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Wer war’s?

 

Wer war’s?

Von Walther Kabel.

 

Der zum Protokollführer bestimmte junge Aktuar hatte sich einen Tisch dicht an das Fenster gerückt, während die Mitglieder der Gerichtskommission sich in dem eleganten Schlafzimmer flüsternd hin und her bewegten und der Arzt die in dem Bette liegende Leiche untersuchte. Der Tote war Albrecht Häusler, ein reicher unverheirateter Kaufmann. Nach den bisherigen Feststellungen der Polizei schien es sich um Selbstmord durch Gift zu handeln. Was den alten Herrn jedoch in den Tod getrieben hatte, blieb so vollkommen unerklärlich, daß jetzt die Gerichtskommission nachprüfen wollte, ob hier nicht doch vielleicht ein Verbrechen vorliegen könnte.

„Wenn es Ihnen recht ist, Herr Doktor“, wandte sich Staatsanwalt Meerlein an den Gerichtsarzt, „will ich zunächst die Wirtschafterin vernehmen, deren Aussage wohl die wichtigste sein dürfte.“

Der Arzt gab schweigend seine Zustimmung.

Bald darauf betrat ein junges, vielleicht zwanzigjähriges Mädchen das Zimmer.

„Sie heißen?“ begann der Staatsanwalt das Verhör.

„Anna Wierer“, entgegnete sie leise. Ernst Toussaint, der Protokollführer, schrieb den Namen nieder und dachte dabei: „Welch’ liebreizendes Antlitz die Kleine hat“.

Der Staatsanwalt fragte weiter. Anna Wierer hatte die Stellung bei Albrecht Häusler erst vor einem halben Jahre angetreten. Offen erklärte sie, daß Häusler ihr wohl nur deswegen bei ihrer großen Jugend die Leitung seines Haushaltes anvertraut habe, weil ihr völlig verarmter Vater ein alter Freund des so plötzlich Verstorbenen gewesen sei. Dann kam sie auf die näheren Umstände des Todesfalles zu sprechen. Herr Häusler pflegte stets um acht Uhr aufzustehen. Als er heute nicht zur gewohnten Zeit am Frühstückstisch erschien, hatte Anna Wierer mehrmals an der Schlafzimmertür geklopft, ohne Antwort zu erhalten. Schließlich war sie eingetreten, hatte die Vorhänge von den Fenstern zur Seite gezogen und dann sofort gesehen, daß das bleiche, stille Gesicht dort in den Kissen einem Toten gehörte.

Der Staatsanwalt hielt ihr jetzt ein Wasserglas hin, das auf dem Nachttischchen am Kopfende des Bettes gestanden hatte. In dem Glase befand sich noch der Rest einer trüben Flüssigkeit.

„Können Sie mir sagen, welcher Art diese Flüssigkeit ist?“

„Es ist Zuckerwasser. Herr Häusler nahm während der Nacht des öfteren einen Schluck davon, da er an starkem nervösen Hustenreiz litt.“

„Wäre es nicht möglich, daß Sie sich beim Zubereiten der Lösung am gestrigen Abend vielleicht vergriffen und anstatt Zucker – – – Arsenik benutzt haben?“

„Arsenik?“ Anna Wierer wurde noch um einen Schatten blasser. Dann fuhr sie schnell fort: „Das ist ausgeschlossen. Wir haben überhaupt kein Arsenik im Hause.“

Immer eingehender fragte der Staatsanwalt. Seine Blicke bohrten sich dabei förmlich in dem feinen Gesicht des Mädchens fest.

„Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, Fräulein Wierer, daß jetzt nach der eben stattgehabten genauen Untersuchung der Wohnräume des Toten ein Selbstmord ausgeschlossen erscheint. Wir haben nirgends auch nur die Spur einer Flasche entdeckt, aus der Herr Häusler das in Alkohol gelöste Arsenik in das Glas gegossen haben könnte. Und bei seinen vortrefflichen Charaktereigenschaften ist es ebenso unwahrscheinlich, daß er das Gefäß, in dem das Gift vorher enthalten war, absichtlich beseitigt hat, da er befürchten mußte, dadurch den Verdacht eines an ihm verübten Verbrechens hervorzurufen und anderen Menschen eventuell Ungelegenheiten zu bereiten. Ein Mann wie Albrecht Häusler – ich habe ihn ja persönlich gekannt – wird, wenn er sich schon entschließt Hand an sich zu legen, dies stets in einer Weise tun, daß seine Absicht auch nach seinem Tode klar zu Tage tritt. Es handelt sich hier also ohne Zweifel um Tötung einer dritten Person mit Hilfe von Gift, und zwar um eine mit Vorsatz und Überlegung begangene Tötung. Die Annahme der fahrlässigen Beimischung des Arseniks während der Bereitung des Zuckerwassers ist nach Ihren sicheren Bekundungen zu verwerfen. Mord liegt demnach vor, – Giftmord“.

