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Des Schicksals Wunderwege

 

Vergiß mein nicht

Bibliothek der besten Romane

 

Band 190

 

Des Schicksals Wunderwege.

 

Roman von

W. Kabel.

 

Verlag moderner Lektüre, G. m. b. H., Berlin S. 14.
Dresdenerstraße 88–89.

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten.

 

1. Kapitel.

„‘n abend allerseits.“

Der hagere Doktor verneigte sich, reichte dem semmelblonden Pikkolo Hut und Rock und nahm an seinem altgewohnten Platz zwischen dem Bürgermeister und dem Kurdirektion einen der hochlehnigen Lederpolsterstühle ein, die Herr Wallerhof, der Besitzer des Strandhotels, für den Honoratiorenstammtisch besonders angeschafft hatte.

Dr. Birnbaum, der gesuchteste Arzt des Ostseebades Sornow, nebenbei auch noch als geistvoller Spötter ein wenig gefürchtet, trank zunächst die Blume aus seinem mit einem studentischen Wappen verzierten Glase weg und sagte dann, wobei er seine Stimme absichtlich etwas anstrengte:

„Wie wohl tut es doch, so einer frischen Mädchenblüte zu begegnen! Selbst mein achtundvierzigjähriges Junggesellen- und Onkelherz klopft höher, wenn die zierliche Kleine an mir vorbeischwebt. Und nett und schick angezogen war das Mädel wieder …! Ganz wie eine junge Dame der besten Gesellschaft!“

Der Kurdirektor, ein Major a.D. mit einem verdächtig gerötetem Gesicht – Sonnenbrand, behauptete er, trage daran die Schuld – schaute den Doktor von der Seite mißbilligend an und erklärte dann:

„Das Loblied auf den reizenden Käfer von Gerichtsvollzieherstochter bekommen wir nun beinahe jeden dritten Abend zu hören! Und wozu das! Sie machen einem ja dadurch den Mund noch wässriger nach dieser Perle holder Weiblichkeit, Birnbäumchen, – eine Gemütserregung, die angesichts der völligen Unnahbarkeit der kleinen Marga total zwecklos ist, total!“ –

Das Gespräch am anderen Ende des Tisches, wo die jüngeren Herren – der Amtsrichter, ein paar Referendare und Regierungsassessoren von Burgstätt saßen war nun auch verstummt. Das Thema Marga Distelberg wirkte auch hier vollständig ablenkbar. Die eben erörterte Frage, ob die Saison für den Badeort in diesem Jahre sich besser anlassen würde wie im vorigen, war schnell vergessen. Und Gisbert von Burgstätt war es, der jetzt fragte, wobei er sich etwas vorbeugte, um Dr. Birnbaum ansehen zu können:

„Wo schwebte denn die süße Nixe von Sornow hin, Herr Doktor? – Es ist doch bereits neun Uhr, und um die Zeit pflegt Marga Distelberg sich nicht mehr auf der Straße sehen zu lassen, wenigstens nicht ohne Begleitung ihrer Angehörigen.“

Der Arzt kniff die Augen zusammen und strich sich den Spitzbart glatt. Am liebsten hätte er diesem jungen Lebemann, der erst vor einem halben Jahre zum Regierungsassessor ernannt und dem Landratsamt in Sornow dann zur Beschäftigung überwiesen worden war, gar nicht geantwortet. Aus bestimmten Gründen. Aber das ging nicht gut an. Unhöflich wollte er schließlich auch nicht sein. Und so sagte er denn ausweichend:

„Wohin der holde Engel seine Schritte wandte, weiß ich nicht. Sie hatte wohl noch Besorgungen vor. Wenigstens trug sie ein längliches Päckchen unter dem Arm.“

Dr. Birnbaum hatte hiermit eigentlich eine glatte Unwahrheit gesagt, da er sehr wohl bemerkt hatte, wie Marga Distelberg in das Kurhaus einbog – wahrscheinlich, um noch einmal über den jetzt Anfang Mai bereits erleuchteten Seesteg zu promenieren. Nun wenn der Arzt sich zu einer solchen Lüge herbeiließ, so hatte er auch einen stichhaltigen Grund dazu. Schon zwei Mal war er bei seinen einsamen Waldspaziergängen in der letzten Zeit einem Pärchen begegnet, das sich bei seinem Näherkommen schleunigst seitwärts in die Büsche schlug. Und daß dieser schlanke Herr und das zierliche Mädchen nur Gisbert von Burgstätt und die Tochter des erst vor wenigen Monaten nach Sornow versetzen Gerichtsvollziehers sein konnten, darauf wäre Fritz Birnbaum trotz seiner mit einer Brille bewaffneten Augen die höchste Wette eingegangen. Ausgerechnet dieser Burgstätt mußte sich an das Mädel herangedrängt haben – ausgerechnet der! Aus seinen leichten moralischen Grundsätzen machte der schöne Gisbert ja kein Hehl!

Der, dem all diese schwerwiegenden Bedenken galten, hatte nach der Antwort des Doktors langsam sein Glas geleert und dann nach der Uhr gesehen. Trotz der Proteste der anderen Herren bezahlte er jetzt seine Zeche, entschuldigte sich mit einer dringenden Arbeit und verschwand.

Dr. Birnbaum schaute ihm mit gerunzelter Stirn nach. Niemand von der Stammtischrunde ahnte, was Gisbert von Burgstätt in Wirklichkeit hinaus auf die Straße trieb, niemand – nur der Arzt vermutete das Richtige. Und der schwieg …

* * *

Der Regierungsassessor war kaum vor der langen Fensterfront des Strandhotels vorübergekommen, als der auch schon nach rechts abbog und auf den Eingang zum Kurpark zuschritt. Hier brannte nur hier und da eine der Gaslaternen und beleuchtete notdürftig den kiesbestreuten Boden. Burgstätt beschleunigte das Tempo, – bei ihm, er selbst in der Gangart stets eine gewisse Würde zum Ausdruck zu bringen suchte, eine Seltenheit. Nun passierte er die beiden Glasveranden, die den Kurgarten nach der See hin abgrenzten. Vor ihm lief wie ein dunkler, breiter Strich mit einer Unzahl leuchtender Pünktchen der Landungssteg hin, ein aus starken in den Meeresgrund hineingetriebenen Pfählen errichtetes Bauwerk, das an der ganzen Ostseeküste seines gleichen suchte und schon manchen bösen Herbststurm überstanden hatte.

Elastisch eilte Gisbert von Burgstätt über den unter seinen Schritten hallenden Bohlenbelag hin. Jetzt war er oben am Stegkopf angelangt, dort, wo die beiden Treppen zu den tiefer gelegenen Dampferanlegestellen hinabführten. Vorsichtig schaute er sich um. Und dann eilte er die linke Treppe hinunter …

Von einer der Bänke, die hier im Schutze des Stegoberbaues aufgestellt waren, erhob sich eine dunkle Gestalt.

„Gisbert …!“

Mit ausgebreiteten Armen war Marga Distelberg auf den Geliebten zugeeilt.

„Süße …, ein Glück, daß Dr. Birnbaum dich bemerkt hat. Das Päckchen in deiner Hand hat seine Schuldigkeit getan. Da wußte ich gleich, wo ich dich finde …“

Er hatte sie umschlungen, preßte sie an sich und suchte immer wieder ihre weichen Lippen mit sehnsüchtigem Munde.

Endlich gab er sie frei. Ganz atemlos war sie. Und der Hut war ihr ganz nach hinten gerutscht.

Und dann saßen sie eng aneinandergeschmiegt auf der harten Holzbank. Unter ihnen plätscherte das düstere Wasser gegen die moosbewachsenen, dicken Pfähle, raunte und wisperte wie allerlei Koboldstimmen. Über ihnen hallte bisweilen der dröhnende Schritt eines späten Wanderers, der nicht ahnen konnte, daß so dicht in seiner Nähe zwei heiße Herzen in seligem Selbstvergessen diesen lauen Abend des Wonnemonats auskosteten, wie dies nur die gedankenlose Jugend zu tun vermag.

Marga hatte den Hut abgenommen und neben sich auf die Bank gelegt. Er wollte ja doch nicht festsitzen …

Leise flüsterten sie sich das zu, was es nach dem letzten Wiedersehen zu sagen gab.

Und nochmals fragte er jetzt, indem er sie mit starken Armen auf seinen Schoß hob:

„Also wirklich, Süßes, wirklich …? – Erst mit dem letzten Zuge kehren die deinen aus Altstadt heim? Mithin bist du ganz allein zu Hause …?“

„Ganz allein. Auch Bruder Erwin haben die Eltern mitgenommen zu den Verwandten, wo ein Geburtstag gefeiert wird. Ich schützte Zahnschmerzen vor …“

So arglos, so harmlos triumphierend und glücklich klang das alles.

Gisbert von Burgstätt war nachdenklich geworden. Und dann begann er leise, mit zärtlicher Stimme auf sie einzureden, küßte sie mitunter, bat und flehte …

„Nur eine halbe Stunde schenke mir, Süßes … Wenn du mich wirklich lieb hast, tust du es …“

Sie hatte den Kopf wieder an seine Brust gelegt und ließ seine betörenden Worte wie etwas unsagbar Köstliches über sich hinströmen.

„Süßes, eine halbe Stunde nur …Wer weiß, ob sich je wieder eine solche Gelegenheit bietet, damit ich dir einmal mein Junggesellenheim zeigen kann. Du kennst ja das Haus, kennst den Seiteneingang vom Südpark. Niemand kann dich sehen, niemand wird etwas davon erfahren, … niemand …“

Ihr Widerstand wurde schwächer und schwächer. In ihrem Herzen war die Liebe zu dem eleganten Aristokraten ja nur allzu heiß und hingebend geworden.

Er küßte sie nochmals, preßte sie an sich und ließ sie lange, lange nicht wieder los … – –

Über die Mondscheibe zog ein dunkler Wolkenfetzen hin. Der Silberglanz auf dem Wasser, diese gleißende Bahn, die ausschaute wie ein Schwarm leuchtender, züngelnder Schlangen, erlosch. Die kleinen Wellen unter dem Seesteg glucksten und raunten wie warnend …

Mainacht, … Zeit der Erfüllung, Zeit des Gewährens, des Selbstvergessens … –

Die Perle von Sornow kam erst kurz vor ihren Eltern heim. Flink entkleidete sie sich in ihrem engen Stübchen, schlüpfte unter das Zudeck und starrte dann mit weiten, verträumten Augen auf das helle Viereck, das der durch das Fenster hineinlugende Mond an die Wand zeichnete …

Und unwillkürlich formten Margas Lippen abermals das süße Gestammel, das ihr heute so oft entschlüpf war …

„Du … du …! Wie liebe ich dich, wie unendlich …!“

* * *

Drei Monate später. Ein drückend heißer Augustnachmittag. Über die staubige Chaussee bewegte sich ein düsterer Zug dem Friedhofe von Sornow zu. Nur wenige Neugierige folgten dem schwarzen Wagen, auf dem der schlichte dunkle Holzsarg mit den drei billigen Kränzen stand.

Dicht hinter dem Wagen gingen Frau Amalie Distelberg und ihr elfjähriger Sohn Erwin, die Köpfe tief gesenkt, wie niedergedrückt von Scham und Schmerz.

Zum zweiten Mal in dieser Woche schritten sie diesen Weg, … zum zweiten Mal. Heute aber ohne den Pfarrer, der so bedauernd den Kopf geschüttelt und gesagt hat:

„So gern ich auch möchte, meine liebe Frau Distelberg, ich darf nicht. Sie wissen – eine Selbstmörderin …!“

Und da war die Tiefgebeugte gegangen, der diese letzte Zeit urplötzlich weiße Strähnen in das bisher noch so gut erhaltene Haar gemischt hatte. – –

Hinten an der Kirchhofsmauer war das Grab ausgehoben. Dorthin trugen die vier Männer den Sarg, senkten ihn hinab in die gelbe, lehmige Erde und griffen dann sofort nach der Bahre, um nicht noch weiter Zeuge dieses stillen, unendlichen Jammers zu sein, der aus jeder Miene, jedem Zucken der Lippen der unglücklichen Mutter sprach.

Mit blödem Gesicht stand Erwin Distelberg dabei. Er mit seinen elf Jahren begriff das alles noch immer nicht … Erst war der Vater so plötzlich von ihnen gegangen, und nun auch die Schwester, die man vor drei Tagen tot aus der See gezogen hatte … –

Schon wollte der Totengräber mit seinem Gehilfen die erste Schaufel Erde in die Gruft werfen, als eine ernste Stimme ihnen Einhalt gebot.

„Warten Sie!“ sagte Dr. Birnbaum, der dem stillen Zuge von weitem gefolgt war, und trat ganz dicht an die bedauernswerte Mutter heran.

„Holde Mädchenblüte, die das harte Leben vorzeitig geknickt hat, ruhe sanft,“ begann er dann. „Über uns wohnt ein gnädiger Gott, der dich liebevoll wie alle die Seelen, die einen Irrtum schwer büßen mußten, aufnehmen wird. Gott ist gütig, und diese Güte währet ewiglich! Gütiger ist er als die Menschen mit ihren geschriebenen Gesetzen, die einen Unterschied machen wollen zwischen gerecht und sündigem Tod! Als ob wir nicht alle Sünder sind, als ob wir nicht alle fehlen und irren! – Ruhe sanft, auch dir wird verziehen werden! – Und nun laßt uns beten an dieser Stätte, von der wir alle eine ernste Mahnung mit heimnehmen mögen: Das Bewußtsein unserer eigenen Vergänglichkeit und Unzulänglichkeit! – Vater unser, der du bist im Himmel, geheiliget werde …“

Da endlich fand Frau Amalie die ersten Tränen. Und der Arzt legte ihr sanft den Arm um die Schulter, richtete sie auf und bat leise … „Kommen Sie, liebe Frau. Und vergessen Sie nicht, daß Sie noch ein Kind haben, für das Sie sich erhalten müssen …“

* * *

Acht Jahre waren dahingegangen. – Erwin Distelberg stieg eben die Treppe zur Wohnung des Sanitätsrats Dr. Birnbaum empor. Er fand seinen Wohltäter daheim.

Die beiden schüttelten sich kräftig zur Begründung die Hand.

„Nun, Erwin, was bringst du Neues?“ fragte der Doktor, dessen blonden Bart jetzt schon reichlich viel Silberfäden durchzogen.

Distelberg, ein großer, hübscher Mensch, dessen Gesicht besonders anziehend durch einen schwermütigen Ausdruck in den Augen wirkte, lächelte glücklich.

„Eine Überraschung, Herr Sanitätsrat,“ sagte er, indem er die ihm dargebotene Zigarre entgegennahm. „Ich habe gestern meine Gesellenprüfung sehr gut bestanden.“

Dr. Birnbaum reichte ihm mit freundlichem Nicken die Hand, die die seines Schützlings mit warmen Druck umspannte.

„Wie mich das freut, Erwin! Meinen herzlichen Glückwunsch! Nun bist du ja aus dem Schlimmsten heraus. Die Welt steht dir offen. Fleißige und ordentliche Mechaniker braucht man heutzutage überall. – Und nun erzähle mir mal Näheres von der Gesellenprüfung. – Da setz’ dich, mein Junge. – Keine Sorge, ich habe Zeit. Den Sanitätsrat Birnbaum holt man jetzt nicht mehr so oft wie früher.“

Eine gewisse Bitterkeit klang durch die letzten Worte hindurch. Aber schnell fügte er hinzu: „Im Übrigen ist mir das auch ganz recht. Ich habe genug gespart, um mich nicht noch für meine alten Tage um das tägliche Brot abschuften zu müssen.“ –

Erwin Distelberg berichtete von dem wichtigen Tage, der für ihn das Ende seiner Lehrzeit bedeutete, mit allen Einzelheiten. Und der Sanitätsrat war ein aufmerksamer, interessierter Zuhörer. Wußte er doch, daß er dadurch seinem Gast eine Freude bereitete.

Als der junge Mechaniker dann geendet hatte, fragte Dr. Birnbaum nachdenklich:

„Und wie denkst du dir nun deine fernere Zukunft auszugestalten, mein Junge? – Du weißt, daß ich als dein Vormund hierbei noch so ein wenig mitzureden habe. Ich will ja nur dein Bestes … Also teile mir offen deine Pläne mit.“

Erwin rückte verlegen auf seinem Stuhl hin und her. Und erst nach einer Weile begann er zögernd:

„Sie würden wohl nichts dagegen haben, Herr Sanitätsrat, wenn ich ins Ausland, nach Amerika, ginge …? – Der Bruder meines Vaters besitzt in Denson im Staate Florida, wie Ihnen ja bekannt ist, eine kleine Fabrik für optische Instrumente. Ich möchte jetzt nun der wiederholten Einladung meines Onkels Folge leisten und ihn zunächst für ein Jahr besuchen. Das Reisegeld hat er mir ja letztens mit der vierteljährlichen Unterstützungssumme geschickt, die ich von ihm beziehe. Es wäre doch eigentlich eine Dankespflicht, die ich an ihm zu erfüllen hätte. Er hat sich meiner angenommen, obwohl er kaum dazu verpflichtet war. Vielleicht mache ich auch drüben mein Glück.“

Der Sanitätsrat war einverstanden. „Schau dich nur etwas draußen in der Welt um, Erwin. Das kann deinen Horizont nur erweitern,“ meinte er. Und, nachdem sie noch das Nähere besprochen hatten, fügte er hinzu:

„Ich will dir darum auch gleich heute das aushändigen, was deine liebe Mutter kurz vor ihrem Tode mir vertrauensvoll übergeben hat.“

Er war an seinen Schreibtisch getreten und entnahm einem Fache einen gelben, versiegelten Umschlag.

„Du siehst, daß deine Mutter hier auf das Kuvert geschrieben hat: „Für meinen Sohn Erwin, der diesen Brief aber erst nach Vollendung seines 29. Lebensjahres lesen soll.“ – Ich hoffe, du wirst den Willen einer Toten respektieren. An deinem 30. Geburtstag steht es dir frei, dir Kenntnis von dem Inhalt dieser Aufzeichnungen deines Mütterleins zu verschaffen. Absichtlich übergebe ich dir diesen Brief heute schon. Wer weiß, was geschieht, während du drüben in der neuen Welt bist. Der Jüngste bin ich ja nicht mehr … – So, mein Junge, bewahre den Umschlag gut auf. Was er enthält, ahne ich nur. Es dürfte sich um den Tod deines Vaters und deiner Schwester handeln. – So hier, Erwin, ist ein kleines Andenken, das ich für den Tag deiner Gesellenprüfung schon vor einiger Zeit besorgt habe.“

Es war eine silberne schmale Uhr mit Sprungdeckel nebst goldener Kette, die der Sanitätsrat jetzt seinem Mündel hinreichte.

„Laß die Dankesworte, Erwin,“ meinte er in seiner bisweilen etwas rauhen Art, hinter der sich doch soviel echte Herzensgüte verbarg. „Der beste Dank, den du mir abstatten kannst, besteht darin, daß du ein tüchtiger Mensch wirst und allzeit an das denkst, was ich dir an guten Ratschlägen mit auf den Weg gegeben habe, als du als Lehrling eintratst.“

Die Augen des jungen Mechanikers schimmerten plötzlich feucht.

„Wodurch habe ich mir all Ihre Güte verdient, Herr Sanitätsrat?“ fragte er leise. „Schon oft habe ich mir diese Frage vorgelegt. Welches Interesse haben Sie gerade an mir, der ich Ihnen doch nichts bin als die Waise wildfremder Leute, bei denen Sie als Arzt ins Haus kamen damals, als mein Vater das Unglück hatte …“

„Laß die Vergangenheit ruhen, mein Junge,“ unterbrach Dr. Birnbaum ihn. „Es ist nicht gut, an Dinge zu rühren, die so traurig sind wie jene Ereignisse, die die Deinen wie Blitzschläge aus heiterem Himmel trafen.“ – Und nach kurzer Pause fügte er hinzu: „Jedenfalls wäre wohl manches anders gekommen, wenn ich damals zwanzig Jahre jünger gewesen wäre. Ich habe nie ein so liebreizendes Geschöpf gesehen, wie deine Schwester es war. Um dieser Toten willen bin ich dein wohlmeinender Freund geworden, habe ich meine schützende Hand über dich gehalten.“

Sinnend schaute der alte Herr vor sich hin.

Erwin Distelberg aber drängte sich jetzt eine Frage auf, die ihm schon lange und häufig genug auf den Lippen geschwebt hatte.

„Herr Sanitätsrat,“ begann er leise, „ist es eigentlich wahr, was die Leute hier in Sornow sich erzählen? Hat meine Schwester sterben müssen, weil … weil …“

Er stockte, fand nicht die rechten Worte.

„Ja, weil ein Schurke, ein gewissenloser Lump sie ins Unglück brachte,“ vollendete Dr. Birnbaum mit stillem Grimm.

„Und wer war dieser Mensch, wer, wer?“ stieß Erwin hastig hervor. „Sie wissen, Herr Sanitätsrat, daß ich Marga unendlich geliebt habe, daß ich zu ihr aufblickte wie zu einem Engel. Selten wird ein Bruder die um Jahre ältere Schwester so verehrt haben. Und wüßte ich den Namen dieses Elenden, so … so …“

Seine Augen hatten plötzlich einen ganz anderen Ausdruck angenommen. Was jetzt in ihm glühte, war das heiße Verlangen, Vergeltung zu üben, war Rachedurst, der vor nichts zurückschreckte, vor nichts …

Hochaufgerichtet stand der junge Mensch vor dem gütigen Doktor. Der aber schüttelte mißbilligend den Kopf.

„Nie wirst du von mir diesen Namen hören, nie! Überlaß die Wiedervergeltung einem mächtigeren. Gott ist gerecht, noch gerechter des Schicksals oft so wunderbarer Weg …“ –

Des Schicksals oft so wunderbarer Weg!

Erwin ahnte nicht, wie so viel und ganz dieses Wort einst in Erfüllung gehen sollte.

 

2. Kapitel.

Auf der Sornower Rennbahn drängte sich eine geputzte Menge. Sämtliche Plätze waren trotz des drückend heißen Juliwetters dicht besetzt. Auf den Tribünen wechselten die Farben der Toiletten der Damen ebenso wie die bunten Uniformen der Offiziere der verschiedensten Regimenter.

