ flüsterte Edda …

Theresa streichelte ihr heißes Gesichtchen.

„Kind, es wird für dich nicht leicht sein, diese nächtliche Verabredung mit Rolf einzuhalten, obwohl ich mit Vorbedacht für unser Zelt diesen neuen Platz wählte … Warten wir noch eine halbe Stunde …“

Die beiden befanden sich im Dunkeln, und das spärliche Licht, das oben durch die Luftklappe von den Wachtfeuern hereindrang, bildete nur unregelmäßig aufzuckende rötliche Streifen.

Nebenan in dem größeren Zelt brannte die übliche Karbidlaterne an langer Nickelkette und pendelte sacht hin und her. Tschan und Francois hatten neben dem Eingang ihre Matratzen ausgebreitet, Gardner und Pelcherzim saßen an dem Klapptischchen und rauchten und schwiegen. Am Tische lehnten ihre geladenen und gesicherten Büchsen, und beide hatten die Riemen mit den Pistolenhaltern und den Patronenstreifen aus weichem Leder umgeschnallt. Der alte Tschan schnarchte bereits diskret, Francois täuschte einen gleich tiefen Schlaf vor und belauerte blinzelnd seinen finster und nachdenklich vor sich hin starrenden den Herrn und den weit unangenehmeren Pelcherzim. Vorhin hatten die beiden sehr leise miteinander geflüstert, aber er hatte leider kein Wort davon auffangen können.

Bei Bewers im Zelte sah es nicht viel anders aus. Die beiden persönlichen Ordonnanzen und Diener des Generals, altgediente farbige Unteroffiziere, die unbedingt zuverlässig waren, säuberten nochmals die Schußwaffen, während Bewers selbst am Tische auf feinstes, aber starkes Seidenpapier mit Hilfe eines Kodewörterbuches einen langen Chiffrebefehl schrieb. Als er damit fertig, rollte er das Papierblättchen zusammen, schob es in eine dünne Aluminiumhülse und winkte dem Feldwebel Ali zu. Der athletische Nubier erhob sich, öffnete des Generals großen Koffer, der Alis spezieller Obhut anvertraut war, und entnahm dem kleinen Käfig eine blaugraue Taube, die etwas müde ins Licht blinzelte. Gleich darauf schlich Ali in die Hausruine, erkletterte die eine Wand und gab die Taube frei, die lautlos davonstrich. Es war die letzte aus dem Käfig. Nachmittags waren bereits zwei andere zur nächsten Militärstation heimlich aufgestiegen. Der Telefonleitung vertraute Bewers keine Befehle an. Mossala Dschin war ihm technisch zu modern geworden. Drähte ließen sich anzapfen.

Ali verharrte noch eine Weile droben auf der Mauer im Schutz der Büsche und Mimosen und hielt Ausschau nach irgend etwas Verdächtigem. Als er den Kopf drehte, gewahrte er im nebenan liegenden Hofraum, der einen kleinen Weiher bildete, zwei Gestalten, die sich vorsichtig im Schatten hielten.

Weder Theresa noch Edda hatten sich gescheut, nur die notdürftigste Unterwäsche anzubehalten.

Ali grinste … Er besaß Verständnis für tadellos gewachsene Körper, aber Edda von Brucks heller Leib, nur mit Sandalen und hauchdünnen Seidenhöschen und einem spärlichen Taghemd bekleidet, war sehr bald in der Flut halb untergetaucht. Sie befestigte nun ihren eng zusammengerollten Burnus auf dem Kopfe.

Ali blieb. Nachher meldete er seinem Herrn sehr aufgeregt, daß Miß Edda sich davongeschlichen und die Postenkette unbemerkt passiert habe. Frau von Bruck sei nach dem Bade in das an der Rückseite aufgeknöpfte Zelt zurückgekrochen.

Der General legte den Finger auf die Lippen.

„Leiser, Ali …!! – Dann ist auch Terkellen in der Nähe … – Licht aus! Ich werde die Mauer ersteigen … Ihr beide beobachtet des Sultans Zelt.“

Wenn Ali seinen Platz droben hinter den Büschen zwei Minuten später verlassen hätte, würde er Zeuge geworden sein, wie Mossala Dschin, der noch immer Schonungsbedürftige, sich gar nicht schonte, sondern wie ein Panther geschmeidig, flink und kraftvoll gleichfalls in die Ruinen schlüpfte, eingehüllt in einen dunklen Haik, der von seinem Gesicht nur die Augen sehen ließ.

Der Gebieter von Dscharani gelangte auf nur ihm bekannten Pfaden und Durchschlupfen zu einem der verschütteten Eingänge der alten Bergwerke nach Nordwesten zu, schob hier eine Steinplatte, die scheinbar ein festes Ganzes mit einem rötlichen Felsen bildete, mühelos zur Seite und verschwand in dem dahinter liegenden Loche, einem geräumigen Stollen, wo Laternen, Fackeln und sogar Waffen bereit lagen. Er zündete eine der sorgfältig gesäuberten Laternen an und schritt schnell den Stollen hinab, nachdem er den Ausgang wieder versperrt hatte. Bereits zehn Meter weiter stieß er auf eine Art Halle, in der eine Menge Kisten und Ballen aufgestapelt waren und von der einige Stollen abzweigten. Die Luft hier war kühl, fast kalt, trocken und rein. Mossala setzte seinen Weg fort, bis ihm ein pestilenzialischer Gestank entgegenwehte. Da erst verlangsamte er seine Schritte und nahm seine Pistole in die Rechte, entsicherte sie und betrat nun die Ausbuchtung des Stollens, in der auf faulendem Heu, umgeben von Unrat, eine menschliche Gestalt zusammengekrümmt unter einer löcherigen Decke lag.

Man sah nur den Kopf des Ärmsten und die Füße, man sah die Eisenbänder an den nackten, schmutzstarrenden Fußgelenken und die Ketten, die mit Blei fest in die Steinwand eingegossen waren.

Der Mann schlief. Sein verfilztes graues Haar, sein verklebter grauer Bart, seine schmierigen Ohren und Wangen unterstrichen nur die Totenblässe seiner Züge.

Mossala Dschin beleuchtete ihn, bückte sich, prüfte die dicken Stahlfesseln, die komplizierte Schlösser hatten, und versetzte dem Gefangenen dann einen Stoß in die Seite.

„Wache auf, großer Tschandu!“ höhnte er in nie abgeschwächtem, blindem Haß.

Oliver Brex richtete sich matt empor. Seine Ketten klirrten. Seine Augenlider waren gelb von Eitertröpfchen. Er öffnete sie nur zu einem schmalen Schlitz. Er bot ein bejammernswertes Bild dar, aber sein Feind kannte kein Mitleid.

„Wir haben uns zwei Wochen nicht gesehen, großer Tschandu“, fügte der Sultan bedächtig hinzu. „Inzwischen ist vieles geschehen … Dein Kind ist hier, auch das Weib ist hier, das ich begehrte und das du zur Mutter machtest …“

Der Tschandu blinzelte und schwieg. Seine zusammengesunkene Gestalt taumelte im Sitzen kraftlos hin und her. Seine Lumpen stanken …

„Der Kalifa Abdullahi, der einst Slatin Pascha[6] in Ketten legte, war zu unvorsichtig“, sagte der Sultan lauter und schwer gereizt über Brex’ gänzliche Gleichgültigkeit. „Slatin Pascha entfloh … Du wirst nie entkommen. Dafür sorgt jetzt Ibrahim … Du hast nichts zu hoffen, nichts. Willst du endlich Vernunft annehmen, oder soll ich hier vor deinen Augen dein Kind …“ – er gebrauchte den gemeinsten Ausdruck, den sein Wortschatz enthielt … –„… und Frau Theresa splitternackt auspeitschen lassen?!“

Oliver Brex hockte stumpfsinnig da und murmelte unverständliche Worte. Dann lachte er schrill und ließ sich wieder auf sein Lager zurücksinken.

Der Sultan erschrak. Ein Geistesgestörter würde auch durch die Folterqualen, die andere litten, nicht mehr berührt werden. Dem Tschandu würde alles, alles gleichgültig sein.

„Brex!“

Der Angeredete hob kaum den Kopf.

„Brex, Tschanda, dein Kind, wird hier vor deinen Augen meine Geliebte werden! Begreifst du das?!“

„Ja. Ich weiß, du bist ein Lügner“, erwiderte Brex undeutlich und hustete hohl. „Ich erklärte dir schon einmal, daß ich in dieser Einsamkeit eins mir erworben habe, was mir noch fehlte, um vollkommen zu sein: Ich träume viel, und ich träume logisch und die Wahrheit!“

„Du bist ein Narr! Niemand träumt die Wahrheit.“

Brex hustete wieder krächzend. „Ich bin … Hellseher geworden in dieser ewigen Finsternis … Soeben träumte ich, daß du ein entsetzliches Ende fandest und daß mein Kind lebt und daß nur das Skelett einer jungen Negerin neben anderen Gebeinen auf sandigem Felsboden ruht. Du bist ein Lügner, Mossala Dschin …“ – Er sprach das alles in einem Atem ohne Pausen, eintönig, matt, gleichgültig, aber um so eindrucksvoller, weil er keine großen Phrasen wählte.

Der Sultan konnte sich eines Gefühls des Unbehagens nicht erwehren. Vielleicht war es auch Furcht …

„Schwätzer!“ preßte er hinter den Zähnen hervor. „Du hast noch genug Verstand, um die Leiden anderer zu begreifen, und du wirst mit ansehen, wie viele, viele sich in Qualen winden … Morgen komme ich wieder.“

„Lügner …!“ murmelte Oliver Brex und zog die Decke über den Kopf und sah den Lichtschein der Laterne verschwinden. – Der Sultan schritt sehr hastig davon. Es waren die quälenden Gedanken, die ihn vorwärtstrieben. Brex’ Voraussage seines entsetzlichen Endes wäre vielleicht ohne jeden Eindruck auf ihn geblieben, wenn die Anzeichen einer unklaren Katastrophe sich nicht so bedenklich gemehrt hätten. Der geheimnisvolle Feind, der auch heute wieder den bösen Scherz mit dem Aasgeier ersonnen und ausgeführt hatte, kam ihm nicht aus dem Sinn. Hinter alledem steckte mehr als nur die Rachsucht eines minderen Geistes.

Aber je weiter Mossala Dschin sich von seinem Opfer entfernte, das nun fast zwei Jahrzehnte in jenem Stollen in unzerreißbaren Ketten steckte, desto mehr schüttelte er auch diese Beklemmung von sich ab, desto fester war er entschlossen, nun mit einem raffiniert ersonnenen einzigen Schlag all diese Widerwärtigkeiten von sich zu werfen. Er schlüpfte vorsichtig ins Freie, schob die Steinplatte wieder vor den Zugang und schlich, geschützt durch die Finsternis und die Bodengestaltung, wieder dem Lager zu. –

Francois Lebattier hatte in seinem reichbewegten Dasein schon oft peinliche Minuten zu überstehen gehabt, in denen seine Freiheit und sein Leben ausschließlich von seinen Fähigkeiten abhingen, aus Schwarz Weiß zu machen oder schneller mit dem Messer oder der Pistole bei der Hand zu sein als seine Gegner, die Polizei mit einbegriffen. Heute abend kam er weder dazu, seine lügnerische Zunge in Tätigkeit zu setzen noch sonstwie einen Laut von sich zu geben. Tschan Kai und Hektor Pelcherzim waren plötzlich über ihm, nachdem Gardner das Licht halb ausgedreht hatte, und wenn der alte Chinese jemandem mit dem Messer am Halse kitzelte, nachdem ein Sportberichterstatter von Pelcherzims praktischen Erfahrungen einen Schläfenhieb gelandet hatte, war eben gegen solche Gemeinheit nicht mehr aufzukommen. Als Francois dann geknebelt und an seine Matratze gefesselt dalag, beugte sich Gardner über ihn und zischte ihm grimmig ins Ohr: „Das ist die Quittung für die Zigaretten, denen du Schuft jeden Tag mehr Opium zugesetzt hast, so daß ich nie vollkommen aus dem Rausch erwachte!!“

Jedenfalls, Herr Francois war vorläufig gut versorgt.

„Gardner“, sagte Pelcherzim leise zu dem patenten Lebemann, dem er bisher noch nie die Ehre hatte zuteil werden lassen, das „Herr“ in der Anrede als Zeichen innerer Verbundenheit zu streichen, „Sie passen jetzt also auf diesen Burschen auf. Wie Sie sich im einzelnen verhalten sollen, müssen Sie selbst entscheiden. Ihr Verstandskasten wird nun ja von dem Teufelszeug frei sein. Vielleicht werden Sie noch eine ganz tüchtige Kraft … – Wiedersehen …! Hals- und Beinbruch!“

Tschan hatte bereits an der Rückwand des Zeltes die Leinwand geöffnet und hinausgelugt. Er bemerkte nichts Verdächtiges. Vor ihm lagen Schuttmassen, von Dornen und Mimosen überwuchert. Man konnte jedoch an diesem Hindernis vorüber und gelangte dann in denselben Hofraum, der das natürliche Badebassin enthielt, das Edda kurz vorher zum heimlichen Verlassen des Lagerplatzes benutzt hatte.

Der Chinese kannte die Örtlichkeit. Er hatte sich noch während der kurzen Zeit der Dämmerung hier gründlich umgesehen. Pelcherzim vertraute sich seiner Führung ohne Zaudern an. Beide hatten gleichfalls dunkle Kordanzüge angelegt, da die weiße Tropenkleidung sie sofort verraten hätte. Sie kamen dicht an der Rückseite des Zeltes der Bruck’schen Damen vorüber, dort brannte mattes Licht, Frau Theresas Schatten war undeutlich sichtbar. Daß Edda dem gleichen Ziele entgegenstrebte, konnte Pelcherzim nicht wissen. Er hatte keine Gelegenheit gefunden, mit ihr ein paar vertrauliche Worte zu wechseln, er nahm an, sie wäre bereits zur Ruhe gegangen.

Wie sehr irrte er sich! Rolf Terkellen hatte mit Edda genau denselben Treffpunkt für Mitternacht vereinbart wie mit Hektor und Tschan. Es gab da im Westen der Oase Ain Halfa, deren Hauptrichtung von Nord nach Süd verläuft, etwa tausend Meter von der äußersten Baum- und Ruinengrenze entfernt eine kuppelförmige, felsige, weithin sichtbare Erhebung, deren Spitze eine natürliche Säule aus Gneis bildete, die von rotblühenden Stachelmimosen so eng umsponnen war, daß dieses zehn Meter hohe Naturwunder im Fernglas wie ein grellroter Strich sich ausnahm. – Terkellen war der Abschied von Edda unendlich schwer geworden, aber es mußte sein, er wollte eine Entscheidung herbeiführen, und Edda sollte dabei helfen. Er hatte in Osmalis Hütte weder ihr noch Tschanda noch Simkinson verschwiegen, daß die „Tuaregs“ vielleicht verkleidete Dscharanikrieger gewesen seien und daß, falls Edda nicht im Lager bei Ain Halfa sich einfände, der heimtückische Mossala Dschin vermuten würde, sein Anschlag auf sie sei geglückt. Dies jedoch sollte verhindert werden, der Sultan mußte völlig im ungewissen darüber bleiben, was wirklich geschehen war. Nur so würde er sich zu einem übereilten Schritt drängen lassen, nur so würde er sich Blößen geben, die zu seiner restlosen Entlarvung dienen könnten. Terkellen wußte ja nun von Hauptmann Simkinson, daß Bewers alles andere als ein Freund Seiner Hoheit war und daß auf der nächsten Militärstation genügend Truppen konzentriert waren, jede Gewalttat des Sultans im Keime zu ersticken. Simkinson, dieser glänzende Soldat und noch glänzendere Schauspieler, hatte Terkellen auch von Bewers’ Brieftauben Mitteilung gemacht. Rolf glaubte daher, keinerlei Risiko auf sich zu nehmen, als er durch Eddas Entsendung ins Ain Halfa-Lager die Ereignisse beschleunigt in Fluß bringen wollte.

Er kannte Mossala Dschin noch immer nicht genügend. Der hellbraune Araberfürst und Nachkomme eines berühmten Mahdisten-Feldherrn hatte weit mehr Eisen im Feuer, als irgend jemand ahnen konnte.

Edda betrat jetzt die äußerste Westgrenze der Oase, wo einst die Bergwerke von Tausenden von Sklaven und Kriegsgefangenen in Betrieb gehalten worden waren. Hohe Geröllhalden türmten sich hier auf, dichtestes Buschwerk wucherte an fruchtbaren Stellen, – Edda umklammerte ihren Karabiner fester und wurde noch vorsichtiger. Menschen hatte sie hier wohl kaum zu befürchten, aber Rolf hatte sie eindringlichst vor wilden Bestien gewarnt. Nur die Sehnsucht nach dem Geliebten, nur das jäh erwachte heiße, gesunde Blut in ihr trübte vielleicht ihre angespannten Sinne …

Mossala Dschin sah die dunkle Gestalt näherhuschen, warf sich lang zu Boden und beäugte die fremde Erscheinung. Die Nacht war dunkel. Des Sultans Augen besaßen die Eigenschaften der Katze. Er erkannte Edda, er lächelte in grimmem Triumph, die Furcht, die er soeben noch angesichts der Jammergestalt des Tschandu empfunden, schwand dahin. Mossala war ein rascher Denker. Seine Intelligenz überragte jeden Durchschnitt. Sein Ehrgeiz aber war ohne Maß und Ziel. Und dieses zügellose Geltungsbedürfnis, dieser verlockende Gedanke, einst den Sudan abermals in Flammen aufgehen zu lassen und seine Person in den Mittelpunkt einer neuen Epoche Afrikas zu stellen, berauschte ihn und – dies war das Große an ihm – raubte ihm doch nicht die kühle, sogar eisigkalte Selbstkritik seines Handelns. Er wollte nichts übereilen. Sein Plan schaute über Jahrzehnte hinweg. Er brauchte Geld, brauchte Milliarden. Das dekadente, sich selbst zerfleischende Europa mit seinen entwurzelten Menschen, die nur dem Profit, dem Genuß und schrankenlosem Lebenshunger frönten, ward ihm der goldene Born, aus dem die Millionen ihm zuflossen. Er kannte Europa, seine Hauptstädte, seine innere Morschheit bei allem äußerlichen Gepränge einer höchstentwickelten Kultur. Er hörte von den Unsummen, die mit Rauschgiften verdient wurden. So gründete er seine eigene Organisation, seine eigenen Fabriken, seine eigenen Plantagen, auf denen der scheinbar so harmlose Mohn rationell angebaut wurde. Er hatte die Mohnfelder des Tschandu Oliver Brex ohne Wimperzucken vernichtet. Er belächelte Bewers. Und jetzt, als er Edda lautlos folgte, kicherten tausend Teufel der Rachsucht und überheblichen Hohnes in ihm.

Als Edda die offene Steppe erreicht hatte, holte sie ihr Fernglas unter dem Burnus hervor und suchte nach dem Kuppelhügel und nach der roten Säule. Zwischen Ain Halfa und dem Dschebel Dscharani zieht sich jener Wüstenstreifen hin, den die Ureinwohner von jeher „Sand des Glanzes“ nannten und der heute noch denselben Namen trägt: Tarfid el Imar. Der Sand ist stark durchsetzt mit feinsten Glimmerstückchen, und erst in halbdunklen Nächten tritt das Wunder dieser flimmernden Fläche so recht in Erscheinung. Während die Steppe dann anderswo düster und unfreundlich unter dem trägen Gewölk in der Finsternis sich verliert, genügt für den Tarfid el Imar schon ein winziges Loch in der Wolkendecke, um ein seltsames Bild eines wie von unten her beleuchteten, matten, buckligen und zersprungenen Riesenspiegels hervorzurufen.

Edda segnete den Tarfid el Imar, segnete das Gewölk, das sich ein wenig teilte und ihr endlich die Kuppel und die rote Säule zeigte. Leichtfüßiger schritt sie dahin, das Herz erfüllt von bräutlichem Sehnen. Ihre Seele jauchzte dem Geliebten entgegen, ihre Lippen formten zärtlichste Worte, ihr Gewissen regte sich nicht, brauchte sich nicht mehr zu melden: Sie war ja frei, sie gehörte niemandem mehr, als nur Rolf Terkellen. Heribert Gardner hatte in überraschend feinfühliger, vornehmer Art auf sie verzichtet. Dieses unmögliche Verlöbnis war gelöst … Edda wuchsen Schwingen, streckenweise lief sie über die blanken flachen Hügel mit den aufgescheuchten Straußen um die Wette, die hier im Tarfid el Imar ihr gesetzlich festgelegtes Naturschutzgebiet hatten … Manch eine brütende Straußenmutter ging flüchtig vor ihr davon, kehrte jedoch sehr bald im Bogen zu dem Sandloche und den Rieseneiern zurück, die nur nachts der Wartung bedurften, wenn allzu starke Abkühlung eintrat.

Aber neben Straußen, Schakalen, Wüstenfüchsen und Scharen von Mäusen hauste in diesem Hitzeparadiese mit den eingestreuten kahlen Felsmassen auch der Herr allen Getiers, der Löwe. Auch er genoß hier gesetzlichen Schutz. In den Schilffeldern eines Seitenarmes des Wadi Malik, der den Dschebel Dscharani und Dschebel Ain wasserreich und Feuchtigkeit spendend in vielfach gewundenem Laufe begleitet, waren ganze Gruppen von Löwen zu beobachten, die jedoch nie Gelegenheit fanden, einen Menschen anzugreifen. Der „Sand des Glanzes“ wird von den Eingeborenen gemieden.