Der Staatsanwalt machte eine kleine Pause. „Fräulein Wierer“, fuhr er dann eindringlicheren Tones fort, „von der Beantwortung der Frage, die ich nunmehr an Sie richten werde, hängt viel, sogar sehr viel ab. – Wir haben in dem Schreibtische des Toten vorhin ein Testament gefunden, das offen und unversiegelt in der obersten, allerdings verschlossenen Schublade lag. Haben Sie Kenntnis von den Bestimmungen dieser letztwilligen Verfügung gehabt?“

Anna Wierer zögerte mit der Antwort. Aus ihren Mienen sprach deutlich Verlegenheit, Unruhe, Unschlüssigkeit. Erst nach einer Weile erhob sie den Kopf und sagte kaum vernehmlich:

„Ja, ich kenne den Inhalt des Testaments.“

„Hat Herr Häusler Ihnen denselben mitgeteilt?“

„Nein – – – ich – – – ich sah einmal beim Staubwischen, daß die Schublade halb offen stand und ein Bogen Papier herausragte. Als ich ihn zurückschieben wollte, um das Fach zu schließen, bauschte sich der Bogen und ich konnte daher die Überschrift „Mein Testament“ lesen. Und da – – da habe ich der Versuchung nicht widerstehen können und schnell einen Blick in die Urkunde geworfen.“

„Und da lasen Sie, daß Herr Häusler Ihnen als der Tochter seines alten Schulfreundes ein bedeutendes Legat für den Fall ausgesetzt hatte, daß Sie ihn treu bis an sein Lebensende pflegen würden, – dreißig-tausend Mark. – Was dachten Sie nun, als Ihnen so plötzlich Kenntnis von diesem großmütigen Vermächtnis wurde?“

„Was ich dachte?“ sagte das junge Mädchen leise. „Ich war glücklich, überglücklich, wollte Herrn Häusler jetzt erst recht meine ganze Dankbarkeit dafür bezeigen, daß er mich auf diesen Vertrauensposten gestellt und mich nicht als bezahlte Angestellte, sondern wie sein Kind behandelt hat. Und das tat er ja vom ersten Tage an.“

Aus diesen ungekünstelten Worten sprach nichts als Aufrichtigkeit. Aber der Staatsanwalt ließ den einmal gefaßten Verdacht nicht so schnell fallen.

„Fräulein Wierer“, begann er wieder in derselben tastenden Weise, „das für Sie ausgesetzte Legat ist an eine Bedingung geknüpft: treue Pflege bis ans Lebensende. – Könnte da nicht in einem schwachen Charakter leicht der Gedanke auftauchen, sich dieses Vermächtnis, das doch immer noch ungültig gemacht werden konnte, auf jeden Fall zu sichern? Ich meine dadurch, daß man den Tod Herrn Häuslers – – – etwas beschleunigte?“

Diese so fein begründete und ebenso fein angedeutete Anschuldigung ließ das junge Mädchen nicht, wie der Staatsanwalt vielleicht erwartet hatte, verzweifelt zusammenbrechen. Kein Laut kam über ihre bebenden Lippen. Sie richtete sich höher auf. In ihrer Haltung war nichts mehr von Ängstlichkeit, von Verzagtheit zu entdecken. Ihre Augen schauten an dem unerbittlichen Beamten vorüber in das grüne Blattgewirr des Lindenbaumes, dessen Äste die Fenster des Gemaches beinahe berührten.

Ernst Toussaint legte gerade die Feder hin, schaute auf. Ihre Blicke begegneten sich. Da vergaßen die beiden jungen Menschenkinder die ganze Welt um sich. Nur Sekunden dauerte diese geheime Zwiesprache. Ihre Herzen klopfen trotzdem in schnelleren Schlägen. Und die Hoffnung in der Seele des jungen Weibes überflutete mit einemmal auch den letzten Rest von Bangheit, der sie noch gequält hatte. Nichts als freudige Zuversicht lebte nunmehr in ihr. Und, beherrscht von diesem einen Gefühl, sagte sie stolz und laut:

„So wahr ein Gott im Himmel lebt, – ich habe Herrn Häusler nicht vergiftet.“

Der Staatsanwalt blieb unschlüssig. Flüsternd beriet er sich jetzt mit dem Kriminalkommissar, den das Polizeipräsidium mit der Prüfung des Falles beauftragt hatte. Die Besprechung dauerte nur kurze Zeit.

„Sie werden uns jetzt“, wandte er sich dann wieder an das junge Mädchen, „in Ihr Zimmer führen. – Sie, Herr Toussaint, können einstweilen hier bleiben. Ich diktiere Ihnen nachher das Nötige.“ –

Ernst Toussaint war allein mit dem Toten. Erst las er das bisher Niedergeschriebene nochmals durch, verbesserte einige Stellen und ergänzte in der Eile ausgelassene Worte. Bald war er damit fertig. Er erhob sich und schaute zum Fenster hinaus. Dann ging er zögernd auf das an der Hinterwand des großen Raumes stehende Bett zu, beugte sich über das Nachttischchen mit der schwarzen Marmorplatte, worauf neben dem verhängnisvollen Glase nur noch eine kleine Nachtlampe stand. Auf der Marmorplatte waren einige strahlenförmige weißliche Spritzflecken sichtbar. Sie rührten von vergossenen Tropfen der Arseniklösung her, wie der Arzt schon vorhin aus dem nach Verdunstung der Lösungsflüssigkeit zurückgebliebenen Pulverrückstand festgestellt hatte. Diese Spritzflecken schienen Ernst Toussaints besondere Aufmerksamkeit zu erregen. Er betrachtete sie von allen Seiten, schüttelte nachdenklich den Kopf und schaute dann sinnend zu der holzgetäfelten Zimmerdecke empor.