In der Loge des Kommandierenden Generals, Exzellenz v. Mackerroth, hatte auch Landrat von Burgstätt mit seiner Familie Platz genommen. Soeben beugte sich Exzellenz v. Mackerroth, eine noch immer stattliche Erscheinung mit leicht ergrautem, langausgezogenem Schnurrbart, zu Burgstätt hin und fragte interessiert:

„Also der Amerikaner wird wirklich das Kronprinzen-Rennen mitreiten, mein lieber Geheimrat?“

„Ganz sicher, Exzellenz. Vor vierzehn Tagen hat er Leutnant von Egon-Kriegers Fuchswallach erworben und will nun auf diesem etwas launenhaften Gaul sein Glück versuchen. Ob etwas dabei herauskommen wird, ist sehr fraglich.“

„So, meinen Sie? – Nun, mein Adjutant machte gestern mir gegenüber eine Andeutung, als ob der Amerikaner – wie heißt er doch gleich …“

„Pearmount, Exzellenz,“ half Burgstätt aus.

„… richtig, also Pearmount, na ja, als ob er ziemlich sichere Chancen auf den ersten Platz habe, falls er seine Nennung eben nicht zurückzieht. Letzteres war noch nicht sicher. Daher auch meine Frage eben.“

Der Geheime Regierungs- und Landrat v. Burgstätt horchte auf.

„Woher ist Major von Schalehn denn so gut informiert?“ forschte er mit merklichem Interesse.

„Hm – er hat’s wohl von Egon-Krieger selbst. Der hat Master Pearmount gestern morgen bei einem Probegalopp gesehen. Soll vorzüglich reiten, dieser Amerikaner. Und auch Dolomit ist in bester Form.“

Der Landrat erhob sich mit einemmal.

„Exzellenz entschuldigen mich einen Moment,“ meinte er. „Ich will Hans-Günter nur noch einige Verhaltungsmaßregeln geben. Er steigt ja im nächsten Rennen für Frau von Uelzen in den Sattel.“

„Ihres Sohnes erstes Rennen, wenn ich richtig unterrichtet bin,“ warf der Kommandierende General hin. „Wie ist denn das Pferd, das er reitet?“

„Eine schwer zu behandelnde Vollblutstute namens Redda. Sie dient nur als Pacemacherin für ihren Stallgefährten Nautilus.“

Burgstätt eilte jetzt mit leichter Verbeugung der Treppe der Tribüne zu. Wie er so elastisch Ganges dahinschritt mit seinem stolz getragenen Charakterkopf, war er trotz seiner vierundfünfzig Jahre noch immer ein schöner Mann, dessen vornehmer Erscheinung manches Frauenauge wohlgefällig nachblickte.

Bald hatte der Landrat den Sattelplatz erreicht und seinen Sohn, der als einer der jüngsten Leutnants im 1. Leibhusarenregiment stand, bei Seite genommen.

„Hör ‘mal Junge, soeben erfuhr ich von Exzellenz von Mackerroth, daß Dolomit unter Pearmount die besten Aussichten auf den ersten Preis haben soll. – Wie denkst du darüber?“

Burgstätt hatte in vorsichtigem Flüsterton gesprochen, und in der-selben Weise antwortete auch Hans-Günter.

„Dasselbe wollte ich dir auch eben mitteilen, Papa. Ich hörte vorhin, wie Egon-Krieger zu Zobelwitz äußerte, daß die anderen Gäule im Kronprinzen-Rennen verdammt geringe Chancen haben. – Was meinst du, Papa, ob wir hier mal einen großen Schlag versuchen? Bist du etwas bei Kasse?“

„Tausend Mark könnte ich dran wenden,“ sagte der Geheimrat zögernd. Und aufseufzend fügte er hinzu: „Freilich ist’s der letzte Braune, den ich besitze – wenigstens bis zum 1. Oktober. Trotzdem …“

Hans-Günters sonnenverbranntes Knabengesicht nahm einen nachdenklichen Ausdruck an.

„Viel gesetzt wird auf Dolomit vom Publikum nicht werden,“ erklärte er sinnend. „Die Leute haben zu dem Amerikaner, der allen hier noch fremd ist, kein rechtes Vertrauen. Ja, wenn Egon-Krieger den Dolomit reiten würde …! Aber so …! Ich kalkuliere, es könnte ein reinliches Geschäft werden.“ –

Wenige Minuten später hatte der Leutnant, nachdem der Tausendmarkschein in seine Hand gewandert war, einen unscheinbar gekleideten Herrn angesprochen, der sich auf dem Sattelplatz stets etwas abseits hielt und an den immer wieder Offiziere herantraten, um mit ihm geheime Zwiegespräche zu halten.

„Meyer,“ begann Hans-Günter hastig, „ist Dolomit schon viel „bepflastert“ worden? – Nein? – Nun denn, hier haben Sie was … – Ob Sie alles setzen sollen? – Natürlich. Aber – Diskretion, Meyer!“

Das korpulente Männchen, zu dem der hochfeine Krimstecher, den er am Riemen um die Schulter hängen hatte, so gar nicht paßte, notierte jetzt verstohlen in ein Büchlein den Auftrag, während der Leutnant schon wieder dem kleinen Häuschen zuschritt, in dem sich der Umkleideraum für die Rennreiter befand.

Die Szene hatte, ohne daß einer der Beteiligten es ahnte, einen stillen Beobachter gehabt.

Hinter einer Gruppe von Herren, die laut die Aussichten für das nächste Rennen erörterten, war die schlanke Gestalt des Amerikaners, von dem vorhin in der Loge die Rede gewesen war, völlig verborgen geblieben. Master Pearmounts lebhafte, dunkle Augen hatten von der Unterredung des Leutnants und des dicken Mannes jede Bewegung der beiden begierig aufgefangen. Verstanden hatte er allerdings kein Wort. Aber das, was er gesehen, genügte ihm.

Nun tauchte er plötzlich vor Meyer auf.

„Sie sind doch die – hm, ja – die Vertrauensperson der Offiziere für den Totalisator, nicht wahr?“ fragte er gleichmütig.

Meyer dienerte unterwürfig. Der Millionär war ihm vom Ansehen nur zu gut bekannt.

„Allerdings … Aber – des darf niemand wissen, Master Pearmount.“

In kurzer Zeit hatte der Amerikaner erfahren, was er erfahren wollte. Dabei fing er es so geschickt an, daß Meyer nicht im geringsten ahnte, wie schlau er ausgehorcht wurde.

„Also dann setzen Sie für mich fünfhundert Mark auf Redda,“ sagte er zum Schluß. Auf gut Glück hatte er den Namen dieses Pferdes genannt.

„Wie – Redda, Master Pearmount?“ fragte der Alte erstaunt.

„Yes,“ meinte der Millionär gelangweilt. „Die Stute gefällt mir.“

Dann faßte er an die Hutkrempe und ließ Meyer stehen. Der notierte die fünfhundert Mark, indem er vor sich hinbrummte …: „Schade um das schöne Geld. Ebenso gut hätte er’s auch in die See schmeißen können. Redda – ausgerechnet Redda …, lächerlich!!“ –

Landrat von Burgstätt hatte wieder oben in der Loge neben Exzellenz von Mackerroth Platz genommen.

„Sie könnten mal so liebenswürdig sein, lieber Geheimrat, und mir von Master Pearmount so einiges erzählen. Sie kennen ihn ja wohl ziemlich genau, nicht wahr? – Und das, was ich in diesen sechs Wochen seit Übernahme meines neuen Kommandos hier in Altstadt über diesen millionenschweren Ausländer erfahren habe, ist wenig genug. Nur so tropfenweise berichtete mir bald dieser, bald jener kleine Histörchen. Der Mann ist ja in diesem einen Vierteljahr – so lange wohnt er doch wohl jetzt in seinem Zauberschloß in Sornow – beinahe eine Berühmtheit für unsere Provinz geworden. – Doch halt – da beginnt ja gerade der Aufgalopp für das Germania-Rennen. Also bis nachher, dann … –

Sieh – die Redda mit Ihrem Sohn zeigt schon jetzt ihre Mucken. Bin neugierig, wie sie sich am Start benehmen wird. Der Reiter hat schwere Arbeit mit dem Racker …“ – –

Der Start gelang über Erwarten gut. Und dann geschah das Unglaubliche: Hans-Günter gewinnt das Rennen mit drei kleinen Längen! Freilich weder infolge seiner Reitkunst noch der Güte des Pferdes wegen, sondern weil die Favoriten sämtlich Pech hatten und stürzten oder ausbrachen.

Jedenfalls – er gewann …

Meyer war wie vor den Kopf geschlagen.

„Dieser Amerikaner hat ja wahrhaftig die reine Sehergabe,“ dachte er, als er zum Totalisator ging und sich den Gewinn für Pearmount auszahlen ließ.

428 : 10!! Eine solche Quote hatte der Rennplatz in Sornow noch nie erlebt! Der Amerikaner war wirklich der einzige gewesen, der auf Redda hatte setzen lassen. – –

Eben stand er in einer Gruppe von Offizieren, die ihm lachend gratulierten. Auch Hans-Günter von Burgstätt gesellte sich jetzt dazu.

„Gestatten mir Glück zu wünschen, Master Pearmount,“ meinte er, die Hacken leicht zusammenschlagend. „Sie sehen, Sie haben Redda und mir nicht umsonst Vertrauen geschenkt.“

„Oh, auf einen Burgstätt kann man sich in jeder Weise verlassen, das weiß ich,“ lächelte der Amerikaner höflich. Und doch war in der Art, wie er diesen Satz hinsprach, etwas, das den jungen Offizier unangenehm berührte. Fast hatte es ihm geschienen, als ob leise Ironie Pearmounts Worte färbte. Aber er mußte sich wohl geirrt haben. Welche Veranlassung hätte der Amerikaner wohl dazu haben sollen … Und – außerdem war ja auch des Sprechers glattrasiertes, scharf markiertes Gesicht im Ausdruck vollkommen harmlos. – –

In der Loge des Kommandierenden Generals hatte der sensationelle Abschluß des letzten Rennens natürlich ebenfalls die Gemüter stark erregt – allerdings mehr nach der heiteren Seite hin.

Exzellenz von Mackerroth war es gewesen, der den Eltern des jungen, siegreichen Reiters humorvoll gratulierte, und zwar mit einer kleinen Ansprache, die auch in den von Offiziersdamen besetzten Nebenlogen verstanden wurde und überall größte Heiterkeit hervorrief. Exzellenz liebte es eben, sich durch solche kleinen Scherze populär zu machen.

Nachdem das Thema „Redda und Hans-Günter“ erledigt war, kam Herr v. Mackerroth auf die Bitte zurück, die er vorhin dem Geheimrat gegenüber geäußert hatte. Und bereitwilligst gab der Landrat ihm nun über Pearmounts Person den nötigen Aufschluß.

„Archibald Pearmount stammt seinen Personalpapieren nach aus der Stadt Denson in Florida und ist der Adoptivsohn eines nach Amerika ausgewanderten Deutschen, der seinen ursprünglichen germanischen Namen – wie dieser lautete, weiß ich nicht – ablegte und sich Pearmount nannte. Wie der Millionär mir unlängst selbst erzählte, ist er schon in jungen Jahren in die Fabrik des alten Pearmount eingetreten und hat sich dort schnell infolge einer wichtigen Erfindung – es handelte sich um ein neues Herstellungsverfahren für Glaslinsen größten Durchmessers, eine leitende Stellung und ein Vermögen erworben. Letzteres wurde nach dem Tode des Adoptivvaters noch um einige Millionen vermehrt, so daß unser Badeort jetzt die Freude genießt, einen Steuerzahler zu besitzen, der sich selbst auf fünfzig Millionen eingeschätzt hat. –

Nun einiges über die Art und Weise, wie Archibald Pearmount gerade hier nach Sornow verschlagen wurde. Er hatte im Dezember vorigen Jahres die ererbten Fabriken, die aus ganz kleinen Anfängen von dem alten Pearmount heraufentwickelt worden waren, verkauft und eine kleine Motorjacht erworben, mit der er den Ozean zu durchqueren und Europa einen Besuch abzustatten gedachte. Bei dieser Reise, die ohne Unfall verlief, trotzdem die Jacht keine zwölf Meter Länge besitzt, – sie liegt jetzt zu einer Bodenreparatur im Dock der Schichau Werft in Altstadt –, passierte er später auch den Kaiser Wilhelm Kanal und traf dann, immer die Ostseeküste entlangfahrend, eines Tages hier auf der Sornower Reede ein. Entzückt von den Naturschönheiten unseres Seebades, nahm er im Kurhause längeren Aufenthalt und freundete sich auch schnell mit den ersten Gesellschaftskreisen der Umgegend an, wobei ihm sein liebenswürdiges, offenes Wesen und seine tadellosen Manieren sehr zu statten kamen. Der Zufall wollte es, daß zu derselben Zeit der alte Kommerzienrat Jahnke, dem das Schloß auf dem Strandberge in Sornow gehörte, starb und die Erben diesen mächtigen Steinkasten, den der Sonderling Jahnke sich vor zehn Jahren in maurischem Stil hatte erbauen lassen, schleunigst zu verkaufen suchten. Nun – Archibald Pearmount hatte kaum das Märchenschloß gesehen, als er auch schon zugriff, es für eine viertel Million Mark erwarb, – nebst Park und gesamtem Inventar, und dorthin übersiedelte. Als ich ihn am Tage nach dem Kaufabschluß auf der Straße traf, teilte er mir hocherfreut mit, wie sehr ihm die maurische Burg gefalle und daß er nun ein paar Jahre in Deutschland zuzubringen gedenke. Ich hatte Pearmount durch Hans-Günter kennen gelangt, und der wieder war mit ihm durch unseren Kurdirektor bekannt geworden. Eine Woche später machte der Amerikaner dann bei uns Besuch, und weitere vierzehn Tage nachher war er hier schon völlig heimisch geworden.“

Als der Landrat jetzt schwieg, stellte Herr v. Mackerroth noch einige ergänzende Fragen, so auch die, ob der Millionär denn auch selbst geborener Deutscher wie sein Adoptivvater sei. Hierüber vermochte der Geheimrat jedoch keine sichere Auskunft zu geben.

„Ich habe ihn zwar gelegentlich auch nach dieser Richtung hin auszuforschen gesucht,“ meinte er, „konnte aber nichts positives erfahren. Ich will nicht gerade sagen, daß Pearmount ausweichend antwortete, aber jedenfalls tat er so, als ob er selbst nicht genau wisse, wo seine Wiege gestanden habe.“

„Also so etwas wie ein Geheimnis,“ lächelte der General. „Vielleicht ist dieser millionenschwere Herr ein Findling und kennt selbst nicht Stand noch Art seiner Erzeuger. – Geben denn seine Papiere hierüber keinen Aufschluß?“

„Nein. Er hat nur einen Paß und eine Legitimation von der amerikanischen Gesandtschaft in Berlin der Polizei eingereicht, was ja auch vollauf genügt.“

„Hm – und wenn dieser Herr nun – ganz unter uns gesagt – so etwas wie ein internationaler Abenteurer wäre?“ meinte Exzellenz v. Mackerroth mißtrauisch.

„Ausgeschlossen!“ erklärte Herr von Burgstätt eifrig. „Ich habe vorsichtshalber bei der Gesandtschaft der Vereinigten Staaten in Berlin vertraulich angefragt und eine vollauf befriedigende Antwort erhalten.“

„So – so. Na – dann wäre die Sorge ja überflüssig. – Und dieser Archibald Pearmount ist also wirklich ein Gentleman, mit dem sich umgehen läßt?“

„Gentleman in jeder Beziehung,“ versicherte der Geheimrat fast begeistert. „Dazu noch ein Mensch, der auch das Herz auf dem rechten Fleck hat. Als bei den großen Junistürmen die Fischer im Sornow einen Teil ihrer kostbaren Netze eingebüßt hatten und darüber schier verzweifelt waren, hat er den Leuten soviel Geld geschenkt, daß sie sich sofort das Verlorene ergänzen konnten. Auch bei anderen Gelegenheiten bewies er eine offene Hand, wie man sie selbst bei vielfachen Millionären selten findet.“

„Freut mich zu hören,“ meinte der General. „Werde mir den Herrn gelegentlich vorstellen lassen.“

In demselben Moment ertönte auch schon die Glocke auf dem Sattelplatz. Die Pferde für das Kronprinzen-Rennen wurden auf der Bahn sichtbar und begaben sich nach kurzem Galopp vor den Tribünen zum Start.

 

3. Kapitel.

„Dolomit macht’s – Dolomit macht’s!“

Wie ein Schrei ging’s durch die Menge. Freilich wie kein Freudenschrei! Denn auf den Fuchswallach hatte so gut wie niemand gewettet. Das große Publikum hielt es mit seinem bewährten Liebling Egon-Krieger. Und auf dessen Rappstute Xantippe vereinigten sich die meisten Einsätze.

Eben kam das Feld von sieben Pferden, die für das Kronprinzen-Rennen gesattelt worden waren, um die letzte Ecke, allen voraus Dolomit, auf dem Master Pearmounts rot-weiße Farben leuchteten.

Da – ein neuer Schrei … Diesmal waren’s aber hauptsächlich die auf der Tribüne stehenden Offiziere, die ihn ausriefen …

„Der Amerikaner hat sich verritten …!“

Diese und ähnliche Ausrufe erfüllten für Sekunden die Luft.

Tatsächlich war Pearmount, anstatt an der Biegung in die Gerade einzulenken, nach links abgebogen, wo die Flaggen den Weg für die Sechstausend-Meter-Bahn kennzeichneten. Offenbar hatte er sich vorher mit der Strecke nicht genügend vertraut gemacht.

Zu spät gewahrte er seinen Irrtum, zu spät riß er Dolomit herum und jagte den Eckflaggen wieder zu. Ein Stolper roter Husar auf einem Grauschimmel passierte als erster das Ziel, eine halbe Pferdelänge hinter ihm Leutnant v. Egon-Krieger … und dann schoß Dolomit heran und entriß einem Feldartilleristen noch mit einer knappen Nasenlänge das dritte Feld.

Kein Beifallsruf wurde laut. Wie eine Erstarrung lag es über der Menge. Ein Außenseiter hatte das Rennen gemacht, und viel von dem elenden Mammon war am Totalisator verloren gegangen. –

Als Pearmount aus dem Sattel stieg, drängte sich als einer der ersten Hans-Günter von Burgstätt an ihn heran.

„Aber bester Pearmount, was haben Sie nur für Geschichten gemacht,“ meinte er ganz aufgeregt. „Das Rennen war schon eine totsichere Sache für Sie, und dann dieses Versehen …!“

Der Amerikaner zuckte die Achseln.

„Ich bin hier noch zu fremd. Ein zweites Mal soll mir das nicht mehr passieren. – Nun, Sie werden ja wohl kaum auf mich gewettet haben, Herr v. Burgstätt,“ fügte er leise hinzu, indem er Sattel und Zaumzeug über den Arm nahm, um zur Wage zu gehen.

Hans-Günter machte ein ganz verzweifeltes Gesicht.

„Leider bin ich doch auf Sie hereingefallen.“ erwiderte er mit einem Versuch zu scherzen. „Ein teurer Reinfall sogar! – Nun – die Sache wird sich ja wieder ausgleichen lassen.“

„Oh, das tut mir leid. – Auf Wiedersehen, Herr von Burgstätt.“

Damit schritt Archibald Pearmount davon. Auf seinem Gesicht lag jetzt ein Ausdruck unbeugsamer Härte. Aber dies nur für einen Moment. Dann zeigten seine Mienen schon wieder denselben gleichmütigen, etwas blasierten Zug. – –

Fünf Minuten später, – es wurde gerade das letzte Rennen abgeläutet, traf Pearmount mit Gisa von Burgstätt, der Schwester Hans-Günters zusammen. Sie begrüßten sich auf eine so zwanglos freundschaftliche Art, daß man sofort merkte, wie schnell sich zwischen diesen beiden jungen Menschen eine gewisse Vertraulichkeit herausgebildet hatte.

„Ich bedaure aufrichtig,“ meinte das junge Mädchen, die in ihrem hellen Leinenkostüm und dem großen Federhut ebenso liebreizend wie vornehm aussah, „daß Ihnen vorhin der sichere Sieg auf diese Weise verloren gegangen ist. Auch Papa war darüber ganz erregt. Nun – immerhin haben Sie bewiesen, Master Pearmount, daß Ihre Reitkunst der unserer Offiziere nichts nachgibt. – Wollen Sie nicht vielleicht meine Eltern begrüßen. Da – Papa winkt Ihnen schon zu. Kommen Sie, falls Sie nichts anderes vorhaben.“

„Sehr gern!“ erwiderte der Millionär einfach.

Als er dann nach einiger Zeit die Loge des Kommandierenden Generals wieder verließ, beugte Frau von Mackerroth sich zu der Geheimrätin hinüber und flüsterte ihr zu:

„Liebste, ich glaube fast, daß ich des Rätsels Lösung nun gefunden habe, weswegen dieser junge Amerikaner sich gerade in Sornow nieder-gelassen hat. – Sollte nicht etwa Gisela der Magnet sein, der ihn hier bei uns festhält? Ich habe die beiden soeben genauer beobachtet. Master Pearmount schaute Gisa bisweilen mit einem so leidenschaftlichen Ausdruck an, wie dies nur bei einer bereits vorhandenen heißen Neigung zu geschehen pflegt. – Nun, er wäre ja kein zu verachtender Schwiegersohn …“

Frau von Burgstätt, die immer so etwas verängstigt und bekümmert aussah, wiegte zweifelnd den Kopf hin und her.