Edda hastete weiter. Sie schaute nicht ein einziges Mal zurück. Sie vermutete niemanden hinter sich. Sie hätte auch nichts Verdächtiges bemerkt. Mossala Dschin war in der Wüste groß geworden, und er verstand es, unsichtbar zu bleiben. Aber das schnelle Tempo des blonden Mädchens dort vor ihm, das seine Begierden aufgestachelt hatte, mahnte ihn sehr bald daran, daß er seiner kaum geheilten Lunge nicht zu viel zumuten durfte. Er, der bis dahin keine körperliche Erschöpfung gekannt hatte, spürte die stechenden Schmerzen in der Wundnarbe und in der Brust und den klebrigen kalten Schweiß, der ihm aus allen Poren drang. Er mußte sich schonen. Die Entfernung zwischen Edda und ihm vergrößerte sich. Ein sinnloser Haß gegen Terkellen quoll in ihm hoch und umnebelte sein Hirn. Er vermutete mit Recht, daß der Deutsche mit dem wie aus Stein gemeißelten Gesicht die Explosion des Baobab vorausgesehen habe. Terkellen hatte es darauf ankommen lassen, wer von den Splittern des auseinanderplatzenden Riesenbaumes verletzt oder getötet würde. Und – wo war Terkellens Schwester geblieben samt ihrem Kinde?!

Keuchend, atemlos, schwitzend und mit überanstrengten zuckenden Beinmuskeln blieb der Sultan hinter ein paar dürren Büschen liegen, um auszuruhen. Sein Haß gegen Hilde war nicht geringer als der, den er gegen ihren Bruder empfand. Die Entführung Hilde Terkellens war sein erster Fehler gewesen. Zu spät hatte er dies eingesehen. Er hatte sich dadurch einen Feind geschaffen, dessen Gefährlichkeit erst jetzt offenbar geworden. Und – wo waren Hilde und das Kind?! Von dieser peinigenden Frage kam er nicht los. Selbst sein treffliches Spionagesystem hatte hier versagt. Er wußte nichts über ihren Verbleib, und diese Unkenntnis wurde zur Quelle neuer Befürchtungen. Es war wirklich allerhöchste Zeit, daß er durch einen klugen Gewaltstreich die Maschen dieses Netzes nicht nur von sich abzustreifen, sondern sogar dieses ganze Netz und die, die noch immer an dessen Verstärkung arbeiteten, gänzlich vernichtete.

Er zwang sich zurück zu jener kalt berechnenden, erbarmungslosen Ruhe, durch die er seinen politischen Aufstieg ermöglicht hatte. Sein Geist wurde klar, die Leidenschaften des Hasses und der Sinne trübten nicht mehr sein ränkevolles Hirn. Dieser Mossala Dschin war jetzt derselbe wie vor achtzehn Jahren, als er, noch so jung, auf der Veranda des weißen Bungalows am Dscharani-See die blonde Gefangene seinem damaligen Herrn, dem Tschandu, übergeben und wortlos dessen Vorwürfe wegen der Niedermetzelung der Expedition hingenommen hatte. Dieser Mossala Dschin war am meisten zu fürchten, wenn er sein zügelloses Temperament gemeistert und seine wahre Natur besiegt hatte.

Er erhob sich halb, stellte sein Fernglas ein und erkannte im Osten den harmlosen, weiß gestrichenen Uhrturm des Verwaltungsgebäudes der Leprasiedlung Ain Halfa. Schnell holte er aus seinem Burnus mehrere Gegenstände hervor: Eine kleine, besonders konstruierte Laterne, einen ausziehbaren Tubus, in dem sich Prismen und Spiegel bequem einfügen ließen …

Dann richtete er den Tubus genau auf den fernen Turm. Lichtblitze zuckten auf, Morsezeichen zerschnitten die Finsternis …

Von drüben kam kurze Antwort: „Verstanden!“

Doktor Ibrahim war auf dem Posten, und die Männer der Aussätzigenkolonie wurden sehr gut bezahlt. Menschlichem Ermessen nach würde die aufgehende Sonne den Sultan von Dscharani als Triumphator bescheinen.

 

14. Kapitel.

Im Tarfid el Imar.

An der Westseite der Kuppe mit der rot umwucherten Säule standen vier Dromedare, in der hier herrschenden Finsternis nur als grauer Klumpen erkennbar, und weiter im Freien saßen dicht nebeneinander Tschanda von Bruck und Hauptmann Percy Simkinson, der den linken Arm in der Schlinge trug. Die beiden jungen Menschen, die das Geschick in Osmalis verborgenem Gehöft zusammengeführt hatte, waren gerade durch Simkinsons Verwundung schnell miteinander vertraut geworden. Tschanda hatte die Schußverletzungen gründlich gesäubert und verbunden, und da der Adjutant des Generals Bewers vor Tschanda sich so geben durfte, wie er wirklich war, fühlte sich das Mädchen sofort zu ihm hingezogen.

Percy Simkinson ohne Maske war ein Mensch von überragenden Fähigkeiten, von natürlichem Frohsinn und witzigster Offenheit.

„Terkellen ist zu beneiden, Miß Tschanda …“, sagte er soeben mit komischem kläglichen Seufzer. „Wir beide blasen hier beinahe Trübsal, und Terkellen wird im siebenten Himmel schweben … – Haben Sie eigentlich schon einmal Ihr eigenwilliges tapferes Herz verloren?!“

Tschanda lachte. „Werden Sie nicht indiskret, Simkinson! Im übrigen: Nein!! Männer sind so selten, wahre Männer. Der einzige, den ich kenne, Terkellen, scheidet aus … Er gehört Edda …“

„Hm!!“, machte Percy sehr gedehnt. „Männer!! Ich kenne noch einen, mit dem Sie’s mal versuchen sollten – wirklich!!“

„So?! Wohl Sie selbst?!“ Tschanda kicherte, rückte aber doch etwas weiter von Simkinson ab. Ihr wurde schwül zu Mute. Trotzdem gefiel ihr dieser schneidige Engländer, der das volle Vertrauen seines Generals genoß und in alles, was den Kampf gegen den Sultan betraf, eingeweiht war.

„Ja, ich …!“ erklärte er belustigt, weil sie plötzlich so ängstlich die Distanz zwischen ihnen vergrößert hatte. „Sie liebe kleine Samariterin sehen hier einen Mann neben sich, der sich rühmen darf, bisher der holden Weiblichkeit im großen Bogen aus dem Wege gegangen zu sein. Der Bogen ist sogar so groß, daß ich nicht einmal einen seidenen Unterrock je gestreift habe, – – erstaunlich, nicht wahr?“

„Werden Sie nicht frech …!“ empörte sich Tschanda, aber die Empörung klang nur sehr matt. Um das heikle Thema zu beenden, fügte sie sehr schnell hinzu: „Sagen Sie mir lieber, was Sie von dem „Herrn der Steine“ halten?“

„Gern“, nickte Percy heimlich schmunzelnd. „Zuerst müssen Sie mir aber erklären, ob dieses „Lieber“ in Ihrem Anfangssatz groß oder klein geschrieben werden darf. Wird es groß geschrieben, muß ein Komma davor stehen, dann lautet der Satz: „Sagen Sie mir, Lieber …“ – und so gefiele mir der Satz am besten.“ Dann fuhr er sofort in völlig verändertem Tone, der deutlich eine gewisse innere Ergriffenheit verriet, hinzu: „Meine Kameraden nennen mich den lachenden Philosophen … Gewiß, ich nehme das Leben, notfalls auch das Sterben, von der heileren Seite. Nur eins nehme ich überaus ernst: Die Liebe! Ich bin fest davon überzeugt, daß die Vorsehung je zwei Menschen füreinander bestimmt hat und daß, wenn diese zwei sich finden, eine überaus glückliche Ehe entsteht, ein wirklicher Bund fürs Leben.“

Tschanda fühlte, daß er ganz zart nach ihrer Hand tastete. Sie duldete es, daß er diese Hand ergriff und zärtlich drückte. Sie kannte ihn nun auch von dieser neuesten Seite seines Wesens. Er hatte sicherlich keine leeren Redensarten gebraucht, als er seine Gleichgültigkeit gegenüber Frauen und seine Unberührtheit andeutete. Es war ihm heiliger Ernst um seine seltenen Grundsätze.

„Tschanda, Sie dürfen mich nicht für taktlos halten, wenn ich hier vor Ihnen meine geheimsten Gedanken offenbare“, fügte er noch bewegter hinzu. „Ich habe nie geliebt, ich habe Weiber gemieden, ich habe … gewartet … Heute, als Sie mir auf Osmalis Terrasse gegenübertraten, als Sie mit mir allein blieben, als Sie ohne Prüderie sogar den leichten Streifschuß am Oberschenkel verbanden und vom ersten Augenblick an zwischen uns ein so brüderlich-kameradschaftlicher Ton herrschte, als ob wir uns schon Jahre kannten, wußte ich, daß die Vorsehung mir gnädig gewesen …“

Er hatte immer leiser gesprochen. Seine Blicke hingen irgendwo an einem fernen Punkt des Tarfid el Imar. „Es wäre undenkbar, daß ich, gerade ich mich täuschen sollte, kleine Tschanda. Liebe muß auf den ersten Blick uns anfliegen wie eine jähe Offenbarung, und das Geschick wäre grausam, wenn es mir höhnisch beweisen würde, meine Ansicht über wahre Liebe sei irrig … Ich würde nie darüber hinwegkommen. Ich bin als Mann rein geblieben für die eine, auf die ich hoffte. Ich kann mich nicht ummodeln. Ich werde Sie nie vergessen, Tschanda, selbst wenn Sie …“ – er führte den Satz nicht zu Ende.

Er hatte es nicht nötig, noch mehr zu sagen.

Welche Frau, welches Mädchen von Tschandas ausgesprochener Eigenart hätte diese seine Worte wohl nicht in sich hineingesogen wie einen berauschenden, köstlichen, ganz seltenen Trunk aus einer kristallklaren Quelle?! Welches Mädchen hätte nicht den Stolz empfunden, daß gerade sie, nur sie für diesen lachenden Philosophen mit dem tiefen Gemüt das Ziel jahrelangen, reifen Sehnens bedeutete?!

Tschandas Herz war frei gewesen. Jetzt öffnete es sich für den einen, der ihr vom Geschick bestimmt war. Auch sie glaubte daran. Ihre von Geheimnissen umwitterte Vergangenheit und Herkunft, ihr stetes unbestimmtes Sehnen nach den Ländern des Orients und schließlich ihre abenteuerliche Flucht mit van Zeerten und hier in Cordofan ihre Entführung und Unterbringung bei Osmali durch den „Herrn der Steine“ hatten ihre Seele überaus empfänglich für das Ungewöhnliche und auch für die feinsten Schwingungen der Seele anderer gemacht. Sie wehrte sich nicht länger dagegen, ein Glück hinzunehmen, das halb unbewußt mit zu ihren unklaren Sehnsuchtsträumen gehört hatte. Sie duldete es mit freudiger Gewißheit, hier die Erfüllung ihres Weibstums gefunden zu haben, daß Percy den Arm um ihren Nacken legte und sie sanft an sich zog. Er kannte ihre Abstammung von dem Tschandu Oliver Brex, er stieß sich nicht daran, obwohl ihr Vater doch farbiges Blut in den Adern gehabt hatte und obwohl die Engländer in dieser Hinsicht so äußerst streng denken. Es war nichts irgendwie Spekulatives, Berechnendes in diesen ihren blitzschnellen Gedankengängen, es war nur Tschandas Art, alles klar zu überschauen und dann erst sich zu entscheiden. Hatte sie sich entschieden, so kam ihr anderes Ich zu seinem Recht, und Percy Simkinson war entzückt und beglückt über die keusche Glut ihres ersten Kusses, über die weiche, schmachtende Innigkeit dieser heißen Lippen und über das Beben, das über ihren jungen Leib lief, als er sie auf seinen Schoß hob und die kräftige, biegsame Gestalt an sich preßte und den Druck ihres festen, jungen Busens durch sein dünnes Seidenhemd verspürte.

Minuten währte es, bevor Tschanda ihn mit einem verwirrten, verschämten Lächeln von sich drängte. Mit spitzbübischer Keckheit nahm sie dann seinen Kopf in ihre warmen Hände, blickte ihm tief in die Augen und flüsterte stolz: „Percy, du bist der erste Mann, der mich küssen durfte … Auch du erhältst mich unberührt … Ich finde nur, du lieber Unband, daß du bereits überraschend gut Bescheid weißt, wie man …“, – aber das weitere behielt sie doch wieder für sich, schmiegte sich an ihn und hauchte nur: „Es ist wie ein Traum, Percy … Ich bin unendlich glücklich!“

– Terkellen hatte von einem gut geschützten Beobachtungsplatz an der Südostseite des Kuppelhügels seit einer Stunde mit Hilfe des Fernglases die Oase drüben unausgesetzt im Auge behalten, hatte die Wachtfeuer aufflammen sehen und mit wachsender Ungeduld und Sehnsucht die Mitternachtsstunde herbeigewünscht, die ihm die Wiedervereinigung mit Edda bescheren sollte.

Wie unendlich er dieses blonde aufrechte Mädchen liebte, hatte er ja stets gewußt. Nie aber hatte er geahnt, daß diese stille, heimliche Liebe ihn, den Herrenmenschen, innerlich derart verwandeln könnte.

Längst hatte er das Graslager vorbereitet, auf dem sie ruhen sollte, nach dem ermüdenden Gang durch den matt schillernden Sand des Glanzes. Längst hatte er dieses Lager mit den zartrosa Blüten des Jasmins bestreut, – – wie ein hochzeitlich Bett.

Dann bemerkte er sie, wie sie leichten und beschwingten Schrittes draußen in der Steppe um ein Dornenfeld bog, dann lag sie in seinen Armen, küßte ihn, und er hob sie empor, trug sie davon und flüsterte mit strahlenden, beglückten Augen: „Hier an diesem verschwiegenen Plätzchen möchte ich dir nochmals danken für alles das, was du mir geschenkt hast …“ Er bettete sie ganz sanft wie ein zerbrechliches Kleinod ans das blütenbestreute Graslager und wollte sich neben sie setzen. Aber Edda, die voller Rührung mit einem einzigen Blick seine zartsinnigen Zurüstungen für ihren Empfang überflogen hatte, schmiegte sich so fest an ihn, daß er neben sie sank und ihr Kopf auf seinen linken Unterarm ruhte. Eine geraume Weile verharrten beide ohne jede Bewegung, genossen nur die Glückseligkeit dieser allerengsten körperlichen Nähe und dieses ersten Alleinseins inmitten eines farbenfrohen Kranzes bezaubernd duftender Blüten und fühlten die wunschlose Zufriedenheit all derer, die im Gleichklang der Seelenschwingungen weit hinauswachsen über jedes stürmische Begehren.

Edda lächelte träumerisch. „Rolf, ich bin frei. Gardner hat auf mich in sehr feinsinniger Weise ohne längere Aussprache verzichtet.“

Für Terkellen war diese Mitteilung der Anlaß zu wahrhaft befreitem Aufatmen.

„Endlich, – – endlich ganz mein!“ hauchte er ihr ins Ohr, während ihre Arme bereits seinen Nacken unschlangen und sie ihn an sich preßte, als wollte sie ihn nimmermehr von sich lassen.

Dann aber hob er lauschend den Kopf, machte sich aus Eddas Armen frei und glitt zum Innenrande des Dornengeheges. Ein eigentümlicher, sanft anschwellender und mit starkem Tremulieren verklingender Ton hatte ihn aufgescheucht. Er kannte ihn. Dieses Tönen sogenannter „singender Dünen“, das auf die Reibung größerer, in Bewegung geratener Sandmassen zurückzuführen ist, konnte in dieser nur mäßig windigen Nacht lediglich durch die vielfachen Hufschläge von Pferden oder Dromedaren veranlaßt sein. Als erstes erblickte er mehrere in schärfster Gangart flüchtende und jäh zur Seite ausbrechende Strauße. Was sich dort aber hinter den hochbeinigen Vögeln näherte, drängte ihm alles Blut zum Herzen.

„Edda!!“

„Reiter!“, flüsterte Rolf atemlos. „Mindestens fünfzig Reiter …! Sie kreisen den Kuppelhügel ein, wir müssen Tschanda und Simkinson warnen … Nur schnell! Und dann droben zur roten Steinsäule empor … – Das ist des Sultans Werk, Edda!“ preßte er zwischen den Zähnen hervor. „Du bist trotz deiner Vorsicht beobachtet worden … Mossala Dschin wagt ein zweites Räuberspiel! Es soll ihm schlecht bekommen!“

Droben vor der rotumrankten Steinsäule hockte eine dunkle Gestalt, deren Umrisse mit dem kahlen Felsblock, den der Mann als Schreibpult benutzte, in eins verschmolzen. Nachdem der Fremde, unter dessen Gesichtsschleier ein grauer Spitzbart hervorlugte, das Papier an den langen Widerhaken einer Mimose so befestigt hatte, daß es unbedingt auffallen mußte, wollte er in einer der schluchtartigen Einkerbungen des Kuppelhügels wieder in die Steppe hinabsteigen. Ein Geräusch warnte ihn, er blieb geduckt stehen, sah vor sich die über die Büsche hinwegragenden Köpfe von vier Personen und kroch eilends zur Steinsäule zurück, wo er nach einem kurzen Rundblick über die Wüste zwischen den langen Glockenblüten der Ranken der Sudanwinde die Ankunft der beiden eingekreisten Paare erwartete.

Terkellen, der Edda nach Möglichkeit den schwierigen Anstieg erleichterte, bemerkte den Mann als erster. Aber Tschanda drängte ihn rasch zur Seite. Sie war nicht im geringsten überrascht, den „Herrn der Steine“ sogar hier oben und jetzt in dieser kritischen Stunde vorzufinden. Erfreut streckte sie ihm die Hand hin.

„Ihre Gegenwart gibt mir die Gewißheit“, sagte sie in ihrer freimütigen Art, „daß Sie uns beschützen und retten werden.“ Und zu den drei anderen gewandt. „Es ist der Herr der Steine, wie Osmali ihn nennt …“

Terkellen musterte den Mann mit besonderem Interesse. Von dem Gesicht des Herrn der Steine war wenig zu sehen, und von dessen Figur noch weniger. Der weite dunkle Kapuzenumhang, dem ein zarter Duft des so ölhaltigen Steppenjasmins entströmte, ließ die Gestalt fast klein erscheinen. Aber Terkellen war sich seiner Sache sicher. Schon die verfängliche Hast, mit der der Fremde Tschandas Hand wieder freigegeben hatte, nahm Terkellen als Beweis der Richtigkeit seiner Vermutung hin. Daran änderte auch die Tatsache nichts, daß der Mann nur sehr zurückhaltend in wenig fließendem Englisch erklärte, Miß Tschanda überschätze seine Macht. Er rate nur dazu, auf jeden Widerstand zu verzichten, der angesichts der Zahl der Gegner doch zwecklos sein würde.

„Ihr Leben wird unbedingt geschont werden“, meinte er sehr bestimmt und zeigte auf den aufgespießten Zettel. „Miß Tschanda wird ihn nicht lesen können. Es ist Arabisch … Bewahren Sie ihn sorgfältig auf, Mr. Terkellen …“

Hiermit hob er verabschiedend die Hand zum Gruße und glitt wie ein Schatten in das Dunkel der halb überwucherten Schlucht hinein, nahm seinen Weg mit größter Sicherheit auch im Dunkeln abwärts und beobachtete, unten angelangt, den immer enger werdenden Kreis der Reiter, die nach Tuaregsitte Gesichtstücher trugen und mit modernen Karabinern bewaffnet waren. Er drängte sich in ein Gebüsch hinein, vernahm nun von der Oase her das unregelmäßige Knattern von Schüssen und lächelte grimmig …:

„Bewers’ Gegenmaßregeln kommen zu spät – wie immer!!“

Gerade vor ihm trabte ein einzelner Reiter näher heran und rief zur Kuppe empor:

„Ergebt euch! Wenn auch nur ein einziger Schuß fällt, werdet ihr getötet!“

Terkellen starrte noch immer beim flackernden Flämmchen des Taschenfeuerzeugs Simkinsons auf den beschriebenen Zettel, da seine Aufmerksamkeit durch den von Ain Halfa herüberklingenden Lärm der Schüsse wiederholt abgelenkt worden war. Er vermochte die arabischen Sätze bequem zu lesen, der Sinn blieb ihm unklar. Er vermutete nur, daß es sich um eine Stelle aus irgendeiner Sure des Korans handelte. Die neben ihm stehenden Geschwister Bruck und der Hauptmann mit dem linken zerschossenen Arm in der Schlinge verrieten immer stärkere Ungeduld und Sorge, da das Geknatter des Gewehrfeuers ständig wuchs.

„Terkellen, was entziffern Sie da?“ fragte Simkinson unwillig. „Reden Sie endlich!“

Rolf Terkellen schob das Blatt Papier in die Tasche und blickte den Hauptmann grübelnd an. Um seinen Mund lagen die harten Falten dick übereinander.

„Sie werden’s ebenso wenig verstehen wie ich, Simkinson … Unsere Damen erst recht nicht.“

Ein zärtlich-besorgter Blick streifte Edda. „Hier steht wörtlich geschrieben …“ – er klopfte auf seine Tasche, in der das Papier steckte. „Es steht also geschrieben: „Als die Zeit gekommen war, öffneten sich die Pforten der Hölle, und die Seelen der Verdammten, die nicht einmal in der Hölle Frieden hielten, strömten hinaus und überfluteten die Länder der Gläubigen, bis Allahs Machtwort sie alle in die feurigen Schlünde der Dschehenna zurücktrieb und sie elendiglich zu Asche verbrannten und der stinkende Qualm dieser Aufsässigen zu den Wolken emporstieg und zerflatterte, so daß nichts von ihnen übrig blieb als schmutzige Asche und Gestank …“ – Was soll das, Simkinson?!“

Der Hauptmann antwortete nicht. Von unten her erscholl die Stimme des Anführers, verlangte bedingungslose Übergabe und fügte nochmals Todesdrohungen hinzu. Terkellen blickte hinab, zauderte, aber Tschanda preßte seinen Arm und sagte eindringlich: „Vertrauen Sie dem Herrn der Steine, Rolf …! Widerstand wäre sinnlos. Ich habe die Reiter gezählt. Es sind genau fünfundfünfzig.“

„Und ihr Mädchen?!“ meinte Terkellen mehr ingrimmig als besorgt.