„Merkwürdig“, murmelte er vor sich hin. „Das scheint wirklich keinem der Herren aufgefallen zu sein.“

Langsam, ganz von seinen Gedanken in Anspruch genommen, schritt er an seinen Platz zurück und lehnte sich an das Fensterbrett. Grübelnd schaute er vor sich hin. In seinem Kopfe trieben alle möglichen Kombinationen ein wildes Spiel. Ein Zufall hatte ihn da auf eine Vermutung gebracht, die jedenfalls nicht so ohne weiteres von der Hand zu weisen war – wenigstens seiner Meinung nach. Ob aber der Staatsanwalt seinen Beobachtungen irgend einen Wert beimessen würde, das war doch immerhin zweifelhaft.

Während er noch so unschlüssig hin und her überlegte, kehrte die Gerichtskommission zurück, voran der Staatsanwalt, der in seiner Rechten fast feierlich ein braunes Tropffläschchen hielt.

„Schreiben Sie, Herr Toussaint“, sagte er ernst. Und dann diktierte er:

„Bei der Durchsuchung des Zimmers der Anna Wierer wurde in einer einen Schneemann darstellenden Konfitürenattrappe ein braunes, etwa acht Zentimeter hohes Tropffläschchen aus braunem Glase gefunden, welches noch Reste einer Arseniklösung enthielt. Anna Wierer leugnete, daß das Fläschchen ihr gehöre. Sie behauptet, sich nicht erklären zu können, wie es in die Attrappe hineingelangt sei. Trotz mehrfacher eindringlicher Vermahnung bleibt sie bei dieser Aussage. Da das nunmehr gegen sie gesammelte Beweismaterial erdrückend genug ist, um ihre Festnahme gerechtfertigt erscheinen zu lassen, wurde ihre Verhaftung angeordnet und die des Mordes an dem Kaufmann Albrecht Häusler Beschuldigte dem Untersuchungsrichter zugeführt.“

Ernst Toussaint schrieb mechanisch die Worte nieder, las ebenso mechanisch das Protokoll vor und setzte seinen Namen darunter. Er befand sich wie im Traum. Sollte dieses unschuldsvolle Gesicht, dieser traurige Blick wirklich gelogen haben? War Anna Wierer nichts als eine raffinierte Mörderin, die kaltblütig einem Menschen, der nur ihr Bestes wollte, den Gifttrunk gemischt hatte? – Unmöglich, unmöglich! Solche Verderbtheit konnte in einer so schönen Hülle nicht wohnen!

* * *

Um drei Uhr nachmittags waren die Dienststunden für die Gerichtsschreiberei der Staatsanwaltschaft zu Ende. Ernst Toussaint spritzte die Feder aus, packte die Akten ordnungsgemäß in die Fächer der hohen Regale und verließ dann das große Gebäude mit den hallenden, düsteren Korridoren, auf denen sich noch eine Menge Menschen hin und her schob, – alles Zeugen in dem Mordprozeß, der drüben im Schwurgerichtssaale gerade verhandelt wurde. Unwillkürlich wurden die Gedanken des jungen Mannes so wieder auf die Erlebnisse des heutigen Vormittags zurückgelenkt. Wer weiß, wie bald auch Anna Wierer dort in dem zweiten Saale in der Anklagebank sitzen und bangen Herzens dem Spruch über Leben und Tod entgegensehen würde! Staatsanwalt Meerlein hatte sich ja schon dahin geäußert, daß er nach dem vorliegenden Tatbestand Anklage auf Mord erheben würde. Und dann ging es um den Kopf! –

Immer mehr vertiefte sich Toussaint in die Ereignisse dieses denkwürdigen Tages. Und selbst als er in seinem bescheidenen Zimmer angelangt war und seine Wirtin ihm das Mittagessen auf den Tisch gestellt hatte, beschäftigte er sich noch immer mit dem Fall Häusler. Er sann und sann. Und dann sprang er plötzlich hastig auf, schob Teller und Schüsseln zurück und ließ von seiner Wirtin das Geschirr abräumen.

„Hat’s nicht geschmeckt, Herr Toussaint?“ fragte die alte Dame besorgt. „Sie haben ja die Speisen kaum angerührt.“

„Geschmeckt hat es schon, Frau Werner. Ich bin nur etwas abgespannt. Wir hatten heute eine etwas aufregende Arbeit vor. Sie werden’s abends in den Zeitungen lesen. – Sagen Sie, Frau Werner“, schnitt er kurz alle weiteren Fragen seiner neugierig gewordenen Wirtin ab, „könnten Sie mir vielleicht etwas Salz, ein halbes Wasserglas Spiritus und eine Glasplatte besorgen? Ich will einige Versuche anstellen.“

Frau Werner brachte das Verlangte.

Der junge Aktuar, wieder allein, bereitete nun mit wahrem Feuereifer aus Salz, etwas Wasser und Spiritus in einem Glase eine Mischung und ließ dann aus verschiedener Höhe einzelne Tropfen davon auf die Glasscheibe fallen, die er später über einem Licht erwärmte, sodaß die Flüssigkeit schnell verdunstete und nur die weißlichen Reste des Salzes zurückblieben. Wohl eine Stunde lang beschäftigte er sich mit diesen Versuchen. Sein blasses Gesicht hatte sich gerötet, seine Augen blitzten. Mit triumphierendem Lächeln schloß er endlich die Glasplatte, auf der die verschiedensten Tropfenfleckenbilder sichtbar waren, in die Schublade seines Tisches ein. Dann setzte er sich in die Ecke des alten hochlehnigen Sofas und überlegte.