„Millionen – die mag er ja wohl besitzen,“ meinte sie. „Aber wie es sonst um seinen inneren Menschen bestellt ist, das … das ist doch eigentlich noch eine allzu offene Frage. Wir kennen ihn doch noch zu wenig, um an derartiges denken zu können. Ehrlich gestanden – in mir kommt eine warnende Stimme nicht zur Ruhe, die mich Pearmount vielleicht genauer als andere dies tun, beobachten läßt. Ich vermag mir allerdings über dieses Gefühl, das fast an Antipathie grenzt, keine Rechenschaft zu geben, werde sie aber trotz aller Vernunftsgründe – denn der Amerikaner hat sich bisher stets als Gentleman benommen – nicht los. Und deshalb wäre es mir lieber, Pearmount würde sich Gisa nicht als Bewerber nähren, obwohl, ja obwohl wir einen reichen Schwiegersohn recht gut gebrauchen könnten.“

Worauf Frau v. Mackerroth sich vornahm, auch ihrerseits dem jungen Millionär etwas kritische Aufmerksamkeit zu schenken, zumal ihr die Art, wie er Gisa gemustert hatte, auch nicht ganz recht gewesen war, eben zu temperamentvoll, zu wenig den Sitten entsprechend, die in dieser Beziehung in ihren Kreisen als Norm galten. – –

* * *

In dem kleinen Saal des Weinrestaurants „Rheingold“ in Sornow hing der Zigarren- und Zigarettenrauch in dichten Schwaden in der Luft und dämpfte das Licht der Milchglasglocken der elektrischen Deckenbeleuchtung so sehr, daß eine Art halber Dämmerung in dem langgestreckten Raum zu herrschen schien.

Hier hatten sich die Offiziere nach dem Renndiner im Kurhause zu einem kleinen Spielchen versammelt, eine Art von Abschluß der Renntage, die sich nun schon seit Jahren eingebürgert hatte und auch von den Vorgesetzten stillschweigend geduldet wurde. Nur ein paar Zivilisten befanden sich unter den etwa vierzig Uniformen, – zumeist Besitzer der umliegenden großen Güter, ferner noch der Sornower Kurdirektion, Major a.D. Baron von Langenfeld und Archibald Pearmount, letzterer gekleidet in einen tadellos sitzenden Smokinganzug, dem man es auf den ersten Blick ansah, daß er aus der Werkstatt eines allerersten Bekleidungskünstlers stammte.

Die Herren hatten sich um drei Tische gruppiert, auf denen immer wieder das helle Klingen von Goldmünzen hörbar wurde. Man spielte allgemein Kartenlotterie. Und nach altem Brauch wechselte die Bank unter den Teilnehmern nach je fünf Spielen ab.

Soeben hatte Pearmount den Platz des Bankhalters an dem Mitteltische eingenommen. Er ließ sich vom Kellner ein neues Päckchen Karten reichen, riß die Hülle ab und zerstreute die Blätter über den Tisch, um so schneller zu mischen. Jede seiner Bewegungen zeichnete sich auch jetzt durch eine gelassene Ruhe aus. Und ebenso steinern und unbeweglich war auch sein Gesicht, als er nun sagte:

„Ich nehme Sätze zu jeder Höhe an.“

Einen Augenblick schwieg das Stimmengewirr. Dann drängte sich alles um diesen einen Tisch zusammen. Denn jetzt versprach das kleine Jeu, bei dem es bisher stets nur um zehn und zwanzig Mark-Sätze gegangen war, interessant zu werden. – –

Vor Pearmount türmte sich ein Haufen Goldgelb und Banknoten auf. Auch Hans-Günter von Burgstätt, der bisher sehr vorsichtig, aber mit Glück, gesetzt hatte, riskierte einen Hundertmarkschein, kaufte zwei Karten zu fünfzig Mark und … gewann das Große Los, das heißt das Siebenfache seines Einsatzes für eine Karte, gleich dreihundertundfünfzig Mark.

Beim nächsten Spiel wurde er schon leichtsinniger.

„Drei zu hundert, Master Pearmount!“ Und er warf das Geld auf den Tisch.

„Aber Burgstätt …!“ warnte ein Oberleutnant. „Gleich soviel Mut auf einmal …!“

Hans-Günter, dessen Knabengesicht von Wein und Spielleidenschaft glühte und dessen Augen fast krankhaft glänzten, zog die Mundwinkel herab.

„Habe auf Dolomit tausend Mark vertotot – muß das einholen,“ meinte er kurz. Er war offenbar schon recht stark animiert. –

Immer dichter wurden die Rauchschwaden. Aus dem vorderen Saale klangen bisweilen die Töne der Geigen der Zigeunerkapelle und fremdländisch anmutende Zimbelklänge herüber. Noch immer saß Pearmount als Kassierer auf seinem Platz. Auf allgemeinen Wunsch war er Bankhalter geblieben. Er verlor – verlor beständig. Die Kasse mußte immer wieder die Hauptgewinne gerade an Herren auszahlen, die hoch gekauft hatten.

Hans-Günter von Burgstätt, eine erkaltete Zigarette in einem Mundwinkel, stierte mit weiten Augen auf die helle Eichenplatte des Tisches, auf der wieder die Karten in Reihen zu zweien geordnet untereinander lagen. Jetzt zog Pearmount das Große Los ab.

„Wieder nichts …!“ Mit einer leise gemurmelten Verwünschung drehte der junge Offizier sich um. Er wollte aufhören, mußte es tun, mußte …

Und doch … Kaum hatte der Amerikaner das nächste Spiel angesagt, als er abermals zu dem Bleistift griff und schnell seinen Namen und darunter – vierhundert Mark - schrieb. Längst wurde ja auch unbar gespielt – obwohl einer der älteren Offiziere gewarnt hatte: „Kinder, laßt die Bonwirtschaft …! Das verführt nur zum Leichtsinn!“ – –

Mitternacht nahte, als der Amerikaner plötzlich erklärte:

„So, meine Herren, nun höre ich auf. Ich habe auch genügend Zerstreuung gehabt …“

Etwas wie ein Lächeln huschte dabei über sein scharf gemeißeltes Gesicht.

„Bitte, wollen die Herren mir freundlichst die Summen nennen, für die Sie Bons von mir in Händen haben.“

Und gleichmütig notierte er sich nun die Namen und die einzelnen Posten. Dann begann er die fremden Bons zusammenzurechnen.

„Herr v. Grießner – von Ihnen bekäme ich also eintausendundachthundert Mark. – Herr von Malzahn – neunhundert Mark. – So, und nun zu Ihnen, Herr von Burgstätt. – Schau an – da ist ja eine nette Sammlung von Zetteln mit Ihrem Namen. – – 2400 – 3800 – 5600 – also Summa Summarum 7900 Mark.“

In dem Spielzimmer war es plötzlich sehr still worden. Alles schaute auf Hans-Günter, der mit verstörter Miene neben dem kaltblütig rechnenden Amerikaner stand.

„Nun der Abschluß,“ sagte Pearmount, ohne sich um das bedrückte Schweigen zu kümmern. Er rechnete die Summen zusammen, verglich Gewinn und Verlust und erklärte dann, sein Notizbüchlein wieder in die Tasche schiebend:

„Gewinn 10.600 Mark, Verlust 21.400 Mark, – mithin 10.800 Mark Verlust als Abschluß. – Kellner … zahlen!“

Inzwischen hatte Hans-Günter sich von der peinlichen Überraschung etwas erholt, die ihm die nie geahnte Höhe seiner Spielverluste vom heutigen Abend bereitet hatte. Und auch die übrigen Herren, die die Vermögensverhältnisse der Familie von Burgstätt nur zu gut kannten, waren rücksichtsvoll genug, schleunigst eine freilich recht erzwungene Unterhaltung zu beginnen, um den jungen Leutnant nicht merken zu lassen, wie sehr sie einmal sein Pech bedauerten, dann aber auch seinen übergroßen Leichtsinn verurteilten.

Man brach jetzt allgemein auf, da die meisten Offiziere mit dem letzten Vorortzuge nach Altstadt zurückkehren mußten. Hans-Günter wußte es so einzurichten, daß er zusammen mit Pearmount das Weinlokal durch den Seitengang verließ. Da der Leutnant bis zum nächsten Mittag bei seinen Eltern bleiben wollte, schlenderten die beiden Herren noch durch den Kurgarten auf den Seesteg hinaus, der in vollstem Lichte einer Anzahl elektrischer Bogenlampen erstrahlte.

Der Amerikaner merkte sehr wohl, daß der junge Offizier sich ihm aus irgend einem besonderen Grunde noch angeschlossen hatte. Ihre Unterhaltung war daher auch recht gezwungen, da Hans-Günter nicht die genügende Verstellungskunst besaß, um harmlos über gleichgültige Dinge plaudern zu können, wo es doch in seinem Innern so ganz anders aussah.

Endlich begann Hans-Günter stockend …

„Master Pearmount - ich hätte eine große Bitte an Sie … – Würden Sie mir vielleicht zur Begleichung meiner Spielschuld die übliche Frist von vierundzwanzig Stunden auf eine Woche verlängern? Augenblicklich fällt es mir nämlich schwer, die 7900 Mark aufzutreiben – hm, ja … Also eine Woche, Master Pearmount, wenn Sie gestatten …“

Der Millionär hatte sich aufgerichtet und schaute den Leutnant scheinbar überrascht an. Und erst nach einer geraumen Weile erwiderte er …

„Nehmen Sie mir mein offenes Wort nicht übel, Herr von Burgstätt. Ich bin der Ältere, und die Lebenserfahrungen, die ich besitze, werden Sie sich vielleicht nie erwerben. – Mußten Sie heute wirklich so hoch pointieren, wenn Ihre Kasse augenblicklich“ – er betonte das letzte Wort unmerklich – „in so wenig guter Verfassung ist …?! Sehen Sie, Sie bringen auch mich in die peinlichste Verlegenheit. Denn – ich kann Ihnen Ihre Bitte wirklich nicht erfüllen, so leid es mir tut. Ich habe den Kredit, den mir eine Berliner Bank eingeräumt hat, völlig erschöpft. Meine Kapitalien sind derart festgelegt, daß ich nur immer zum 1. Januar jeden Jahres die Zinsen abheben kann. Mit einem Wort: Wenn ich morgen meine eigenen Spielschulden begleiche, bleibt mir so gut wie nichts von dem Bargeld übrig. Und – um hier ein Darlehn aufzunehmen, dazu bin ich doch noch zu unbekannt. Man würde mir ja vielleicht Geld vorschießen, aber … welch schlechten Eindruck müßte das machen, wo ich hier als – nun, sagen wir’s ehrlich heraus – als reicher Mann gelte. Außerdem bin ich auch fest überzeugt, daß Ihr Herr Vater Ihnen mit Vergnügen die kleine Summe zur Verfügung stellt. – Habe ich nicht recht mit dieser Vermutung?“

Hans-Günter war bleich geworden. Die Alkoholdünste hatte die innere Erregung schon längst verweht. Und so sah er sich denn völlig klaren Geistes dem Verhängnis gegenüberstehen, daß ihm die Karriere, ja vielleicht das Leben kosten konnte. Denn sich wegen Schulden verabschieden lassen, – nie und nimmer würde er das ertragen, nie und nimmer! – Blitzschnell eilten seine Gedanken, schufen ihm düstere Zukunftsbilder … Nur fast stotternd erwiderte er dann, niedergedrückt von einer wilden Verzweiflung:

„Mein Vater …?! Sie überschätzen dessen pekuniäre Verhältnisse, Master Pearmount. Er kann mir das Geld nicht geben.“

„Herr von Burgstätt,“ sagte Archibald Pearmount dann, „nehmen Sie die Versicherung entgegen, daß es mir fern liegt, Ihnen irgend welche Unannehmlichkeiten der Spieleraffäre wegen bereiten zu wollen. Wenn die Dinge so liegen, gebe ich Ihnen selbstredend die gewünschte Frist, allerdings unter einer Bedingung: Sie müssen mir auf Ehrenwort versprechen, weder in Ihrem Leben jemals wieder eine Karte anzurühren noch am Totalisator Ihr Glück zu versuchen. – Bitte – fahren Sie nicht auf!! Es soll das keine Bevormundung von mir sein. Ich will nur verhüten, daß Sie nochmals dem Jeuteufel so über Maß und Ziel hinaus opfern, wie Sie es heute getan haben.“

Hans-Günter spielte nervös mit dem silbernen Portepee an seinem Säbelring. Er zauderte noch. Und trotzdem …, was blieb ihm anders übrig, als des Amerikaners Bedingung zu erfüllen, so schwer ihm dies auch wurde?! Der meinte es doch offenbar nur gut mit ihm. Und diese Erkenntnis gab den Ausschlag.

„Mein Wort also, Master Pearmount,“ sagte er hastig und streckte dem Anderen die schmale Hand hin, um die sich dann des Millionärs sehnige Finger mit festem Druck schlossen.

Schien es Hans-Günter nur so, oder lag jetzt wirklich um seines Gegenübers Lippen ein ironisches Lächeln …? – Er schaute genau hin … Nein, er hatte sich doch wohl getäuscht … –

Dann gingen sie denselben Weg zurück, bogen in die Seestraße ein und betraten noch die Konditorei von Steineisen, in der bis zwei Uhr eine italienische Kapelle konzertierte. Hier gesellte sich dann bald der Kurdirektor zu ihnen, der seine Hauptaufgabe darin zu suchen schien, allabendlich sämtliche Lokale des großen Seebades der Reihenfolge nach abzuklappern.

Erst als der Morgen graute, brach man dann auf. Pearmount und der junge Offizier hatten noch ein tüchtiges Stück Wegs vor sich, da das Landratsamt von Sornow, ein alter, weitläufiger Bau, dicht neben dem maurischen Schlosse lag, das der Amerikaner von dem reichen Sonderling erworben hatte.

Sie schieden als die besten Freunde von einander.

Und als Hans-Günter in den Kissen lag, körperlich und seelisch wie zerschlagen, galten seine letzten Gedanken vor dem Einschlafen noch dem Manne, der heute sein Schicksal in der Hand gehabt hatte. Es waren dankbare Gedanken … Eine Woche …! Da würde schon irgendwie Rat werden …! – Nur schade, daß das schöne Hazard, diese prickelnde Aufregung, nun vom Programm gestrichen werden mußte. Zu dumm …! Und gerade er – er sollte keine Karte mehr anrühren, der schon als Fähnrich so leidenschaftlich dem Jeu gehuldigt hatte! – Erbteil von seinem Vater war’s, das wußte er. Der war in seiner Jugend auch ein ziemlich wilder Geist gewesen … – Zu dumm, dieses erzwungene Ehrenwort …

Und dann schlief Hans-Günter ein. – –

Zur selben Zeit saß Archibald Pearmount an dem mit Elfenbein reich eingelegten indischen Schreibtisch in dem Arbeitszimmer seiner phantastischen Burg und hielt eine verblichene Photographie in den Händen, auf die er mit sinnendem Ausdruck in den ehernen Zügen herabschaute …

Sein Mienenspiel wechselte fortwährend. Welcher Art mochten die Gedanken sein, die hinter der hohen Stirn des einsamen Mannes hin und her wogten …?

Schließlich blieb aber doch in seinem Antlitz ein Zug unbeugsamer Härte wie eingemeißelt liegen …

Er erhob sich und trat an das breite Fenster, das auf die See hinausführte. Hier war in die alten Bäume des Parkes ein Durchblick ausgeschlagen. Und eben stieg die Sonne wie eine zartrote Scheibe über dem Meere empor … – Lange stand der Amerikaner regungslos da und schaute hinaus in die Ferne, hinaus auf die endlose Wasserfläche, über die jetzt die ersten Strahlen des Tagesgestirns dahinzuckten …

 

4. Kapitel.

Das Landratsamt von Sornow, ein alter, mächtiger Steinkasten inmitten eines ausgedehnten Parkes, beherbergte nur im Erdgeschoß die Bureauräume, während die übrigen Stockwerke dem Geheimrat als Wohnung und für Repräsentationszwecke zur Verfügung standen. Nach der Seeseite hin lief an der ersten Etage ein breiter Balkon entlang, der von den Familienmitgliedern in der warmen Jahreszeit als Aufenthalt sehr geschätzt wurde, da er ständig im Schatten lag und zumeist auch eine leichte Brise vom Meere her selbst an den heißesten Tagen einige Erquickung brachte.

Auch jetzt, wenige Tage nach dem Spielabend im „Rheingold“, saßen sich an einem der Korallentische Frau von Burgstätt und ihre Tochter gegenüber. Man hatte soeben das erste Frühstück beendet, und Gisela stichelte nun zerstreut an einer Handarbeit herum, – einem großen Monogramm, das sie für den Bruder zu dessen Geburtstag fertigstellen wollte.

Die Geheimrätin, die soeben der Köchin einige Anweisungen für das Mittagessen gegeben hatte, wandte sich jetzt, als die in einem tadellos weißen Servierkleide steckende Küchenbeherrscherin verschwunden war, an ihre Tochter.

„Sag ‘mal, liebes Kind - hast du nicht auch den Eindruck gewonnen, als ob Master Pearmount dir etwas reichlich viel Aufmerksamkeit schenkt?“

Frau von Burgstätt hatte sich in den Rohrsessel zurückgelehnt und blickte so seltsam prüfend zu ihrer Einzigen hinüber. Und wirklich – Gisas Antlitz, das mit seinen feinen Linien so überaus vornehm doch auch so ganz mädchenhaft weich wirkte, hatte sich mit feiner Röte überzogen, während ihre Augen verlegen an der Stickerei haften blieben – eine so geraume Weile, daß die Vermutung sehr nahe lag, das junge Mädchen wünsche jetzt den Blicken der Mutter nicht zu begegnen. Auch ihre Stimme klang merklich unsicher, als sie nun erwiderte:

„Findest du wirklich, Mama, daß Master Pearmount mich anders behandelt als die übrigen jungen Damen unseres Kreises? – Ich – ich meine, er ist nur angemessen höflich und liebenswürdig zu mir.“

„So …?!“ Das eine Wort kam so gedehnt heraus, daß Gisela sofort merkte, wie wenig ihre Antwort ihre Mutter befriedigt hatte.

Und dann wiederholte die Geheimrätin nochmals …

„So …?! – Also angemessen höflich und liebenswürdig …?! Ist das tatsächlich deine wahre Überzeugung, Kind? Mir fällt es schwer, daran zu glauben. Bedenke, der Amerikaner ist in den letzten Tagen regelmäßig mindestens einmal bei uns gewesen. Und – daß er nicht meinet- oder Papas wegen kommt, dürfte doch wohl ziemlich klar sein.“

Gisela hatte sich inzwischen wieder gefaßt. Sie war eine viel zu aufrichtige Natur, um noch länger mit Winkelzügen zu operieren. Indem sie ihre Mutter offen anschaute, sagte sie mit einem reizenden Lächeln, in dem eben soviel holde Verwirrtheit wie hoffende Seligkeit lag …

„Und wenn Master Pearmount nun wirklich in mir den Magnet gefunden hat, der ihn zu uns zieht, – wäre dir das so sehr unangenehm, Mama?“

Die Geheimrätin wußte genug. Das Lächeln, mehr noch der Ausdruck in den Augen ihres Kindes hatte ihr die Wahrheit verraten, ganz abgesehen von Giselas Worten, aus denen sich so schwerwiegende Tatsachen folgern ließen. Ein heißer Schreck durchzuckte ihr Mutterherz. Also war es wirklich schon so weit gekommen, wirklich …?! Das, was sie im Stillen längst gefürchtet, hatte zweifellos Gestalt angenommen: Gisela erwiderte des Amerikaners offenbare Neigung … – –

Unruhig irrten Frau von Burgstätts Gedanken hin und her. Ihr wurde es nicht leicht, ihrer Einzigen zu antworten. Denn das, was in ihrer Seele an leiser Antipathie gegen den Millionär wohnte, hatte ja so gar keine festeren Gründe, war nichts als eine Gefühlssache, die von anderen kaum verstanden werden konnte.

So verstrichen ein paar Minuten in ungemütlichem Schweigen. Und Gisela war es, die dann hastig erklärte:

„Mama – du zögerst so auffällig mit deiner Erwiderung … Was hast du gegen den Amerikaner einzuwenden …? Warum ist er dir als Gast nicht so lieb wie die anderen Herren, die bei uns verkehren? Denn daß dem so ist, habe ich schon häufig beobachtet. Du benimmst dich Pearmount gegenüber mit einer Zurückhaltung, die bisweilen fast verletzend ist, wenn man eben deine sonstige herzliche Liebenswürdigkeit berücksichtigt.“

Die Geheimrätin nickte trübe vor sich hin.

„Liebes Kind – niemand kann etwas für seine Gefühle. Bei mir hat sich nun einmal die Überzeugung eingenistet, daß dieser Millionär uns zum Unheil nach Sornow gekommen ist, und das Empfinden werde ich nicht mehr los. Vielleicht habe ich auch schärfere Augen als andere Menschen … Ich glaube bestimmt bemerkt zu haben, daß in seinen Augen bisweilen ein fast feindseliger Ausdruck liegt, wenn er einen von unserer Familie betrachtet und sich unbeobachtet glaubt. Ich mag mich täuschen, doch …“

„Fraglos täuscht Du Dich, Mama, fraglos,“ meinte Gisela eifrig. „Feindselig …? Welchen Grund sollte Pearmount“ – sie verbesserte sich schnell – „… Master Pearmount wohl dazu haben?“

„Gewiß, dieser Einwurf ist nur zu berechtigt. Trotzdem … es wäre mir eben lieber, du würdest dich Rittmeister v. Franzalan gegenüber etwas liebenswürdiger zeigen. Franzalan wirbt um dich, er ist eine glänzende Partie, oben gut angeschrieben, hat also eine Karriere vor sich, und …“

„… ist Besitzer einer tadellosen Glatze, eines halben Dutzends verflossener Lieben und eines Erlaubnisscheines zum Betreten der Bühnenräume und Garderoben des Altstädter Theater, dessen Soubretten und Ballettratten er nach Kräften unterstützt, … hm ja, um diese Art von Interesse für die jüngeren Theaterdamen milde auszudrücken.“

Frau von Burgstätt hatte abwehrend die Hand erhoben.

„Welch frivoler Ton, Gisa!!“ sagte sie streng. „Was weißt du davon, daß der Rittmeister …“

„Gerade genug, um seine Bewerbung um meine Hand fast wie eine Beleidigung meiner Person zu betrachten,“ rief das junge Mädchen erregt. „Ich bin kein Kind mehr, Mama, weiß, wie es in der Welt zugeht. Ein Mann mit dem Vorleben Franzalans sollte nach einem Weibe nie mehr die Hand ausstrecken.“

Die Geheimrätin war entsetzt.