Tschanda lachte schneidend. „Wir?! Ich bin überzeugt, daß der Zettel uns schützen wird …“

Terkellen schaute ihr forschend in das schmale Gesicht, das etwas bleich geworden. Die Ähnlichkeit mit dem Tschandu Brex und mit dem Ölgemälde im Dscharani-Schloß war ihm noch nie so aufgefallen wie jetzt.

„Wartet hier!“ befahl er kurz, und seinem Stimme hatte wieder jenen metallischen Klang, der jeden einschüchterte. Er trat vor, legte die Hände als Schalltrichter an den Mund und rief dem Anführer drunten zu:

„Ich komme! Ich habe dir eine Botschaft zu übergeben.“ Dann stieg er die enge Schlucht abwärts und stand nun vor dem Vermummten, dessen Tuaregtracht im Lichte des gerade wolkenfreien Sternenhimmels dem kundigen Auge Terkellens keinerlei Unstimmigkeiten verriet. Schweigend reichte ihm Terkellen das Papier, schweigend nahm es Mossala Dschins Verbündeter entgegen und winkte einen anderen Reiter heran, dem er etwas zuflüsterte. Eine allzu moderne, allzu neue Karbidlaterne puffte auf, der Anführer drehte Terkellen den Rücken zu und las. Er brauchte endlose Zeit dazu, und als er sich wieder umwandte, lag es wie ein Schleier über seinen Augen. Seine Stimme klang brüchig und mühsam beherrscht. Sein Englisch war durchsetzt mit allerlei Sprachbrocken.

„Wer gab Ihnen das Papier, Herr?“

„Das Papier gab mir der Herr der Steine.“

Der Anführer fuhr zurück. Sein Gaul bäumte sich.

„Wo ist der … Mann, Herr?“ fragte er heiser.

„Er hat sich entfernt …“ Terkellen merkte, daß der Tuareg sich höchst unbehaglich fühlte.

Das Gewölk zog sich wieder zusammen, und der Glanz des Tarfid el Imar erlosch.

„Holen Sie Ihre Gefährten, Herr“, sagte der Anführer unsicher. „Sie können die Waffen behalten … Wir wollen nur ein Lösegeld, wir sind arm. – Werden Sie sich die Augen verbinden lassen?“

„Wir werden es selbst tun.“ Terkellen lachte innerlich über diesen Helden. Aber er war doch froh, daß Tschandas Voraussage über die günstige Wirkung des Papiers eingetroffen war.

Als der Reitertrupp nach Westen zu, in der Mitte die vier Gefangenen, davongetrabt war, erhob sich der Herr der Steine aus seinem Gestrüpp und umschritt den Kuppelhügel, tauchte zwischen Geröll unter und kehrte mit einem kleinen sehnigen Berberhengste ins Freie zurück, schwang sich in den Sattel und galoppierte in Richtung des Nordteiles Ain Halfas davon.

Das unregelmäßige Gewehrfeuer war inzwischen fast verstummt.

 

15. Kapitel.

Der Gefangene ohne Ketten.

Tschan und Pelcherzim hatten sich gleichfalls unbemerkt durch die Postenkette hindurchgeschlichen, waren dabei jedoch gezwungen worden, nach Westen abzubiegen und gerieten so in die Nähe des Tores der Leprasiedlung, wollten nun gerade wieder nach Westen einschwenken, um rechtzeitig, wie mit Terkellen vereinbart, zur Stelle zu sein, als der alte Chinese plötzlich den Sportredakteur zurückhielt. Sie standen hinter Geröllbergen, und auch Pelcherzim roch nun den Stalldust ganz frischen Pferdemistes.

Tschan kroch auf allen Vieren vorwärts, blieb minutenlang verschwunden und kehrte dann kopfschüttelnd zu Hektor zurück. „Ich verstehe mich doch aufs Fährtenlesen, Herr Pelcherzim … Aber man hat alle Spuren sorgsam ausgetilgt, nur den Geruch konnte man nicht beseitigen. Es muß hier vor wenigen Minuten ein starker Reitertrupp vorübergekommen sein. Erklettern wir dort den Hügel. Ich möchte einmal Ausschau halten.“

Sie befanden sich hier in der Nähe der Zugänge der alten Bergwerke, und der matt leuchtende Tarfid el Imar lag nun mit seinem welligen Boden und der fernen Kuppe mit der roten Säule übersichtlich vor ihnen. Beide hatten ihre Gläser eingestellt, beide flüsterten gleichzeitig:

„Ein Reitertrupp!!“

Die Reiter jagten gen Westen auf die rote Säule zu.

„Hier ist eine Teufelei im Gange“, murmelte der Chinese mit vor Erregung trockener Kehle. „Mein Herr soll abgefangen werden … Herr Pelcherzim, benachrichtigen wir den General.“

Er schob sich rückwärts, machte jedoch wieder halt. Von Süden her war der dünne Knall eines einzelnen Schusses wie das Signal zum Aufflackern des Kampfes an sein Ohr gedrungen.

„Bleiben wir!“ sagte Tschan seltsam heiser. „Hierher, Herr Pelcherzim. Hinein in die Dornen … Es hilft nichts!“

Urplötzlich setzte ringsum das Knattern von Schüssen ein … Wie aus dem Boden gewachsen fegten einzelne Reiter heran — nein, eine ganze Kette, sprangen ab, duckten sich und schlichen vorüber.

„Dieser Satan von Sultan!“ keuchte Pelcherzim. „Das soll eine Wiederholung jenes Blutbades werden, dem auch Professor von Bruck zum Opfer fiel …!“

Tschan Kai rieb die gelblichen Zähne knirschen aneinander. Auch links von ihnen blitzte überall das Mündungsfeuer von Schüssen auf, gelle Schreie ertönten, die wenigen Wachen waren im Nu überrannt. Was sich im Lager abspielte, konnten Pelcherzim und Tschan nur aus dem Lärm des Gefechts ungefähr entnehmen.

„Sollen wir hier liegen bleiben?!“ meinte Pelcherzim mit flackernder Stimme. „Tschan, denke an Frau Theresa und …“

„Zwei Lebende sind wertvoller als zwei Tote“, schnitt der Alte ihm das Wort ab. „Man hat uns nicht bemerkt … Mossala Dschin’s Banditen spielen wieder die Tuaregs … Still, – was war das?!“

Das Geknatter erstarb … Über den Wipfeln der Oase tauchte im Südosten ein greller Lichtschein auf, – noch ein zweiter, und in das Surren der Propeller der Flugzeuge, die ganz tief dahinstrichen, mischte sich das aufreizende Tacken von Maschinengewehren. –

General Charly Bewers hatte von der Höhe der Ruinenwand, die ihm genügend Deckung bot, nur ein eng begrenztes Sehfeld. Er konnte nichts Bestimmtes feststellen, aber seine Überzeugung, daß sich hier ein Unwetter zusammenballte, wurde noch bestärkt, als er drüben gen Westen aus dem Tarfid el Imar Lichtblitze auffunken sah, zweifellos Signale. Er betete selten, der rauhe Kämpe, – jetzt betete er, daß die Brieftaube ihr nahes Ziel erreicht haben möge, allerdings war sein Gebet mit stillen Flüchen gespickt. Er überlegte noch, wo und wie er die Damen Bruck am sichersten unterbringen könnte und ob es nicht ratsam sei, sich der Person des Sultans sofort rücksichtslos zu bemächtigen. Er überlegte zu lange. Er hatte den Gegner unterschätzt. Als die ersten Schüsse fielen, erschien der Sultan, gestützt auf seinen Leibdiener, vor seinem Zelt und lud seine Büchse.

„Exzellenz, – – Überfall!!“ brüllte er unnötig laut.

Aus Bewers’ Zelt tauchte nur der Feldwebel Ali auf.

„Ali, wo ist der General?“ schrie der Sultan den athletischen Nubier an.

„Exzellenz revidiert die Posten, Hoheit“, log Ali kalten Blutes und schnellte vorwärts hinter den nächsten Palmenstamm.

Mossala Dschin, dessen Leibgarde bereits das Feuer erwiderte, duckte sich und ließ sich durch seinen Diener vorwärtsgeleiten, taumelte jedoch nach wenigen Schritten zur Seite, während sein Diener die Arme in die Luft warf und schwer vornüberschlug und stillag. Der Sultan kroch zum nächsten Stein, legte seine Büchse auf den Oberrand und zielte nur mit der rechten Hand auf die Angreifer, die wie Schatten von Baum zu Baum glitten.

Das unregelmäßige Geknatter wuchs immer stärker an, — Mossala Dschins linker Arm hing schlaff herab, aus dem dünnen Ärmel tropfte Blut, und General Bewers, der den Verräter bereits vor Kimme und Korn hatte und die erste Kugel ihm verabfolgen wollte, ließ die Büchse kopfschüttelnd wieder sinken. Er war nun doch unsicher geworden, die Dinge verwirrten sich für ihn, er beobachtete genau, daß der Sultan einen der Tuaregs niederschoß, leider auch, daß Feldwebel Ali langsam zusammensackte.

Der Feind war bereits im Lager, die meisten Leute des Sultans waren tot, oder verwundet, schrille Schreie zerschnitten die Luft, — Bewers sah, wie Mossala Dschin gleichfalls matt zur Seite fiel und sich nicht mehr regte.

Bewers verlor jede Schätzung für Zeit und Raum … Nur eins verlor er nicht: Die klare Überlegung. Es wäre sinnlos gewesen, seinerseits vielleicht ein paar Treffer anzubringen und dann sich hier von dieser Übermacht abkehlen zu lassen. Er wurde ja Augenzeuge, wie diese Raubritter der Wüste die Verwundeten mit ihren gebogenen langen Gaitans brutal erledigten, er atmete nur über eins erleichtert auf: Die Schufte, die in das Frauenzelt eingedrungen waren, hatten es leer gefunden, begannen nun die Ruinen zu durchsuchen.

Dann hob Bewers lauschend den Kopf. Ein böses, hartes Lächeln verzog seine Lippen. Die beiden Flugzeuge kamen … Das blendende Licht der Scheinwerfer zuckte auf, die Maschinengewehre ratterten, die Angreifer stoben auseinander, und die Finsternis verschluckte sie … Urplötzlich lag der Lagerplatz in gleißender Helle da, der Lichtkegel wanderte weiter, die beiden Militärmaschinen kreisten nun in mäßiger Höhe, unermüdlich spien die Kugelspritzen ihre verderbliche Saat aus. General Bewers blickte scharf nach unten. Der Sultan regte sich nicht. Nur Feldwebel Ali hatte sich erhoben und war zwischen die Felsen gekrochen. Die ganze Oase, soweit sie nicht zur Leprasiedlung gehörte, hatte ihre geflügelten, aufgescheuchten Bewohner in großen Schwärmen zum finsteren Nachthimmel emporgesandt. Aasgeier, durch die Scheinwerfer geblendet, fielen den pfeifenden Propellern zum Opfer, ihre zerfetzten Leiber klatschten dumpf auf den Boden auf oder sausten in die Baumkronen.

Bewers nahm seine Taschenlampe, wechselte die farblose Linse gegen eine grüne aus, verließ sein Versteck und schwenkte die Lampe im Kreise. Das Signal tat seine Schuldigkeit, die eine Maschine landete glatt im Westen der Oase, und dem zweimotorigen Flugzeug entstiegen vier Soldaten in Khaki, die ein leichtes Maschinengewehr mit Schutzschilden im Trab mit sich schleppten und rasch näherkamen. Bewers kletterte an der Ruinenwand abwärts und lief zunächst zum Zelt der Bruck’schen Damen. Er fand es leer. Auch das begriff er nicht. Dann beugte er sich über Mossala Dschin. Der Sultan war ohnmächtig und lag in einer kleinen Blutpfütze.

„Ali!!“ – Der Nubier näherte sich, stützte sich schwer auf seine Büchse und keuchte.

„Nur ein glatter Durchschuß, Exzellenz“, sagte er mühsam. „Allah war mir gnädig.“

„Ich freue mich, Ali. Was hältst du von dieser verfluchten Schweinerei?! Waren es Tuaregs …?“

„Echte Tuaregs, Exzellenz … Dort liegt einer. Tuaregs vom Beni-Stamm.“

„Begreife ich nicht“, murmelte Bewers. „Ich werde erst einmal den Sultan verbinden, sonst verblutet er.“

Ali setzte sich schwerfällig auf einen Stein.

Noch schwerfälliger wankte Gardner herbei, wie ein Trunkener, die Hand gegen die linke Brust gepreßt. Sein Gesicht war kittgrau, die Augen eingefallen.

Bewers stützte ihn. „Mann, – auch verwundet?“

„Es ist … aus mit mir“, lallte Gardner. „Aus, ganz aus … Aber Francois, der Halunke, starb vor mir …“ Er fletschte die Zähne in einer so haßerfüllten Grimasse, daß Bewers erschrak. „Tschandu, Exzellenz“, quetschte er undeutlich mit letzter Kraft hervor, „– es war meine Quittung für meine vergifteten Zigaretten.“ Dann sank sein Kopf zur Seite … Bewers ließ den schlaffen Körper zu Boden gleiten.

Über ihm kreiste noch die eine Maschine. Der grelle Lichtkegel wanderte, zuweilen spuckte das Maschinengewehr noch ein paar Kugeln … Aus ihren Verstecken krochen jetzt auch die wenigen Überlebenden der Leibgarde des Sultans hervor, verstörte Burschen, teilweise verwundet, dazu die Diener, Köche und Schofföre der übel zugerichteten Autos. Zufällig getroffene Dromedare wälzten sich am Boden, stießen markerschütternde Schreie aus und erbrachen sich im Todeskampfe und besudelten das Gras mit dem grünen Inhalt ihrer Mägen.

Allmählich trat wieder Ruhe ein. Bewers erteilte die nötigen Befehle mit gewohnter Zielklarheit. Er ließ die Oase nach den Bruck’schen Damen, nach Pelcherzim und Tschan gründlichst absuchen. Auch das zweite Flugzeug war gelandet, vier Maschinengewehre waren auf erhöhten Punkten in Stellung gebracht worden, der Sultan lag in seinem Zelt, hatte eine Kampferspritze bekommen und war trotz des Blutverlustes leidlich frisch, nur das Sprechen fiel ihm schwer. Die Leichen wurden abseits zusammengetragen, zumeist Tuaregs vom Beni-Stamm, der die Hochplateaus nordwestlich von Dar Fur bewohnt, alles sehnige hohe Burschen, verschrien als Räubergesindel, dabei fanatische Moslim.

Bewers gönnte sich keine Ruhe. Das Verschwinden Frau Theresas und Eddas, Pelcherzims und Tschans konnte um so weniger aufgeklärt werden, als Gardner noch immer infolge seines schweren Lungenschusses besinnungslos war. Der General und ein Major, Kommandant der nächsten Militärstation, schritten im Morgengrauen düster und ernst gen Norden bis zur Pforte der Leprasiedlung. Bewers kaute an seiner erloschenen Zigarre und sprach nur in abgehackten Sätzen.

„Zum Henker, – wie soll ich dem Kerl etwas beweisen?!“ grollte er.

„Exzellenz haben recht – wahrscheinlich recht. Er hat sich den linken Arm kaputt schießen lassen: Bestellte Arbeit!“

„Und ob!! Aber wo kamen die verfl… Beni-Schufte in solchen Massen her?! Unsere Spionage klappt nicht, Major! Ich sollte abgekehlt werden … gerade ich, das ist mir ganz klar.“ Er blieb stehen. Er schnupperte, sog immer lauter die Luft durch die Nase ein und betrachtete den vielfach zerwühlten Sandboden vor dem Eingang zur Leprakolonie, der jedoch wie mit einer Harke oberflächlich geglättet schien. „Riechen Sie’s, Major? Das ist Karbol. Dieser Doktor Ibrahim Mostar, der Nachfolger des liebenswürdigen Deutschen Mechler, desinfiziert sogar den Vorplatz.“ Er war mit ein paar langen Sätzen am Tor. „Hallo, Doktor … Sind Sie’s?“

Hinter der zweiten inneren Pforte war trotz des Zwielichtes und der Büsche eine schlanke Gestalt im weißen Arztkittel zu erkennen. Bewers, dessen geschärfte Sinne aufnahmefähiger als sonst waren, hatte sich plötzlich daran erinnert, daß er hier nachmittags den alten Gauner Themistokles Menelos innerhalb des Stacheldrahtverhaus zu erkennen geglaubt hatte, nun kam noch anderes hinzu, einem ungewissen Verdacht eine bestimmte Form zu geben. Bewers kannte den Sudan genau. Er war ein leidenschaftlicher Jäger, nebenher besaß er streng wissenschaftliche Neigungen. Als Gouverneur, der mit der Spezialaufgabe betraut war, den Rauschgifthandel auszurotten, mußte er vielseitig, niemals einseitig sein. Es war ganz ungewöhnlich, daß man den Sandboden vor dem Eingang einer so fest gegen die Außenwelt abgeriegelten Leprakolonie, deren Insassen, selbst Ärzte und Pfleger und Aufsichtspersonal, nie mehr diese Stätte verlassen durften, derart stark mit Karbol tränkte und nachher noch mit großen trockenen Distelbüschen glättete, denn das war hier geschehen, wie Bewers sofort an den Kratzern im Sande gemerkt hatte. Er hatte sogar noch mehr festgestellt. Darüber schwieg er zunächst.

Doktor Ibrahim näherte sich auf den Anruf hin dem äußeren Tore. „Exzellenz, Sie befehlen?“

Er war ein noch junger Mann mit sehr viel arabischem Blut in den Adern, ein überaus höflicher Herr von vollkommenem europäischen Zuschnitt. Bisher war Bewers stets der allzu kriecherische Ton in seiner Stimme entgangen. Heute hatte er das scheußliche Gefühl, als ob er eine Schlange zischen hörte.

„Weshalb diese Karbolverschwendung, Doktor?“ fragte er ziemlich schroff.

Ibrahim zögerte mit der Antwort. „Exzellenz, leider wollten einige der Kranken die gute Gelegenheit benutzen und während des Überfalls entfliehen, da ein Teil der Wachen Seiner Hoheit, die um den Drahtzaun patrouillierten, unverantwortlicherweise ihre Posten verließen. Die Kranken hatten Dromedare aus den Ställen herausgeholt, und nur ein glücklicher Zufall brachte es mit sich, daß der Fluchtversuch fehlschlug. Allerdings gab es drei Tote und mehrere Verletzte. Deshalb meine Karbolverschwendung, Exzellenz.“

Bewers winkte ihm kurz zu. „Erledigt, Doktor … Trösten Sie sich, wir haben achtundzwanzig Tote … Sonst was Neues?“

„Nichts, Exzellenz.“

„Danke … Guten Morgen, Doktor, — kommen Sie, Major … Hier stinkt es mir zu sehr nach Krankenhaus.“ Aber des Generals halb scherzhafter Ton war nur für Ibrahim Mostar bestimmt. Als sie sich den verschütteten Stollen der westlichen Felsengruppen näherten, sagte Bewers zu dem Garnisonsältesten von Es Satib (das war die nächste Militärstation): „Major Garrison, wann können Ihre Dromedarreiter hier sein? – So, erst gegen mittag?! Etwas sehr lange Zeit noch bis dahin …“ – Er drehte sich jäh halb um und starrte Garrison grüblerisch an. „Haben Sie dem Hauptmann Jeffers den kürzesten Weg befohlen?“

„Gewiß, Exzellenz … Erst durch das Wadi Tarbu, dann die Straße vom Flughafen Dscharani hierher …“

„Verflucht!! Dieser Mossala Dschin steckt unbedingt mit den Tuaregs unter einer Decke. Der Bursche wird Ihre Dromedarreiter unterwegs überfallen lassen, der hat sich längst zusammengereimt, wie ich über ihn denke! Das Erscheinen der beiden Flugzeuge muß ihm ja die ohnedies recht hellsichtigen Augen geöffnet haben. Major, schicken Sie sofort die eine Maschine den Dromedarreitern entgegen. Dem Sultan reden wir vor, das Flugzeug solle Munition aus Es Satib holen. Wir haben keine Minute zu verlieren. Mossala Dschin ist weiß Gott mit allen Hunden gehetzt. Der riskiert alles. Der ahnt, daß es um seinen Hals geht! Und bei St. Georg: Sobald ich genügend Beweise habe, baumelt der Kerl! Die Geschichte mit Doktor Ferdinand Mechlers Tod durch Unfall ist sicherlich auch nicht sauber gewesen! Sturz mit dem Dromedar und Genickbruch!! Das Märchen fresse ich nicht länger! Also vorwärts … Hoffen wir zu Gott, daß das Flugzeug die Abteilung noch rechtzeitig warnen kann …! Sonst sind auch wir hier im Wurstkessel, Major!“

Sie kehrten um. Als sie das Lager erreicht hatten, meldete die zweite Ordonnanz dem General, daß Seine Hoheit vorhin mit dem schnellsten Auto nach Dscharani aufgebrochen sei und auch Mr. Gardner mitgenommen habe, damit beide im Schlosse ärztliche Pflege fänden. – Bewers war platt. Mossala Dschin ausgekniffen?! – Der ellenlange Fluch, den Charly Bewers hinter Seiner Hoheit herschickte, war Atemvergeudung. Das Auto konnte nicht mehr eingeholt werden. –

Theresa von Bruck hatte nach Eddas heimlichem Aufbruch noch eine Weile im matt erleuchteten Zelte an dem kleinen Tischchen gesessen und still vor sich hingeträumt. Tschanda lebte, Tschanda war gefunden, – der Gedanke verließ sie nicht, der Gedanke ließ die Vergangenheit in glutvollen Bildern abermals vor ihr aufsteigen, und heute bedurfte es nicht des gefährlichen Reizmittels, Oliver Brex herbeizuzwingen durch die Macht ihrer nunmehr ausgereiften Liebe. Die noch immer so bezaubernde Frau, die wie durch ein Wunder über fast zwei Jahrzehnte hinweg sich ihre Frische erhalten hatte, schrak zusammen, als durch den Schlitz der noch geöffneten Zeltplanen der Rückwand lautlos eine Gestalt hereinschlüpfte. Eine leise Angst packte sie, aber die Freude war größer. Es konnte ja nur Oliver sein. Die Enttäuschung war herb, aber nur kurz: Der Fremde trat in den Lichtschein, flüsterte seinen Namen Osmali und zog sich schnell wieder in den Schatten zurück …

Theresa war sofort bereit, dem alten Boma zu folgen, der ihr lediglich mitteilte, er solle sie zum Herrn der Steine führen. Sie ahnte, wer dieser Mann sei, von dem Edda im Tone begeisterter Bewunderung gesprochen hatte …

„Herrin, hülle dich in einen dunklen Mantel und nimm deine Waffen mit“, bat der Halbneger flüsternd.