Wenn er wirklich hier den Schlüssel des geheimnisvollen Mordes entdeckt hatte, welch’ glückverheißenden Aussichten eröffneten sich ihm dann! Damals, als er infolge des plötzlichen Todes seiner Eltern das juristische Studium kurz vor dem ersten Examen aufgeben mußte, als sich niemand fand, der dem flotten, als leichtsinnig verschrieenen Ernst Toussaint die Mittel zur Beendigung der begonnenen Karriere vorschießen wollte, als er sich mit einemmal dem nichts gegenübersah, da hatte er, froh nur irgendwo unterzukommen, den gutgemeinten Vorschlag eines älteren Freundes befolgt und war als Anwärter für die Sekretärlaufbahn in den Justizdienst eingetreten, weil er so am schnellsten zu einer einträglichen Stellung zu gelangen hoffte. Und mit einer Energie, die er sich selbst bis dahin kaum zugetraut hatte, arbeitete er sich in den neuen Beruf ein und fand sich ebenso schnell in die so gänzlich veränderten Verhältnisse. Die Enttäuschung, die Unzufriedenheit kam erst später, als er immer mehr herausfühlte, daß seinem regen, selbständigen Geiste die Tätigkeit auf der Gerichtsschreiberei nie genügen würde.

Jahre waren so dahingegangen. Er stand nun dicht vor seiner Ernennung zum Sekretär. Aber auch diese Aussicht auf die damit verbundene Aufbesserung seines pekuniären Verhältnisses bereitete ihm keine Freude. Der Kreis, in dem er sich bewegen mußte, war ihm zu eng, seine Tätigkeit eine zu mechanische. Und jetzt blinkte da in der Ferne etwas wie ein Hoffnungsfünkchen auf! Wenn es ihm gelang, diesen Giftmord aufzuklären und Anna Wierer, die bereits im Untersuchungsgefängnis schmachtete, die Freiheit zurückzugeben, dann würde man auf ihn aufmerksam werden und ihm vielleicht Gelegenheit geben, sich in eine andere Stellung einzuarbeiten. Wenn, ja – – wenn! –

Doch wenigstens einen Versuch konnte er ja unternehmen, ob er dem bedauernswerten jungen Mädchen irgendwie beizustehen vermochte. Ganz aussichtslos war sein Unterfangen nicht! Nur Mut gehörte dazu, Mut und kaltblütige Berechnung.

Schnell stand er auf, nahm Hut und Stock, verließ sein Zimmer und fuhr mit der elektrischen Straßenbahn in die Vorstadt hinaus, wo Albrecht Häusler die erste Etage eines eleganten Mietshauses seit Jahren bewohnte. –

Es war noch heller Tag, als er die Treppe zu dem zweiten Stockwerk hinaufstieg. Vor der Entreetür blieb er stehen. Über dem Knopf der elektrischen Klingel hing an der Wand ein großes Schild „Pensionat Mertens“. Ernst Toussaint schellte. Ein sauber gekleidetes Stubenmädchen mit weißem Tändelschürzchen öffnete ihm.

„Sie wünschen, mein Herr?“

„Ich möchte ein Zimmer mieten.“

„Bitte, wollen Sie eintreten. Ich werde Frau Mertens rufen.“

Das Mädchen führte ihn in einen Empfangssalon mit etwas verschossenen Möbeln und billigen Gemälden an den Wänden. Gleich darauf erschien die Pensionsinhaberin, eine hagere Dame, der Ernst Toussaint dann kurz sein Anliegen vortrug.

„Augenblicklich habe ich leider kein Zimmer frei, mein Herr“, meinte sie zuvorkommend. „Aber übermorgen zieht Herr Rechtsanwalt Arnheim aus. Vielleicht können Sie so lange warten.“

„Auf ein paar Tage kommt es mir nicht an. Vielleicht könnte ich mir aber das demnächst freiwerdende Zimmer ansehen.“

„Bitte, sehr gern. Herr Arnheim ist gerade nicht anwesend.“

Die Dame schritt ihm voraus den Korridor entlang, öffnete eine Tür und ließ ihn eintreten. Toussaint hatte die Lage der Räume in der unteren, von Albrecht Häusler bewohnen Etage noch genügend gegenwärtig, um feststellen zu können, daß dieses Zimmer, in dem er sich jetzt befand, über dem Schlafgemach des Ermordeten lag.

Dieses war ja ein Glückszufall, wie er garnicht günstiger sein konnte! Das Geschick schien ihm wirklich gnädig gesinnt zu sein. So hatte er ja seinen Zweck hier ganz ohne alle Schwierigkeiten erreicht.

Die Pensionsinhaberin pries das Zimmer in allen Tonarten an.

„Der Herr Rechtsanwalt ist gewiß verwöhnt und hat sich doch hier sehr wohl gefühlt. Er läßt augenblicklich sein elegantes Junggesellenheim in der Menzelstraße neu tapezieren, und da ist er für die vierzehn Tage hier zu uns gezogen. Das Haus ist ruhig, kein Klavierspiel, kein Kinderlärm.“

„Mir gefällt das Zimmer ebenfalls“, meinte Toussaint, nachdem er sich genügend darin ungesehen hatte. „Und der Preis?“

„Mit voller Pension monatlich einhundertundsechzig Mark, mit Morgenkaffee siebzig Mark.“

Billig war das gerade nicht. Aber darauf durfte es ihm jetzt nicht ankommen.