„Gisela, ich bin wirklich sprachlos …“ Weiter kam sie in ihren Vorwürfen jedoch nicht. Die trotz all ihres weichen Liebreizes recht temperamentvolle Gisela fuhr schon fort …

„Entschuldige, daß ich dich abermals unterbreche, Mama. Ich möchte mir erlauben, dir gegenüber all die Bedenken zu äußern, die mich hinsichtlich der sogenannten moralischen Grundsätze unserer Kreise quälen. So sehr man äußerlich, besser gesagt nach außen hin, in der vornehmen Welt auf das hält, was man landläufig mit Moral bezeichnet, so wenig handelt man nach diesem ungeschriebenen Gesetz bei dem Abschluß von Verlobungen beziehungsweise Heiraten. Wird eine junge Dame heutigen Tags von einem Herrn umworben, so gibt bei den Eltern des weiblichen Teils lediglich der Umstand den Ausschlag, ob der Freier auch eine „gute Partie“ ist. Nach seinen moralischen Qualitäten fragt niemand, ebensowenig nach seinem Vorleben, mag er auch ein noch so großer … Wüstling gewesen sein. Reichtum und Stellung machen alles wett. – Dies, Mama, ist einer der Punkte, die mir eine recht bedenkliche wunde Stelle in unseren Gesamtanschauungen zu sein scheinen.“

„Liebes Kind,“ warf die Geheimrätin leicht verlegen ein, „Du übersiehst bei diesen Bedenken nur das Eine, daß die Welt nur zu leicht jemanden zum bösen Lebemann stempelt, der nichts als ein Durchschnittsmensch ist, eben ein Mann, der sein Dasein bis zur Ehe in jeder Beziehung genießt. Auch dein Vater hat seiner Zeit sehr ungerechter Weise in dem Verdacht gestanden, allerlei Abenteuer …“

Die Geheimrätin mußte hier innehalten, da soeben der Gärtnerbursche vom Korridor her den Balkon betrat und in fast militärischer Haltung fragte:

„Soll ich mit den Blumentöpfen vorausfahren, gnädige Frau? – Es soll doch heute unter Aufsicht der gnädigen Frau das Erbbegräbnis neu bepflanzt werden.“

„Oh – das habe ich ganz vergessen, Fermy,“ meinte Frau von Burgstätt eifrig, – innerlich sehr froh über diese Unterbrechung, die sie der unangenehmen Aufgabe überhob, mit ihrer Tochter das Gespräch von vorhin fortsetzen zu müssen. „Aber bei der Hitze heute ist mir der Weg bis zum Friedhof doch zu beschwerlich. Wie wär’s, Gisa, wenn du mir die Sache abnehmen wolltest …? Franz weiß ja schon, wie ich die Blumen verteilt wissen will.“ – –

So kam es, daß Gisela eine halbe Stunde später den Weg über die Chaussee nach dem Sornowschen Kirchhof einschlug. Trotz der drückenden Hitze schritt sie in lebhaftem Tempo dahin, indem sie ihre Gedanken unwillkürlich wieder auf das Thema vereinigte, das sie mit der Mutter zuletzt behandelt hatte. Und ebenso unwillkürlich verglich sie dabei die beiden Männer mit einander, die in ihrem an bedeutsamen Ereignissen ziemlich armen Dasein eine Rolle gespielt hatten oder besser noch, spielten: den Rittmeister von Franzalan und Archibald Pearmount, den Millionär. Alles sprach bei dieser Gegenüberstellung zu Gunsten des Letzteren. –

Das Erbbegräbnis derer von Burgstätt, in dem bereits eine ganze Anzahl von Angehörigen dieses alten, früher im Sornower Kreise reich begüterten Geschlechtes ruhten, hatte schnell seinen neuen Blumenschmuck erhalten. Gisela schickte den Gärtnerburschen heim und streifte dann selbst noch eine Weile ziellos durch die Gänge des prächtigen, alten Friedhofs, unter dessen weitästigen Linden man wie in einem Dom dahinwandelte.

Plötzlich stutzte das junge Mädchen. Ihr Blick war auf eine Männergestalt gefallen, die auf einer Bank gegenüber einer offenbar erst vor kurzem mit einem verzierten Gitter eingefriedeten Grabstätte saß. Kein Zweifel, – das da war kein anderer als der Amerikaner. Sein scharfes Profil hob sich nur zu deutlich von dem grauschwarzen Granitobelisk ab.

Neugierig, halb getrieben von einer stillen Sehnsucht, die Gisela als solche selbst noch nicht erkannte, trat sie näher und suchte die Inschrift auf dem Stein zu entziffern, neben dem Pearmount seinen Sitz gewählt hatte.

Hier ruht der prakt. Arzt Dr. Friedrich Birnbaum,
ein wahrhaft guter Mensch,
dem die, denen er Gutes tat,
diese Güte nie vergessen werden.

Sonst enthielt der mächtige, gut zwei Meter hohe Obelisk nichts.

„Dr. Birnbaum …?“ Gisela stand da und grübelte. „Dr. Birnbaum …? – Richtig – das war ja der alte, wunderliche Sanitätsrat … – Ob etwa Pearmount den gekannt hatte? Wohl ausgeschlossen … Wahrscheinlich hatte nur ein Zufall den Amerikaner veranlaßt, gerade hier seinen Sitz zu wählen. – Aber – dieses schmiedeeiserne Gitter und auch der Stein, die waren doch offenbar erst vor kurzer Zeit gesetzt worden …?“ sagte Gisa sich weiter, die sich genau besann, daß vor zwei Monaten bei ihrem letzten Besuch auf dem Kirchhof dieses Grab noch ziemlich vernachlässigt dagelegen hatte. Und weiter erinnerte sie sich jetzt, daß Dr. Birnbaum doch mindestens schon fünf Jahre tot sein mußte. Der war doch gestorben, als sie gerade die Backfischkleider abzulegen begann … –

Merkwürdig … Vor Jahren verstorben, und jetzt erst eine neue Grabeinfassung und ein Denkmal …? Wer mochte sich darauf so spät besonnen haben, daß der alte Sanitätsrat wohl eines Leichensteines wert sei … –

Archibald Pearmount hatte keine Ahnung, daß seine Person dergestalt in allerlei Fragen mithineingezogen wurde, mit denen sich Gisela von Burgstätt ihr reizendes Köpfchen so ganz in seiner Nähe zermarterte. Er saß da, das unbedeckte Haupt in die Hände vergraben, weit vornübergebeugt und starrte regungslos auf den mit Efeu bewachsenen Hügel. Die Schritte auf dem Kiesweg hatte er allerdings vernommen, dachte aber auch nicht im entferntesten daran, daß jemand in seiner Nähe sein könne, der ihn irgendwie beobachten würde. Gerade hier auf dem Gottesacker hatte wohl jeder mit seinen eigenen Gedanken und Kümmernissen zu tun …

Die stille Beobachterin hätte nur zu gern auf irgend eine harmlose, unauffällige Art des einsamen Mannes Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Doch sie wußte nicht recht, wie sie das anfangen sollte. Um keinen Preis wollte sie auch nur den Anschein erwecken, als ob ihr etwas daran gelegen war, daß der Amerikaner sie pflichtschuldigst begrüßte. Gerade ihrer etwas scheuen, zurückhaltenden Natur war der Gedanke unerträglich, Pearmount könne womöglich auf die Idee kommen, daß dieses Zusammentreffen kein zufälliges, sondern ein von ihr geschickt herbeigeführtes sei. Und so schlich sie sich denn jetzt leise davon, innerlich noch immer hoffend, Archibald Pearmount würde vielleicht noch im letzten Moment ihrer ansichtig werden und sie anrufen.

Nichts geschah. Als sie dann an dem Häuschen des Friedhofinspektors vorüberkam, stand der alte, graubärtige Herr gerade mit einer Gießkanne bei seinen wunderschönen Rosenstöcken und verabfolgte diesen eine erquickende Dusche. Wie immer blieb Gisela auch heute stehen und richtete ein paar freundliche Worte an den braven Mann, der schon so manchen Burgstätt in die kühle Erde zu betten geholfen hatte. Heute verfolgte das junge Mädchen mit diesem Gespräch jedoch einen bestimmten Zweck. Und wirklich – wenige Minuten später war sie über alles unterrichtet, was sie wissen wollte. Beim Abschied aber bat der freundliche Inspektor nochmals leise:

„Aber – alles bleibt unter uns, gnädiges Fräulein, – bitte, bitte! Der Amerikaner hat es mir dringend ans Herz gelegt, ich solle mit niemandem darüber sprechen. Nur weil Sie es sind, gnädiges Fräulein, nur deswegen ließ ich mich zu dieser Indiskretion herbei …“

 

5. Kapitel.

Jakob Meyer, von den Offizieren der Altstädter Garnison Totalisator-Meyer genannt, rückte sich den goldenen Klemmer auf seiner etwas fleischigen Nase zurecht und schaute sich dann nochmals in dem großen Zimmer um, in das ihn Master Pearmounts Diener geführt hatte.

„Donnerwetter – das nennt man nobel eingerichtet sein!“ dachte er mit Sachkenntnis und musterte die schweren, geschnitzten Eichenmöbel mit beinahe liebevollem Blick. „Die Einrichtung versteigern – da würde was bei herauskommen,“ überlegte er weiter. Denn Jakob Meyer „machte in allem“, – in hochprozentigen Wechseln, in Pferdeverkäufen, in Antiquitäten und Auktionen.

Zu weiteren, seinen geschäftlichen Neigungen entsprechenden Gedanken kam er jedoch nicht. Ihm gegenüber öffnete sich plötzlich die Tür und der Amerikaner, gekleidet in einen weißen Flanellanzug, trat ein.

Meyer schnellte förmlich von seinem Stuhl empor.

„Habe die Ehre, Master Pearmount. – Sie waren so freundlich, mich zu sich zu bestellen, und ich habe mich beeilt, so …“

„Morgen!“ unterbrach der Millionär den Redefluß des korpulenten Männchens. „Behalten Sie Platz … – Ich möchte von Ihnen einige Auskünfte haben, die ich Ihnen gut bezahlen werde. Nur stelle ich eine Bedingung: Niemand außer Ihnen darf erfahren, was ich vorhabe …, verstanden, – niemand!“

„Master Pearmount, – ich kann schweigen wie das Grab!“ betäuerte Meyer, die Hand auf die linke Brustseite legend, wodurch er wohl andeuten wollte, wie sehr man sich auf sein verschwiegenes Herz verlassen könne.

Auf den Amerikaner schien die theatralische Geste jedoch nicht den geringsten Eindruck zu machen. Sehr kurz und mit warnender Schärfe sagte er nur:

„Ich möchte es Ihnen auch in Ihrem eigenen Interesse anraten, sich genau nach meinen Wünschen zu richten. Glauben Sie, diese Bedingung nicht erfüllen zu können, so kann ich Ihre Dienste nicht gebrauchen.“

„Sie werden sehr zufrieden mit Jakob Meyer sein, – sehr, sehr!“ meinte der vielseitige kleine Mann mit Nachdruck. „Wenn ich reden wollte, – Existenzen in Unmenge könnte ich vernichten. Aber Jakob Meyer ist zuverlässig, sogar unter allen Umständen.“

„Gut denn … Hören Sie nur, was ich von Ihnen wissen möchte. – Kennen Sie die Vermögensverhältnisse des Herrn Landrats von Burgstätt genauer?“

„Zu genau. Jedenfalls genau genug, um mit dem Herrn Geheimrat keinerlei Geschäftchen zu machen,“ sagte Totalisator-Meyer kalt und gleichgültig.

„Aber Sie haben mal mit dem Geheimrat in Verbindung gestanden, nicht wahr?“

„Vor Jahren. Ich war es, der den Verkauf des Burgstättschen Stammgutes vermittelte. Das war alles.“

Pearmount schwieg einen Augenblick.

„Der Geheimrat ist ganz verschuldet, nicht wahr?“ fragte er dann.

Meyer zog die Schultern hoch. „Möglich. Genaues weiß ich nicht. Ich habe aber einen Bekannten, mit dem Herr von Burgstätt jetzt „arbeitet“, wie wir zu sagen pflegen.“

„Ein Darlehnsgeber, stimmt’s?“

„Allerdings.“

„Wie heißt der Mann?“

„Samuel Pinschewer – Altstadt, Krakauer Gasse 24.“

Der Amerikaner hatte sich den Namen und die Adresse schon notiert.

„So – dann danke ich Ihnen,“ erklärte Pearmount, indem er aufstand und seine Brieftasche hervorzog.

Jakob Meyer war sprachlos. – Das war alles? Und deshalb hatte ihn der Millionär von Altstadt herüberkommen lassen …? – Mit einem Wort: der Alte war schwer enttäuscht! Er hatte an ein Geschäft gedacht, bei dem vielleicht Tausende zu verdienen waren, und nun – nun die wenigen Fragen …?!

Inzwischen hatte Archibald Pearmount seiner Brieftasche einen Hundertmarkschein entnommen.

„Da – das ist wohl eine genügende Bezahlung für Ihre Auskunft. Später erhalten Sie noch genau so viel, – eben wenn ich die Überzeugung gewonnen habe, daß Sie den Mund halten können. – Guten Morgen denn also …“

Das war deutlich. Meyer machte noch einen tiefen Kratzfuß und verschwand. –

Diese Unterredung hatte am Nachmittag desselben Tages stattgefunden, an dem Pearmount von Gisela von Burgstätt am Grabe Dr. Birnbaums beobachtet worden war.

Eine Viertelstunde, nachdem der vielseitige Agent das Maurenschloß verlassen hatte, begab der Amerikaner sich nach dem Kurgarten, wo heute außer der ständigen Kurkapelle noch das Trompeterkorps der 1. Leibhusaren konzertierte.

Auf den Terrassen und in den Stuhlreihen vor dem Musikpavillon war kein freies Plätzchen mehr zu haben. Ebenso bewegte sich um die große Fontäne unausgesetzt ein dichter Menschenstrom in zwei sich begegnenden Ringen herum, eine Art des Promenierens, die besonders von dem jungen Volke sehr geschätzt und reichhaltig zum Austauschen beredter Blicke und zum Anbändeln flüchtiger Liebschaften benutzt wurde. –

Archibald Pearmount durchschritt in seiner ungezwungenen vornehmen Haltung die Menge geputzter Menschen und stieg dann die breite Freitreppe zum Weinpavillon des Kurhauses empor, eines imposanten, erst vor zwei Jahren vollendeten Baues, der den Sornowern nicht weniger als zweieinhalb Millionen Mark gekostet, dafür aber auch den Badeort mit einem Schlage aus der Menge der übrigen Ostseekurorte herausgehoben und zum Luxusbade gemacht hatte, das noch besonders durch die häufige Anwesenheit des Deutschen Kronprinzenpaares gewinnen sollte.

„Hallo – Master Pearmount – hier stecken wir!“

Geheimrat von Burgstätt war es, der den Amerikaner auf diese Weise anrief.

Die Familie des Landrats hatte einen Tisch dicht an der Brüstung der Terrasse inne. Auch Hans-Günter war aus Altstadt herübergekommen, ebenso Rittmeister von Franzalan, der neben Gisela saß und ihr wie immer hartnäckig den Hof machte.

Nachdem der Millionär die Anwesenden begrüßt hatte, wandte er sich sofort an Frau von Burgstätt, die ihm nur mit merklichem Zögern die Hand gereicht hatte, – nicht etwa zum Handkuß, da man allgemein wußte, daß Pearmount diese Art von Huldigung niemals gebrauchte.

„Gnädige Frau – Ihr Herr Gemahl hatte am Vormittag die Liebenswürdigkeit mich einzuladen, heute während des Doppelkonzertes bei Ihnen Platz zu nehmen. Entschuldigen Sie bitte, daß ich mich um eine halbe Stunde verspätet habe. Ich hatte eine dringende geschäftliche Besprechung.“

„Oh – bitte, Master Pearmount, – das macht doch nichts. – So – hier ist noch ein Stuhl für Sie.“

Die Unterhaltung, die bei des Amerikaners Erscheinen ins Stocken geraten war, kam bald wieder in Fluß. Pearmount war ziemlich schweigsam und taute erst auf, als Gisela ihm einige neckende Vorwürfe über seine Versonnenheit über den Tisch zugerufen hatte, worüber wieder Herr v. Franzalan wenig entzückt war, da Gisa auch heute auf seine geistvollen Schmeicheleien in keiner Weise einging und er auch bemerkt hatte, wie ihre Augen bei Pearmounts Anblick höher aufleuchteten.

„Sagen Sie, Master Pearmount,“ wandte sich jetzt die Geheimrätin an den neben ihr sitzenden Millionär, „haben Sie eigentlich schon früher irgendwelche Beziehungen zu Deutschland gehabt? Sie scheinen mit den Verhältnissen hier zu Lande doch recht vertraut zu sein.“

Der also Gefragte schob den Panamahut etwas aus der Stirn und erwiderte dann ausweichend:

„Bei unserem umfangreichen Fabrikbetriebe mußte ich notwendig auch mit Deutschland als einem wesentlichen Absatzgebiet rechnen. Daher wohl meine Kenntnis des Landes und seiner Bewohner.“

Aber die Geheimrätin ließ sich so leicht nicht abschütteln. Sie wollte Klarheit haben. Denn das, was Gisela ihr heute gleich nach der Rückkehr vom Kirchhof über das Grab des Sanitätsrats Dr. Birnbaum unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählt hatte, war ihr recht merkwürdig vorgekommen. Ihr Mißtrauen gegen Pearmount war dadurch nur noch gesteigert worden.

„So – also nur geschäftlicher Natur sind die Fäden gewesen, die Sie mit Deutschland verbanden,“ meinte sie gleichgültig. „Trotzdem werden Sie aber doch wohl Gelegenheit gehabt haben, Deutsche genauer kennen zu lernen, Master Pearmount, nicht wahr? – Ich frage nur deswegen, um festzustellen, ob wir nicht etwa gemeinsame Bekannte haben. Die Welt ist ja so klein, so lächerlich klein. Und gerade von meiner Familie sind verschiedene männliche Mitglieder recht unruhige Geister, die alle Erdteile durchstreift haben.“

Pearmount war viel zu schlau, um nicht sofort hinter diesen in ein so harmloses Gewand gekleideten Fragen etwas Besonderes zu wittern. Und daher entgegnete er mit derselben Geschicklichkeit, mit der er allen Anzapfungen hinsichtlich seiner näheren Familienverhältnisse aus dem Wege ging:

„Mein Namengedächtnis ist ein so vorzügliches, gnädige Frau, daß ich es ganz sicher nicht vergessen haben würde, wenn ich in Amerika mit einem deutschen Adligen zusammengetroffen wäre.“ Und ohne Überlegung fügte er hinzu, um das Gespräch auf ein anderes Gebiet überzulenken: „Sehen Sie, verehrteste Frau Geheimrat, da unten vor dem Mittelkandelaber in der Gruppe von Herren und Damen – sehr richtig, etwas links von der Fontäne –, das ist mein Landsmann Armour, der Besitzer der Jacht „Kondor“, die der Deutsche Kaiser schon so häufig besucht hat, weil er eben Armours Freund ist.“

„Kennen Sie den Herrn persönlich, Master Pearmount?“ fragte Frau von Burgstätt lediglich aus Höflichkeit, um irgend etwas zu sagen. Innerlich aber war sie höchst ungehalten darüber, daß der Amerikaner sich ihrer Neugier so gewandt entzogen hatte.

Archibald Pearmount hatte soeben seinen Eiskaffee durch den Strohhalm ausgeschlürft, schob nun das Glas bei Seite und erwiderte gleichmütig:

„Armour ist ebenso wie ich Mitglied des New Yorker Ballery-Klubs. Dort habe ich ihn zweimal gesprochen. Weiter kenne ich ihn nicht.“

Rittmeister v. Franzalan hatte die letzten Sätze gehört und fragte nun, indem er sein mageres Aristokratengesicht in etwas ironische Falten legte:

„Ballery-Klub? – Das ist ja wohl die berühmte Millionär-Vereinigung, in die man nur aufgenommen wird, wenn man das Vermögen von mindestens zehn Millionen besitzt. Also sozusagen ein Ausschuß der größten Geldsacke …“

Pearmount lächelte. „Ausschuß der größten Geldsacke ist vorzüglich!“ meinte er in harmlosem Ton, als ob er den beabsichtigten Hohn gar nicht gespürt habe. „So einfach ist es nun doch nicht, Mitglied jenes exklusiven Vereins zu werden, Herr v. Franzalan. Wenn es Sie interessiert, werde ich Ihnen die Statuten des Klubs, in denen auch die Aufnahmebedingungen enthalten sind, zur Durchsicht leihen. Dann können Sie sich überzeugen, daß es weniger auf die Millionen, als auf die geistigen und moralischen Qualitäten eines Anwärters ankommt. Ich betone: die geistigen Qualitäten! Leute, die im Leben nicht etwas Besonderes geleistet haben, werden überhaupt nicht auf die Liste gesetzt. Und „etwas leisten“, darunter verstehen wir Amerikaner selbständige, schöpferische Gedanken und deren Verwirklichung, mithin Verdienste, bei denen lediglich die Persönlichkeit und nicht der Name mitspricht.“

Der Geheimrat, dem Pearmount recht sympathisch war, freute sich innerlich außerordentlich, daß dieser den wegen seiner Arroganz gerade-zu berüchtigten Rittmeister in so feiner Weise abgeführt hatte. Um aber einer weiteren Erörterung dieses Themas, das sich leicht zu schärferen Bemerkungen hätte zuspitzen können, zu verhindern, schlug er eine Promenade über die Landungsbrücke vor, wo gerade einer der Tourendampfer von Altstadt anlegen sollte.

Pearmount wußte es sehr geschickt so einzurichten, daß er Gisela zur Begleiterin erhielt, die er dann sofort in ein höchst angeregtes Gespräch zu verstricken verstand.