Sie wateten durch die Zisterne, sie kletterten über Geröll und Mauern, sie krochen auf allen Vieren, und Frau Theresas zarte Hände spürten scharfe Gesteinkanten und Dornen. Aber all das machte ihr nichts aus. Ihre Gedanken liefen weit vor ihr her wie geflügelte, zu Lebewesen umgeformte Sehnsuchtsträume.

Sie kamen glücklich an den Wachen vorüber, und an der äußersten Nordwestgrenze der Oase, wo nur noch Gebüschstreifen sich in den Tarfid el Imar hineinschoben, bog der ortskundige Alte nach rechts ab und half seiner Begleiterin in eine tiefe Regenrinne. Kaum waren sie darin verschwunden, als weit vor ihnen ein Reitertrupp dahinjagte, so daß der zum Teil felsige Boden dröhnte und die Hufe dumpf klapperten.

Osmali hatte halt gemacht und horchte, schüttelte etwas verständnislos den Kopf, kletterte bis zum Rande empor und hielt Ausschau. Seine scharfen Augen bemerkten nur noch einen dunklen Klumpen, der sich schnell gen Westen bewegte. Er kehrte zu Theresa zurück, winkte ihr und schritt wieder voran. Plötzlich gewahrte Theresa unter der überhängenden Talwand eine Reihe glitzernder Säulen, auf denen ein flaches Spitzdach ruhte. Es war ein winziger altrömischer Tempel. Theresa war durch ihren Gatten immerhin etwas mit der Architektur Roms vertraut geworden. Diese ionischen Säulen, die offene Halle, die reichen Reliefs an den Wänden hatten einst die stolzen Legionäre des Weltreiches Rom zu feierlicher Andacht vor dem noch gut erhaltenen Altar und dem Standbilde des Kriegsgottes Mars vereinigt.

„Herrin“, sagte Osmali schlicht, „hiermit ist meine Aufgabe beendet. Der Herr der Steine bittet dich, vor diesem Altar auf den Stufen Platz zu nehmen und zu warten … Du erlaubst, daß ich mich entferne.“

Theresa war allein. Auf ihren Knien lag der leichte Karabiner, dessen kühle Metallteile ihr Mut gaben. Das Tal vor ihr, das sie bequem überblicken konnte, lag wie ausgestorben da. Trotzdem schrak sie zusammen, als unmittelbar hinter ihr eine eigentümlich dumpfe Stimme ertönte – wie aus einem langen Trichter: „Tritt hinter den Altar, Theresa … Die Treppe ist halb eingestürzt. Sei vorsichtig … Folge dem Stollen.“

Sie erhob sich, sie gewahrte einen Lichtschein, fand eine brennende Laterne und sah daneben ein noch glimmendes Zündholz. Das Metall der Laterne war noch kalt. Mutig schritt sie Stufe um Stufe hinab, immer hastiger, eilte sie den Stollen entlang, bis ein häßlicher Geruch ihre Nase traf und ihren Eifer dämpfte.

Nach zwei Biegungen, dann sah sie das klägliche Menschenwrack auf dem faulenden Stroh, und Entsetzen und Übelkeit preßten ihr die Kehle zu. Der Gestank war unerträglich, atemberaubend, und das Bild des Mannes dort in Ketten inmitten der Unratberge scheuchte sie rückwärts.

„Oliver, – – du?!“ – mehr brachte sie nicht über die Lippen. Sie taumelte gegen die Felswand, warf dabei einen Wasserkrug um, zertrat eine Holzschale mit Früchten und Hirsekuchen und beobachtete mit stieren Augen, wie der Tschandu sich erhob, hörte die Ketten klirren und poltern und vernahm dann eine Stimme, die so gar nicht zu diesem kläglichen, schmutzstarrenden, in schmierige Lumpen gehüllten Manne paßte. Es war die volle, weiche, schmiegsame Stimme des Tschandu, des Reverend Oliver Brex, des Hassers Englands, des Herrn von Dscharani.

Da erwachte Theresa. Seine Worte weckten sie auf.

„Du solltest sehen, was ein Teufel aus mir machen wollte … – Es ist genug, Theresa. Dieses Bild meines Elends soll dir unvergeßlich bleiben, damit du mein späteres Tun verstehst. Kehre um … Erwarte mich an der verfallenen Treppe zum Marstempel … Geh, ich bitte dich. Es ist genug.“

Sie blieb … Sie liebte ja. Ihre Augen waren nicht mehr die eines Weibes, das vor diesem schmutzigen Gespenst zurückweicht. Erbarmen und Mitleid färbten ihre Augen mit Tränen.

„Oliver, – – kann ich dir nicht helfen?!“ stammelte sie flehend.

Er lachte leise, glücklich, triumphierend.

„Theresa, jetzt habe ich gesiegt. Was mir vor achtzehn Jahren nicht gelang, – jetzt ist’s vollendet!“

Wie durch Schleier sah sie, daß er sich bückte. Seine Fußschellen fielen herab, hatten sich geöffnet …

„Geh’ voran“, bat er. „Ich möchte mich erst säubern. – Es ist genug“, endeten seine Worte mit weicher Zärtlichkeit.

Da gehorchte sie.

 

16. Kapitel.

Der Tanz des roten Mohns.

Terkellen hatte dem Anführer der Reiterschar versprochen, daß weder er noch Simkinson noch die Mädchen sich irgendwie widersetzen würden, falls man ihnen die Waffen beließe und die Augenbinden so befestigte, daß sie ihre Dromedare selbst lenken, also wenigstens den Erdboden sehen könnten.

Schweigend trabten sie dahin. Terkellen gab scharf auf alles acht. Er hörte am Hufschlag, daß der Trupp sich teilte, daß höchstens zehn Leute bei ihnen blieben. Dann ging es in ein Tal hinab, rechts in eine Schlucht hinein, über Geröllberge hinweg, wieder abwärts.

„Absteigen“, befahl der Führer.

Die Dromedare knieten nieder, Terkellen sah neben sich Eddas Reitstiefel, tastete nach ihrer Hand, und Hand in Hand ging es in den Berg hinein, durch kühle glatte Stollen, immer weiter, weiter, – durch ein Labyrinth von Gängen, bis der Schall der Schritte einen freieren Raum fand und zu Terkellens Füßen grelle Lichtflut schimmerte.

„Setzen Sie sich!“

Terkellen zog den mit Leder gepolsterten Sessel aus knorrigen, rötlichen Wurzeln näher an den Eddas heran. Dann fiel die Binde von seinen Augen, und er zwinkerte geblendet in das Licht unzähliger elektrischer Lampen, die an den Wänden und über ihm in der Kuppel dieses runden Bergwerkdomes erstrahlten.

Seine Augen gewöhnten sich an die Überfülle von Licht, und er sah, daß die glühende Erfindungs- und Gestaltungskraft des Sultans hier einen Thronsaal hingezaubert hatte, der nicht seinesgleichen hatte, selbst nicht in indischen Palästen mit ihren Marmorgedichten. Hier waren Seide und kostbare Gebetteppiche, Elfenbein, schwarze Holzarten mit mattem Glanz, Goldauflagen und Tierfelle, zumeist von Löwen, zu einem sinnverwirrenden Ganzen zusammengefügt, gleichsam nur als Folie für den Elfeinbeinthron, der drüben auf einer Estrade zwischen altägyptischen hohen Räucherständern seinen Platz halte, deren Schalen ein feiner aromatischer unmerklicher Rauch entquoll.

Terkellen fühlte Eddas Atem und Blick und schaute die Geliebte etwas unsicher an.

„Der Saal ist leer – außer uns vieren“ sagte er leise.

Ein heiliger Ernst, eine tiefe Ergriffenheit dagegen leuchteten aus Tschandas Zügen. Ihre Augen hafteten unverwandt auf dem Thronsessel. Dort, wo die Elfenbeineinfassung der Rückenlehne sich an der oberen, reich geschnitzten Leiste zu einem elfenbeinernen Halbmond emporwölbte, der aus einem starken Elefantenstoßzahn bestand, war in den Zahn ein aus Gold geschmiedetes großes T eingefügt.

T, – Tschandu, – die Ideenverbindung lag so nahe!

Und das Kind des großen Tschandu Oliver Brex fühlte hier zum ersten Male den Rausch der Erkenntnis der einstigen Machtfülle ihres Vaters. Sein Blut regte sich in ihr, seine Ideenwelt keimte in ihr auf, und in tiefster Versunkenheit gab sie sich dem Zauber dieser Umgebung hin und erwartete das Kommende mit brennender Ungeduld.

Simkinson nahm Rücksicht auf ihre Stimmung.

Seine kühlen Soldatenaugen gewahrten über dem Thronsessel am Rande der Kuppel etwas wie eine Galerie. Die Beleuchtung war dort spärlicher. Er betrachtete die drei durch schwere, golddurchwirkte Vorhänge halb verdeckten Zugänge zu diesem Thronsaal unter der Erde, und gleichzeitig mit Terkellen, dessen Vorsicht nie einschlief, sah er draußen in den dunklen Stollen regungslose Wächter, die sich auf ihre Büchsen stützten und deren Köpfe im Finstern blieben.

„Wir werden doch beobachtet“, flüsterte er.

„Das war anzunehmen“, nickte Terkellen und streichelte Eddas Hand.

Edda lehnte sich noch fester an ihn. Diese körperliche Berührung löste süße Schauer in ihr aus. Das Bewußtsein, sich ihr Glück doch noch erobert zu habend war frei von aller Glut heißer Wünsche.

Ihre Seele gehörte Rolf, wie seine Seele ihr gehörte, weil der Liebe Urgesetz erfüllt war für sie beide! Ein unendliches, stilles und doch erschütterndes Empfinden vollsten Geborgenseins schaltete alles das aus, was nur Instinkt und Trieb war. Ihre Finger verschlangen sich in die Rolfs, und ohne Furcht spann sie den Gedanken fort, ob der Tod jetzt für sie noch irgendwelche Schrecken besäße. – Nein. Denn sie liebte, und ihr Leben war reich geworden.

Terkellen betrachtete sie etwas von der Seite. Er sorgte sich um die nächsten Stunden. Es wollte gar nicht besagen, daß man ihnen die Waffen belassen hatte. Mossala Dschin verfügte über eine kleine Armee und allerlei Verbündete. Was beabsichtigte der Sultan eigentlich? Es konnte nur etwas ganz raffiniert Teuflisches sein.

Jetzt bereute Terkellen bereits, nicht doch durch einen kühnen Handstreich die Freiheit für sich und seine Gefährten erkämpft zu haben. Das Risiko war ihm zu groß erschienen. Simkinson mit seinen zerschossenen Arm kam als Helfer kaum in Betracht, und – die Hauptsache! – die Gefahr für Edda und Tschanda, bei einer Schießerei getroffen zu werden, durfte nicht unüberlegt und vorschnell heraufbeschworen werden. Trotzdem: Terkellen wünschte jetzt, er hätte doch eine Entscheidung mit den Waffen in der offenen Steppe herbeigeführt! Hier in diesem unterirdischen Thronsaal blieb ihm nur eine Chance, die Mädchen zu schützen, und diese Chance wollte er nötigenfalls mit derselben brutalen Gewalt ausnutzen, die des Sultans Untaten und sonstiges verbrecherisches Treiben kennzeichneten.

Fernher ertönte mit einem Male Musik. Erst nur einzelne Töne in weichem Diskant, dann der volle leise Klang eines Orchesters … – Die vier Menschen, die hier einsam inmitten dieses farbenfrohen Thronsaales ein ungewisses Geschick erwarteten, unterschieden allmählich die Zusammensetzung der Instrumente und erkannten die eigentümliche Klangfülle der halb europäisch geschulten Kapelle der fürstlichen Leibgarde, deren Dirigent, ein früherer farbiger Militärkapellmeister der Sudan-Armee, seine zweiunddreißig Leute tadellos ausgebildet hatte.

Die frische, aufreizende Marschmusik, in die nur stets einige Takte rein einheimischer Instrumente schrill und gellend eingestreut waren, näherte sich, ertönte schließlich dicht neben den vier aufhorchenden Gefangenen, und doch blieben die Musiker unsichtbar. Es mußte dort links einen sehr breiten, jedoch mit Seide verdeckten Stollen geben.

„Seiner Hoheit Präsentiermarsch und Nationalhymne!“ flüsterte Percy Simkinson grimmig. „Welche Frechheit von dem Burschen!! Er müßte uns noch gedruckte Programme überreichen lassen! Das fehlte noch!“

Es fehlte an nichts. Wie hingezaubert standen zwölf schlanke, sehnige Krieger vor ihnen.

„Gebt die Waffen heraus!“ befahl der eine.

Terkellen hielt seinen Tropenhelm im Schoße, stülpte ihn jetzt wieder auf den Kopf und gehorchte schweigend. Es ging nicht anders.

Immerhin … –

Tschandas Temperament wallte auf. „Das ist wider die Abmachung, wir sollten die Waffen behalten dürfen!!“

Sie flog aus ihrem Sessel empor. Ihr Gesicht war schneeweiß.

Der Dscharani-Krieger, der die Goldlitzen eines Unteroffiziers an seinem keck aufs linke Ohr gedrückten Tarbusch trug, wich zurück. Tschanda glich mehr denn je in dieser zügellosen und doch auch streng beherrschten Wildheit ihrem einst so fanatischen, von Haß zerfressenen und dennoch in Wahrheit großen und ideal gesinnten Vater. Tschanda ward mit einem Schlage das, was ihrem Wesen allzeit die besondere Prägung gegeben: Ein Weib mit Herrschernatur, eine Gebieterin im Reiche halb verwirklichter Illusionen! – Sie ward Tschanda, die Tochter des großen Tschandu. Und das besagte alles.

Die Musik schwieg. – Drüben waren die halb geöffneten Vorhänge des einen Stollens völlig zurückgeschlagen worden. Mossala Dschin, nicht mehr der heuchlerische Förderer abendländischer Zivilisation, – nein, der Sultan von Dscharani, der Beduinenfürst, der Mohammedaner, der Enkel des Feldherrn des Mahdi, war eingetreten.

Nichts mehr von europäischer Tracht. Nichts mehr von dem verbindlichen Lächeln des Weltmannes … Nichts mehr von dem klug gezügelten Blick der langbewimperten Fanatikeraugen … Der, der dort, herausgeputzt zu einer Fantasiegestalt eines Kalifen aus Harun al Raschids Zeiten, regungslos stand, die Rechte leicht auf den Griff eines krummen Säbels gelehnt – Theaterfigur vielleicht, trotzdem geschmackvoll in ihrer Würde, brutalen Anmaßung und dem ungekünstelten Selbstbewußtseins – war ein Vertreter jener schrankenlosen Machtfülle, jenes bedingungslosen Absolutismus, mit dem einst der erste Mahdi und sein Nachfolger sogar das stolze Albion herausgefordert und halb Afrika in Flammen gesetzt hatten.

Die Seele des Orientalen wird dem allzu nüchtern denkenden Mitteleuropäer stets ein Rätsel bleiben. Der fatalistische Schwung dieser Herrscher, die einen Slatin Pascha in Ketten niederste Dienste leisten ließen, die ihren Kriegerscharen vorausstürmten und mit der Selbstverständlichkeit von Helden auf dem Schlachtfelde verbluteten, – dieser ungeheure innere Antrieb, für eine Idee sein Leben hinzugeben, ist verwässert worden durch jene Überkultur, an der ein Rom, Athen, Sparta zu Grunde gingen.

In Tschanda war ein neues Wesen geboren: Die Sultana! Sie trat mit schnellen, jedoch keineswegs hastigen Schritten vor den Sultan hin, dessen eiskalter Mörderblick, zugleich der Blick eines in der eigenen Glut des Fanatismus Verbrennenden, sie eigentlich hätte zurückscheuchen müssen.

Tschandas Augen aber sprühten denselben kalten Glanz.

„Thronräuber, Verräter, Wortbrüchiger!“ rief sie dem Sultan in das starre Gesicht. „Mehr noch: Mörder, vielfacher Mörder!! Schau mir ins Antlitz, dann weißt du, wer ich bin!“

Mossala Dschin, dessen linker Arm in einer durch die Falten seines schneeweißen Haik verborgenen Schlinge hing, blickte Tschanda lange an.

„Bindet sie!“ befahl er, ohne die Stimme irgendwie zu verstärken.

Tschanda schrie auf. Ein riesiger Neger, der mit zur Leibwache des Sultans gehörte, hatte blitzschnell ihre Handgelenke gepackt, und unter dem Druck seiner Gorillapranken polterte die Pistole dumpf auf die seidig glänzenden Teppiche. – Mossala Dschins Leben hatte hier an einem Fädchen gehangen. Noch hielt dieses Fädchen – wie lange?!

„Simkinson, – – keine Torheiten!“ sagte Terkellen hart und riß den Engländer zurück.

Man fesselte die vier … Tschanda war vollkommen gleichgültig geworden. Aber ihre zusammengesunkene Haltung in ihrem Sessel erinnerte an die eines allzeit sprungbereiten Pantherweibchens. Um ihren Mund mit den dünnen Lippen, auch ein Erbteil ihres Vaters, spielte sogar ein Lächeln, als der Sultan in pomphaftem Aufzug auf dem Thron des Tschandu Platz nahm.

Er lehnte sich zurück. Die Musik begann von neuem eine monotone Melodie, nur zuweilen von schrillen Klängen unterbrochen, und erfüllte den Prunkraum mit den sanften Schallwellen ihrer getragenen Töne. Aus dem zweiten Stollen flatterten wie Mohnblüten, die der Sturm geknickt hat und die eine milde Briese davonweht, schlanke Fellachenmädchen in wiegendem Gleichschritt herein, zwanzig Tänzerinnen mit ganz hellen Gesichtern, schmachtenden dunklen Augen und erst halb entwickelten Körpern, im schwarzen Haar Kränze von Mohnknospen, um die nackten Glieder zwei riesige rotseidene Mohnblüten gegürtet, die das Profil ihrer Leiber unbedeckt ließen.

Sie tanzten Tschandu! Den Tanz des Mohnes, des Opiums.

Mossala Dschin saß ohne Anteilnahme da. Seine Gäste, jetzt seine Gefangenen, sollten einen Einblick gewinnen in die Fülle seiner Macht und Herrlichkeit. Er war übergroß als Fanatiker, als Verbrecher, er litt auch an der Eitelkeit der meisten verbrecherischen Naturen. Im Augenblick trat sogar dies vor dem heimlichen Triumph zurück, Tschanda in seiner Gewalt zu haben und durch Tschanda den Tschandu zu zwingen, das Versteck der Schätze des Kalifa zu verraten. Und noch ein zweiter Triumph war ihm beschert: Dort saß Edda von Bruck, nach der er fieberte, und neben ihr saß Terkellen, den er besinnungslos haßte und den Edda liebte.

Aus den frisch gefüllten Becken der altägyptischen hohen Weihrauchständer stieg dunkler Dunst empor. Aromatischer Duft breitet sich aus, die Musik wurde lauter, schriller, aufpeitschender, die Tänzerinnen wirbelten durcheinander, standen still, bogen die Leiber zur Seite, pendelten hin und her wie Mohnblumen im Winde. Urplötzlich gellten helle Trompeten, tiefe Bässe fielen in Kadenzen ein, und dieser musikalische Wirbelsturm war das Zeichen zum Höhepunkt des Tanzes des roten Mohns.

Die Seidenhüllen fielen, nackt standen die halbreifen Mädchen da …

Halbreif wie die Mohnkapseln, deren Haut mit feinen Messern geritzt wird, so daß der Saft austritt und nachher als Harz eingesammelt werden kann: Opium!!

Kein Europäerauge hatte je diesen Tanz geschaut.

Des Sultans unerschöpfliche Fantasie hatte den Handel mit Tschandu, aus dem er Milliarden gewinnen wollte, mit den Zeremonien eines heiligen Mysteriums verbrämt.