„Gut, Frau Mertens, ich werde dann also übermorgen einziehen. Vorläufig miete ich auf eine Woche mit Morgenkaffee. Ich habe hier in der Stadt nur vorübergehend zu tun und weiß noch nicht, wann meine Geschäfte erledigt sind. So – diese zehn Mark Anzahlung genügen wohl.“

„Danke sehr. Und mit wem habe ich die Ehre?“

„Ernst Torger, Schriftsteller aus München“, log Toussaint kaltblütig.

Dann, als er schon an der Flurtür stand, kam ihm noch ein Gedanke. Er durfte den jetzigen Bewohner des Zimmers auf keinen Fall irgendwie mißtrauisch machen. Und daher sagte er beim Abschied zu der Pensionsinhaberin noch ganz nebenbei:

„Sollten Sie inzwischen ein Zimmer freibekommen, das Nachmittagssonne hat, so reservieren Sie es mir bitte. Ich bin gerade an Nachmittagssonne so sehr gewöhnt. Wir Schriftsteller haben ja alle unsere kleinen Schwächen.“

„Das wird sich kaum machen lassen, Herr Torger“ meinte die Dame bedauernd. „Ich habe zumeist Pensionäre, die schon jahrelang bei mir wohnen, und die möchte ich nicht gerne ausquartieren.“

„Das sollen Sie auch nicht. Also dann bleibt’s bei dem Zimmer des Herrn Rechtsanwalts. – Adieu, Frau Mertens, – auf Wiedersehen übermorgen.“ –

* * *

„Frau Werner, ich verreise für einige Tage“, sagte Ernst Toussaint zwei Tage später zu seiner Wirtin, die ihn gerade dabei überraschte, wie er in seinen eleganten, noch aus seiner Studentenzeit stammenden Lederkoffer Wäsche und Kleidungsstücke einpackte. „Wann ich zurückkehre, weiß ich noch nicht. Briefe und Zeitungen heben Sie mir gut auf.“

Er schloß den Koffer ab, schaute sich nochmals prüfend um, ob er auch nichts vergessen hatte, und verabschiedete sich dann von der alten Dame, die ihrem so soliden und pünktlich zahlenden Mieter auf’s herzlichste glückliche Reise und gesundes Wiedersehen wünschte.

An der nächsten Straßenecke begegnete Toussaint einer leeren Autotaxe. Er stieg ein, der Koffer wurde vorn beim Chauffeur verstaut, und dann ging’s nach der Vorstadt hinaus. So hielt der Schriftsteller Ernst Torger nachmittags sechs Uhr seinen Einzug in das Pensionat Mertens.

Das Dienstmädchen wies ihm das Zimmer an. Als das Mädchen wieder verschwunden war, ging er erst eine Weile unschlüssig in seiner neuen Behausung auf und ab. Eigentlich hätte er aus Vorsicht mit dem, was er hier vorhatte, bis zur Nacht warten müssen, wo er sicher war, von niemandem beobachtet zu werden. Aber die Spannung, ob seine Vermutungen zutreffen würden, fühlte er schon in sämtlichen Nerven seines Körpers.

Er schlich zu der in den Korridor führenden Tür und lauschte. Nichts regte sich draußen. Leise öffnete er sie und schaute hinaus. Keine Menschenseele war zu erblicken. Beruhigt drückte er die Tür wieder behutsam ins Schloß, schob den Nachtriegel vor und hängte über das Schlüsselloch sein Taschentuch. Zwar führte eine zweite Tür in den Nebenraum. Die hatte man jedoch mit dem Kleiderschrank verstellt.

Inzwischen war draußen doch schon die Dämmerung eingetreten. Er zündete das auf dem Waschtisch stehende Licht an, schlug dann die linke hintere Ecke des Teppichs, der ungefähr an derselben Stelle lag, wo in der unteren Etage Herrn Häuslers Bett stand, zurück und kniete sich auf den mit brauner Ölfarbe gestrichenen Fußboden nieder. Schon nach wenigen Sekunden erhob er sich wieder. Seine Hand, die den Leuchter hielt, zitterte derart, daß die Flamme flackernd hin und her-züngelte. Sein Gesicht war vor Erregung noch bleicher geworden. In seinen Augen aber blinkte die helle Siegesfreude.

Das Licht erlosch, und die Ecke des Teppichs wurde wieder zurückgeschlagen. Gleich darauf verließ Ernst Toussaint das Haus und begab sich zu Fuß in die nahe Stadt zurück. Jetzt galt es, diesen einwöchigen Urlaub, den er angeblich zur Regelung einer Familienangelegenheit von seiner Behörde erbeten hatte, auch weiter zu Anna Wierers Bestem auszunutzen. Vieles war noch zu erledigen, bevor er sein Ziel als wirklich erreicht ansehen konnte. Daß er es erreichen würde, daran zweifelte er nicht mehr.

Staatsanwalt Meerlein saß in seinem Arbeitszimmer, und entwarf eben die Anklage in einem großen Wucherprozeß.

„Der Herr Aktuar Toussaint bittet den Herrn Staatsanwalt um eine Unterredung“, meldete ein Gerichtsdiener.

„Toussaint? Ich denke der befindet sich auf Urlaub. – Ich lasse bitten.“ –

Ernst Toussaint war mit seinem Vorgesetzten allein.

„Sie wünschen, Herr Toussaint?“

„Ich möchte zunächst um Entschuldigung bitten, daß ich in meinem vor sechs Tagen eingereichten Urlaubsgesuch nicht ganz aufrichtig gewesen bin, – ich meine, was den Grund für das Gesuch anbetrifft. Wenn ich Ihnen erst auseinandergesetzt haben werde, was mich herführt, so werden Sie begreifen, Herr Staatsanwalt, daß ich durch die merkwürdigen Umstände gezwungen war, mich dieser Notlüge zu bedienen.“

Meerlein schaute seinen Aktuar etwas verständnislos an. Er wußte nicht recht, was diese Einleitung sollte.