„Herr v. Franzalan schien die Absicht zu haben, sich an Ihnen reiben zu wollen, Master Pearmount,“ sagte Gisela unvermittelt, als sie ein Stück hinter den anderen zurückgeblieben waren. „Ich fürchtete schon, Sie würden ihm in scharfer Weise antworten. Der Rittmeister ist sehr empfindlich, und das hätte dann vielleicht zu Weiterungen führen können.“

Aus Giselas Worten sprach deutlich die Befriedigung, die sie darüber empfand, daß die kurze Auseinandersetzung zwischen den beiden Herren so glimpflich abgelaufen war. Und mit Recht hörte der Amerikaner noch mehr heraus: die Tatsache, daß das junge Mädchen seinetwegen einen Moment in Sorge gewesen war. Und diesen Gedanken verlieh er jetzt auch ohne Scheu Ausdruck.

Gisela errötet jäh. Seine Miene hatte einen so seltsamen weichen Klang angenommen, als er ihr dafür dankte, daß sie doch offenbar einen Moment um ihn besorgt gewesen sei. Aber sie wiedersprach nicht. Und gerade dieser an sich so harmlose Zwischenfall war es, der beide einander um ein Bedeutendes näherbrachte.

Dann standen sie neben einander auf der Spitze des Seesteges, auf die weiß gestrichene Holzbrüstung aufgelehnt, und schauten dem Anlegen des großen Raddampfers zu, der aus Altstadt einige hundert Gäste dem beliebten Badeort zuführte. Ganz dicht standen sie nebeneinander, daß ihre Ellenbogen sich berührten. Und über Giselas Leib lief es wie ein süßer Schauer. Sie zog den Arm nicht zurück, sondern duldete es sogar, daß Pearmount ihr jetzt leise, betörende Worte ins Ohr flüsterte. Nie hätte sie es geahnt, wie weich, wie einschmeichelnd seine sonst so energische Stimme sein konnte, nie vermutet, daß dieser äußerlich so vollständig einer zielbewußten Kraftnatur gleichende Mann über einen derartigen Schatz hinreißender Worte verfügte. Wie im Traum nahm sie all diese Koseworte in sich auf, wie betäubt ließ sie die Wonne dieser Minuten, die ihr zum ersten Mal die Liebe zwischen Mann und Weib in ihren köstlichen Anfängen zeigte, über sich hinwegrauschen … –

Längst waren die übrigen wieder auf die Weinterrasse zurückgekehrt. Die beiden aber lehnten noch immer an demselben Platz … Um sie herum flutete der Strom der Promenierenden unaufhörlich vorüber. Sie hörten und sahen nichts. Giselas Herz war voll von Seligkeit, als daß sie für die übrige Welt Interesse gehabt hätte. Archibald Pearmount aber dachte an anderes … Ein Glück, daß die, die neben ihm stand, seine Augen nicht sah, nicht diesen Ausdruck in den dunklen, leidenschaftlichen Augen, der von allem anderen nur nicht von Liebe und Zärtlichkeit sprach …

Der Seesteg von Sornow …

Unwillkürlich waren des Amerikaners Gedanken zu vergilbten Blättern abgeirrt, die eine ungelenke, zittrige Frauenhand mit Sätzen gefüllt hatte, aus denen nichts wie der Schrei nach Vergeltung hervorklang …

Auf dem Seestege bei leise rauschendem Wellenklang hatte ein häßliches Drama begonnen, hatte das Verderben für eine ganze Familie eingesetzt …

Archibald Pearmount fuhr fast erschreckt zusammen, als Gisela ihn jetzt leise fragte:

„Wird es nicht Zeit, daß wir an unseren Tisch zurückkehren …?“

Da nahm er sich zusammen, zwang sich in die Gegenwart zurück …

„Sie haben recht, Gisa,“ antwortete er ebenso leise. Und in seinen Augen war schon wieder das warme, zärtliche Leuchten …

Langsam schritten sie über die tönenden Holzplanken dahin, dicht neben einander. Ein schönes Paar gaben die beiden, jungen, frischen Menschenkinder ab. Manch neidischer Blick folgte ihnen … Der Millionär mit dem glattrasierten, scharf markierten Gesicht war nur zu schnell für Sornow und Altstadt eine Art Berühmtheit geworden.

Als sie dann die Treppe zur Terrasse emporstiegen, flüsterte der Amerikaner seiner Begleiterin hastig zu …:

„Sie kommen bestimmt, Gisa?“

„Bestimmt!“ Wie ein Hauch war die Antwort. Und doch zitterte hingebende Zärtlichkeit so deutlich durch die wenigen Silben …

Pearmount hörte den Klang, hörte die Verheißung, die für ihn in dem einen Worte lag … Ein wildes Triumphgefühl quoll in seinem Herzen empor. Der Sieg war halb errungen … Der Haß konnte demnächst sein schmachvolles Fest feiern …

Wie betäubt schloß er die Augen von all den Möglichkeiten, die seine Phantasie blitzschnell wie wirre Bilder vor ihn hinzauberte … Und unter der ebenso plötzlich in ihm aufdämmernden Erkenntnis der eigenen Schlechtigkeit wollte er bereits dieses Rendezvous, um das er so flehentlich gebeten hatte, wieder unter irgend einem Vorwand absagen …

Er tat es nicht … Seine Lippen preßten sich fest aufeinander. Nur jetzt kein überflüssiges Erbarmen … –

… Arme, arme Gisa …

 

6. Kapitel.

Gegen acht Uhr abends verabschiedeten sich Burgstätts. Hans-Günter begleitete die Seinen nach Hause, da er augenblicklich zu schlecht bei Kasse war, um sich ein Abendessen im „Rheingold“ – anderswo soupierten die Leibhusaren überhaupt nicht – leisten zu können.

Rittmeister von Franzalan, Pearmount und ein Regierungsassessor von Witzleben, der inzwischen noch an den Tisch des Landrats gekommen war, blieben noch beisammen und stellten sich ein Menü zusammen, dessen Eigenart selbst dem bedienenden Oberkellner ein leises Kopfschütteln entlockte.

„Herr Rittmeister,“ meinte der Schwarzbefrackte mit diskretem Lächeln, „das sind ja alles Zwischengerichte, die die Herren ausgewählt haben. Vielleicht ein Versehen …?“

„Ne, – keineswegs! Nur alles leicht verdauliche Dinge. Bei solch’ tropischer Hitze danken wir bestens für Ihre Braten, – besser – Ihr ausgekochtes und frisch serviertes Suppenfleisch. Und nun – allons! Ich habe Hunger …!“

Als der Oberkellner verschwunden war, beugte sich der Rittmeister etwas vor und sagte zu seinen Tischgenossen leise …

„Der brave Fritz braucht doch nicht gerade zu wissen, daß ich in Rücksicht auf meinen von gestern Nacht noch etwas ramponierten Magen so leichte Speisen vorgeschlagen habe! War wieder eine tolle Geschichte bei der holden Adele! Ist doch ein verteufelt geriebenes Weib, diese kleine Soubrette unseres Stadttheaters. Ihr Salon, in dem jeder harmlose Teeabend mit einer wüsten Sektkneiperei und einem ebenso wilden Jeu endigt, muß ihr ein recht nettes Sümmchen abwerfen. – Na, Sie kennen den Rummel ja, Witzleben. Wie wär’s, wenn Sie, Master Pearmount, dort auch mal Ihre Antrittsvisite machten …? Für das Jeu haben Sie doch auch so eine kleine Schwäche.“

Der Amerikaner, der ziemlich uninteressiert zugehört hatte, nickte zerstreut. Und ebenso zerstreut fragte er …

„Wer verkehrt denn bei dieser … „Holden Adele“ alles …? Nur Uniform?“

„Ne, keineswegs. Das Terrain da ist international. Alles erscheint im Smoking. Der Bunte Rock bleibt im Schrank hängen. Für die Gesellschaft ist er doch zu schade. Jedenfalls bitten Sie doch mal den jungen Burgstätt, daß der Sie mitnimmt. Der ist augenblicklich bei der Gerarda „am dransten“ und allnächtlich in dem famosen „Salon“ zu finden …, falls er nicht anderswo jeut, der jugendliche Dachs!“

„Hans-Günter von Burgstätt?“ Pearmount spielte den Erstaunten. „Ja, hat der denn die Mittel, um Liebhaber einer Soubrette sein zu können …?“

„Mittel …? – Weiß ich nicht! Vielleicht liebt Adelchen ihn um seiner selbst willen. Auch das soll ja vorkommen. Jedenfalls war er gestern auch wieder dort und hielt die Bank …“

Der Amerikaner schaute Franzalan fast allzu durchdringend an.

„Er hielt die Bank? – Sie müssen sich geirrt haben, Herr Rittmeister.“

„Irren …?! Keine Spur! Der lockere Zeisig hatte gestern so sein unglaubliches Schwein, daß mein Portefeuille es noch einige Zeit merken wird. Daher ist ein Irrtum total ausgeschlossen.“

Pearmount schüttelte zweifelnd den Kopf.

„Unmöglich … unmöglich!“ murmelte er, wie zu sich selber sprechend. „Sollte er wirklich so schnell vergessen haben, daß …“

Erschreckt hielt er inne. Wenigstens tat er erschreckt.

Franzalan war aufmerksam geworden.

„Was zum Henker interessiert Sie denn Hans-Günter von Burgstätts Spielleidenschaft so sehr, Master Pearmount?“ fragte er fast argwöhnisch.

„Oh – interessieren ist zuviel gesagt,“ meinte der ausweichend. „Ich bin nur erstaunt, daß diese Vorliebe für die Karten schon bei einem so jungen Offizier derart stark ausgeprägt sein kann. Da sollte doch eigentlich mal der Vater ein Machtwort sprechen …“

„Der Vater!“ Franzalan lachte laut auf. „Na, bester Pearmount, durch diese Bemerkung zeigen Sie nur, wie wenig Sie mit den hiesigen Verhältnissen vertraut sind. In dem Punkt haben sich nämlich Vater und Sohn nicht das Geringste vorzuwerfen.“

„Ah so!“ meinte der Amerikaner.

Und dann sprachen die Herren von etwas anderem. Der Rittmeister aber blieb merkwürdig zerstreut. Pearmounts seltsame Fragen, ob Hans-Günter wirklich am Spiel teilgenommen habe, ließen ihm keine Ruhe. Dahinter steckte ohne Frage mehr … Aber was …? Was …?

Schließlich glaubte Franzalan eine befriedigende Antwort gefunden zu haben. Trotzdem war er wortkarg wie vorher … –

Als der Amerikaner sich dann gegen zehn Uhr verabschiedete und sich auch durch die dringenden Bitten der beiden Herren nicht zum Bleiben bestimmen ließ, eilte der Rittmeister, kaum daß Pearmount die Treppe zum Kurgarten halb hinabgeschritten war, durch die Tanzsäle des mächtigen Gebäudes und lange Korridore in den Hof im Seitenflügel hinab, wo für die Autos und Wagen der Altstädter Gäste bequeme Unterstellräume eingerichtet waren.

Bald hatte Franzalan den Kutscher eines eleganten, leichten Jagdwagens gefunden – seinen Burschen, der ein überaus gerissener und recht vielseitiger Mensch war.

Schnell war der in einer tadellosen Livree steckende Friedrich instruiert, und so kam es denn, daß Pearmount, als er den Kurgarten durch den Haupteingang verließ, einen getreuen Begleiter hatte, der ihm auf Schritt und Tritt in einiger Entfernung folgte.

* * *

Die parkähnlichen Gärten, die sich in schmalen Terrassen den zum Teil mit mächtigen Eichen bestandenen Abhang hinaberstreckten, der Sornow so scharf in ein sogenanntes Ober- und Unterdorf trennte, fanden nach der Nordseite hin ihren Abschluß in den beiden zu dem Landratsamt und dem Maurenschloß gehörigen Parkanlagen, wohl den schönsten und bestgepflegten des ganzen Badeortes.

An der Stelle, wo diese Gärten am Rande des kleinen Höhenzuges aneinander grenzten, hatte die Gemeindeverwaltung als Aussichtspunkt einen kleinen Holztempel, der sich auf einige starke Baumstümpfe stützte, errichtet. Dieses zierliche, nach der See hin offene Häuschen hatte nur einen Zugang vom Unterdorf aus, eine schmale Holztreppe, die sich zwischen dichten Gebüschen wie ein Schleichpfad die Anhöhe hinaufwand. „Liebestempel“, so hatte der Volksmund den besonders von jungen Pärchen gern aufgesuchten, kleinen Bau genannt, eine Bezeichnung, die nach den vielen in die Wände eingeschnittenen Herzen und Monogrammen recht treffend gewählt war.

Auch jetzt, wo die Uhr der nahen Kirche bereits vor einiger Zeit die zehnte Stunde verkündet hatte, befanden sich in dem zierlichen Bauwerk mit der Zwiebelkuppel zwei Personen, die neben einander an der Brüstung standen und sich soeben erst mit kräftigem Händedruck begrüßt hatten. Ihre Gestalten zeichneten sich gegen den Nachthimmel, der von der unter dem Horizont längst verschwundenen, aber noch immer rötliche Lichtfluten ausstrahlenden Sonne rotgelb gefärbt schien, ganz deutlich ab. Es waren ein schlanker Mann und ein in einen dunklen Mantel gekleidetes weibliches Wesen, die sich hier zu traulicher Aussprache getroffen hatten.

Jetzt beugte sich der Herr, der einen breitrandigen Panamahut aufhatte, ganz nahe zu seiner Gefährtin hinab … Die beiden Gestalten verschmolzen in eins. Und in das Schluchzen einer Nachtigall, die in den nahen Fliedersträuchern ihr wehes Lied ertönen ließ, mischte sich ein Ton, der wie ein wilder, stürmischer Kuß klang …–

Gisela von Burgstätt ruhte in selbstvergessener Seligkeit in den starken Armen des Amerikaners. Und ihre Lippen, ihre keuschen Lippen suchten immer wieder die seinen …

„Du – du …! Ich habe dich ja vom ersten Augenblick an geliebt, als ich dich sah …“

Noch enger schmiegte sie sich bei diesen Worten an ihn.

Und so standen sie lange Zeit und schauten wortlos hinaus in die Ferne, – dorthin, wo die elektrischen Bogenlampen des Seesteges wie unzählige weiße Punkte aufleuchteten und auf der leicht bewegten Wasserfläche ein zauberhaftes Leuchten hervorriefen.

Plötzlich schreckten sie auseinander.

„Hast du gehört …,“ sagte Gisela ängstlich. „Das klang, als ob jemand die Treppe hinabeilt.“

„Warte – ich will nachsehen.“

Ängstlich wollte sie ihn zurückhalten. Aber schon war er um die Ecke verschwunden.

Hier zwischen den dichten Sträuchern, in denen die Holztreppe wie in einem Tunnel abwärtslief, vermochte Pearmount kaum die Hand vor Augen zu sehen. Bald blieb er daher stehen und lauschte … –

Kein Zweifel, da unter ihm stolperte jemand hinab, offenbar in größter Eile, wie getrieben von einem schlechten Gewissen. Ohne Zweifel ein Mensch, der sie belauscht hatte und nun entdeckt zu werden fürchtete. Und dieser Gedanke war es, der Archibald Pearmount jede Rücksicht auf seine gesunden Glieder vergessen ließ. In wilder Hast jagte er mit weiten Sätzen die Stufen hinab, oft in der Dunkelheit fehltretend, daß er es nur seiner körperlichen Gewandtheit zu danken hatte, wenn er nicht lang hinschlug. Er mußte wissen, wer die Person war, um jeden Preis …

Schließlich bemerkte er vor sich einen hellen Lichtschimmer, die Stelle, wo die Treppe auf die Vordünen mündete. Und jetzt tauchte auch in diesem hellen Fleck ein dunkles Etwas auf, – der Flüchtling, der nunmehr kaum noch einen Vorsprung von zwanzig Schritten hatte.

„Halt – stehen bleiben, oder ich schieße!“

Mit voller Lungenkraft stieß er die Worte aus.

Aber nur ein höhnisches Auflachen war die Antwort. Der Mann da vor ihm ließ sich so leicht nicht schrecken.

Und dann …, ein Moment der Unachtsamkeit hatte genügt, – dann blieb der Amerikaner mit der linken Stiefelspitze irgendwo hängen, verlor das Gleichgewicht und schoß im Bogen in das Gebüsch, so daß er kaum noch Zeit fand, durch den vorgehaltenen Arm das Gesicht vor einer Berührung mit den Ästen und Zweigen zu schützen … –

Mit zerschundenen Händen und mehrfach zerrissenen Kleidern, langte er wieder oben in dem kleinen Tempel an, wo Gisela angstvoll seiner harrte.

Die glückselige Stimmung war zerstört.

„Wer mag es nur gewesen sein, wer?“ fragte das junge Mädchen immer wieder in leicht begreiflicher Erregung. „Hoffentlich bin ich nicht erkannt worden. Wenn die Eltern etwas von diesem Stelldichein erfahren würden, – ich müßte mich ja zu Tode schämen …“

Trotzdem gelang es Pearmount, sie nach und nach zu beruhigen.

„Daß der Mensch – denn ein Mann war es ohne Frage – dich erkannt hat, ist ausgeschlossen,“ meinte er, indem der sie auf seinen Schoß zog und ihr Köpfchen an seiner Brust bettete. „Sei ganz ohne Sorge, Liebling … Unser süßes Geheimnis wird durch diesen Zwischenfall nicht verraten werden. Und – nicht wahr, Gisa, es bleibt bei dem, was wir vereinbart haben. Laß uns unser Glück noch einige Zeit ganz für uns genießen. Glaube mir, wenn erst die Menschen mit ihren faden Glückwünschen kommen, wenn man uns als junges Brautpaar mit Argusaugen bewacht, dann ist der zarte Blütenschmelz unserer Liebe dahin. Es gibt ja nichts romantischeres, nichts süßeres als heimliche Herzensseligkeit …“

Wieder schluchzte die Nachtigall in den Büschen, die der leise Nachtwind rauschen und raunen ließ. Wieder hielt Gisa den Mann fest umschlungen, dem ihr heißes Herz in tiefer Liebe entgegenflog …

Und wieder spielte sich in Archibald Pearmounts Seele ein harter Kampf ab. Immer deutlicher fühlte er, wie schwer es ihm werden würde das zu vollbringen, was er sich vorgenommen hatte. Dazu gehörte ein anderer Charakter als der seine, ein Herz von Stein und die Grausamkeit eines Unmenschen. Und das war er nicht, würde es nie werden … –

Eine Viertelstunde später trennten sie sich. Gisela huschte durch das Gitterpförtchen in den väterlichen Park, nachdem sie nochmals ihre heißen Lippen in nicht endenwollendem Kuß auf des Geliebten Mund gepreßt hatte. Ungesehen, unbemerkt erreichte sie über die Hintertreppe ihr Mädchenstübchen.

Lange, lange lag sie noch mit weit offenen Augen wach in den Kissen. Und noch im Einschlafen murmelten ihre Lippen in tiefer Zärtlichkeit …

„… Du … du … Einziger!“

 

7. Kapitel.

„Friedrich!“

„Herr Rittmeister befehlen?“

„Wenn du die Pferde versorgt hast, komm in mein Arbeitszimmer!“

„Befehl, Herr Rittmeister.“

Worauf Herr von Franzalan müde die Treppe emporstieg, die auf die kiesbestreute Auffahrt der kleinen Villa mündete, in der der begüterte Offizier sein luxuriöses Junggesellenheim aufgeschlagen hatte. –

Franzalans Gedanken waren bei Gisa von Burgstätt. Er, der fast zwanzig Jahre seines reich bewegten Lebens den Frauen gewidmet und der manch holde Mädchenblüte sein eigen genannt hatte, war jetzt unrettbar in die schlanke, temperamentvolle Tochter des Geheimrats verliebt, so unrettbar, wie er selbst dies nie für möglich gehalten hätte. Fast sechs Monate umwarb er nun bereits mit größter Zähigkeit die unnahbare Gisela, ohne daß er auch nur einen Schritt vorwärts gekommen wäre. Und nun mußte zu allem Unglück hier auch noch dieser reiche, jugendfrische Amerikaner mit den dunklen Schwärmeraugen auftauchen, ein Mann, der nicht nur seine Millionen, sondern auch ein sympathisches, stattliches Äußeres in die Wagschale zu werfen hatte. Wie es um das Herz Gisas in Wahrheit stand, welchen Platz dieser Pearmount darin einnahm, das war dem Rittmeister heute zur Genüge klar geworden. Bei dem Gedanken, daß Gisela den Anderen so auffällig bevorzugt und mit jenem so weltvergessen an der Stegbrüstung gelehnt hatte, krampfte sich Franzalans Herz vor wilder Eifersucht fast schmerzhaft zusammen. Kein Zweifel: der Amerikaner hatte die ernstesten Absichten auf des schönen, jungen Weibes Hand. Hätte er sonst wohl ein so großes Interesse für Hans-Günters Spielleidenschaft gezeigt …! Er sah in dem jungen Leutnant eben bereits den zukünftigen Schwager, dessen lockerer Lebenswandel wohl nicht so ganz seine Billigung fand …

Franzalan grübelte und grübelte. Bei all seiner Einseitigkeit besaß er doch eine natürliche Verstandesschärfe, die ihm auch jetzt gute Dienste leistete. – –

Ja, so konnte es sein … Das war eine zwanglose Erklärung besonders auch für die deutlichen Zweifel, die Pearmount zum Ausdruck gebracht hatte, ob Hans-Günter wirklich wieder mitgejeut habe … Natürlich, so wird es gewesen sein, sagte der Rittmeister sich. Pearmount hat dem jungen Burgstätt wahrscheinlich das Versprechen abgenommen, nicht mehr zu spielen … Daher auch seine Überraschung, als er erfuhr, daß der lockere Bruder abermals bei der süßen Adele die Bank gehalten hatte …

Als Franzalan über diesen Punkt mit sich ins Reine gekommen war, pfiff er leise durch die Zähne … Das wäre ja vielleicht eine Möglichkeit, dachte er, Gisela trotz allem noch zu erringen. Freilich – sehr ehrenwert war es ja nicht, ein Weib durch derlei Mittel sich zu erobern … Aber – besser so, als gar nicht …! Die Gisa gönnte er nun einmal keinem andern, am wenigsten diesem hergelaufenen Kaufmann, der schließlich doch nur infolge seiner Millionen Zutritt zu der Sornower und Altstädter ersten Gesellschaft erhalten hatte.