Terkellen entging nichts … Seine vielseitige Bildung hatte ihm bereits aus der Art des Tanzes der jungen Fellachenmädchen gezeigt, daß es sich hier um eine Nachahmung der berühmten und berüchtigten eleusinischen Mysterien des alten Hellas handelte. Er war gespannt, wie weit die Verherrlichung des Mohns als Spenderin des Opiums gehen würde, er war zugleich abermals überrascht durch Mossala Dschins so überaus geschickte Regiekunst, die seinen Untertanen, die auf Gedeih und Verderb ihm hörig waren, einen verbotenen Handel und heimliche, damit in Verbindung stehende Verbrechen durch dieses echt orientalische Verquicken von bachantischen Schaustellungen und dunklen Geschäften schmackhaft zu machen wußte. Der Sultan war unbestritten in seiner Art ein Genie, sowohl als Staatsmann wie auch als künstlerisch veranlagte Natur und als Rauschgifthändler. In seinen Charakterzügen spiegelte sich überall die gefährliche Blutvermischung seiner europäischen und seiner arabischen Ahnen wieder.

Die knospenhaften Körper der Fellachinnen, deren Nacktheit nichts Anstößiges an sich hatte, gruppierten sich im Halbkreis um den Thron, knieten nieder, warfen die Köpfe zurück und preßten die Oberleiber weit vor. Ein weißbärtiger Araber mit ungeheurer Hakennase, Riesenturban und altertümlichen Schnabelschuhen trat vor, hielt in der Linken eine flache goldene Schale und in der Rechten ein kleines Messer. Nachdem er dem Sultan seinen demütigen Gruß entboten hatte, stellte er sich vor die erste Tänzerin am rechten Flügel hin und hob das Messer.

Edda, von Entsetzen gepackt, schloß die Augen und legte den Kopf hilflos auf Terkellens Schulter. Auch ihr hatte man nur die Hände im Schoße gefesselt, und Rolfs genau so umschnürte Hände fanden sich mit den ihren zusammen, die Finger schlangen sich ineinander, und weich und zärtlich raunte er ihr schnell zu. „Fürchte nichts … Schaue hin … Es ist nur eine Kulthandlung, es ist ein ähnlicher Vorgang wie beim Abzapfen des Opiums aus den halbreifen Mohnknollen …“

Der alte Araber hatte bereits zwischen den sanft gerundeten Brüsten der ersten Fellachin die Haut mit dem haarscharfen Messer geritzt und die herausquellenden Blutstropfen in der Schale aufgefangen. Die unsichtbare Kapelle spielte ganz gedämpft. Terkellen hätte lächeln mögen. Es war das Largo von Händel. Deutsche Musik als Begleitung dieses Kultes: Es war etwas ungewollt Komischen dabei! Für Terkellen zerrann der Spuk dieser pomphaften Theaterszene, und für ihn grinste dort oben auf dem Throne von Elfenbein nur mehr die Teufelsfratze eines Verbrechers. Denn das war Mossala Dschin in erster Linie.

Nachdem der greise Araber auch seine letzte lebende Mohnfrucht einige Tropfen roten Lebenssaftes beraubt hatte, reichte ihm ein anderer ähnlich greisenhafter Araber einen silbernen Krug, der offenbar gegorenen Dattelsaft, Marsal, enthielt, eines der berauschendsten Getränke, da niemals ein Absud von Hanf dabei fehlt. Er spülte die Schale aus, goß Blut und Marsal in den Krug zurück, ein Diener mit einer goldenen Platte stand neben ihm und reichte dem Sultan das Gefäß. Mossala Dschin nahm es mit beiden Händen, erhob sich und kniete nieder. Die Fellachinnen warfen sich lang zu Boden, drückten die Stirn auf die glänzenden Teppiche, und das ganze Gefolge tat das gleiche.

Die Wächter, die hinter den Sesseln der vier Gefangenen stehen geblieben waren, stießen diese ebenfalls zu Boden, rohe fanatische Fäuste nahmen keinerlei Rücksicht mehr. Terkellen hatte Ähnliches erwartet, sein Tropenhelm fiel nach vorn, rasch beugte er sich darüber und gab Eddas Hände frei. Er brauchte seine Hände zu anderem.

Die Musik schwieg, der Sultan trank, leerte das Gefäß und stand wieder auf. Der Diener nahm ihm den Krug ab. Mossala Dschins düstere Augen suchten die einzige, die es gewagt hatte, sich den Fäusten der Wächter zu entwinden und die hoch aufgerichtet dastand, im bleichen Gesicht ein unendlich geringschätziges Lächeln.

Tschanda hielt dem drohenden Blick des Sultans herausfordernd stand und sagte dann klar und laut. „Deine Stunde ist gekommen, Verräter! General Bewers wird dich aufknüpfen lassen, wie du es verdienst!“

Ein einziger Wutschrei durchgellte den unterirdischen Prunkraum. Das Gefolge des Fürsten, die Tänzerinnen, die Würdenträger von Dscharani waren aufgesprungen. Jäh verstummte die Musik. Die Leibgarde Seiner Hoheit machte Miene, sich auf Tschanda zu stürzen. Noch nie war die feierliche Zeremonie des Tanzes des Mohns, die alle vier Monate stattfand, so frech entweiht worden. In all diesen ehemaligen Kämpfern des Mahdis und deren Nachkommen schäumte der Europäerhaß wie einst bis zum Blutrausch über. Eine Horde bestialisch verzerrter Gesichter forderte Vergeltung. Abermals kreischten die Stimmen auf, – – abermals streiften Tschandas Augen vorsichtig die in den Dunst der Weihrauchwolken gehüllte kleine Galerie über dem Thronsessel.

Sie lächelte stolz und verächtlich, als man sie packte und vor den Thron schleppte. Simkinson folgte ihr, schneeweiße Flecken um die Nase, in den Augen eine lodernde Wut.

Mossala winkte. „Gebt sie frei …!“

Tschanda trat noch einen Schritt vor.

„Willst du deinen Vater sehen, Tschanda Brex?“ fragte der Sultan gedämpft.

„Ich sehe ihn, Verräter …! Aber ich sehe ihn anders, als du denkst“, meinte die Tochter des Tschandu kalt. „Du hoffst, mich als Zwangsmittel benutzen zu können … Du bist ein … Narr! Schau her?“

Mit ihren gefesselten Händen riß sie unter ihrer Sportjacke ein Ledertäschchen hervor und hielt dann dem zurückweichenden Sultan den Halbmondsmaragd des Mahdi hin.

„Mossala, mein Vater lebt … Ich sehe ihn. Und du siehst hier das, was mir gebührt. Mein Vater allein trägt das Blut des ersten Mahdi in seinen Adern, die Engländer brachten ihn als Knaben nach London. Seine Mutter war eine Engländerin. Hauptmann Simkinson ist in die Einzelheiten eingeweiht. Man erzog das Kind als Engländer, man schickte den heranwachsenden Jüngling nach Oxford, ließ ihn studieren. Seine Intelligenz überflügelte die aller Altersgenossen, und aus Staatsinteresse zwang man ihn, das Studium zu wechseln und Geistlicher zu werden. Nach glänzend bestandenen Prüfungen wurde er einer englischen Gemeinde zugeteilt, hier aber ward seine Herkunft bekannt, und als er einmal eine religiöse Handlung vornehmen wollte, beschimpfte ihn die Menge und jagte ihn unter Steinwürfen als Farbigen von einem offenen Grabe weg. Da erst wurde meinem Vater das Geheimnis seiner Abstammung offenbar, und von da an ward er ein unerbittlicher Feind derer, die ihm die Wahrheit verschwiegen hatten. Auch er schwieg. Die Steinwürfe und Beschimpfungen vergaß er nie. Er ging als Missionar nach dem Sudan, er begann sein Rachewerk, das Blut des Sudan in ihm war stärker als das seiner weißen Mutter. Das ist seine Geschichte. Bis heute … Was du, Mossala, über seinen Tod an Gerüchten ausgesprengt hast, sind Lügen. Er lebt. Jetzt weiß ich es, und du weißt es erst recht. Zu deinen Ohren drangen Nachrichten, hier in der Steppe und in den Bergen ginge ein gefährlicher Feind deiner Ränke um, vielleicht hörtest du den Namen: Herr der Steine! – In einsamen Siedlungen tauchte er auf, spürte dir nach, warb Anhänger, – er, mein Vater …! Mossala, denke an den Zettel, den Terkellen deinem Unterführer am Kuppelberge der roten Säule gab! Deine Zeit ist um, deine Uhr ist abgelaufen … Der große Tschandu lebt, bewegt sich frei nach seinem Willen, und in deinen Zügen zuckt die Angst und geistert die Farbe der Todesfurcht.“

Der Sultan, aschgrau im Gesicht, hatte die nach dem Smaragd ausgestreckte Hand längst wieder sinken lassen. Aus seinen flackernden Augen drängte sich immer mehr ein tückisches Flimmern in den Vordergrund. Seine Oberlippe zog sich empor und legte die starken weißen Zähne bloß, seine Nasenflügel machten die Bewegung mit … Der Blutrausch überkam ihn. Das Getränk von Marsal und Mädchenblut pochte in seinen Adern wie Fieber.

„Reißt ihr die Kleider herunter!“ befahl er heiser. „Sie soll tanzen, – – den Tanz des Mohns, und dann wird sie ihren Lebenssaft hergeben bis zum letzten Tropfen!“

Simkinson wurde gepackt, weggedrängt, – der riesige Neger streckte die Hand nach Tschanda aus.

In Terkellens Tropenhelm lag die kleine Pistole, die er neben den anderen Waffen stets bei sich trug. Er hob die Hände, zielte, stand aufrecht. – „Ein Wort noch, Sultan …“. Seine Stimme dröhnte durch die Kuppel.

„Die erste Kugel Ihnen, Sultan, sobald mich jemand anrührt! Ich warne Sie!“

Ein eigentümliches Schwirren folgte dem letzten Wort. Terkellen fühlte einen derben Schlag gegen die Stirn, taumelte zurück, etwas Blankes fegte an seinem Gesicht vorüber und klatschte klirrend gegen die Wandbespannung …

Dann erloschen sämtliche Lichter.

 

17. Kapitel.

Jugendfreunde und ein Kind ohne Vater.

„Zwei Lebende sind wertvoller als zwei Tote“, hatte Tschan dem Sportberichterstatter erklärt, und Pelcherzim sah die Wahrheit dieses Wortes ein.

Der Kampf in der Oase ging weiter. Tschan zupfte Pelcherzim am Ärmel. „Jetzt!! Da unten stehen die Berbergäule … Wir müssen meinen Herrn retten …“

Niemand beachtete sie. Die Flugzeuge, aus denen die Strahlenkegel der Scheinwerfer auffunkten und die bleierne Saat herabfegte, bemerkten die beiden Reiter nicht.

Der alte Chinese jagte voran. Der Hengst, den er erwischt hatte, war jung und fraß im Galopp die Entfernung. Aber die Kuppe war leer, sie fanden wohl Spuren, jedoch keine menschliche Seele, und die Fährten des Reitertrupps ließen sich im Geröll eines Wadi nicht länger verfolgen.

Tschan sagte beklommen: „Kehren wir um … Ich habe dem General etwas mitzuteilen.“

Von Osten her kam ihnen ein einzelner Reiter entgegen. Der alte Osmali, der Frau Theresa gehorsam zum Marstempel geleitet hatte, zügelte sein Dromedar.

„Das ist ja Osmali, Tschan“, rief Pelcherzim erfreut. „Hallo, Osmali, was führt dich hierher?!“

Der alte Boma schluckte die erste Angst hinab und grüßte höflich. —

Charly Bewers, den die eilige Rückkehr Mossala Dschins nach Dscharani genau so sehr beunruhigte wie das ungewisse Schicksal des unterwegs befindlichen Hilfskorps, saß mit Major Garrison in finsterem Brüten vor seinem Zelte. Finster musterte er die Überlebenden der Leibwache, die drüben die Toten begruben. Er traute diesen Kerlen nicht. Er traute nur den gut postierten vier Maschinengewehren, die die ganze Oase bestreichen konnten.

Feldwebel Ali, dem solch eine Kleinigkeit wie ein glatter Durchschuß nichts ausmachte, beaufsichtigte die zweifelhaften Lagergenossen, denen auf Bewers Befehl alle Waffen abgenommen waren.

„Exzellenz, das Auto Seiner Hoheit kehrt zurück“, meldete Aii etwas matt.

Die beiden Offiziere sprangen auf. Zwischen den Bäumen glitt der elegante Wagen des Sultans hindurch, am Steuer saß eine halbe Leiche mit Blutkrusten um den Mund und erloschenen Augen: Heribert Gardner!

Bewers lief ihm entgegen.

„Gardner, Mann, wo kommen Sie denn her?!“

Er lehnte sich vor, schaute in das offene Auto hinein, fuhr zurück. Hinten, zwischen den Polstersitzen lagen der Schofför und ein Diener des Sultans mit quittengelb verfärbten Totengesichtern.

„Kampfer …!“ hauchte Gardner und stoppte den Wagen.

„Garrison, – – schnell, die Reiseapotheke!“ rief der General dem Major zu.

Bewers hob den halb Ohnmächtigen vom Sitz und trug ihn zum Zelt. Gardner lächelte seltsam, als der General ihm die Spritze verabfolgte.

„… Vielleicht wird … aus mir … ein Mann, Exzellenz …“

„Was soll das?!“

„Ich … habe den … Schofför und den Diener erschossen … Das sind Nummer zwei und drei, Nummer eins war Francois …“

„Wo ist der Sultan geblieben?“

Gardner atmete röchelnd. „Der?! Oh, der hatte mich … unterschätzt … Der wollte mich unterwegs ganz abtun … Ich merkte es … Ich konnte nur eins: Mich tot stellen … Halbtot war ich ja … Der Sultan ritt davon, und als der Schofför den Wagen wieder … – nein, es war zu gräßlich, – – ich … schoß eben …! Vielleicht … bin ich ein Mörder!“

„Ein Mann sind Sie! Hand her, Gardner! Bis jetzt hielt ich verdammt wenig von Ihnen. Sie waren mir zu schlapp … Jetzt – – wie gesagt – – das haben Sie gut gemacht! Also ein Reitdromedar hatte dieser Bandit am Wege versteckt! Wo ritt er hin?“

„In den Sanddünen war ein ganzer Trupp verborgen … Ich glaube, sie bogen nach Norden ab – – später … Ich weiß nicht, … ich … bin … sehr … müde …“

Gardner hatte das Bewußtsein verloren. Bewers fühlte ihm ängstlich den Puls. „Keine Gefahr, Garrison … Der Puls ist schwach, aber regelmäßig. Tragen wir den armen Kerl ins Zelt.“

Ein Schalten fiel neben ihn auf das Gestein, und die ersten Sonnenstrahlen zeichneten Tschans Profil mit dem winzigen Näschen so deutlich auf die Felsen, daß Bewers sich überrascht und erfreut umdrehte.

„Tschan, Sie …?! – – Endlich! Wo steckt Pelcherzim?“

Tschan hatte sich tief verneigt, richtete sich wieder auf, schaute erst rundum und dann den General an. „Exzellenz, ich werde Mr. Gardner in sein Zelt tragen, und …“

„Das geht nicht. Dort liegt noch dieser Francois, und dem ist nicht ganz wohl.“

Tschan zwinkerte mit den dünnen Lidern, als ob er in eine grelle Flamme blickte. „Wenn ihm nicht ganz wohl ist, dann ist er tot. Und das ist gut. Es erspart Arbeit.“

„Allerdings!“ nickte Bewers grimmig. Der alte Chinese kam ihm etwas geheimnisvoll vor. „Wollten Sie mich unter vier Augen sprechen, Tschan?“

„Nachher, Exzellenz …“

Nachher, – das war, als er Gardner als sehr geschickter Wundarzt frisch verbunden und sauber gebettet hatte.

Er schritt neben Bewers schweigend gen Nordwest und führte den General zwischen die überwucherten Geröllhaufen unweit der verschütteten Stolleneingänge. Hinter einer kleinen Palme, die von Dornenranken halb erstickt war, erhob sich Osmali und fallamte unterwürfig.

„Wer ist das, Tschan?“ fragte der General sehr gedehnt. Er ahnte noch weitere Überraschungen.

„Exzellenz, das ist ein Boma namens Osmali ibn Darfa, ein Vertrauter des Herrn der Steine, von dem man so viel flüstert. – Osmali, berichte Seiner Exzellenz. Habe keine Angst. Obwohl ich dir erst die Pistole in dein mageres Genick setzen mußte, bevor du die Lippen ohne Ausflüchte benutztest. Rede!“

Bewers ließ sich nicht anmerken, wie verblüfft er war.

„Du hast also Frau von Bruck bis in den altrömischen Tempel gebracht. Mithin führt von dort ein Stollen in das alte Bergwerk.“

„Ja, Herr.“

„Wie lerntest du diesen Verschleierten kennen?“ setzte der General das Verhör fort.

„Es mag Jahre her sein, vielleicht drei … Da jagte ich im großen Tale drüben im Tarfid el Imar junge Strauße, deren Fleisch sehr schmackhaft ist. Ich weiß, Herr, es ist verboten …“ Er wurde ängstlich … „Die Tiere sollen geschont werden, ich weiß, aber …, nun, da rief mich jemand aus dem Tempel an, warf mir einen Beutel mit Maria Theresien-Silberlingen zu, wie sie drüben in Abessinien als Münzen dienen, und befahl mir, ihm folgendes zu besorgen und nach einer Woche auszuhändigen: „Drei schmale Stahlfeilen, eine Rundfeile, Eisenblech von der Dicke frischen Grases (also einen Millimeter stark) und eine Pistole und ein Dromedar. Ich gehorchte, denn ich hatte Furcht, weil der Unsichtbare wie ein Toter stank …“

„Er stank wahrscheinlich anders“, murmelte Bewers und blickte Tschan dabei an.

Der Chinese bewegte die dünnen Lippen, und der Name, den er unhörbar formte, war für Bewers jetzt gar keine Überraschung mehr. Er hatte es plötzlich sehr eilig. „Bleibe hier sitzen, Osmali …“

„Exzellenz“, sagte Tschan zehn Schritte weiter, „Eisenblech und Feilen beweisen, daß der Tschandu irgendwie einmal Gelegenheit fand, seine Fesseln abzustreifen, daß er sich aber Schlüssel für seine Stahlfesseln zurechtfeilen wollte. Er tat es, und er war frei.“

Bewers starrte zu Boden und klopfte gegen seine Pistolentasche. „Ein schweres Problem, alter Tschan … Der Tschandu, – gewiß, seine Taten sind verjährt … Aber wir hier, wir sind zu wenige, um …“

Tschan hüstelte dünn. „Exzellenz, Sie verzeihen … Leben in der Leprasiedlung wirklich noch Aussätzige? – Ich zweifle daran.“

Bewers hob langsam den Kopf. Aus den stahlharten Soldatenaugen trifft den bescheidenen Chinesen ein durchbohrender Blick.

„Und die Beweise, Tschan?!“

„Eine Reiterschar kam aus der Pforte der Leprakolonie …“

„Das sah ich … Doktor Ibrahim desinfizierte zu viel und harkte zu viel.“ Er überlegte. „Tschan, wir werden Frau Theresa folgen … sofort. Wir nehmen das eine Maschinengewehr mit, nein, zwei … Und den braunen Schuften im Lager, mögen sie auch ohne Waffen sein, geben wir für ihre Pfeifen den Inhalt des Beutels vom Schaft des Pfeiles aus der Brust des Aasgeiers: Tschandu!! Und wenn sie nicht rauchen, Tschan, bis sie wie die Leichen daliegen, werde ich nachhelfen!!“

Er wandte sich dem Lager zu, während Tschan neben ihm hertrippelte. „Und was ist mit Pelcherzim los?! Osmali machte da eine Bemerkung über eine Frau, eine Araberin, der ihr begegnet seid. Weshalb blieb Pelcherzim bei ihr?“

„Er mußte, Exzellenz …“ Tschan wand sich wie ein Wurm, der unversehens auf einen stacheligen Distelkopf geraten ist.

„Mußte?! – He, was soll das, alter Heide?! Raus mit der Sprache!“

„Ja, er mußte, Exzellenz, und das Ganze ist ein böses Geheimnis“, stotterte der bekümmerte Tschan. „Wenn nur das Kind nicht wäre, Exzellenz, mein verehrter Herr hat so sehr strenge Grundsätze …“

Bewers fuhr herum und packte Tschan bei der Schulter.

„Verdammt, mir geht ein Licht auf …! Handelt es sich um die Beduinin, die euch an dem zerstörten Baobab am Wadi Tarbu entschlüpfte – angeblich! Sollte das etwa …“ – er stockte und suchte nach Worten – „etwa Miß Hildegard, die Verschollene, gewesen sein? – – Sie ist’s! Tschan, Kopf hoch, mich ansehen!! Sie ist’s! Und was soll’s mit dem Kinde?!“

Tschan holte ganz tief Atem. Einmal mußte die Wahrheit ja doch an den Tag. Er erzählte alles, er redete sich in Eifer hinein, er verteidigte seinen Liebling Hilde, er beteuerte, daß sie Furchtbares erlebt haben müsse, aber nicht eine Silbe habe sie darüber verloren.

Der General starrte nachdenklich durch die Büsche hinüber zum weißen Turm des Verwaltungsgebäudes der Leprasiedlung. Sein strenges braunes Gesicht mit den festen Linien wurde immer finsterer. „So, - – und dann entfloh sie euch aus dem Flugzeug …! Mit ihrem Kinde! Oder – – jemand nahm sie mit sich, der allgegenwärtig ist, der sich Schlüssel zurechtfeilte: Der Tschandu!“ Seine metallische Stimme schwoll an. „Nun ist mir auch Herrn Mossalas erstaunliche Hast erklärlich, mit der er den Baobab vernichtete. Ahnt denn Terkellen so gar nichts davon, daß die Beduinin seine Schwester war?“

Tschan hüstelte trocken. „Ich fürchte, Exzellenz … Er fand in der Asche einen Büchsenlauf, und das ausgeglühte Stück Eisen liegt jetzt unten in seinem Koffer. Mein Herr ist ein sehr verschlossener Mann in vielem, Exzellenz …“

Bewers zog Tschan mit sich fort. „Wir wollen keine Zeit verlieren. Mir ist Himmelangst um diese Menschen, die das Schicksal hier umherwirbelt wie lose Blätter – – nein, wie keimfähige Samenkörner. Die dürfen nicht sterben. So wahr ich Charly Bewers heiße: Heute wird Schluß gemacht, so oder so!! – Wo wollte Miß Terkellen denn mit ihrem Kinde hin?“

„Das weiß ich nicht. Sie weinte nur … Und ich mußte Ihnen doch melden, was uns der Boma mitgeteilt hatte, Exzellenz …! Sie ritt ein gutes Dromedar, den Säugling hatte sie sich unter den blauen Haik auf den Rücken geschnürt, außerdem hatte sie ein Lasttier bei sich mit Proviantsäcken, das gleichfalls gesattelt war …“

Bewers schritt eiliger aus. „Tschan, – Sie sorgen dafür, daß die unzuverlässigen Kerle fest einschlafen! – Major Garrison, auf ein Wort …“ Sie hatten die Zelte erreicht.