„Anscheinend handelt es sich also um eine längere Unterredung, Herr Toussaint“, sagte er trotzdem gemütlich. „Bitte – setzen Sie sich doch. – So, und was haben Sie nun auf dem Herzen?“

„Es betrifft den Giftmord Häusler, Herr Staatsanwalt. Ich bin zu der Überzeugung gelangt, daß nicht Anna Wierer, sondern jemand anders als der Täter in Betracht kommt.“

Meerleins Augen weiteten sich förmlich vor Erstaunen.

„Na, da bin ich doch wirklich neugierig!“ meinte er etwas ironisch.

„Sie gestatten wohl, Herr Staatsanwalt“, begann Toussaint in sachlichem Tone, „daß ich Ihnen auseinandersetze, wie ich überhaupt auf die Idee gekommen bin, mich eingehender mit dem erwähnten Morde zu beschäftigen. –

Als an jenem Vormittag die Gerichtskommission das Schlafgemach des Ermordeten besichtigte, machte der Gerichtsarzt gleich zu Anfang darauf aufmerksam, daß von der giftigen Arseniklösung mehrere Tropfen auf die Platte des Nachttischchens gefallen waren. Während die Herren dann nachher der Durchsuchung des Zimmers der Anna Wierer beiwohnten, blieb ich in dem Schlafgemach allein zurück. Und da trieb mich ein unbestimmtes Gefühl, halb Neugier, halb unbewußte Vorahnung, näher an das Bett des Toten heran. So kam es, daß ich mir auch die Tropfenflecken auf der dunklen Marmorplatte näher ansah. Und an diesen fiel mir sofort etwas auf. Vielleicht entsinnen Sie sich noch, Herr Staatsanwalt, daß diese Spritzflecken keine zusammenhängenden weißlichen Punkte, sondern jeder einen fein zerstäubten Strahlenkranz bildeten. Diese Form der Flecken war insofern recht merkwürdig – der Gedanke kam mir damals ganz urplötzlich! – als sie nur von Tropfen der Arseniklösung herrühren konnten, die aus beträchtlicher Höhe auf den Marmor herabgefallen sein mußten, weil sie eben so vollständig durch den Aufschlag zerstäubt waren. Unwillkürlich blickte ich nun zu der getäfelten Zimmerdecke empor. Und da bemerkte ich gerade über dem Nachttischchen in der Täfelung zwei Löcher, die man auf den ersten Blick für alte Bohrlöcher von Lampenhaken halten konnte. Diese beiden Entdeckungen, – die auffallende Form der Tropfenflecken und jene beiden Löcher in der Zimmerdecke, vereinigten sich in meinem Geiste ebenso blitzschnell zu einer Schlußfolgerung, die mir im ersten Augenblick selbst so unwahrscheinlich vorkam, daß ich sie als leere Mutmaßung weit von mir weisen wollte. Aber die einmal angelegte Ideenverbindung ließ mich nicht los. Ich grübelte immer wieder darüber nach. Um meine Kombinationen wenigstens in dem einen Punkte nachzuprüfen, stellte ich dann noch an demselben Nachmittag in meinem Zimmer mit einer Salzlösung Versuche an, bei denen ich Tropfen aus verschiedener Höhe auf eine Glasscheibe herabfallen ließ. Hierdurch stellte ich fest, daß ähnliche Spritzfleckenbilder wie die auf der Nachttischplatte beobachteten nur entstanden, wenn die Tropfen mindestens zwei Meter über der Glasscheibe ausgegossen wurden.“

Ernst Toussaint holte jetzt aus der Innentasche seines Rockes eine sauber eingewickelte Glasplatte heraus.

„Dies, Herr Staatsanwalt, ist die Scheibe, die ich zu meinen Versuchen benutzt habe. Diese Tropfenbilder hier sind entstanden, wenn man die Tropfen aus zehn – zwanzig cm Höhe herabfallen läßt, diese strahlenförmigen dagegen bei einer Höhe von zwei Meter und darüber.“

Meerlein sah auf den ersten Blick die geradezu auffällige Verschiedenheit der beiden Fleckenbilder.

„Bitte, fahren Sie fort, Herr Toussaint“, bat er dann mit offensichtlicher Spannung.