Hier wurde Franzalans Denken durch den Eintritt des Burschen unterbrochen.

Friedrich klappte die Hacken zusammen, pflanzte sich neben der Tür auf und antwortete auf den ihm zugeworfenen Blick:

„Zur Stelle, Herr Rittmeister!“

„Gut, – komm näher … Halt, vorher ziehe den Vorhang vor die Tür, – so. Und nun – was hast du ausgerichtet. Sprich aber leise. Du weißt – der Franz macht gerne lange Ohren.“

Jedenfalls fiel der verlangte Bericht wieder teilweise recht humoristisch aus, und manche Redensart von ausgesuchter „Berlinscher“ Eigenart entlockte Franzalan ein leises Lächeln, worauf Friedrich allerdings auch wie ein Komiker von Beruf rechnete. – Als Mieske mit der Schilderung seiner Erlebnisse am Liebestempel zu Ende war, fragte der Rittmeister lebhaft …

„Die Dame war also bereits in dem Aussichtspavillon, als der Amerikaner ihn, von den Dünen aus die Treppe benutzend, betrat? – So, – gut, dann habe ich richtig verstanden. – Und nun – hast du sie erkannt, – wenigstens soweit, daß du eine Vermutung aussprechen kannst, wer es gewesen ist …?“

„Herr Rittmeister werden sicher über meine Antwort mächtig erstaunt sein,“ erklärte Mieske. „Ich habe ja nur das Profil der Dame gegen den rötlichen Abendhimmel gesehen, aber trotzdem könnte ich einen Eid schwören, daß es … Fräulein von Burgstätt war.“

Franzalan biß sich auf die Lippen. Fast wäre ihm ein „Also wirklich!“ entschlüpf. Und dann sagte er kopfschüttelnd …

„Unsinn, Friedrich! Wie kommst du auf die Idee!! … Fräulein von Burgstätt – einfach ausgeschlossen! Im Profil gleichen sich viele Weiber. Außerdem – du weißt ja! – im Dunkel sind alle Katzen grau!“

Mieske dachte sich sein Teil und schwieg.

So vergingen ein paar Sekunden. Inzwischen überlegte sich Franzalan, wie er seinem Burschen gegenüber diese heimliche Überwachung des Amerikaners am glaubwürdigsten begründen könne.

„Hör mal, Friedrich,“ begann er dann, „du wirst dich in der nächsten Zeit nun etwas eingehender mit der Person dieses Master Pearmount beschäftigen, verstanden …! Ich habe nämlich starken Verdacht, daß der Amerikaner zu jener Sorte internationaler Abenteurer gehört, die, ohne direkt Hochstapler zu sein, doch gelegentlich mal im Trüben fischen. Kurz, ich will wissen, aus welchem Grunde Pearmount sich gerade in Sornow niedergelassen hat. Am besten wird sein, du beauftragst irgend einen unserer Detektivbureaus mit der Überwachung Pearmounts. Das nötige Geld steht dir zur Verfügung. Jedenfalls muß ich hierbei ganz aus dem Spiele bleiben. Damit du aber siehst, welches Vertrauen ich dir entgegenbringe, will ich dir mitteilen, daß der Amerikaner sehr hoch spielt und ich ihm beizeiten das Handwerk legen möchte, ehe er hier ein paar Herren ruiniert hat. Weiß ich erst mit Bestimmtheit, was er treibt, mit wem er so im Geheimen verkehrt usw., so ist es mir ein Leichtes, ihm den weiteren Umgang in unseren Kreisen unmöglich zu machen. – So, und nun kannst du gehen. – Gute Nacht!“

* * *

Vierzehn Tage sind seit den zuletzt geschilderten Ereignissen ins Land gegangen. Die ersten Augusttage hatten nach der fast tropischen Hitze der zweiten Julihälfte Sturm und Regen und eine erhebliche Abkühlung gebracht. In Sornow stand das Wasser in großen Pfützen auf den Promenadenwegen, die Sandburgen am Strande hatte der Wind zu kaum noch erkennbaren Höhlungen zusammengeweht, und die Flaggenmasten mit den Fahnen und bunten Wimpeln daran lagen umgeworfen auf dem feuchten Seesande, der es niemandem, der sich nicht gerade eine Erkältung holen wollte, gestattete ihn wie vorher als weiches und warmes Ruhelager zu erwählen. Die Kurgäste, und deren zählte Sornow auch jetzt noch einige fünfzehntausend, saßen entweder in den geschützten Glasveranden des Kurhauses oder prominierten, in wasserdichte Mäntel und Umhänge gehüllt, auf dem Seestege und bewunderten das packende Schauspiel der tobenden, sich überstürzenden Wogen, die das Gebälk des langen Holzbaues unaufhörlich unter ihrem Anprall erzittern ließen. –

Landrat von Burgstätt kam soeben von einer Sitzung der Badeverwaltung aus dem Sornower Rathause und strebte nun mit eiligen Schritten dem eigenen Heim zu. Das fast noch immer schön zu nennende Gesicht des Geheimrats hatte in der letzten Zeit eine auffallende Menge neuer Falten und Fältchen erhalten, und selbst der aufrechte, energische Gang war müde und schleppend geworden. Schwere, nicht zu beseitigende Sorgen quälten den stattlichen Mann, dessen Schläfenhaare ebenfalls seit einiger Zeit einen deutlichen weißen Schimmer angenommen hatten.

Zu Hause angelangt, entledigte Burgstätt sich eilig seines langen Gummimantels und betrat dann sein neben den Diensträumen gelegenes Arbeitszimmer. Auf dem Schreibtisch fand er neben mehreren amtlichen Sachen auch einen Brief, dessen Adresse von ziemlich ungelenker Hand geschrieben war.

Der Geheimrat schreckte leicht zusammen, als er die Schrift erkannte. Mit einem verzweifelten Seufzer nahm er ihn in die Hand. Unschlüssig starrte er auf die Aufschrift. Dann schnitt er den Umschlag kurz entschlossen auf.

„Einmal muß es ja sein,“ sagte er halblaut. „Das Drama nähert sich seinem Ende. Auch die Hoffnung auf den reichen Schwiegersohn hilft jetzt nichts mehr.“

Und nun überflog er hastig den Inhalt des billigen Briefbogens. Während des Lesens trat in sein Gesicht der Ausdruck ungläubigen Staunens.

„Das muß aufgeklärt werden – sofort!“ murmelte er darauf, schob den Brief in die Tasche und nahm den Hörer des Tischtelephons in die Hand.

„Hier Landrat von Burgstätt. – Bitte, mich sofort mit Altstadt zu verbinden. Dringendes Gespräch. – So die Leitung ist gerade frei. Trifft sich ja sehr günstig.“

Nach einer Weile meldete sich das Hauptamt in Altstadt.

„Bitte 928 –, ja … 928.“

Gleich darauf meldete sich der Angerufene.

„Hier Samuel Pinschewer, Kommissionsgeschäft.“

„Geheimrat von Burgstätt … – Sagen Sie mal, Pinschewer, was zum Teufel hat denn Ihr heutiger Brief zu bedeuten? Ich werde daraus nicht recht klug. Sie teilen mir da kurz mit, daß ein Herr meine sämtlichen Wechsel, die übermorgen fällig sind, zum vollen Preis aufgekauft hat, sogar den letzten meines Sohnes dazu? Was heißt das …? Wer ist der Herr? – Ich kann dadurch ja in eine fatale Klemme geraten! Denn wenn der Betreffende sich nun auf eine Prolongation nicht einläßt, zu der Sie doch sicherlich nochmals zu bewegen gewesen wären, so … so bin ich einfach ruiniert, verliere meine Stellung, alles – alles …!! Wie konnten Sie nur so rücksichtslos sein und auf das Geschäft eingehen, ohne mich vorher zu verständigen?!“

Burgstätts Stimme war recht erregt geworden.

Die Antwort ließ eine Weile auf sich warten.

Dann sagte Herr Pinschewer merklich kühleren Tones durch den Apparat …

„Was heißt rücksichtslos?! Habe ich bei den Darlehen nicht stets eine Langmut bewiesen, die ein anderer nie mit Ihnen gehabt hätte …! Und nun sollte ich womöglich noch, da endlich Aussicht vorhanden war, daß ich wieder zu meinem Gelde kam, erst großartig anfragen, ob Sie auch einverstanden wären …? – Wir wollen uns doch keine Komödien vorspielen, Herr Geheimrat! Wie es mit Ihren finanziellen Verhältnissen steht, weiß ich leider erst seit einem Monat. Hätte ich mir früher die genügenden Informationen besorgt, niemals würde ich vor nunmehr drei Wochen Ihnen nochmals eine Frist zur Begleichung der fünf Wechsel bewilligt haben, niemals! Fünfunddreißigtausend Mark sollte ich verlieren – – noch schöner! Im übrigen geht mich die ganze Geschichte jetzt nichts mehr an. Ich bin auch zur Zeit sehr beschäftigt und …“

Burgstätts Gesicht verzerrte sich vor Wut. Eine so unverschämte Sprache hatte dieser Halsabschneider sich ihm gegenüber noch nie erlaubt. Aber … er mußte schweigen, durfte den Mann nicht reizen … – Und so unterbrach er denn Herrn Samuel Pinschewers letzten Satz mit einem ängstlich klingenden … „Bitte – bleiben Sie noch am Apparat. Nur noch einen Moment. Also – wenn Sie mich wirklich für so unsicher halten, Pinschewer, weshalb haben Sie denn meinem Sohne noch vor zehn Tagen die neuntausend Mark ohne viele Umstände auf Wechsel gegeben, warum …?“

Wieder dauerte es ein paar Sekunden, bevor der Geldverleiher erwiderte:

„Darüber gebe ich keinen Aufschluß, Herr Geheimrat, besser, – ich darf es nicht.“

„Zum Kuckuck – wer hat es Ihnen denn verboten? Und wer ist nun der Herr, der die Wechsel gekauft hat? Oder sollen Sie auch darüber schweigen?“

„Allerdings – soll ich! Ich habe Ihnen nur mitzuteilen, was in meinem Briefe steht, – nichts weiter. Der Betreffende wird sich schon bei Ihnen melden …“

„Pinschewer, Sie müssen mir …“

Aber Samuel Pinschewer hatte drüben in Altstadt schon die Verbindung unterbrochen.

Mit einem unterdrückten Fluch hing der Geheimrat den Hörer auf die Nickelstützen zurück und begann dann eine erregte Promenade durch das Zimmer. Aber so sehr er sich auch den Kopf zermarterte – eine Erklärung für diese unglaubliche Geschichte fand er nicht. Wer hatte in aller Welt nur ein Interesse daran, diese recht unsicheren Forderungen zu erwerben, … wer, wer?! Wer wäre so leichtsinnig gewesen, die Wechselsummen nebst den beträchtlichen Zinsen zu bezahlen, wenn er nicht eine bestimmte Absicht mit dieser gewagten, nein geradezu verrückten Spekulation verband? –

Je länger Burgstätt über all das nachdachte, desto wirrer wurde es ihm im Kopf. Irgend etwas steckte hinter dieser Geschichte – aber was, was …?! –

Kein Wunder, daß der Geheimrat bei der Mittagstafel recht zerstreut war und zu der Unterhaltung nicht gerade viel beitrug.

Desto vergnügter war Gisela, die mit leuchtenden Augen erzählte, daß Master Pearmount am Nachmittag mit seiner von dem Altstädter Segelklub gekauften Jacht „Ariadne“ einen Ausflug nach den Sandbänken von Purwall machen wolle, wozu er vor einer Stunde die Familie Burgstätt eingeladen habe.

„Nicht wahr, Papa, – wir nehmen doch teil?“ bat sie eifrig. „Pearmount – Master Pearmount,“ verbesserte sie sich schnell, „hat bereits allerlei guten Proviant an Bord schaffen lassen, so daß wir in der Kajüte zu Abend essen können. Es wird sicher sehr interessant – sehr. Auf den Purwaller Sandbänken sollen jetzt ganze Scharen von Seehunden anzutreffen sein, und Master Pearmount nimmt auch seine Büchse mit …“

Aber der Geheimrat schüttelte ablehnend den Kopf.

„Kind, bei dem Wetter …!“ meinte er achselzuckend. „Da hört jedes Vergnügen auf.“

„Wetter, Papa?! – Aber hast du denn gar nicht bemerkt, daß seit zwei Stunden die Sonne scheint und alles Gewölk verschwunden ist, was ja auch nach dem Stande des Barometers vorauszusehen war?“

„Wirklich? Mama …?“ Herr von Burgstätt schaute durch die breiten Fenster des Speisezimmers in den Park hinaus. „Wahrhaftig – Sonnenschein … Das ist mir total entgangen.“

Gisela lachte herzlich.

„Papa, mußt du aber auch eifrig gearbeitet haben! Das nicht zu sehen! Fast ein Verbrechen; wenn es vorher drei Tage lang ununterbrochen gegossen hat!“

Der Geheimrat seufzte verstohlen. Was wußte Gisa von seinen Nöten …! – Laut aber fügte er hinzu …

„Wirklich, Kind, ich bin nicht in der Stimmung um die Partie mitzumachen. Vielleicht ist Mama aber so freundlich und …“

„Ich – ich, die so leicht seekrank wird, auf eine Segeljacht – niemals!“ unterbrach die Geheimrätin schnell ihren Gatten. „Nein – ich muß danken. Mithin wirst auch du auf die Ausfahrt verzichten müssen, Kind. Denn ohne eine Anstandsperson kannst du natürlich den Amerikaner nicht begleiten.“

Frau von Burgstätt war recht froh, daß die Einladung nur schon aus diesen Gründen abgelehnt werden konnte. Ihre Ansicht über Pearmount war inzwischen in keiner Weise eine andere geworden. – Aber sie hatte die Rechnung ohne die Findigkeit ihrer Tochter gemacht.

Gisela mochte sich die um keinen Preis entgehen lassen. Und so sagte sie denn schnell …

„Hans-Günter ist nachmittags dienstfrei, wie er gestern beiläufig erwähnte. Ich werde ihn antelephonieren. Er tut mir sicher den Gefallen und begleitet mich. Zu dieser Zeit ist er immer im Kasino anzutreffen. Und dann kann er in spätestens ein und einer halben Stunde bei uns sein. – Wie denkst du darüber, Papa?“

Der Geheimrat nickte zerstreut. „Meinetwegen … Ich glaube aber, Hans-Günter ist kein großer Freund von Wasserfahrten.“

Frau von Burgstätt enthielt sich jeder weiteren Äußerung. Auch heute sah sie sich wieder geschlagen. Sie hatte ja keinen weiteren Grund, ihrer Tochter die Teilnahme an dem Ausfluge zu verbieten. Das Verderben – denn eine innere Stimme sagte ihr, daß diese ihr längst offenbar gewordene Neigung Giselas zu dem Amerikaner für ihr Kind nichts gutes bringen würde – nahm nun einmal seinen Lauf. –

Gisela aber hatte keine fünf Minuten später von ihrem Bruder die Zusage erhalten, daß er sich pünktlich am Seestege einfinden werde, wo Pearmounts Gäste an Bord der „Ariadne“ gehen sollten.

 

8. Kapitel.

Hans-Günter, der in seinem weißen Flanellanzug ausgestreckt auf dem tadellos sauber gescheuerten Deck der „Ariadne“ lag und sich in dem warmen Nachmittagssonnenschein unbehaglich fühlte, ließ das Fernglas soeben sinken.

„Die Sandbänke sind schon ganz deutlich zu sehen,“ sagte er zu Pearmount, der neben Gisela am Steuer der schlanken Zwölfmeterjacht saß. „Ich hätte nie gedacht, daß die Altstädter Bucht ein gar so entlegenes romantisches Inselchen besitzt. Denn eigentlich ist Sandbank doch eine unrichtige Bezeichnung für diese sogar mit spärlicher Vegetation bedeckten Inselchen. – Sind Sie eigentlich schon mal hier draußen gewesen, Pearmount?“

„Freilich. Sogar schon drei Mal. Stets um Seehunde zu schießen.“

Gisela hatte das Fernrohr an sich genommen und schaute angestrengt nach vorwärts aus, wo jetzt auch schon mit bloßem Auge über der leicht bewegten Wasserfläche einige niedrige Eilande zu bemerken waren.

Hans-Günter hatte sich zu sitzender Stellung aufgerichtet. Mit halb zugekniffenen Augen blickte er nach Ost, wo über der scharfen Horizontlinie, die Wasser und Himmel trennte, eben ein weißes Wölkchen aufgetaucht war, das sich nun zusehends vergrößerte.

„Merkwürdiges Gewölk, Pearmount, – dort, – nicht wahr? Wie schnell der graue Wolkenfetzen sich nach oben ausdehnt. Habe etwas ähnliches noch nie beobachtet, obwohl ich doch an der „Waterkant“ groß geworden bin.“

Der Amerikaner und Peter Struw drehten wie auf Kommando die Köpfe. Pearmount schaute eine Weile schweigend auf den östlichen Horizont, der jetzt schon von einer dunklen Wolkenbank umlagert war. Dann fragte er den Bootsmann, wobei er sich Mühe gab, die ihn peinigende Unruhe nicht durch den Ton seiner Stimme zu verraten …

„Auf dem Starlata-See in Florida, wo ich das Segeln lernte, nannten wir eine solche Wolkenbildung, die nach oben strahlenförmig im Handumdrehen wächst, eine Shorp , und so nennen auch die englischen Seeleute einen plötzlich aufziehenden Orkan, der infolge starker Gewitterbildung entsteht – was meinen Sie, Struw, ob wir die Segel reffen?“

Peter Struw spukte wieder eine Saftladung über Bord, nahm die braunen Riesenfäuste aus den Taschen seiner weiten, blankgescheuerten, vormals blau gewesenen Beinkleider und knurrte etwas in seinen struppigen Vollbart, das wie „Verdammte Geschicht!“ klang. All seine Trägheit war verflogen. Hurtig hantierte er an den Trossen, unterstützt von Pearmount, der ihm zuweilen ein leises Wort zuflüsterte. Inzwischen bediente Hans-Günter das Ruder.

Die Jacht lief jetzt nur noch vor dem Großsegel. Alles andere Zeug war geborgen. Es wurde nun auch mit jeder Minute dunkler und dunkler. Die Sonne war nur noch im Westen wie ein milchiger, heller Fleck sichtbar.

Auch dem jungen Leutnant ging jetzt eine Ahnung auf, daß die Situation für die Teilnehmer dieser Vergnügungsfahrt etwas ungemütlich geworden war.

„Pearmount, – weiß der Teufel, – aber der Himmel und auch die See gefallen mir nicht mehr recht. Die Luft hat so eine fatale gelbliche Couleur angenommen und das Meer schaut wie Tinte aus. – Seien Sie ehrlich, auch Ihnen behagt das Wetter nicht recht …“

Der Amerikaner, der wieder neben Gisela auf der Steuerbank saß, zögerte mit der Antwort.

Die Elemente waren es, die ihn einer Erwiderung überhoben. Denn plötzlich schlug das bisher noch straff gefüllte Großsegel träge hin und her. Jeder Lufthauch hatte aufgehört. Nur das leise Rauschen der Wellen und das Plätschern der Wasser an dem glatten Leib der Jacht waren noch vernehmbar.

Und in diese Ruhepause der frischen Brise, die bis jetzt geherrscht hatte, tönte Peter Struws rauhe Grogstimme warnend hinein …

„Hier her, Master Pearmount, – fix, – noch zwei Reffs in das Segel – schnell! Sonst holt uns alle der Düwel …!“

Pearmount war schon bei ihm. Fieberhaft arbeiteten sie … Auch Hans-Günter, der jetzt die ganze Größe der Gefahr erkannt hatte, half ihnen, während Gisela die Ruderpinne in den Händen hielt. Nur hin und wieder ein kurzer Zuruf zwischen den drei Männern. Fast waren sie fertig – fast …

Da eben kams über die See dahingefegt wie ein Hagelschauer. Das Wasser kräuselte sich förmlich, die Wogen tanzten wie unschlüssig hin und her. Gleich darauf ein heulender Laut, der sofort in ein dumpfes Brausen überging. Der Orkan war da …

Weit neigte sich die „Ariadne“ nach Steuerbord über, richtete sich nochmals auf, tauchte den Bug tief in die schwarze See und lag dann in spitzem Winkel fest, durch das Wasser dahinpflügend wie ein durchgehender Renner.

Zum Glück hatte Pearmount noch im letzten Moment mit wenigen Sätzen die Ruderbank erreicht und das Ruder umklammert, um die Jacht richtig vor dem Winde zu halten. Giselas schwachen Kräften wäre dies nie gelungen. –

Die vier Menschen atmeten auf. Die ärgste Gefahr schien vorüber.

Aber dann kam der erste Spritzer über Bord. Eine hohe Welle rollte heran und wie eine Eimerladung ergoß es sich auf Giselas weißes Tuchkostüm, über ihre ganze Gestalt. Die Sachen klebten ihr am Körper.

„Hinunter in die Kajüte,“ schrie Pearmount, „hinunter … schnell! – Hans-Günter, halten Sie Ihre Schwester …!“

Wieder eine Riesendusche, die das ganze Deck unter Wasser setzte. Der Amerikaner schüttelte sich wie ein nasser Pudel. Als er die Augen wieder öffnen konnte, waren die Geschwister verschwunden. Die elegante, ziemlich geräumige Kajüte hatte sie schützend aufgenommen. –

Der Wind nahm an Stärke in jeder Sekunde zu. Jetzt kam Peter Struw auf allen Vieren vom Vorschiff über das Deck dahergekrochen. Er hatte in seiner Koje schnell den Ölanzug übergeworfen und wollte nun Pearmount am Steuer ablösen.

„Halten Sie mehr in den Wind, Master,“ brüllte er, noch drei Schritt von seinem Herrn entfernt, da die „Ariadne“ bereits beängstigend schräg lag und das Wasser die Drahtreling auf Steuerbord ständig überspülte. „Mehr in den Wind, Master …!“

Zu spät … Mit einem Knall rissen sämtliche Reffschnüre des Großsegels, die beiden Reffe fielen aus und boten dem Sturm eine neue Angriffsfläche. Noch weiter holte die „Ariadne“ über. Zu groß war der Druck geworden, obwohl Pearmount mit aller Macht das Ruder drehte, um die Jacht mehr vor dem Winde laufen zu lassen. Ein Krachen, ein Splittern – der Mast knickte etwa ein halb Meter über Deck um und ging mit allem Zeug über Bord.