Der alte Chinese lehnte an einer Palme, in jeder Hand eine Pistole. Vor ihm hockten zwanzig Baggaras von der Elitetruppe seiner Hoheit, jeder den Tschibuk im Munde, jeder mit Augen im fahlen Gesicht, die weit hervorgequollen waren. Tschan lächelte und beobachtete. Er hatte eine Stelle gewählt, die ganz dicht mit Büschen umwachsen war, eine lehmige Mulde, in die niemand von der Leprasiedlung Einblick gewinnen konnte. Er lächelte dünn und rachsüchtig und höhnisch. „Ihr habt das Tschandu irgendwo ernten helfen, nun sollt ihr den Lohn haben …! Raucht nur raucht! Saugt das Gift ein. Wer es nicht tut, wer mich täuschen will, erhält eine andere Pille, aus Blei mit Nickelmantel. Ich sehe jedem an, der betrügen will … Eure Pupillen müssen sich bis zu Stecknadelknopfgröße zusammenziehen … Das ist das Zeichen der Ehrlichkeit eures Genusses. Ihr werdet träumen, und wenn ihr ausgeträumt habt, werdet ihr in die Hölle fahren. Der General will es, und …“ – er brauchte kein Wort mehr hinzuzufügen, er hatte ganz, ganz langsam gesprochen, einschläfernd monoton, und einer nach dem andern war umgesunken, lag mit blödem Lächeln in den hohen Grasbüscheln der Böschung. – Tschan steckte seine Pistolen weg. Sein faltiges Gesicht glättete sich etwas. Er lachte selten. Lachend schritt er davon.

– „Quälen Sie mich nicht, Hektor!“ Ein letztes Schluchzen entrang sich Hildegard Terkellens Brust, eine letzte Träne tupfte sie von der glühenden Wange.

Pelcherzim ritt dicht neben ihr. Er hatte das zweite Dromedar bestiegen und dem Berbergaul die Proviantsäcke aufgeladen. Seine rechte Hand war ausgestreckt und hielt Hildes Hand umschlossen. Er wollte sie nicht dazu zwingen, sich doch wenigstens ihm zu offenbaren, seine Fragen waren zart und rücksichtsvoll gewesen, aber dass er die Jugendfreundin und die Schwester gerade Rolf Terkellens gern in mitteilsamer, vertrauensvollerer Stimmung gesehen hätte, konnte ihm niemand verargen.

Unsichtbar ritt zwischen ihnen ein hinderndes Fantom dahin: Der Vater des Kindes, das auf dem Rücken der Mutter leise greinte.

„Ich frage nichts mehr“, hatte Pelcherzim erklärt, um die innerlich völlig Haltlose zu beruhigen, die ihm jetzt sogar, um die seelische Distanz zwischen ihnen zu vergrößern, das bisher üblich gewesene kameradschaftliche „Du“ verweigert hatte. Pelcherzim löste seine Finger aus denen Hildes, und ein beklemmendes Schweigen trat ein.

Hektor Pelcherzim befand sich in einer genau so zwiespältigen Stimmung wie damals, als er Hilde zuerst in der Rindentür des Baobab erkannt und sie ihm erklärt hatte, der Säugling in der kleinen Hängematte sei ihr Kind. Damals war ein Gefühl bisher nie gekannter Eifersucht in ihm emporgestiegen.

Geliebt hatte er sie nie. Aber betrauert hatte er sie mit der wortlosen Inbrunst ehrlichen Schmerzes. Sie sollte für tot gelten, Rolf wollte es so. Nur mit Tschan hatte Hektor ganz heimlich über das ungewisse Geschick der Verschollenen gesprochen.

Pelcherzim grübelte vor sich hin. Er sondierte seine Gefühle, er sezierte sein fröhliches Herz, das bisher alle Dinge so spielend leicht genommen hatte. Zum ersten Male spürte er etwas Neues, Unbekanntes in sich aufkeimen, – Hilde war nicht mehr jene Hilde von einst, in diesem etwas bunten Aufputz einer Orientalin kam ihre gereifte, frauliche Schönheit voll zur Geltung. Es war die herbe Schönheit einer jungen Mutter, deren Liebesweg ein Dornenpfad gewesen.

Sein Blick streifte ihr Profil, ihre Gestalt …

Die heiße Röte flutete ihm bis zur Stirn.

„Ich Narr!!“ sagte er ganz laut.

Hilde schaute ihn erstaunt an. Der Ausdruck seiner Augen verriet alles. Dieser Ausdruck spiegelte den Schmerz über eine zu späte Erkenntnis wieder. Sein Gesicht schien verändert, – – Hilde stutzte, wandte schnell den Kopf. Sie hatte jetzt den Schreck und die Unsicherheit, die durch die Begegnung mit Tschan, Hektor und dem alten Boma in ihr hervorgerufen worden waren, vollkommen überwunden. Sie war nur tränenreich weich und haltlos geworden, weil sie sich … schämte. Sie war Mutter geworden, besaß ein Kind, und – – der Vater?! Wie sollte sie jemandem erklären, auf welche Weise ihr das Mutterglück in einer grauenvollen Umgebung erblüht war?! Durch Liebe?! Nein, – nur durch die Macht der Umstände, durch äußere und seelische Zusammenhänge, die ja doch niemand begreifen würden – Glaubte sie …

Pelcherzim ward sich seiner Pflichten wieder bewußt. Hilde hatte ihn gebeten, sie nur bis außer Sicht der Oase Ain Halfa zu begleiten, nicht weiter. „Und wohin wollen Sie?“ hatte er gefragt. – „Nach Deutschland … Zu Leuten, die mich mit Herzlichkeit empfangen werden“, lautete ihre Antwort. Dann waren wieder Tränen geflossen … – Hektor Pelcherzim fand eine Ablenkung. „Eine frische Fährte – vier Dromedare, ein Führer“, – er deutete aus eine Sandwehe.

Hilde verhielt ihr Tier. „Wir wollen doch besser in dieses Seitental einbiegen, Hektor. Ein Mann mit vier Lasttieren am Leitseil, – – ich bin gewarnt worden …“

„Von wem?“

Sie zauderte. Aber sie hatte den Ausdruck in seinen Augen nicht vergessen. Impulsiv reichte sie ihm die Hand hin. „Hektor, du warst immer mein … Freund …!! Wenn du mir versprichst, jedermann gegenüber zu schweigen: Der Tschandu Brex warnte mich. Er lebt …“

Pelcherzim nickte. „Das weiß ich. – Hat er dich aus dem Flugzeug entführt und verborgen gehalten?“

„Ja, – er brachte mich in das alte Bergwerk, das weit ausgedehnter ist, als jemand ahnt. Es gibt da Naturhöhlen mit versteckten Zugängen und natürlichen Fenstern, schmalen Rissen im Gestein. Dort wohnte ich … Dort habe ich den Tschandu Oliver Brex von seiner allerbesten Seite kennengelernt. Ich flehte ihn an, mir ein Wiedersehen mit Rolf zu ersparen …“ Sie senkte schnell den Kopf … „Denn – – ich schäme mich, ich … vermag niemandem zu erklären, wie ich …“, – – „… Zurück, Hektor!! Verrat!“

Die Tiere waren weitergeschritten, waren um die nächste Talbiegung gekommen, und hundert Meter vor ihnen hielt der zerlumpte Beduine mit seinen hochbepackten Lastdromedaren. Ein Pfiff gellte auf, aus den Lederhüllen, die Warenballen vortäuschten, schälten sich vier Baggarakrieger heraus, Leute aus Dscharani, warfen die Lederhüllen in den Sand, rissen die Tiere herum und jagten auf die beiden Europäer zu, ihre Karabiner halb im Anschlag.

Pelcherzim hatte eins von Terkellen ebenfalls gelernt: Das grimme, harte, kurze Auflachen!

Von der Schießkunst der Dscharanis hielt er nicht viel. Von der eigenen wußte er, was er sich zutrauen durfte.

„Kehrt, Hilde … Galopp!!“

Der Berbergaul blieb zurück … Sie fegten dahin, daß Sand und Steine stoben, dann kam die erste Talkrümmung nach Westen zu, eine Gruppe hochstämmiger Feigenbäume und Mimosengestrüpp wuchsen am Nordabhang, Pelcherzim drehte sich im Sattel um, vier Schüsse knallten, ein fünfter, sechster folgten, – ein dumpfer Fall, ein Aufschrei, das Wimmern eines Kindes, und nochmals vier Schüsse … Drüben wälzten sich vier Tiere im Geröll, vier Reiter lagen dicht daneben, der eine wollte auf die Beine, – – ein allerletzter Schuß, und Pelcherzim glitt totenbleich aus dem Sattel und kniete neben Hilde, die mit vorgestreckten Händen bewegungslos in einer Sanddüne ruhte, während ihr armes Reittier sich krampfhaft hin und her wälzte und seine Todesschreie mit denen der angeschossenen Artgenossen drüben vereinte.

Hildes blauer Haik war ihr halb über den Kopf geflogen. Der Säugling auf ihrem Rücken, eingehüllt in weiße Seide, fuchtelte mit den Ärmchen umher, steckte dann den einen Daumen in den Mund, krähte vergnügt und wurde still und lutschte an seinen rosigen Fingerchen.

Pelcherzim beugte sich über das Kind … Das blonde, zerzauste Haar und die blauen großen Augen stellten ihm ein neues Rätsel. Das war niemals ein Mischlingsbaby, niemals etwa – was er gefürchtet – Mossalas Kind!

Dann suchte er nach einer Schußverletzung, betastete ganz scheu Hildes Körper und richtete ihn auf und behielt ihn in den Armen. Hilde war nur durch den jähen Sturz bewußtlos geworden, hatte nur an der Stirn eine Beule, die sich genau so verfärben wurde wie die am Kinn Eddas.

Pelcherzim kam jetzt, als er Hilde sanft an sich preßte, die allerletzte entscheidende Offenbarung.

Mochte es unrecht sein, was er tat. Er konnte nicht anders. Die jubelnde Freude, daß Hilde unverletzt geblieben und die Gefahr vorüber, mochte entscheidend sein: Er küßte sie, – – sie wußte ja nichts davon, er küßte sie nochmals, zog sie noch fester an sich, und – täuschte er sich?! – wurde der Druck ihrer Lippen nicht inniger, wärmer, verlangender …? Er bog den Kopf zurück, schaute sie an, ihre Augen taten sich auf, ein unmerkliches Lächeln umflog den herben, süßen Mund, zwei Arme hoben sich, umschlangen Pelcherzims Nacken …

„Du – – großer Tor!“ flüsterte sie verträumt …

„Hilde, – – du bist wach, du …“

Ihr Kopf neigte sich, ihre Lippen fanden sich.

Plötzlich schrak Hilde hoch, drängte Hektor von sich und sprang auf …

„Es kann ja nicht sein!“ meinte sie mit tiefem qualvollen Aufschluchzen. Ich bin deiner nicht wert … Ich … bin … Mutter!“

„Und der Vater deines Kindes?“ fragte Pelcherzim rauh …

„Ist tot … Er war ein guter Mensch … Mein Kind liebe ich, ihn habe ich nie geliebt.“

Pelcherzim starrte sie verständnislos an. Ein Kind?! Ohne Liebe …?! Und Hilde Terkellen die Mutter?! Das begriff er nicht.

Er stellte eine Frage.

„Ja, der war’s“, bestätigte Hilde leise und streichelte das Haar ihres schuldlosen Kindes.

 

18. Kapitel.

Mossalas Ende.

Sechs Männer, von denen vier sich mit Maschinengewehren schleppten, schlichen durch die Stollen des uralten Bergwerks. Laternenlicht tanzte vor ihnen über die verschiedensten Gesteinsarten und zerteilte die Finsternis in grelle Helle und noch schwärzere Dunkelheit. Mehr als sechs Leute konnte das schwach besetzte Lager in Ain Halfa nicht entbehren.

Bewers überließ es dem gewandten und mit feineren Instinkten ausgestatteten alten Chinesen, sich in diesem Irrgarten zurechtzufinden und den Führer zu spielen. Tschan war es auch gewesen, der hinter dem Altar des Marstempels den Zugang zu der verfallenen Treppe entdeckt hatte. Er fand auch in dem Hauptstollen, der auf den Kerkerraum des Tschandu zulief, droben unter der Decke ein zackiges Loch, das in eine halb mit Wasser gefüllten Grotte mündete, wo Oliver Brex seine sauberen Kleider und vieles andere verwahrte und sich von dem eklen Schmutz befreite, der dem Kettengefangenen anhaftete. Hier entdeckte Tschan noch mehr, jedoch erst später.

Man setzte den Marsch durch die Unterwelt fort und erreichte die Zone des Gestankes. Laternenschein glitt über Berge von Unrat, über das Lager faulenden Strohs und die dicken Ketten und die Fußschellen mit den Patentschlössern.

Bewers sah und wurde blaß vor ungeheurer Wut.

Dann gelangte der kleine Trupp in die Halle mit den Steinsäulen und den vielen versandfertigen Ballen, Tonnen und Paketen. Bewers zerschnitt die Lederumhüllung eines der Ballen, und er fand unzählige kleine, leicht irgendwie durchzuschmuggelnde Päckchen reinen Opiumharzes. Tschan strich wie ein Schatten an den Wänden entlang und musterte dann die Steinsäulen. Sein gesunder Menschenverstand sagte ihm, daß hier in diesem Hauptlagerraum der Rauschgifthändler sicherlich auch die Korrespondenz verborgen sei, durch die man die weitverzweigten Fäden des Konsortiums bloßlegen könnte. Er beklopfte die rauhen Granitsäulen, und dann winkte er Bewers herbei.

„Bitte, Exzellenz, der Tresor des Sultans! Geld, Geschäftsbücher, Briefe, – – das hat Zeit.“

„Allerdings!“ knurrte der General. „Erst der Bursche selbst!!“

Aber man entdeckte nur noch harmlose Stollen, verschiedene gut maskierte Ausgänge, und selbst Tschans Spürsinn versagte.

Der Trupp kehrte in die Halle zurück. Die sechs Männer ruhten enttäuscht eine Weile aus und verhielten sich still. Plötzlich neigte Tschan lauschend den Kopf zur Seite. „Exzellenz, Musik …!“ flüsterte er.

Bewers eilte zu ihm. Hinter den Fässern stand eine mit Steinplatten benagelte Holzwand, die mit dem Gestein ringsum ein Ganzes zu bilden schien. Man rückte sie zur Seite, und dahinter hing ein Vorhang von Filz. Als Tschan ihn lüftete, wurde die Musik deutlicher. Die sechs schlichen vorwärts … Eine zweite Grotte tat sich auf, drei breite Stollen liefen strahlenförmig gen Westen. Die Klänge der Kapelle verstärkten sich, Bewers grinste, als er die Maschinengewehre in Stellung brachte.

„Keinen Pardon, Ali!!“

Feldwebel Ali führte den Patronengurt ein.

„Keinen Pardon, Exzellenz!“ nickte er, und der Schweiß troff von seiner Stirn. „Schon Doktor Ferdinand Mechlers wegen nicht, der meinen Enkel gesund machte!!“

Tschan wisperte neben Bewers: „Exzellenz, Sie gestatten, daß ich nochmals schnell des Tschandus Bade- und Umkleideraum durchsuche. Mir war’s dort, als hörte ich ebenfalls Musik, aber ich glaubte an eine Sinnestäuschung.“

„Gehen Sie mit Gott und schießen Sie wie ein Teufel, wenn es nottut!“

Der Chinese lief davon, erkletterte die Stollenwand, zwängte sich durch das Loch und umschritt die Naturbadewanne des Tschandu und fand drüben hinter Geröll einen sauber ausgehauenen Treppenschacht, der flach nach unten verlief. Er schnupperte wieder, er roch Weihrauch, Haschich und Opium, stieg abwärts und stand vor einem Filzvorhang.

Auf der zu einer schmalen Galerie mit Steingeländer ausgehauenen Terrasse des unterirdischen Thronsaales kauerten der Tschandu und Theresa. Lautlos erschien hinter ihnen, gleichfalls eingehüllt in die wallenden Rauchwolken, das zerknitterte Gesicht Tschan Kais.

Die Musik bricht ab …

Eine Stimme ertönte, die noch nie diesen drohenden metallischen Unterton gehabt hatte.

„… Ein Wort noch, Sultan …!! – – Die erste Kugel Ihnen, Sultan, sobald mich jemand anrührt …! Ich warne Sie!“

Der Tschandu, dem die Weihrauchschwaden bisher einen genauen Überblick über die letzten Vorgänge verwahrt hatten, sah die Gestalten dort unten nun wieder ganz deutlich. Seine Augen überflogen die einzelnen Gruppen, er bemerkte drüben rechts im Stollen die Umrisse einer hellen Gestalt, eines Europäers, auf dessen Schultern es wie goldene Striche schimmerte: Bewers! Er bemerkte den einen der Würdenträger des Sultans in der vordersten Reihe der Zuschauer, er kannte ihn, es war der beste Schwertwerfer, und der braune Tuareg vom Stamm der Beni hatte die kurze handbreite Klinge bereits nach hinten geschwungen.

Theresa spürte kaum, daß ihr Nachbar ein Felsstück hob, blitzschnell warf und auch traf … Der Schlag gegen Terkellens Stirn genügte gerade, ihn zurückprallen zu lassen. So entging er dem schwirrenden Schwerte des Tuareg. Das Schwert klatschte gegen die Wandbespannung, dann erlosch das Licht. Bewers hatte das Schaltbrett der versteckten Lichtleitung und den Hauptschalter gefunden. Seine Pistole spie Kugel um Kugel, und aus den Drähten des Schaltbrettes zischten Funken auf: Kurzschluß! Bewers hob seine Laterne, trat in den Kuppelsaal ein und befahl den verschüchterten Zuschauern des Tanzes des Mohns, ihm Platz zu machen. Der Lichtkegel seiner großen Laterne umspielte den Elfenbeinthron, den farblosen Sultan und die schlanke Tschanda.

„Mossala, dies Geschäft ist endgültig verkracht“, sagte er mit klarem Hohn. „Die Konkursverwalter haben Ihr Warenlager beschlagnahmt und warten draußen mit äußerst überzeugenden Maschinengewehren … Wer eine Hand zum Widerstand erhebt, ist des Todes. Ihr kennt mich.“

Ja, sie kannten ihn.

Nur Mossala Dschin suchte selbst sein Ende zu bestimmen. Seine rechte Hand fuhr empor zur Stirn – nur halb, – dann schlug er vornüber, und der Tschandu Brex, der ihm in den Rücken gesprungen war, riß seine Hände nach hinten, Stahlfesseln schnappten zu, und der Sultan von Dscharani kauerte hilflos mit flackernden Augen zu den Füßen des Mannes, den er für tot im Wüstensand verscharrt hatte und den eine Hyäne ausgrub. Er lebte noch … Er wurde gesund, aber sein Versteck ward entdeckt, und Mossala fing ihn, legte ihn in Ketten und verlangte die Herausgabe der Schätze des Mahdi.

Bewers betrachtete die Tschandu. Auge in Auge standen die früheren Gegner. Dann streckte der General dem einstigen Rebellen die Hand hin …

„Ich freue mich, Sie wiederzusehen, lieber Brex. Die Vergangenheit ist tot.“

„Auch für mich, General“, sagte der Tschandu ernst. „Ich habe viele Jahre hilflos in Ketten gelegen und Zeit gehabt, mich innerlich umzustellen. Es war eine bittere Zeit. Jetzt …“ – er wandte sich seinem Kinde zu – „jetzt darf ich ein Glück auskosten, nach dem ich mich gesehnt hatte.“

Schnell nahm er Tschanda die Handfesseln ab, wollte noch eine Frage an sie richten, blickte sie an, fand sich selbst in den Linien ihres Gesichtes verjüngt wieder und sah in ihren Augen den innigen Glanz jener Liebe, die er erhofft hatte. Wortlos legte Tschanda ihm die Arme um den Nacken, schmiegte sich an ihn und weinte.

Terkellen, der den Arm um Eddas Hüften geschlungen hatte, meinte mit der ganzen Überlegenheit seiner unverfälschten, kerngesunden Natur, in der die Ehrlichkeit, Kraftfülle und schlichte Denkungsart seiner bäuerlichen Ahnen vorherrschten: „Mossala Dschin, niemand erreicht sein Ziel, der seine Politik durch unsaubere Geschäfte zu stützen sucht. Ihr Fanatismus war verfälscht durch den Geldhunger und durch die Vorliebe für äußerlichen Prunk, durch Sinnengier und einen Scheingeschmack. Selbst Ihr künstlerisches Wollen diente nur der Erhaltung eines Spekulantentums, das Ihren Leuten etwas vorgaukelte, das nie vorhanden war: Eine wahre innere Verbundenheit! Sie sehen ja, Ihre Anhänger, rühren nicht einen Finger mehr für Sie!! Nun fühlen Sie an sich selbst den Fluch der Halbheit Ihres Blutes, Sie sind weder Europäer noch Araber, Sie sind nichts als ein Mischling, der diese Halbheit nie überwinden konnte wie etwa Oliver Brex, dessen ganzes Wesen doch schließlich den Sieg des weißen Blutes in sich verspürte. Sie, Mossala Dschin, Sie sind nicht weiß, nicht farbig, Sie sind … gar nichts!“

Wie Keulenhiebe trafen diese Sätze. – Das klägliche Etwas, das da auf dem Teppich kauerte und nichts zu erwidern wußte, duckte den Kopf ganz tief. Es war das endgültige Ende Seiner Hoheit des brutalen Schacherers.