„Diese meine Feststellung war von größter Wichtigkeit. Das sagte ich mir sofort. Denn, wenn man nunmehr die Annahme nachprüfte, daß Anna Wierer ihren Wohltäter vergiftet haben könnte, so stieß man dabei auf unlösbare Widersprüche. – Man betrachte zunächst die Möglichkeit, daß die Täterin das Gift bereits in das Glas tat, als sie das Zuckerwasser zurechtmischte. Wie soll man sich dann das Vorhandensein jener Tropfenflecken auf dem Nachttischchen erklären, die doch nachgewiesenermaßen die Reste reiner, das heißt noch nicht mit Zuckerwasser vermischter Arseniklösung darstellen? Eine Erklärung dafür zu finden ist ausgeschlossen. Diese Möglichkeit wäre also erledigt. – Nun zu der zweiten, daß Anna Wierer Herrn Häusler das Gift in das Glas schüttete, während er schlief, wie dies auch jetzt noch vom Gericht angenommen wird. Man vergegenwärtige sich das Tun der angeblichen Mörderin in der betreffenden Nacht. Sie schleicht mit dem das Gift enthaltenden Fläschchen in das Schlafzimmer, wo wie gewöhnlich neben dem Glase Zuckerwasser auf dem Nachttischchen ein kleines Lämpchen mit rotem Schirm brennt. Jetzt entkorkt sie das Fläschchen, horcht nochmals nach dem ahnungslosen Schläfer hin und gießt das Gift schnell in das Glas, wobei sie, um jedes Geräusch zu vermeiden, das Fläschchen möglichst dicht über das Glas halten wird. Daß sie einige Tropfen verschüttet, ist möglich. Dann würden diese Tropfen aber ganz andere Fleckenbilder zurückgelassen haben als die, die auf dem Marmor gefunden wurden. Sie würden unregelmäßig rund aussehen, so wie diese hier auf meiner Glasplatte, die aus zehn –fünfundzwanzig cm Höhe herabfielen, niemals aber strahlenförmig. – Woher also die sonderbaren Spritzfleckenbilder? Will man wirklich annehmen, daß die Täterin, um das Gift in das Glas zu tun, sich auf einen Stuhl gestellt hat? Nur dann hätte man eine Erklärung für die eigenartige Form der Flecken, die ja nur von Tropfen herrühren können, die aus mindestens zwei Meter Entfernung auf den Marmor aufprallten.“

Staatsanwalt Meerlein sprang jetzt, als der Aktuar eine kleine Pause machte, erregt von seinem Stuhle auf.

„Toussaint“, sagte er fast feierlich, „Sie haben recht. Das sind unlösbare Widersprüche. Und ich ahne auch schon, zu welcher Annahme Sie nach alledem gekommen sein müssen. – Doch sprechen Sie weiter.“

„Diese Widersprüche“, fuhr der Aktuar mit derselben Sachlichkeit fort, „brachten mich zu der Überzeugung, daß Anna Wierer den Mord nicht verübt haben könne. – Das war das negative Resultat meiner Versuche mit den verschiedenen Tropfenbildern. Das positive aber bestand in der weiteren Folgerung, daß es bei der ganzen Sachlage nur eine einzige Möglichkeit gab, eine Erklärung für die Entstehung jener Spritzflecken zu finden: Wenn der Mörder das Gift auf irgend eine Weise durch ein Loch in der Zimmerdecke herabgeträufelt hatte! Nach diesen ersten Erfolgen war bei mir tatsächlich der Ehrgeiz erwacht, Herr Staatsanwalt. Ich wollte keine halbe Arbeit leisten, wollte den einmal aufgenommenen Fall auch ganz erledigen. Darum erbat ich mir für eine Woche Urlaub. Ich mußte Zeit haben, mich der Sache völlig widmen zu können. – Daß ich schon an jenem Vormittag die beiden Löcher in der Deckentäfelung des Schlafzimmers bemerkt hatte, erwähnte ich bereits. Ich wollte nun herausbekommen, ob diese Löcher gleichfalls in meine Kombinationen hineinpaßten. – Über Herrn Häuslers Wohnung, in der zweiten Etage, befindet sich ein Pensionat. Und das Zimmer, welches über dem Schlafzimmer des Ermordeten liegt, war zur Zeit des Mordes an einen Herrn vermietet, dessen Nachfolger ich dann wurde. In diesem Zimmer entdeckte ich schon in der ersten Stunde nach meinem Einzug unter dem Teppich in den Dielen zwei Löcher, die man mit Kitt von der Farbe des Fußbodens wieder verschmiert hat. Als ich diesen Kitt, der noch nicht verhärtet und daher erst kürzlich benutzt seien konnte, dann am folgenden Tage um die Mittagszeit mit Hilfe eines Messers und eines Stückchen Eisendraht entfernt hatte, vermochte ich tatsächlich in das Schlafzimmer Häuslers hinabzublicken. Das Sehfeld war allerdings nicht groß. Ich sah nur die Platte des Nachttischchens. Und doch war mir in demselben Augenblick die Ausführung dieses raffinierten Verbrechens vollkommen klar. Der Herr aber, der vor mir jenes Zimmer gemietet hatte und der daher unter dem schweren Verdacht steht, Häusler ermordet zu haben, ist niemand anders als der stadtbekannte Rechtsanwalt Arnheim, der juristische Beirat des Toten.“

„Arnheim?!“ fuhr der Staatsanwalt auf. „Das ist ja unmöglich, das kann nicht sein!“