Fast gleichzeitig erschütterte ein schwerer Stoß das havarierte Fahrzeug, das jetzt ein willenloser Spielball der Elemente war. Zwei mächtige Sturzseen gingen über die Jacht hin, die ohne Frage auf Grund aufgelaufen festsaß. Alles rissen sie mit fort, was nicht niet- und nagelfest war. Aber sie hatten auch wieder ein Gutes, diese beiden Wellenberge, da sie die „Ariadne“ über die Untiefe hinweghoben. Zum Glück hatten Pearmount und Struw sich noch im letzten Moment an der Ruderpinne festklemmen können, sonst wären sie unfehlbar mit über Bord gegangen.

Im Kajütenraum schwappte schon jetzt das Wasser einen Fuß hoch. Den Geschwistern, die mit schreckensbleichen Gesichtern in der niedrigen Tür standen, rief Pearmount ein verzweifeltes „Ausschöpfen – ausschöpfen!“ zu.

Hans-Günter zeigte in dieser schrecklichen Situation eine Kaltblütigkeit, die niemand dem jungen Offizier zugetraut hätte. Blitzschnell hatte er aus dem einen Wandschrank zwei Eimer herausgeholt, und er und Gisela, beide bis auf die Haut durchnäßt, handhabten die geräumigen Gefäße in wahrem Feuereifer zu ungewohnter Arbeit. Oft genug wurden sie dabei, wenn die steuerlos dahintreibende Jacht wild hin und hergeworfen ward, gegen die Wände geschleudert. Doch sie bissen die Zähne zusammen, und Eimer auf Eimer des eingedrungenen Wassers ergoß sich in die kochende See.

Indessen hatten die beiden anderen mit Hilfe eines Handbeiles die Drahttaue, die den Mast noch mit dem Fahrzeug verbanden, zerstört. Von der auf Steuerbordseite liegenden Last des Mastes und des schweren, nassen Segels befreit, richtete die „Ariadne“ sich wieder etwas auf. Trotzdem blieb die Situation für die Schiffbrüchigen noch mehr als bedenklich. Die kleine Rettungsjolle, die die Jacht im Schlepptau mit sich geführt hatte, war von den Sturzseen gefüllt worden und dann bei einer neuen besonders hohen Woge, nachdem das Tau gebrochen war, in dem Wellengischt verschwunden.

Um das Unheil noch zu vergrößern, setzte nun plötzlich auch ein starker Regen ein, der es unmöglich machte, die Umgebung auch nur auf wenige Meter zu überblicken. Dennoch wußte Pearmount nur zu genau, daß der Orkan, der langsam nach Süd gedreht hatte, die „Ariadne“ gerade auf die Sandbänke von Purwall zutrieb. Schon jetzt hörte man deutlich von vorwärts das Donnern einer starken Brandung, – von dort, wo die Wogen sich an den flachen Inseln mit Getöse überstürzten …

Der Amerikaner stieg nun gleichfalls, nachdem er sich mit Peter Struw kurz beraten hatte, in die Kajüte hinab, wo die Geschwister völlig erschöpft auf einer der Polsterbänke nebeneinander saßen. In seinem ehernen Gesicht war ein Ausdruck schmerzlichen Bedauerns, als er nun auf die beiden Kinder des Geheimrats von Burgstätt blickte, die durch seine Schuld in diese verhängnisvolle Situation geraten waren. Von all den finsteren Plänen, die noch wenige Stunden vorher sein irregeführtes Herz erfüllt hatten, war nichts, nichts mehr in seiner Seele vorhanden. Diese halbe Stunde, in der er das Leben dieser beiden Menschen, die, blindlings vertrauend, seine Gäste auf der „Ariadne“ geworden waren, so schwer bedroht sah und wo er selbst dem Tode sich nahe wußte, hatte mit einem Schlage ihm die Augen geöffnet. Wie ein Erwachen aus schwerem Traum war es vorhin gewesen, als er mechanisch mit dem scharfen Beil die Drähte zerschnitt, während sein Denken blitzgeschwind sein ganzes bisheriges Leben an seinem geistigen Auge vorüberziehen ließ … „Nein, nie und nimmer vollende ich das, was mir noch unlängst als meines Lebens erstrebenswertes Ziel erschien, – nie und nimmer!“ schrie eine bessere Stimme in seinem Herzen. „Ein Wahnsinn war dieses ganze Unterfangen, ein Verbrechen von Anfang an. Wie ein verblendeter Tor hast du dich in Gedanken hineingesponnen wie in ein dunkles Netz, die deinem ganzen Wesen, deinem Charakter fremd waren, – unter einer Suggestion stehend, ließest du dich vorwärts treiben, spannst du das finstere Garn, um darin eine ganze Familie zu vernichten … Wahnsinn war’s, – mehr als das, ein lästerlicher Frevel …!“

Zum letzten Schlag fiel das Beil. Das Drahttau sprang, der Mast mit den Segeln trieb davon. Und im gleichen Augenblick verschwand auch aus Archibald Pearmounts Seele alles Finstere, Dunkle. Licht wurde es darin. Der böse Zauber war gewichen … –

„Pearmount, wie steht’s?“ fragte Hans-Günter, indem er sich schnell erhob und auf den anderen zutrat.

Der zuckte die Achseln. „Wir müssen hoffen, daß wir durchkommen,“ meinte er. Und fügte schnell hinzu, indem er auf Gisela deutete, die in ihren nassen Kleidern vor Kälte bebte: „Da in dem Schränkchen steht eine Flasche Kognak. Geben Sie Ihrer Schwester davon … Und dann – ich werde die Rettungsringe hervorsuchen. Wir haben fünf an Bord. Sicher ist sicher. Legen wir sie sofort an. Nein … wir treiben nämlich auf die Purwall-Riffe zu, und … und die Jacht wird wohl in Trümmer gehen in der Brandung …“

Gisa schnellte empor. Das feuchte Haar hatte sie aus der Stirn gestrichen. Ihre Augen hingen an Pearmount, der ihren fragenden Blicken auszuweichen suchte.

„Archibald – sag’ mir die Wahrheit!“ rief sie, die Rücksicht auf ihr zartes Geheimnis vollständig vergessend. „Wir schweben in Lebensgefahr … Sei aufrichtig!“

Ein neue, heftige Bewegung der Jacht warf sie förmlich in seine Arme. Sie umklammerte seinen Hals, drängte sich an ihn …

„Archi – dann will ich mit dir zusammen sterben,“ flüsterte sie. „Archi – Küsse mich … Ich fühl’s, daß wir nur noch kurze Zeit uns haben werden … Ich liebe dich, Archi, unendlich, unendlich … In dieser Minute sag ich dir’s nochmals …“

Hans-Günter war diskret in die Tür getreten. Also so standen die beiden miteinander, so …! Und nun drohte ihnen das Ende …! Und beide so jung, so jung …! Ein heißes Würgen stieg ihm in der Kehle hoch. Unendliches Erbarmen mit der Schwester, mit deren Liebesglück erfüllte ihn. An sich selbst dachte er nicht …

Die zwei aber standen selbstvergessen da, Lippe auf Lippe gepreßt …

„Archi, liebst du mich ebenso wie ich dich …! Sag’s mir, daß mir das Sterben leicht wird …“

In unendlicher Zärtlichkeit schaute sie ihn an.

Und da rang es sich los aus seiner Brust wie ein Ruf der Erlösung …

„Ich liebe dich, Gisa. Wie sehr, das ist mir eben erst klar geworden. Etwas Anderes trieb mich einst zu dir, etwas Böses, Schlechtes … Und doch schlummerte darunter, wie verborgen unter häßlichen Schlacken, das edelste der Gefühle. Das weiß ich jetzt … Ich liebe dich, Gisa – ich liebe dich!“

Wirklich wie ein Jubelruf waren die letzten Worte …

Kaum verhallt, ertönte von oben Peter Struws harter Baß:

„Die Rettungsgürtel, Herr …! Die Brandung ist da …!“

 

9. Kapitel.

„Bitte Herr Rittmeister, – nehmen Sie Platz. Mein Mann wird sofort erscheinen.“

Frau von Burgstätt wies auf einen der Korbsessel, die an dem schmiedeeisernen Balkongitter standen.

„Ich störe doch hoffentlich nicht, verehrteste Frau Geheimrat,“ meinte Egon v. Franzalan etwas verlegen.

„Oh, keineswegs, Herr Rittmeister …“

Franzalan setzte sich. In seinen Bewegungen war heute etwas merklich Unsicheres. Der Geheimrätin entging das nicht. – Was mochte er wollen …? Wieder ahnte sie irgend eine unangenehme Nachricht. Franzalan war so merkwürdig heute …

Die Unterhaltung drehte sich zunächst um völlig gleichgültige Dinge. Die Geheimrätin erzählte, daß Hans-Günter und Gisela mit Master Pearmount eine Segelpartie machten, worauf der Rittmeister nur mit einem sehr kühlen fast bedauernden „So, so …“ antwortete. Immerhin betonte er diesen harmlosen Zwischenruf so seltsam, daß Frau von Burgstätt ihn prüfend anblickte und dann fragte:

„Wie gefällt Ihnen eigentlich der Amerikaner, Herr v. Franzalan?“

Dieser wurde jedoch fürs erste durch den Eintritt Herrn von Burgstätts einer Antwort überhoben.

Nachdem die Herren sich begrüßt und wieder Platz genommen hatten, begann der Rittmeister zögernd …

„Sie hatten da soeben an mich eine Frage gerichtet, verehrteste gnädige Frau, auf die ich Ihnen die Antwort noch schuldig bin. Diese Frage kann nun gleich den Übergang zu der Erklärung bilden, die ich Ihnen und Ihrem Gemahl über den Zweck meines Besuches geben muß. Mit einem Wort: Wegen dieses Master Pearmount komme ich zu Ihnen.“

Das Ehepaar blickte erstaunt auf. In Frau von Burgstätts Gesicht machte sich aber neben dem Ausdruck der Verwunderung noch der einer erhöhten Unruhe bemerkbar. – Und dann sagte der Geheimrat mit zweifelndem Kopfschütteln …

„Wirklich wegen des Amerikaners …? Da bin ich doch gespannt, Herr Rittmeister, was Sie mir mitzuteilen haben.“

Franzalan ließ durch ein Hochziehen der Augenbrauen das an einer dünnen Seidenschnur hängende Monokel fallen. Leicht wurde es ihm nicht, das vorzubringen, was er dem Ehepaar Burgstätt pflichtgemäß anvertrauen mußte. Spielte er selbst doch bei dieser ganzen Sache eine Rolle, die ihm recht unbequem war. So ließ er sich denn auch einige Sekunden Zeit, bevor er die notwendigen Erklärungen abgab.

„Herr Geheimrat,“ begann er etwas unsicher, „ich muß ziemlich weit ausholen, um Ihnen ein klares Bild von Master Pearmounts Person und Vergangenheit – darum handelt es sich hier – geben zu können.“

„Pardon, Herr Rittmeister,“ unterbrach Burgstätt ihn mit merklicher Reserviertheit, „ich verstehe nur nicht recht, weswegen Sie die Vermutung hegen, daß gerade uns die Vergangenheit des Millionärs so sehr interessieren könnte, daß Sie besonders zu dem erwähnten Zweck uns aufgesucht haben. Wir stehen ja allerdings mit Master Pearmount im Verkehr, aber im Übrigen ist seine Person uns vorläufig doch recht gleichgültig.“

Franzalan machte ein betretenes Gesicht, klammerte sich aber geschickt an das eine Wort, das der Geheimrat in seinen Satz halb unbewußt, eingeflochten hatte.

„Sie sagten soeben, daß Pearmounts Person Sie „vorläufig“ nicht interessiert,“ meinte er mit leichter Verbeugung. „Aus diesem „vorläufig“ läßt sich schließen, daß die Möglichkeit immerhin vorliegt, dieses Interesse könnte doch einmal größer werden. Und mit der Möglichkeit rechnete auch ich.“ – Er machte eine kleine Pause, um dann energischer fortzufahren … „Es hat keinen Zweck, hier um Tatsachen ängstlich herumzureden, Herr Geheimrat. Lassen Sie mich ganz offen sein. Eigentlich hoffte ich, um das, was ich nun mitteilen werde, irgendwie herumzukommen. Aber ich sehe ein – es geht nicht. Außerdem ist es mir selbst als Strafe auch ganz dienlich, vor Ihnen Charakterschwächen meines eigenen Ichs aufzudecken, die in das Gesamtbild eines Offiziers nicht hineinpassen. –

Sie wissen ohne Frage ebenso wie Ihre Frau Gemahlin, Herr von Burgstätt, daß ich Ihr Fräulein Tochter mir seit gut einem halben Jahr zu erringen trachte, daß ich sie umworben habe und noch umwerbe, wenigstens bis vor kurzem – freilich ohne jeden Erfolg. Man sagt, Eifersucht schärfe den Blick. Das traf bei mir wirklich zu. Bald nach dem Auftauchen Pearmounts hier in Sornow merkte ich, daß dieser offenbar bedeutend mehr Chancen bei Fräulein Gisela hatte, als ich. Als wir nun damals beim Doppelkonzert auf der Weinterrasse saßen, taute Ihr Fräulein Tochter erst in demselben Moment auf, als Pearmount sich zu uns setzte. Dieser Umstand und einige weitere an sich belanglose Beobachtungen an jenem Tage verführten mich nun zu einem Schritt, den ich sehr bald bereute: Ich ließ den Amerikaner heimlich überwachen, da ich hoffte, auf diese Weise genug Ungünstiges über ihn zu erfahren, um ihn als Bewerber um die Hand einer Dame der besten Gesellschaftskreise verdrängen zu können. –

Ich weiß, wie unwürdig dies Verfahren meiner war. Aber die Eifersucht hat auch kühlere Naturen als ich es bin, häufig zu törichten Streichen verleitet. Jedenfalls wollte ich bereits nach einigen Tagen diese Beobachtung Master Pearmounts wieder einstellen lassen. Als ich aber einen dahin abzielenden Auftrag gab, erfuhr ich zu meinem großen Erstaunen so mancherlei von meiner Vertrauensperson, was mit einem Mal einen Verdacht gegen den Amerikaner in mir aufkommen ließ. Kurz, dessen Person schien mir jetzt derartige Maßregeln vollauf zu verdienen. Denken Sie, Herr Geheimrat, – Pearmount hat z.B. öfters in Altstadt Zusammenkünfte mit dem berüchtigten Darlehnsgeber Samuel Pinschewer gehabt, ferner auch mit dem bekannten Totalisator-Meyer, der in Offizierskreisen viel zu allerhand kleinen Geschäftchen gebraucht wird. Während Master Pearmount aber mit Meyer sozusagen öffentlich verkehrte, d. h. ihn ohne Scheu in seiner Behausung aufsuchte, traf er sich mit dem gefährlicheren Pinschewer stets in einem Vorstadtlokal, wo die beiden dann in einer Ecke flüsterten, rechneten und Banknoten austauschten. Jedenfalls wurde durch diese Vorfälle in mir der Gedanke wachgerufen, Pearmount könnte vielleicht lediglich ein Abenteurer sein, der nur nach Sornow gekommen war, um irgendwie im Trüben zu fischen, – ein Verdacht, der doch angesichts des Verkehrs mit diesen beiden ziemlich fragwürdigen Ehrenmännern einige Berechtigung hatte.

Ich beruhigte also mein Gewissen und ließ alles beim Alten, d. h., der Amerikaner wurde, ohne daß er es ahnte, weiter ständig beobachtet. Außerdem sorgte ich dafür, daß auch in Florida telegraphisch über ihn Auskunft eingeholt wurde. Hierzu entschloß ich mich aber erst, als mir mitgeteilt worden war, daß verschiedene Anzeichen dafür sprächen, Pearmount müsse fraglos eine Anzahl Sornower Personen schon früher gekannt haben, Personen freilich, die längst gestorben waren, die aber in dem Badeorte hier gelebt und gewirkt haben. Sehr auffallend war z. B. folgendes: Pearmount hat auf seine Kosten das recht verwahrloste Grab eines Sanitätsrats Birnbaum auf dem hiesigen Friedhof mit einem kostbaren Stein und einer Gitterumfassung schmücken lassen. In den Stein aber wurde auf seine Veranlassung die doch recht eigenartige Inschrift eingemeißelt: „Hier ruht der praktische Arzt Dr. Friedrich Birnbaum, ein wahrhaft guter Mensch, dem die, denen er Gutes tat, diese Güte nie vergessen werden.“ –

Nicht wahr, Herr Geheimrat, konnte man hieraus nicht wirklich schließen, daß zwischen Pearmount und dem Verstorbenen irgendwelche Beziehungen bestanden haben müssen? – Und: Der Amerikaner hat ebenso auch drei weitere Gräber auf dem Sornower Friedhof mit seiner liebevollen Sorgfalt bedacht, drei Gräber, die die Überreste der Mitglieder einer Familie enthalten, die kurz hintereinander verstorben sind. –

Mir genügten diese Tatsachen jedenfalls, um die bereits erwähnte Auskunft aus Florida einholen zu lassen. Und diese lautete derart, daß ich mich verpflichtet fühle, sofort zu Ihnen zu kommen, Herr Geheimrat, damit Sie wissen, daß Sie nicht einem Master Archibald Pearmount, sondern einem geborenen Deutschen, einem früheren Mechaniker, Zutritt in Ihr Haus gewährt haben.“

Herr v. Burgstätt, der bereits bei Erwähnen des Namens Samuel Pinschewer die Farbe gewechselt, dann aber wieder schnell seine Erregung unterdrückt hatte, war bei des Rittmeisters letzten Sätzen, besonders als dieser von den drei Gräbern sprach, leichenblaß geworden. Jetzt beugte er sich weit vor und streckte gegen Franzalan wie beschwörend die Hand aus.

„Nennen Sie seinen wahren Namen, schnell, – ich bitte Sie …“

Er hatte alle Selbstbeherrschung verloren, dachte gar nicht daran, daß er sich durch dieses merkwürdige Interesse schon halb verriet, und daß der Rittmeister durch sein Benehmen zu recht treffenden Schlußfolgerungen kommen mußte.

Und so war es auch. Franzalan schaute den Geheimrat jetzt mit Augen an, in denen ein deutliches Mißtrauen schimmerte. Und dann sagte er langsam:

„Archibald Pearmount heißt eigentlich Erwin Distelberg und ist der Sohn eines hier in Sornow verstorbenen Gerichtsvollziehers. Eine Schwester dieses Erwin Distelberg ist durch Selbstmord geendet, und Vater und Mutter sollen aus Gram über den Tod ihres bildhübschen, von einem reichen Herrn verführten Kindes gestorben sein.“

Mit einem ächzenden Laut war Burgstätt in seinen Sessel zurückgesunken.

„Meine Ahnung – meine Ahnung,“ stöhnte er auf und vergrub das Gesicht in beide Hände. Dicke Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, und über seine Gestalt lief es wie ein Zittern hin.

Franzalan hatte im Moment das Richtige begriffen. Er fühlte, daß er in dieser Stunde hier überflüssig war. Und so erhob er sich denn schnell, um sich zu verabschieden.

„Herr Geheimrat, – Sie gestatten, daß ich mich empfehle,“ sagte er mitfühlend. „Ich bedauere aufrichtig, der Überbringer so störender Nachrichten gewesen zu sein. Jedenfalls können Sie überzeugt sein, Herr von Burgstätt, daß ich das, was ich weiß, für mich behalten wer-de, – alles! – Gnädige Frau, auf Wiedersehen!“ –

Das Ehepaar war allein. Wie Gewitterschwüle lag es über den beiden Menschen, die nun bald fünfundzwanzig Jahre mehr neben, als miteinander gelebt hatten. Das wahre Glück hatte Frau von Burgstätt in dieser Ehe ja nicht gefunden, dazu waren ihres Gatten Ansichten über eheliche Treue doch zu leichtfertig gewesen. Schweigend hatte sie gelitten, eine viel zu vornehme Natur, um durch Eifersuchtsszenen den Versuch zu machen auf ihren Gemahl bessernd einzuwirken. So waren die Falten stillen Leides und herber Entsagung um ihren Mund wahrlich nicht grundlos entstanden. –

Minuten vergingen, dann fragte die Geheimrätin leise:

„Gisbert, hast du mir nichts mitzuteilen? Oder meinst du, ich bin so kurzsichtig, daß ich mir nicht zusammenzureimen vermag, weshalb dich dieser Name so erschreckt hat?“

Wieder stöhnte der Geheimrat auf. Sein Gesicht hatte noch immer nicht die aschgraue Färbung verloren. Wie ein müder Greis lehnte er jetzt in dem Sessel, den Blick stier auf den Boden gerichtet. Und müde, tonlos kam es über seine Lippen:

„Die Gespenster der Vergangenheit stehen auf … Wer hätte das geahnt …!“

Da legte sich eine weiche Hand auf sein vornübergebeugtes Haupt. Frau von Burgstätt war leise aufgestanden und neben ihren Gatten getreten.

„Gisbert,“ bat sie mild, „erleichtere dein Herz. Es gibt nichts, das man nicht wieder sühnen könnte, – nichts! Und ich will dir eine liebevolle Beraterin sein und bleiben. Beichte, Gisbert, damit auch diese trübe Stunde uns beiden Gutes bringt.“

Hand in Hand – was lange nicht mehr vorgekommen war – saßen sie nebeneinander. Und er erzählte, lüftete alle Schleier, die jene stürmische Jugendzeit verhüllten, berichtete, wie Marga Distelberg seine Geliebte geworden und dann eines Tages ganz verzweifelt zu ihm geeilt war, wie sie ihn angefleht hatte, ihr zu helfen, – irgendwie, damit die Schande vor ihren Eltern verborgen bliebe.