Terkellen fragte mit einer Stimme, die leise wie eine Metallsaite schwirrte:

„Was hast du aus meiner Schwester gemacht, du schäbiger Komödiant?! Rede!! Oder – – bei Gott: Du sollst hier selbst den Tanz des Mohns auskosten, bis kein Tröpflein deines verpesteten Blutes mehr in dir ist! – Was wurde aus meiner Schwester …?“

Es gehörte schon ein Übermaß von jahrelang und wortlos ertragenen Schmerzes dazu, eben jenes Übermaß, das urplötzlich in ungebändigten Zorn gegen den Urheber dieser seelischen Folter umschlägt, um einen Mann wie Rolf Terkellen derart haßsprühende Ausdrücke gebrauchen zu lassen. Es bedurfte jedoch auch nur eines einzigen mahnenden Wortes des Mädchens, das sein war für ewig, um ihn rasch zur Besinnung zu bringen.

„Rolf!“ hatte Edda, auf tiefste erschrocken durch diesen Ausbruch seines unbeherrschten Grimmes, ihm zugeraunt, „Rolf, – – bleibe dir treu!“

Terkellens verzerrtes Gesicht glättete sich sofort. Er blickte die Geliebte abbittend an, und nur ein trübes Lächeln zuckte noch um seinen Mund.

Der Tschandu griff ein. Er hatte sich aus seines Kindes Armen sanft gelöst, auf seinem geistvollen, blassen Antlitz lag noch der Widerschein der innigsten, rein menschlichsten, wahren Vaterfreude, – er hatte seine Hand auf Tschandas Schulter gelegt, ganz eng standen sie nebeneinander, als ob jeder hier erkennen sollte, wie groß auch die äußere Ähnlichkeit zwischen ihnen sei. Sein alle Tonarten, alle Register von Gefühlswallungen beherrschendes Organ war noch durchbebt von der unendlichen Freude der letzten Minuten, sein Herz war weit im Verzeihen und ganz eng für Racheempfindungen geworden, und aus dieser Stimmung heraus, die seine Persönlichkeit nur noch mehr nach der Seite des Guten, Gütigen, durch Leiden Abgeklärten vertiefte, wollte er die Dinge hier nicht zum äußersten sich zuspitzen lassen.

„Ihre Schwester lebt“, erklärte er, Terkellen dabei bezwingend anschauend. „Ich hatte Hilde hier in den unbekannten Höhlen untergebracht … Ich sah sie entfliehen, ich duldete es, denn sie hatte einen Begleiter, Ihren besten Freund, und meine Menschenkenntnis sagte mir, daß es richtiger sei, daß Sie die Schicksale Hildes unter so gestalteten Umständen erführen, daß keinerlei Gefahr vorläge, Sie als Bruder könnten durch ein vorschnelles Urteil die Wiedergefundene sich entfremden. Afrika ist nicht Deutschland … Die Glutsonne dieser ewig dürstenden Steppen verleiht den Menschen ein verändertes Gepräge. Enge Grundsätze über Moral und Ehrbarkeit schmelzen in den Tropen leicht dahin. Der vom Winde weitergefegte Wüstensand schleift die schärfsten Klingen, die wir für uns und andere vielleicht als Richter bereithalten, sehr schnell stumpf und mildert damit unser Urteil …“

Sein Blick glitt nun unauffällig zwischen Edda und Terkellen hin und her, und urplötzlich verstand Terkellen des großen Seelenformers wohlüberlegte Andeutungen und Mahnungen. Im ersten Moment verblüffte ihn die unerklärliche tiefgründige Sehergabe des Tschandu, dann aber senkte er langsam den Kopf und starrte mit einem grüblerischen Ausdruck vor sich hin. – Was war mit Hilde hier geschehen?! Eine ungewisse Ahnung kam ihm, daß er die geliebte Schwester anders, ganz anders wiederfinden würde als damals in jener Nacht, wo sie verschwand.

Er hob den Kopf wieder. Es war wieder seine ureigenste schroffe, selbstbewußte Kopfbewegung. „Ich verstehe Sie, großer Tschandu“, sagte er mit der wundervollen Offenheit des ebenso großen Charakters. „Ich beuge mich vor Ihrer Weisheit, denn sie ist gerecht.“

General Bewers, dem als alten Draufgänger der Worte schon zu viel gewechselt wurden, erblickte jetzt Tschan Kai und Frau Theresa, die, jeder eine große brennende Laterne in der Hand, den Thronsaal betraten. Er fürchtete, es könnte hier womöglich noch zu weiteren, ähnlichen rührenden Szenen und zum Austausch weiterer fein abgewogener Sätze kommen. Zu seiner Befriedigung erschien jedoch hinter Tschan die hohe dürre Gestalt Garrisons, und dessen Auftauchen hier bewies ihm, daß das Hilfskorps weit früher in Ain Halfa eingetroffen sei, als man hatte erhoffen dürfen.

„Garrison, – wie steht’s da draußen?“ rief er absichtlich mit aller militärischen Kürze.

Der Major salutierte. „Exzellenz, vorhin trafen über hundert Mann ein unter Hauptmann Jeffers, der mir meldete, ein Unbekannter habe ihm eine Botschaft geschickt, daß hier in Ain Halfa Hilfe dringend nötig sei.“

Bewers drehte den Kopf. „Brex, – Sie?“

„Ja, ich …“

„Dann danke ich Ihnen, das vereinfacht die Lage. – Major, wieviel Maschinengewehre?“

„Zehn, Exzellenz … Dazu die beiden neuen Bombenflugzeuge.“

Der General blickte die verschüchterte Schar der unzuverlässigen Gefolgschaft des ehemaligen Sultans prüfend an. „Garrison, die ganze Bande wird gefesselt ins Lager gebracht. Ich selbst werde den Vorsitz im Standgericht übernehmen. Ali mag das große Zelt für die Gerichtssitzung bereitmachen. – Meine Herrschaften“, wandte er sich an seine weißen Freunde, „folgen Sie mir. Brex, wir beide wollen vorausgehen. Ich möchte Sie noch einiges fragen.“

 

19. Kapitel.

Die Geschwister.

Sengend heiß brannte die Sonne auf das Stacheldrahtgitter der Leprakolonie und auf die gewellte Steppe, die Ruinen, die schlaffen Palmen und den Trupp von Männern und Frauen hernieder, die da abwartend vor dem einzigen Zugang der Aussätzigen-Siedlung standen. In der glasklaren Luft kreisten brummend vier Flugzeuge. Zwei davon besaßen modernste Bombenabwufvorrichtungen, und selbst mit bloßem Auge waren zwei der langen weiß gestrichenen Stahlzylinder unter jeder der beiden Maschinen zu erkennen.

Bewers hatte dafür gesorgt, daß auch nicht ein Rattenschwanz aus der Siedlung entkäme, wie er sich ausgedrückt hatte.

Der General wurde ungeduldig. Er hatte schon zweimal geläutet, hatte den Telefonhörer aus dem Zinkkasten genommen, aber niemand war bisher erschienen.

„Hoffentlich ist der Halunke Ibrahim nicht ausgekniffen!“ sagte er zu dem Tschandu und Frau Theresa, die ganz in seiner Nähe standen.

Dann tauchte eine Gestalt im weißen Arztkittel mit weißer Haube auf. Durch die Augenlöcher funkelten ein Paar Brillengläser.

Bewers brüllte ungemütlich: „Beeilen Sie sich gefälligst, Doktor Ibrahim! Was soll übrigens der Mummenschanz?!“

Der Weißkittel öffnete wortlos die beiden Tore und verneigte sich. Seine Hand deutete einladend in Richtung des Verwaltungsgebäudes.

Tschanda enthielt sich jeder Äußerung, aber Edda rief ehrlich entsetzt: „Wir werden doch nicht etwa das Lepraheim betreten, Rolf?!“ Sie hatte sich in Terkellens Arm eingehakt und wollte Terkellen zurückziehen.

Rolf flüsterte ihr etwas zu. Erst da schaute sie schärfer hin.

Bewers hatte den Weißkittel kurzer Hand bei der Schulter gepackt. „Vorwärts, Bursche, – das Spiel ist aus! Kommen Sie nur, es hat keine Gefahr, seit einem Jahr ist diese Siedlung die Hauptzentrale des Herrn Mossala. Es gibt hier keine Aussätzigen mehr.“

Er schob den Weißkittel brutal vor sich her. Die andern folgten, niemand sprach, die Uneingeweihten ahnten grausige Überraschungen. Schon allein Bewers’ Gesichtsausdruck besagte genug. Als letzter trippelte Tschan hinterdrein. Er hatte die Augen überall. Er suchte etwas ganz Bestimmtes.

Man stieg in das weite Tal hinab, hatte nun die sauberen Baracken und Hütten dicht vor sich. Links lag das große Verwaltungsgebäude unter alten Palmen, Feigenbäumen und im Schatten der Riesenkronen zweier Baobabs von gewaltigem Umfang. Aber der Garten davor war verwildert, zertreten, nur um den kleinen Teich, den die reichlich sprudelnde Quelle speiste, leuchtete frisches Grün. Drüben weideten Schafe, Ziegen, Pferde, Kamele. Nicht ein Mensch war zu sehen.

Vor der Tür des Verwaltungsgebäudes gab der General den schweigsamen Weißkittel frei. Hoch über der Tür hing am Turme eine große Messingglocke, deren glattes Zugtau neben der Tür in einem Eisenring endete.

„Geh’ voran, Bursche!“ befahl Bewers und hielt seine Pistole bereit. „Keine neue Teufelei!! Sonst …!!“

Tschan drängte sich vor. Der bescheidene Tschan hatte unter dem langen Arztkittel längst dasselbe bemerkt wie Terkellen. Die Stiefel mit Schnallgamaschen und Sporen kannte er.

„Exzellenz erlauben …“, sagte der treue Chinese ganz sanft.

„Was denn?!“

„Eine Frage an Herrn Pelcherzim … Uns fehlen im Lager die nötigen Taue für die Zeit nach dem Spruch des Standgerichts … – Herr Pelcherzim, haben Sie hier ähnlich schöne Taue bemerkt wie das dort an der Glocke? Das würde sich sehr gut eignen.“

Pelcherzim zog die Seuchenkappe langsam vom Gesicht. Bewers fluchte. „Mann, – – Sie hier in der Kolonie?!“

„Wir kamen durch ein Loch im Zaun, Exzellenz.“ Hektor war ganz ernst. „Oder genauer: Durch eine der versteckt angebrachten Pforten, die meiner Begleiterin bekannt sind, da sie hierher geflüchtet war, als sie sich vor Mossalas Zudringlichkeit nicht mehr retten konnte.“

Der Tschandu nickte unmerklich. Ihm war das alles nichts Neues mehr. Terkellen schob dagegen die anderen beiseite … „Hektor, ist Hilde hier?“

„Ja.“ Pelcherzim schaute den Freund unsicher an. „Ja, mit ihrem Kinde, Rolf. Mir hat sie ihre traurigen Erlebnisse bereits erzählt … Sie erwartet dich … und fürchtet sich.“

Terkellens grob gemeißeltes und doch so überaus männlich-anziehendes Gesicht überflog ein sanftes Lächeln.

„Fürchten? Mich? – Dazu liegt kein Grund vor … – Komm’, Edda, begleite mich … Geh’ nur voraus, Hektor. Du wirst mit mir zufrieden sein.“

Im Zimmer Doktor Ibrahims stand Hildegard Terkellen, leicht an den Schreibtisch gelehnt. Neben ihr auf einem Sessel ruhte ihr kleiner Knabe und schlief und hatte den Daumen im Mäulchen. Hilde war blaß. Trotzdem hoffte sie. Sollte ihr Bruder weniger Verständnis für die zwingende Macht der Umstände aufbringen als Hektor?! – Dann öffnete sich die Tür des großen europäisch eingerichteten Raumes, in dem vier Ventilatoren leise surrten. Edda trat ein, hinter ihr Rolf, der schnell die Tür schloß. Nur einen Augenblick machte er halt, schaute das Kind an, atmete erleichtert auf und eilte wortlos auf die Schwester zu und riß sie an seine Brust.

„Hilde …, – – du lebst!! Alles andere ist ja so gleichgültig. Du lebst …!!“

Er küßte sie nochmals, und unter diesem innigen Kuß schwand auch der letzte Rest von Befangenheit bei Hilde dahin. Edda trat näher. Auch ihre Augen waren von Tränen verschleiert. Wortlos umfing sie die Freundin, und sie hätte kein Weib sein müssen, wenn sie nicht sofort der Vertrauten ihrer Mädchenjahre das zugeraunt hätte, was ja doch in ihrer Seele alles andere zurückdrängte: „Hilde, – wir haben uns verlobt, Rolf und ich … Ich habe dir so viel zu erzählen … Es lag nicht an mir, daß ich zuerst ein Verlöbnis eingegangen war, das …“

„Ich weiß“, nickte Hilde und wandte sich wieder dem Bruder zu, der ihr Kind ganz sanft vom Sessel emporgehoben hatte und in den Armen hielt.

„Hektor erzählte es mir, nachdem er unsere Verfolger erschossen und wir uns ausgesprochen hatten.“

Rolf hörte es. Er empfand keinerlei Eifersucht auf Heribert Gardner, der in Eddas Leben nur eine Episode kurzer Irrungen bedeutete. Er lächelte Edda glückselig zu und reichte ihr das kleine Menschenbündel. „Ein echter Terkellen!“ sagte er absichtlich in scherzendem Tone. „Blond, blauäugig, und … der erste Terkellen“, beendete Rolf leise den Satz. „Wer auch immer der Vater sei …!“

Hilde drängte es, nun auch diese Frage zu klären. Sie deutete auf die Korbsessel in der einen Fensterecke. „Ihr sollt meine Leidensgeschichte hören, die monatelang aufs engste mit der eines wirklich guten, edlen Mannes verknüpft war. – Setzt euch … Und bereitet euch vor, Dinge zu vernehmen, die in dieser Gestaltung nur hier unter der sengenden Sonne der Tropen möglich waren.“ Sie nahm Edda, die sich mit dem Säugling noch etwas unbeholfen anstellte, ihr Kind ab und begann dann, oft genug durch das Aufwühlen dieser Erinnerungen so erschüttert, daß ihr die Sprache fast versagte.

„Meine Entführung war von langer Hand durch Mossala vorbereitet. Er hatte mich vorher zweimal gesehen, seine Gier war erwacht, und zwischen den Wurzeln des Baobab wurde ich überwältigt, in Decken gehüllt und zu den Beni-Tuaregs geschafft und dort verborgen gehalten. Erst als du nach vielen Monaten, Rolf, deine Suche nach mir nach Süden bis Dar Fur ausdehntest, brachte man mich in den Westturm des Palastes von Dscharani. Mossala ließ mich nicht im Zweifel darüber, daß er nötigenfalls alle Gewalt anwenden würde, ich war klug genug, vorerst die Kranke zu spielen, da ich tatsächlich an Malariaanfällen litt. Eines nachts entfloh ich. Eine Dienerin half mir, Fatima war’s. Sie erklärte mir, daß Mossala mein Spiel durchschaut hätte, daß meine Speisen und Getränke fortan Opium und Haschich beigefügt werden sollte, man wollte meine Widerstandskraft zermürben. Inzwischen hatte ich erfahren, daß die Leprakolonie von einem jungen deutschen Arzte Ferdinand Mechler geleitet würde. Ich gelangte hier bis zur Pforte der Siedlung, läutete, und Mechler meldete sich am Telefon. Er kam im Morgengrauen eilends herbei, er selbst war verzweifelt, verstört, das ganze Lepraheim roch nach Karbol, ich hörte ferne Schüsse, er zog mich wortlos hier ins Haus, seine Erregung wußte ich mir nicht zu deuten.

„Unglückliche“, flüsterte er mitleidig, „ich will Sie zu schützen suchen, obwohl ich selbst nicht weiß, wie lange ich noch zu leben habe …“

Er führte mich in sein Laboratorium, räumte einen großen Schrank aus, und dort hockte ich stundenlang, gefoltert von unsinniger Angst. Dann erschien Doktor Mechler von neuem, ein seelisch gebrochener Mann. Hastig erzählte er mir das Grauenhafte: Mossala Dschin hatte die Aussätzigen wie eine Herde Schlachtvieh zusammentreiben lassen und …, – – erspart mir Einzelheiten, jedenfalls hatte der Sultan anstelle der Aussätzigen die Tuaregs hierher gebracht, hatte Mechler kaltblütig erklärt, falls er etwas verriete, würde er getötet werden. – Von da an begannen die Monate unerhörter Leiden, ständiger Angst.

Mechler zeigte sich als wahrer Freund. Er, der durch eine bittere Herzensenttäuschung der großen Welt den Rücken gekehrt und hier den gefahrvollen, einsamen Posten eines Arztes eines Lepraheims übernommen, wurde nun auf Schritt und Tritt von den Tuaregs überwacht. Es blieb ein Wunder, daß es Mechler gelang, meine Anwesenheit im Hause zu verheimlichen. Für mich kamen Stunden, besonders nachts, wo ich droben im Laboratorium wie eine Schlafwandlerin hin und her schritt, nur nachts durfte ich mir etwas Bewegung machen, nur nachts konnten Mechler und ich Fluchtpläne schmieden, die alle aussichtslos waren. In einer dieser Nächte, als ich allein blieb und die Angst und die Verzweiflung und die Einsamkeit mich überwältigten, schlich ich hinüber in Mechlers Zimmer. Ich ahnte, daß er mich lieben gelernt hatte. Nie zeigte er es mir, er war nur der Freund und Leidensgefährte. Das trostlose Schicksal trieb uns zueinander, unser Leben war für mich nur das beglückende Gefühl, einen treuen Freund zu besitzen, für ihn bedeutete es die Erfüllung stillen Sehnens. Dann ließ die mißtrauische Wachsamkeit der Tuaregs etwas nach. Wir atmeten auf … Monate gingen hin … Ich … gebar mein Kind …“

Hilde Terkellen beugte sich über den schlummernden Säugling und weinte. „Du, du kleines ahnungsloses Geschöpfchen, wurdest Mechlers Verräter … Eines nachts stürmte Mechler ins Laboratorium …

„Alles ist verloren, Hilde …! Fliehe mit deinem Kinde … Das Weinen unseres kleinen Lieblings hat uns verraten, ich habe den Scheich der Tuaregs belauscht … Ein Dromedar steht bereit … Ich folge dir … Fliehe zum Wadi Tarbu, erwarte mich dort bei dem alten Baobab …“

Er log … Er wollte nur meine Flucht decken. Als ich davonritt, als ich ihn in der südlichen Zaunpforte stehen sah, ihm noch zuwinkte, knallten Schüsse … So starb er – für mich und unser Kind. Als Weib habe ich ihn nie geliebt, als Freund werde ich ihn ewig betrauern. Man verfolgte mich … Alles andere wißt ihr … Der Tschandu nahm sich dann meiner an, der geheimnisvolle Herr der Steine … Die Eingeborenen nannten ihn so, weil er sich stets hinter Felsen verbarg, wenn er mit ihnen unterhandelte und sich Anhänger warb, die für ihn den Rauschgift- und Mädchenhändlern nachspürten, denn Mossala ist beides, durch die Tuaregs, die hier einen sicheren Schlupfwinkel hatten, ließ er Mädchen rauben und verschachern …“

Hilde berichtete das Letzte … „Pelcherzim schlug vor, wir sollten zunächst hier Zuflucht suchen. Er stellte fest, daß nur Doktor Ibrahim und der alte Grieche Menelos und zwei Tuaregs hier zurückgeblieben waren, er überraschte die vier in einer der Baracken und … schoß sie nieder!!“

Terkellen erhob sich, beugte sich über sie und drückte einen langen Kuß auf ihre Stirn.

Dann schritt er hinaus. Auf der nach Nordwesten gelegenen Veranda traf er Bewers und die anderen Freunde. Kurz nach ihm erschien Tschan. Der Chinese hatte denselben harten Glanz in den Augen wie sein verehrter Herr und trug im Arm eine Anzahl aufgewickelter langer fingerdicker Taue.

Bewers hatte gerade an Oliver Brex die entscheidende Frage gerichtet, und der Tschandu erwiderte sehr bestimmt:

„Mossalas ungeheure Mohnfelder befinden sich auf den wasserreichen Plateaus der Beni-Tuaregs drüben in der Sahara …“

Der General sagte nur: „Es wird Zeit … Das Standgericht tritt hier zusammen, nicht im Lager. Die Frauen sollen nicht Zeugen sein, wie ich zu strafen weiß. Lieber Terkellen, geleiten Sie die Damen hinüber und schicken Sie zwanzig Mann, die Offiziere und alle Gefangenen her …“

 

20. Kapitel.

Tod dem Mohn und Glück den Lebenden.

Trotz der glühenden Mittagshitze eilten Tschan und der riesige Feldwebel Ali sowie einige der sudanesischen Soldaten draußen unter den Baobab geschäftig hin und her, während in der Halle des Verwaltungsgebäudes vor dem langen Tische der Richter die Gefangenen gefesselt am Boden hockten. Die Zeugen saßen mehr seitwärts. Zum Offizialverteidiger war Hauptmann Jeffers bestimmt worden.