„Und doch ist es so. Auch die weiteren von mir gesammelten Beweise sprechen gegen ihn. Ich möchte hier jedoch gleich einschalten, daß es mir nicht gelungen ist zu ermitteln, welche Veranlassung ihn zu diesem Morde getrieben hat. Wahrscheinlich wird er aber seinen Klienten um größere Summen betrogen und eine Entdeckung gefürchtet haben, welch’ letztere er durch die Beseitigung Häuslers verhindern wollte. Das vermute ich jedoch nur. Jedenfalls hat Arnheim dieses Verbrechen mit einer geradezu teuflischen Schlauheit inszeniert. Ich bin überzeugt, daß er von vornherein die Absicht hatte, den Verdacht auf Anna Wierer zu lenken. Er hat als Anwalt des Verstorbenen fraglos von den Bestimmungen des Testaments Kenntnis erhalten gehabt und auch gewußt, daß Häusler die Urkunde in seinem Schreibtisch aufbewahrte, wo sie dann von dem Gericht gefunden werden und durch das unter der bekannten Bedingung ausgesetzte Legat den ersten Argwohn gegen Anna Wierer zur Entstehung bringen mußte. Um diesen Argwohn weiter bis zum begründeten Verdacht zu verstärken, hat der Rechtsanwalt dann, sicherlich ganz kurze Zeit vor dem Morde, das Giftfläschchen in der Konfitürenattrappe verborgen. Gelegenheit hierzu bot sich ihm fast jeden Tag, da er als langjähriger Vertrauter Häuslers in dessen Wohnung ganz zwanglos aus- und einging und, besonders während er in dem Pensionate wohnte, allabendlich seinen Klienten besuchte und mit ihm eine Partie Schach spielte. Da wird er schon einmal einen günstigen Augenblick für die Ausführung dieses Schurkenstreiches erspäht haben. Um aber dem für seinen Plan notwendigen Umzug in das Pensionat einen möglichst harmlosen Anstrich zu geben, ließ er seine Junggesellenwohnung neu tapezieren und dekorieren, obwohl dies, wie ich durch Nachfragen ebenfalls festgestellt habe, noch garnicht nötig war. Die Löcher durch den Fußboden genau über dem Platze, wo unten Häuslers Nachttischchen stand, zu bohren, bereitete dem mit der Stellung der Möbelstücke in der ersten Etage so vertrauten Arnheim sicher keinerlei Schwierigkeiten. Er wird diese Arbeit zu einer Zeit vorgenommen haben, wo er genau wußte, daß er von Bewohnern der beiden Stockwerke nicht belauscht werden konnte. Darauf mußte er achtgeben, da der große Zentrumbohrer, der für seine Zwecke nötig war, beim Durchdringen des Holzes immerhin einiges Geräusch verursacht haben wird, wodurch leicht eine vorschnelle Entdeckung seiner Vorbereitungen hätte herbeigeführt werden können. Um nun die Bohrlöcher als schon früher entstanden erscheinen zu lassen, besonders an den Rändern unten in der Deckentäfelung, hat er sie mit einer bräunlichen Farbe getränkt und so tatsächlich auch erreicht, daß die zwei cm auseinanderliegenden Öffnungen ganz den Eindruck von alten Löchern von Lampenhaken machten und daher nicht weiter auffielen. Und doch ermöglichen sie es mit ihrem Durchmesser von eineinhalb cm bei einiger Geschicklichkeit, wie ich selbst ausprobiert habe, aus dem oberen Zimmer eine Flüssigkeit in ein unten auf dem Nachttischchen stehendes Glas tropfenweise hineinzugießen. Steckt man nämlich durch das eine Loch eine etwas gekrümmte Glasröhre, die im Handel in jeder beliebigen Länge zu haben ist, und befestigt man an dem oberen Ende einen mit einer Flüssigkeit gefüllten Gummiball, so kann man, wenn man durch das zweite Loch das Aufschlagen einzelner Trop-fen auf das Nachttischchen beobachtet und danach die Röhre richtig dirigiert, in kurzer Zeit die Flüssigkeit nach einer bestimmten Stelle hin entleeren. Daß der Mörder in derselben Weise vorgegangen ist, unterliegt für mich keinem Zweifel. Denn das allnächtlich auf dem Nachttische neben dem Glase Zuckerwasser brennende Nachtlämpchen gab genügend Licht, um die beabsichtigte Operation mit der Glasröhre vornehmen zu können. Und hierbei sind eben die rätselhaften Fleckenbilder entstanden, – eben durch die ersten Tropfen, die zunächst nicht in das Glas hineintrafen. – – Das ist alles, was ich Ihnen mitzuteilen habe, Herr Staatsanwalt.“

Meerlein streckte jetzt Ernst Toussaint herzlich die Hand hin.

„Wir sind Ihnen zu unendlichem Dank verpflichtet, lieber Freund. Warten Sie bitte hier. Ich will sofort zum Herrn Ersten Staatsanwalt hinübergehen und ihm über den veränderten Stand der Dinge Vortrag halten. Die Sache duldet keinen Aufschub.“

Als Meerlein nach einer Viertelstunde in Begleitung des Ersten Staatsanwalts zurückkehrte, erlebte Ernst Toussaint einen neuen Triumph. Und Herr v. Berlepsch sprach ihm mit den liebenswürdigsten Worten seine Anerkennung über diesen von so außerordentlichem Scharfsinn zeugenden Erfolg aus.

„Ich habe bereits telephonisch der Kriminalpolizei Anweisung gegeben, Ihre Angaben nur der Form halber noch nachzuprüfen“, erklärte er dann. „Hiernach dürfte die Freilassung Fräulein Wierers und Arnheims Verhaftung noch heute erfolgen.“

Und dies geschah auch wirklich. Der Rechtsanwalt versuchte es zwar zunächst noch mit dem Leugnen. Aber unter dem Druck des Beweismaterials legte er dann ein umfassendes Geständnis ab. Dieses stimmte mit den geistvollen Schlußfolgerung Toussaints bis ins einzelne überein.

Anna Wierer und Ernst Toussaint wurden bald darauf ein glückliches Paar. Den früheren Aktuar aber stellte der Polizeipräsident bei der Kriminalpolizei ein, wo er weiter seine hervorragende kriminalistische Begabung entsprechend ausnutzen konnte und infolge seiner Tüchtigkeit schnell Karriere machte.