Der General leitete die Verhandlung.

„Mossala, erhebe dich! Höre die Anklage.“

Der aschfahle Mossala Dschin blieb sitzen. Mit frechem Hohn schaute er Bewers an.

„Zehn Hiebe!“ sagte der General kalt. „Reißt ihm die Kleider herunter!“

Als die Schläge der Nilpferdpeitsche niedersausten und blutige Striemen hinterließen, wandte sich Bewers an die Dscharani und die Tuaregs.

„Ihr wißt, welches Doppelspiel dieser Schurke mit euch getrieben hat … Die Tuaregs überfielen das Lager und schossen die Dscharani-Wachen nieder … Er scheute kein Mittel, seinen eigenen Kopf zu retten, denn er spürte, daß es mit seiner Macht zu Ende ging. Schämt euch, ihr Krieger der Baggara, so blind gewesen zu sein!“

Mossala stand nun aufrecht da. Einer der Hiebe hatte sein Kinn getroffen … Seine Prunkkleidung hing in Fetzen. Links von ihm saß der athletische Neger, bisher sein blindes Werkzeug. Die Augen des Schwarzen waren vorgequollen, die Muskelstränge seines Halses, seiner Brust und Arme spannten sich …

Seine Fesseln zerrissen … Mit einem hellen Kreischen flog er empor. Bewers griff zur Pistole, aber die beiden Körper, die sich da am Boden wälzten, boten kein sicheres Ziel. Ein unheimliches Knacken ertönte und der Kopf Mossalas schlackerte ohne jeden Halt hin und her.

Bewers befahl den Toten hinauszuschaffen.

Das Standgericht währte keine halbe Stunde. Die Miteingeweihten Mossalas und die Hauptschuldigen ließen sich unschwer aus den vorgefundenen Geschäftsbüchern feststellen. Der General beantragte gegen zweiundzwanzig Leute, darunter auch der Scheich der Beni-Tuaregs, die Todesstrafe. Er begründete den Strafantrag kalt und leidenschaftslos, hob hervor, daß das Strafgericht gegen die bereits auf der Heimkehr begriffenen Tuaregs nicht ausbleiben würde und erteilte dem Verteidiger das Wort. Hauptmann Jeffers faßte sich noch kürzer.

„Gegenüber der Tatsache, daß Mossala die ganzen Aussätzigen ermorden ließ, wovon seine Mitschuldigen wußten, beschränke ich mich auf den Hinweis, daß Mossala der Urheber all dieser Schandtaten und die anderen vielleicht nur die Verführten waren. Ich überlasse die Entscheidung dem Standgericht.“

„Todesstrafe gegen alle durch den Strang“, verkündete Bewers Minuten später. „Ich schließe die Gerichtssitzung. Führt die Verurteilten zum Galgen. Die anderen kommen für Lebenszeit auf die Nilinsel Bedraschan und werden dort Ketten tragen und arbeiten.“

Er ging mit dem Tschandu Brex voraus. Er hatte noch etwas auf dem Herzen, das er als Gouverneur klären mußte. „Lieber Brex, entschuldigen Sie schon, aber Terkellen meinte, Sie hätten die Schätze des Mahdi irgendwo verborgen, und nur England hat ein Besitzrecht daran.“

Brex blickte ihn an. „Zweifellos, Bewers. Ohne das Märchen von diesen Schätzen, das ich bis jetzt aufrecht erhielt, wäre ich längst ein toter Mann.“

„Das heißt?!“

„Sie existieren nicht … Nur der berühmte Smaragd vom Turban des Mahdi ist meines Kindes Eigentum geworden. Ich nahm ihn Mossala Dschin ab. Gewiß mag der Mahdi Reichtümer hinterlassen haben. Wo, – – ich weiß es nicht. Wüßte ich es, würde ich sie ausliefern.“

„Das glaube ich Ihnen, Brex.“ Der General sprach sehr bedächtig. „Etwas anderes also … Was soll aus Dscharani werden?“

„Eine große Plantage, – was sonst?!“

„Eine Plantage, – einverstanden! Und Frau Theresa und Sie, lieber Brex, und dieser verliebte Simkinson und Ihre Tochter?“

Der Tschandu blieb stehen. Sein Gesicht lag im Schatten einer Palmenkrone. Ein wehmütiges Lächeln umspielte seine dünnen Lippen. „Bewers, man soll nicht echten Wein mit verfälschtem Most mengen. Die Folgen haben wir an dem Manne gesehen, der nun wie eine räudige Hyäne irgendwo verscharrt wird. Ihnen, nur Ihnen vertraue ich es jetzt schon an: Ich werde mein Kind in aller Stille mit mir nehmen, ich weiß irgendwo dort weit im Südwesten eine kleine Oase, die noch gänzlich unbekannt ist, und …“

Bewers starrte ihn ungläubig an. „Brex, das ist ja Wahnsinn!“ unterbrach er ihn. „Bedenken Sie, Ihre Mutter war Engländerin, Sie selbst sind Engländer, das haben Sie jetzt bewiesen und was wird Tschanda dazu sagen?“

Ein stolzes Leuchten lief über des großen Tschandu intelligente Züge hin.

„Tschanda?! Sie ist mir nicht nur aus dem Gesicht geschnitten, sie ist auch innerlich mein Fleisch und Blut. Sie liebt Simkinson, gewiß. Sie wird verzichten.“

„Armer Simkinson!“ sagte der General leise.

Dann schritten sie dem Lager zu.

– Es war Nacht geworden. Die kurze Dämmerung der Tropen hatte nur noch am westlichen Horizont einen fahlgelben Streifen zurückgelassen.

Der Tschandu sprach in dieser bitterernsten Stunde zu der Frau, die da zu seinen Füßen kauerte und ihren Kopf an seinen Schenkel gelehnt hatte. Im Hintergrunde erhoben sich die zackigen Konturen der Ruinen.

Oliver Brex hatte sich niedergebeugt, seine Hände ruhten auf Theresas Schultern, seine Wange lag an ihrer Stirn. So sprach er, – leise, eindringlich, überzeugend. Gegen die Macht seiner Persönlichkeit gab es keine Abwehr. Er sprach von der unbedingten Notwendigkeit der Trennung mit tiefer Bewegtheit, aber mit allem Ernst einer sittlichen Überzeugung. – Theresa erbleichte, ihr Herz schlug dumpf und schwer. Sie hatte etwas anderes von der Zukunft erhofft. Sie war jedoch nicht mehr die Frau mit dem trügerischen Sehnsuchtslächeln von einst. Ihr Schmerz war zu allgewaltig, um etwa lauten Ausdruck finden zu können.

Wie lange sie so gesessen und in die Ferne gestarrt hatte, wo über den Dscharani-Bergen der gelbe Streifen längst erloschen, wußte sie nicht. Urplötzlich packte sie eine furchtbare Angst, daß sie das Zelt, das sie mit Tschanda teilte, leer finden würde. Sie sprang empor … Der Gedanke, Oliver Brex könnte mit Tschanda davonreiten, ohne daß sie ihre Jüngste nochmals sähe, verlieh ihr Flügel mütterlicher Zärtlichkeit. Sie näherte sich den aufgestellten Wachtposten, die neben hell lodernden Feuern standen, und als sie das Zelt atemlos erreichte, erkannte sie eine Gestalt, die soeben herausschlüpfte: Er, der Tschandu!

Nicht weit davon schlenderte Percy Simkinson sehnsüchtig auf und ab.

Theresa schaute den hübschen sonngebräunten Percy mitleidig an. „Ich glaube nicht, daß Sie noch auf Tschanda hoffen dürfen, lieber Simkinson …“ Das Sprechen fiel ihr schwer. Er tat ihr namenlos leid. „Gute Nacht, … lieber Percy.“ Sie hatte ihre Stimme nicht mehr in der Gewalt und betrat schleunigst das Zelt.

Tschanda lag vollständig angekleidet auf ihrer Schlafmatratze. Sie hatte die Lampe ganz tief geschraubt. Ihre dunklen Augen waren übergroß, und ihr Antlitz wie Elfenbein trotz der Sonnenbräune. Theresa sank in die Knie und umfing ihr Kind. Jetzt strömten die Tränen unaufhaltsam. „Tschanda, du gehst mit ihm?“ schluchzte sie kaum verständlich.

„Ich muß …! Man hat meinen Vater mit Steinen beworfen“, flüsterte das Mädchen seltsam heiser. „Und Vater trägt das Blut des Mannes in sich, der England besiegte und der ein großer Herrscher war.“

„Und – – Percy?!“

Tschanda wurde noch bleicher. „Willst du meine Qual noch vergrößern?!“ hauchte sie flehend. „Ich … will nichts mehr hören … Ich will schlafen … und vergessen, Mama, – alles vergessen …! Ich bin sein Kind, und ich bin stolz darauf!“

Theresa küßte sie. „Und – – wann … reitet ihr?“ fragte sie angstvoll.

„Morgen abend vielleicht … – in aller – Heimlichkeit“ – da schwieg sie … Horchte … Draußen hatte eine scharfe militärische Stimme gerufen: „Hauptmann Simkinson!“

„Exzellenz, ich komme …“

Dann wurde alles still.

Simkinson stand in Bewers’ Zelt vor dem General.

„Hier Ihre versiegelte Order. Sie fliegen sofort mit den beiden Bombenflugzeugen zur Militärstation. Dort öffnen Sie den Brief. Hauptmann Jeffers ist Ihnen unterstellt. Übrigens noch etwas … Terkellen und Miß Edda sind mit von der Partie … Schon deshalb, weil Terkellen die Gegend kennt …“

Simkinson schritt völlig verwirrt seinem Zelte zu, gab seinen beiden Burschen die nötigen Befehle und verließ die Oase nach Westen zu, wo auf der freien Glimmersteppe die beiden gefährlichen Riesenvögel standen.

– Theresa schlief bereits. Tschanda erhob sich lautlos. Ihre Armbanduhr war kurz vor Mitternacht. Einen letzten Blick warf sie noch auf die Mutter, deren Gesicht das Mondlicht traf, als sie den Zeltvorhang lüftete.

„Lebe wohl – – für immer!“ flüsterte sie. Sie kämpfte mit Tränen, und nur zögernd wandte sie sich der Richtung zu, wo das Tor der Leprasiedlung lag.

Der alte Tschan Kai eilte überaus geschäftig vor dem Verwaltungsgebäude hin und her. Hier vorn auf der dem Monde zugekehrten Seite standen vier Reitdromedare und acht hochbepackte Lasttiere. Bewers, Brex, Pelcherzim und Hilde saßen in Korbsesseln beieinander und schwiegen bedrückt. Als Tschanda auftauchte, eilte ihr Vater ihr entgegen, streckte ihr beide Hände hin und blickte sie forschend an.

„Mein Kind, es ist dein freier Wille?“ fragte er tastend.

„Ja!“ Sie warf den Kopf in den Nacken und lächelte tapfer.

„Dann wollen wir den Abschied nach Möglichkeit abkürzen. Ich bin stolz auf dich, Tschanda.“ Er drückte ihre Hände noch zärtlicher. „Ich habe bis zu dieser Minute mit mir gerungen, ob ich mein Vorhaben vor mir wirklich verantworten kann.“

Der Abschied war kurz und ohne tönende Reden. Kräftige Händedrücke, ein paar kernige Worte dieser kernigen Männer, und dann umarmte Tschanda Terkellens Schwester zum letzten Mal, dann trabten die Tiere an, und die kleine Karawane des Tschandu und seiner Getreuen enteilte gen Westen in den Dämmerschein des Sandes des Glanzes. Nicht ein einziges Mal drehten Oliver Brex und sein Kind sich nach der Gruppe der Zurückbleibenden um.

– Die beiden Riesenvögel verließen die Militärstation gegen sieben Uhr morgens, nachdem Simkinson auf Grund der geheimen Order alles an Gasbomben mitgenommen hatte, was hier vorrätig gewesen. Der Befehl lautete, die Mohnfelder im Dschebel Beni zu vernichten, die Bewohner aber zu schonen.

Die Wetterlage war günstig, genau um elf Uhr vormittags tauchte das Bergmassiv des Dschebel Beni aus dem eintönigen Graugelb der endlosen Saharadünen auf, und das vordere Flugzeug, in dem auch Edda und Terkellen saßen, schraubte sich tiefer und umflog die Bergterrassen.

Sogar mit dem bloßen Auge waren die hier angelegten Mohnfelder deutlich zu erkennen. Roter, bläulicher und schneeweißer Mohn stand in voller Blüte, Millionen von kräftigen Pflanzen bildeten ganze farbige Teppiche, aber es waren bunte Teppiche des Giftes, und dem Gifte sollten sie auch zum Opfer fallen. – Die braunen Zelte der Beni Tuaregs erhoben sich im Südteil auf der mittleren Terrasse zwischen dem üppigen Baumwuchs der eigentlichen Oase und den schillernden Wassertümpeln reichlich fließender Quellen …

Die Maschinen kreisten, die erste Gasbombe fiel, explodierte auf der obersten Terrasse mitten in einem brennend roten Mohnfeld, und die Giftschwaden, schwerer als die Luft, zogen unsichtbar ihres Weges und hinterließen das große Sterben.

Bombe um Bombe krachte. Das Gift fraß das Gift, die Pflanzen welkten im Nu dahin, die Blütenblätter fielen ab, die Stengel beugten sich, und panikartiger Schrecken ergriff die Tuaregs. Im Nu hatten sie ihre Zeltstadt abgebrochen, ihre Pferde und Dromedare beladen, trieben ihre Herden in die Wüste hinab, — Schafe, Ziegen rannten verängstigt durcheinander, zottige Köter heulten, – aber hinter dem flüchtenden Troß her zog das Verderben, das Giftgas, verdünnt, aber immer noch gefährlich.

Edda starrte blaß und fiebernd vor Erregung zum Fenster hinaus. Ihre Erregung steigerte sich zum Entsetzen, als ein paar Nachzügler samt ihren Tieren in grauenhafter Pein sich im Geröll der abwärtsführenden Schlucht hin und her wälzten. Terkellen hielt ihre Hand, brachte seinen Mund dicht an ihr Ohr und rief, um das Brummen der Motoren zu übertönen: „Vergiß nie, daß diesem Dschebel Beni die Flüche all jener gelten, die das Tschandu und das Droß entnervt hat! Vergiß nicht, daß diese Tuaregs Mädchen verschacherten an Freudenhäuser!“

Die letzte Bombe krachte … So gut und genau waren die Abwürfe verteilt worden, daß das große Sterben des Mohnes bis in die fernsten Felder drang und von den bunten Teppichen des Giftes nichts mehr übrigblieb als ungeheure Leichenmengen toter Pflanzen.

Terkellens Zeißglas lag fest vor seinen Augen. Er hatte da weit vor den flüchtenden Tuaregs eine dünne bewegliche Linie von Punkten erkannt, eine Karawane. Als Edda und er dem Tschandu Lebewohl gesagt hatten, war Brex dem Brautpaar gegenüber sehr mitteilsam gewesen. Brex schätzte Terkellen als Mann seines Schlages.

Nun hatte Terkellen die Karawane ganz deutlich vor den Linsen. Sie zog ahnungslos in einer steinigen tiefen Mulde gen Südwest, und der Vortrupp der Tuaregs, tadellos berittene Kerle, hatten sie soeben gesichtet.

„Simkinson!“ brüllte Terkellen dem Hauptmann zu, „– Vollgas!!! Maschinengewehre bereithalten. Brex befindet sich in Gefahr. Bis auf dreihundert Meter herabgehen … Ich sage dem Funker Bescheid, damit auch die zweite Maschine eingreift!“

– Oliver Brex ließ seine zwanzig Leute schleunigst hinter einer Geröllschanze Deckung nehmen.

„Tschanda, mein Kind, – schieße ruhig!“ mahnte er. „Es geht um unser Leben!“

Der alte Osmali feuerte zuerst. Die Tuaregs, fünfzig Mann stark, besessen von wilder Rachsucht, fegten den Abhang hinab.

Tschanda starrte schräg nach oben.

„Vater, – – die Flugzeuge! Und Percy ist …“

„Schieße, Kind …! Willst du sterben, – so sterben?!“

Tschanda starrte schräg nach oben.

Ein wildes Geheul folgte, braune Gestalten mit flatternden Mänteln erhoben sich, schnellten vorwärts, fanatische, satanische Teufel, vom Blutrausch befallen, – Speerklingen blitzten, ein riesiger Beni holte zum Stoße aus, Brex wehrte den Stoß mit dem Büchsenkolben ab, deckte sein Kind mit seinem Leibe, – neben ihm sanken seine Getreuen zusammen …

Ein Brausen, Donnern in der Luft, und Simkinson, die Zähne in die Unterlippe gepreßt, ließ das Maschinengewehr sprechen …

Die Kugelspritze mischte ihr höhnisches abgehacktes Lachen in das Dröhnen der Propeller …

„Gott sein Dank!“ flüsterte Edda, beide Hände auf das hämmernde Herz gepreßt … „Gott sei Dank, – – in allerletzter Sekunde!!“

Die Maschinen landeten. Der Haupttrupp der Beni zerstreute sich in alle Winde. Simkinson rannte in die Regenschlucht hinab, in jeder Hand eine Pistole, zuweilen bellten die Pistolen unbarmherzig auf …

Er stand vor Tschanda. Brex tupfte das Blut von seinem Gesicht. Percy Simkinson keuchte, der Schweiß lief ihm über die Wangen, in seinen Augen war eine tiefe Glückseligkeit, dazu ein Ausdruck eiserner Entschlossenheit.

Er schaute das Mädchen an, das er liebte, und dann sagte er nur:

„Das Schicksal will es nicht, daß du von mir gehst, Tschanda! Auch dein Vater wird sich dieser Erkenntnis nicht verschließen können!“

Der große Tschandu lächelte rätselvoll und ernst. „Simkinson, ich wartete auf ein Zeichen, daß mein Vorhaben falsch sei! Wir kehren nach Dscharani zurück.“

Simkinsons Blicke wurden froh und sehnsüchtig.

„Tschanda, – hier ist dein Platz!“ Er breitete die Arme aus, und die weinende Tochter Oliver Brex’ ruhte an seiner Brust …

– Heribert Gardner lag im Liegestuhl auf der großen schattigen Veranda des weißen Bungalow, und neben ihm, dem Genesenden, stand eine kleine, aus Rohr geflochtene Wiege, in der Hildegards Knäblein ruhte.

Gardener betrachtete das Kind, blickte dann zu Tschan hinüber und sagte humorvoll:

„Tschan, – soweit ist’s nun mit mir gekommen, – ich bin Kindermädchen geworden!“

„Immerhin ein großer Vertrauensposten“, meinte der Chinese mit Nachdruck. „Hilde vertraut nur einem wirklichen Manne ihr Kind an, Herr Gardner, und Sie sind … Mann geworden!“

Gardner nickte nachdenklich. „Es hat lange gedauert, alter Tschan, aber die Kur war gründlich.“

Vom Park her erschollen frohe Stimmen und Gelächter. Auf der Treppe erschienen Edda und Rolf, Arm in Arm, sehr erhitzt, sehr strahlend wie immer …

„Na, Heribert, wie geht’s dir?“ rief Terkellen herzlich. „Du machst ein so ernstes Gesicht …!“

Edda kniete neben der Wiege.

„Ernst?!“ Gardner zuckte unmerklich die Achseln. „Mag schon sein, Rolf … Man wird unwillkürlich zum Grübler, wenn das Schicksal so wunderbare Wege wählt, aus einem bis dahin nutzlosen Menschen wenigstens ein Kindermädchen zu machen …“

Terkellen drückte ihm derb die Hand. „Stelle dein Licht gefälligst nicht unter den Scheffel, du! Wir alle wissen, was wir an dir haben: Einen Mann, der zu uns gehört!“

„Ja – – durch den Tschandu“, meinte Gardner versonnen.

Edda hatte sich noch tiefer über den strampelnden Säugling gebeugt. Terkellen beobachtete sie, dann trafen sich ihre Blicke. Sie errötete, lächelte und in ihre Augen trat ein stiller, tiefer Glanz.

Terkellen fühlte, wie seine Wimpern feucht wurden. „Entschuldige, Gardner“, sagte er eigentümlich rauh. „Aber ich muß Edda einen Kuß geben … – ich muß!“

Er nahm sie in die Arme und preßte sie ganz sanft an sich – – ganz sanft …

Im Parke rauschten die Bäume auf, die Palmen verneigten sich gleichfalls unter dem ersten erfrischenden Lufthauch der Abendbrise …

Auf der Treppe waren Theresa und der große Tschandu erschienen, und der Bezwinger der Menschenseelen hatte ein Lächeln um die Lippen, wie ein Gott, der seine Mission erfüllt sieht …

 

Ende.

 

 

Anmerkungen:

  1. Siehe hierzu Eine verlassene Wüstenstadt von Georg Schweinfurth, erschienen in: Die Gartenlaube, 1885, Heft 40, S. 650–653
  2. Dieses wurde fälschlicherweise angenommen. Siehe hierzu den Artikel über Osma Digna auf Wikipedia.
  3. Siehe hierzu auch den Artikel: Das grausamste Volk der Erde von Walther Kabel. Erschienen in: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1915, 6. Band, S. 212–213
  4. Afrikanischer Affenbrotbaum (Adansonia digitata), auch Afrikanischer Baobab (von arabisch bu-hubub) genannt.
  5. Das Wort Ferengi (Ferendschi) leitet sich von Franke ab.
  6. Sir Rudolf Carl Freiherr von Slatin, auch bekannt als Slatin Pascha (* 7. Juni 1857 in Ober St. Veit bei Wien; † 4. Oktober 1932 in Wien) war ein österreichischer Offizier, Forschungsreisender und ägyptischer Gouverneur im Türkisch-Ägyptischen Sudan.