„Da – da wurde sie mir lästig. Ich vertröstete sie von Tag zu Tag mit allerlei Phrasen, wich ihr gleichzeitig auch aus, um ihre Tränen nicht mehr zu sehen, ihre Vorwürfe nicht mehr zu hören,“ fuhr er im Tone heftigerer Selbstanklage fort. „Und so kam es denn, daß sie sie eines Tages aus dem Wasser zogen – dicht am Seesteg, von dem aus sie sich ins Meer gestürzt hatte. Keine Zeile, kein Abschiedswort hatte sie für mich gehabt. Still und stumm war sie von mir gegangen. –

Die Totenschau brachte die Wahrheit ans Licht. Nun wußte man, weswegen die schöne Marga, die süße Nixe von Sornow, den Tod gesucht hatte, nun fragte man nach dem Schuldigen, dem … Schurken, der diese holde Blüte vorzeitig geknickt hatte. Aber ich war klug gewesen. Nur wenige ahnten, wie der damalige Regierungsassessor zu Marga Distelberg gestanden hatte, niemand wußte etwas Gewisses. Und doch entging ich den Verwandten der Toten nicht. Die Mutter hatte in einer Schublade unter kleinen Andenken ihres toten Kindes auch eine winzige Amateurphotographie gefunden, – das einzige Bild eines Mannes, das die Dahingegangene besaß. Die Frau kannte mich nicht einmal von Ansehen, dafür aber der alte Distelberg desto genauer.

Mit der Photographie kam er zu mir. Ich leugnete. Aber mein schuldbewußtes Gesicht verriet mich. Er wurde grob, drohte mit den Behörden … Da ließ ich ihm durch meinen Diener die Tür weisen. Er war ein vollblütiger Mann, ein wahrer Riese. Noch in heller Wut setzte er sich, daheim angelangt, aufs Rad, um eine dienstliche Sache in einem der benachbarten Dörfer zu erledigen. Auf dieser Fahrt traf ihn der Schlag.

Zwei Tage vor seinem Kinde, das die Gerichte erst später zur Beerdigung freigaben, wurde er begraben. Ich selbst nahm Urlaub und wollte für einige Zeit verreisen. Gerade als ich zwischen meinen gepackten Koffern stand, erschien die Mutter von Marga bei mir, halb wahnsinnig vor Schmerz. Verflucht hat sie mich, geweint, geschrien … Es war eine furchtbare Szene.

Auch ihr gegenüber leugnete ich alles, ja, ich drohte mit einer Beleidigungsklage, nur um sie loszuwerden. Endlich ging sie. Und nach ihr kam jener Dr. Birnbaum. Auch er begann mir Vorwürfe zu machen. Ich ahnte es längst. Er hatte Marga ebenfalls geliebt. Nur anders als ich, reiner, ehrlicher. –

Was sollte ich tun?! Ich ersuchte ihn schroff, mich gefälligst in Ruhe zu lassen. Traurig verließ er mich. –

Ich reiste ab. Als ich wieder in Sornow nach längerer Abwesenheit eintraf, war auch Frau Distelberg gestorben – vor Gram. Ihre Drohung, mich bei der Behörde zu denunzieren, hatte sie nicht wahr gemacht. So ging ich unbeschadet aus dieser Tragödie hervor. – Das ist alles – alles. Ich habe nichts beschönigt, nichts …“

Frau von Burgstätt blickte sinnend in schmerzlichen Gedanken vor sich hin. Und dann sagte sie, wie aus dumpfem Traum erwachend:

„Und nun ist der Bruder dieser Marga Distelberg hier aufgetaucht, hat unseren Verkehr gesucht, hat …“

Da packte der Geheimrat ihren Arm mit hartem Griff. Er ahnte, was sie weiter hinzufügen wollte. Jetzt plötzlich war ihm erst die Erkenntnis für den wahren Grund des Auftauchens Archibald Pearmounts hier in Sornow aufgedämmert. Die Worte seiner Gattin hatten ihn auf die rechte Spur gelenkt. Mit einem förmlichen Ruck fuhr er empor. Sein Gesicht war noch verstörter als vorhin, als er den Namen Distelberg vernommen hatte. Weit die Hände von sich streckend wie gegen einen unsichtbaren Feind würgte er die Worte hervor:

„Der Rächer – der Rächer …! Er will uns verderben! Die Wechsel hat er aufgekauft, er hat mich in der Hand, – nicht nur mich, sondern auch unsere Kinder, Sohn und Tochter … Gisas Liebe erschlich er sich – – vielleicht hat er sie schon ins Unglück gebracht … – Das ist die Vergeltung …!“

Die Geheimrätin preßte, plötzlich aller Fassung bar, die Hände gegen die Schläfen, in denen das Blut so wild hämmerte vor dem Ansturm all dieser Befürchtungen. Die Blicke der beiden Ehegatten, halb irre Blicke, begegneten sich. Mit einemmal war in ihnen derselbe Gedanke aufgeblitzt …

Die Kinder, ihre beiden einzigen Kinder, waren mit dem Amerikaner auf dessen Jacht allein, waren seinen finsteren Plänen machtlos ausgeliefert …

Schon öffnete der Landrat den Mund, um den neuen Schrecken, die ihn bewegten, Ausdruck zu verleihen, als ein heulender Windstoß um das Gebäude fuhr. Ächzend bogen sich die Bäume des Parkes vor dem Orkan, Blätter und trockene Zweige fielen auf den Balkon, eine lose Dachpfanne prasselte polternd herab …

„Auch das noch!“ stöhnte die Geheimrätin. Dann raffte sie sich auf, trat an die Balkonbrüstung und streckte die Hand nach der See hin aus, nach jener Richtung, wo jetzt eine schwarze Wolkenwand den ganzen östlichen Horizont bedeckte.

„Ein Unwetter, Gisbert … Und die Kinder draußen auf offener See in jener Nußschale von Jacht …!“

Der Landrat stierte entgeistert in die Ferne. Er sah die weißen Wogenkämme, hörte die Brandung unten am Strande von Sekunde zu Sekunde stärker wüten … Wie ein Nebel legte es sich über sein Hirn. Unfähig, irgend einen Entschluß zu fassen, verharrte er regungslos.

Da war’s die Frau, die in stillem Gram jahrelang neben ihm her gegangen war, die das Rechte fand.

„Schnell, Gisbert – telefoniere an die Lotsenstation in Altstadt. Ein Dampfer muß hinaus … Richtung der Purwall-Bänke … Schnell – schnell … Vielleicht sind sie noch zu retten, falls dieser Teufel von Amerikaner sie nicht absichtlich ins Verderben führt.“

 

10. Kapitel.

Peter Struws, des Bootsmannes der „Ariadne“, Ruf nach den Rettungsgürteln war um wenige Sekunden zu spät gekommen.

Ein furchtbarer Stoß erschütterte die Jacht, noch bevor Pearmount Zeit fand, der Geliebten den Schwimmgürtel überzustreifen. Gleichzeitig rollte über das breitseit zu der Brandung liegende Fahrzeug eine Riesenwelle hinweg, die mit unwiderstehlicher Kraft die dem Wüten der Elemente preisgegebenen Personen, welche bei dem ersten Aufstoßen des tiefgehenden Kieles auf Deck gestürzt waren, über Bord spülte. Im letzten Moment noch, schon umflutet von den Wassermassen, hatte der Amerikaner Gisela mit starken Armen an sich gerissen. Gemeinsam trieb die Woge sie vorwärts, dem weißen Brandungsstreifen zu, wo das Brüllen der tobenden See sich zu einem infernalischen Konzert verstärkte.

Als Pearmount sich mit seiner teuren Last aus den Wassermassen wieder emporgearbeitet hatte, als die nächste Welle ihn auf ihrem Kamm meterhoch emporhob, warf er einen verzweifelten Blick in die Runde … Da tauchten nicht weit von ihm die Köpfe des Leutnants und Peter Struws auf. Letzterer allem Anschein nach ein vorzüglicher Schwimmer, entledigte sich gerade des schweren Ölrockes, der ihm offenbar sehr hinderlich war.

Der Amerikaner flüsterte jetzt, obwohl er kaum auf eine Rettung zu hoffen wagte, der Geliebten ein Trostwort zu …

„Mut, Liebling, Mut …! Halte dich nur fest an mir … Wir werden das Inselchen da vor uns erreichen, ganz bestimmt. – – Schlinge die Arme um meinen Hals, damit ich dich auf dem Rücken tragen kann … Und gib acht, daß du nicht unversehens Wasser in den Mund bekommst …“

Abgerissen in öfteren Pausen, kamen die Sätze über seine Lippen.

Und dann begann der Kampf mit der gierigen See, die ihre Opfer so leichten Kaufes nicht freigeben wollte. Ein schauerlicher, schweigender Kampf war’s … Hans-Günter und der Bootsmann versuchten vergebens sich zu dem Paare hinzuarbeiten. Es gelang ihnen nicht. Bald sahen sie das Nutzlose ihrer Bemühungen ein und dachten nur noch, wie sie selbst dem Unheil entrinnen könnten.

Pearmounts Kräfte erlahmten nur zu schnell. Zu schwer lastete Giselas von den nassen Kleidern wie Blei wiegender Körper auf ihm. Seine Lunge arbeitete in krampfhaften Atemzügen, sein Herz jagte, seine Muskeln zerrten und rissen bereits in schmerzhafter Überanstrengung …

Und jetzt befanden sie sich mitten in der kochenden, tobenden Brandung. Unaufhörlich stürmten die Wellen mit ihren Gischtkämmen über sie fort, drängten sie hinab in die Tiefe …

Funken sprühten vor Pearmounts Augen, leuchtende Sonnen, Sterne, Feuerstreifen. Nur noch automatisch, bar jeder Kraft, bewegte er Arme und Beine. Mitunter verschwand ihn auch bereits für Momente das klare Bewußtsein. Dann ließ sein krampfhaft überreiztes Hirn wilde, wirre Bilder in seiner Erinnerung wie phantastische Träume auftauchen. Dann sah er sich als Knaben wieder in seinem Elternhause, durchlebte Erlebnisse aus seiner Kindheit, die sich seiner Seele unauslöschbar eingeprägt hatten … Er sah sich auf dem Sornower Kirchhof am Grabe des Vaters, der Schwester stehen, hörte wieder Doktor Birnbaums Worte, die er nie, nie vergessen hatte.

„… Eine ernste Mahnung: das Bewußtsein unserer eigenen Vergänglichkeit und Unzugänglichkeit!“

… Dann kam er wieder zu sich, biß sich die Lippen blutig, nur um durch den Schmerz einen neuen Schwächeanfall zu verhüten. Und mit klarem Verstande, angeregt durch die wirren Bilder, die unbewußt in ihm aufgetaucht waren, überschaute er abermals die letzten Momente seines Lebens, dieses Streben nach Rache, diese wilde Gier nach Vergeltung, der er sein bestes, sein im Grunde so edles, gütiges Herz geopfert hatte … Wie eine Wahnsinnstat erschien ihm jetzt dieses ganze Unterfangen, wie das Werk eines, dessen Geisteskräfte getrübt gewesen sein mußten … Eine ganze Familie hatte er seiner Rache opfern wollen, nur weil in den von der Mutter stammenden Zeilen ihm mit dem Fluch seiner Eltern gedroht worden war, falls er nicht Vergeltung übe an allen, die den Namen Burgstätt trügen …

Stumm, mit einer heißen Bitte zu Gott, kämpfte er weiter gegen die heranstürmenden, brüllenden Wellenberge, gegen den weißen Schaum ihrer Kämme, der ihm das Gesicht dauernd umspülte …

Dann … ein wahnsinniger, ziehender Schmerz in beiden Beinen … Krampf … Krampf …!! Wehrlos war er jetzt, wehrlos … Seine Glieder gelähmt …

Dunkel wurde es vor seinen Augen. Noch einen Schrei stieß er aus, ein einzelnes Wort übertönte das Toben der wütenden See …

„… Gisela …!“

Dann wußte er nichts mehr, nichts …

* * *

Der Lotsendampfer „Altstadt“, ein schlankes, trotz seiner geringen Abmessungen durchaus seetüchtiges Fahrzeug, tanzte wie ein Kork auf den Wogen, die vergeblich immer wieder sein Deck überschwemmten und breite Spritzer bis hinauf auf die Kommandobrücke schickten, wo neben dem alten, graubärtigen Kapitän Merker eine schlanke Männergestalt stand, – Rittmeister von Franzalan, der aus eigenem Antrieb beim Aufkommen des Orkans in einem Auto nach Altstadt geeilt war und dort die Lotsenstation mit der Nachricht alarmiert hatte, daß die „Ariadne“ auf einer Fahrt nach den Purwall-Bänken begriffen sei und die Insassen fraglos in Todesnot schwebten. Kaum hatte er mit jagenden Worten den Kommandeur verständigt gehabt, als schon das Telephon schrillte und Landrat von Burgstätt sich meldete.

Schnell war der stets unter Dampf liegende Lotsensteamer bemannt worden. Und Franzalan, der soviel an den Menschen, die jetzt mit dem Verderben rangen, und die er mit seiner finsteren Eifersucht verfolgt hatte, gutmachen wollte, ließ es sich nicht nehmen und begleitete die „Altstadt“ bei dieser Rettungsaktion. –

Wieder führte jetzt Kapitän Merker das Fernglas an die Augen. Man befand sich bereits in der Nähe der kleinen flachen Inseln, um die die Möven mit wildem Kreischen unaufhörlich in ganzen Schwärmen sich jagten. – Von der Jacht war nirgends eine Spur zu entdecken. Schon wollte der Kapitän das Glas wieder sinken lassen, als ihm plötzlich ein leiser Ruf entfuhr.

„Da – da mehr nach West, Herr Rittmeister,“ schrie er dem neben ihm stehenden Offizier zu und reichte ihm das Fernrohr. „Dort habe ich deutlich auf der westlichen der Sandbänke zwei Gestalten gesehen.“

Dann beugte er sich über den Maschinentelegraphen, riß den Hebel herum und gab dem Manne im Steuerhäuschen einen Wink. Die „Altstadt“ veränderte sofort ihren Kurs und jagte nun mit Volldampf auf jene Stelle zu, wo jetzt auch Franzalan deutlich auf einem nur wenige Meter großen, von Wogen umtobten Eiland zwei aufrecht dastehende Menschen bemerkt hatte.

Näher und näher kam der Lotsendampfer.

Kapitän Merker, der wieder das Glas an sich genommen hatte, ließ es jetzt sinken.

„Wahrhaftig – vier Personen sind’s … Zwei scheinen ohnmächtig oder … hm, ja – vielleicht auch tot zu sein. Wenigstens liegen sie regungslos auf dem Boden zu Füßen der beiden anderen …“

Franzalan erbleichte.

„Und die, die sich noch aufrecht halten, sind Männer?“ fragte er hastig.

„Ohne Zweifel …“

Aus des Rittmeisters Brust rang sich ein qualvolles Stöhnen hervor. – Wenn Gisela nun tot, ertrunken war, wenn sie ihr junges Leben ausgehaucht hatte …?! Nein, nein, das konnte, durfte nicht sein …! Sie sollte leben, und wenn auch für den Anderen, für den, den sie liebte …! – Und Egon v. Franzalan, der wahrlich nicht zu den Frommen und Gottesfürchtigen gehörte, schickte ein heißes Bittgebet zum Himmel empor für die, die ihn endlich zur Einsicht, zur Erkenntnis seiner großen Fehler und Schwächen gemacht hatte, und der er diese Wandlung in seinem Innern allein verdankte. –

Kapitän Merker beriet sich leise mit seinem Steuermann. Franzalan merkte an den Mienen der beiden, daß sie die Situation der Schiffbrüchigen für mehr als verzweifelt hielten. Unruhig trat er zu ihnen mit einer bangen Frage auf den Lippen.

Merker zuckte die Achseln.

„Noch zehn Minuten, dann steigt die See so hoch, daß sie das Eiland überflutet,“ meinte er ernst. „Und dann ist … alles vorbei …“

Der Sturm, dessen Kraft noch zugenommen hatte, wehte seine Worte, so laut sie auch aus der Kehle kamen, wie Sirenengeflüster davon. Aber Franzalan hatte doch verstanden. In seinem schmalen Aristokratengesicht erschien ein Ausdruck unbeugsamer Entschlossenheit.

„Ich will’s versuchen, Kapitän,“ schrie er den beiden Seeleuten zu. „Schlingen Sie mir ein Seil um die Brust. Vielleicht erreiche ich das Eiland. Ich bin ein guter Schwimmer …“

Merker warnte den Waghalsigen, machte ihn auf das Gefährliche dieses Unterfangens aufmerksam. Aber der Rittmeister erwiderte nur kurz …

„Ich tu’s auf jeden Fall. – Einen Rettungsgürtel her – und her mit der Leine …!“

Als Franzalan für das Wagnis gerüstet dastand, bog der Dampfer ein ganzes Stück nördlich des Eilandes, auf dem die vier Schiffbrüchigen in banger Sorge auf Rettung harrten. Absichtlich hatte der Kapitän die „Altstadt“ dorthin gelenkt. Die Strömung sollte den kühnen Offizier, da diese westlich des Inselchens herumführte, auf diese Weise an das ersehnte Gestade treiben. –

Ein Wunder war’s, daß Egon v. Franzalan die Sandbank wirklich erreichte, mehr als ein Wunder …! – Dort war aber auch inzwischen die Not bis aufs Höchste gestiegen. Die See schickte ihre brüllenden Angreifer bereits bis zu den Füßen der Ärmsten, die dergestalt den sicheren Tod vor Augen hatten. Kaum zwei Quadratmeter des weißen Sandes waren noch frei von Wasser. Und auf dieser engen Zufluchtsstätte ruhten neben einander Gisela v. Burgstätt und Archibald Pearmount …

Franzalans erste Frage, als er wassertriefend, völlig erschöpft vor Hans-Günter stand, betraf das junge Weib, das regungslos, die blonden Flechten aufgelöst zu einem wirren Wust, auf der feuchten Erde lag.

„Tot … tot?“

„Nur ohnmächtig – beide,“ schrie der Leutnant.

Da huschte ein schönes Lächeln über des Rittmeisters bleiches Gesicht. So war sein Wagnis doch nicht umsonst gewesen … Und wieder dachte er jetzt an Gott, den gnädigen, gütigen Gott, der alles zum Besten führen würde. –

In Eile wurde nun Gisela in drei Rettungsgürtel befestigt und dann von dem Dampfer aus mit Hilfe der starken Leine so schnell als möglich durch die Brandung an Bord gezogen. Dann folgten Pearmount, Hans-Günter und Franzalan. Als letzter ließ sich Peter Struw „hinüberhissen“, wie er sagte.

Gisela und der Amerikaner waren dann erst nach längeren Bemühungen zum Bewußtsein gekommen. Jetzt lagen sie, in warme Decken gehüllt, in der kleinen Kajüte auf den Polsterbänken nebeneinander. Zum Sprechen waren sie noch zu schwach. Aber ihre Blicke suchten sich immer wieder …

Als dann der Dampfer am Lotsenbollwerk in Altstadt anlegte, mußte der an einem plötzlich ausgebrochenen Fieber schwer erkrankte Amerikaner in einem schleunigst herbeibeorderten Kraftwagen in ein Lazarett überführt werden.

Gisela, selbst noch so matt, daß sie sich kaum aufrecht halten konnte, war nicht davon abzuringen, den Geliebten zu begleiten. Im Krankenhause hatte ihr eine Schwester mit trockenen Kleidern ausgeholfen, und dann begannen für das junge Mädchen furchtbare Wochen, die sie als Pflegerin am Bette des Mannes durchkämpfte, der sich ihr einst mit so schmachvollen Absichten genähert hatte, Absichten, die dann erst durch die aufkeimende wahre Liebe geläutert wurden.

* * *

Ein warmer Herbsttag Mitte Oktober desselben Jahres …

Über Sornow und die Altstädter Bucht spannte sich ein wolkenloser, durchsichtig klarer Herbsthimmel aus.

Auf dem Balkon des Landratsamtes saß der eben genesene Amerikaner dem Ehepaar Burgstätt gegenüber. Jetzt erst erfuhr Pearmount, wem er und Gisela ihre Rettung verdankten. Bis dahin hatte jene unglückselige Segelfahrt auf Geheiß der Ärzte vor dem Patienten nicht erwähnt werden dürfen.

„Also Peter Struw holte uns nacheinander aus der Brandung heraus?“ meinte der Amerikaner sinnend … „Treue, gute Seele, die sich in der rauhen Schale verbirgt …! Nun, ihm soll’s königlich gelohnt werden …!“

Wieder trat eine peinliche Pause im Gespräch ein. Eine große Verlegenheit hatte vom Anfang dieses ersten Wiedersehens an diese drei Personen beherrscht, die des Schicksals wunderbare Wege hier in Sornow zusammengeführt hatten …

Dann raffte Archibald Pearmount sich auf. Das Schwerste stand ihm noch bevor – die Beichte, die er notwendig vor den Eltern der einzig Geliebten ablegen mußte.

Stockend kamen die ersten Sätze über seine Lippen. Er streifte die Vergangenheit nur flüchtig, wollte dann auf das zu sprechen kommen, was ihn eigentlich nach Sornow geführt hatte: auf seine Rachepläne.

Da unterbrach die Geheimrätin ihn sanft.

„Lassen Sie das Einst ruhen, lieber Pearmount. Wir wissen alles. Und was wir nicht wissen, ahnen wir … Vergeben Sie dem, der den Ihrigen einst Böses tat, und auch wir werden vergeben und vergessen …“

In des Amerikaners Augen glänzte es feucht.

„Wirklich – wirklich – alles soll vergessen sein?“ fragte er unsicher. „Wissen Sie denn auch, daß ich Hans-Günter das Ehrenwort abnahm, er solle nicht mehr spielen, um ihn in dieser Schlinge zu fangen …? Wissen Sie auch, daß ich Gisela …“

Da legten sich die weichen Finger der Geheimrätin begütigend auf seine Lippen und schnitten ihm jedes weitere Wort ab.

„Lassen Sie ruhen, was gewesen ist, lieber Freund. Sie haben geirrt, gefehlt; wir alle fehlen einmal im Leben. Dadurch, daß Sie Gisela in höchster Todesnot zu retten suchten, ist alles wettgemacht … – Und nun – soll ich sie holen?“

Da nickte der starke Mann, dem schon wieder eine leichte, gesunde Röte die Wangen färbte, unter Tränen. –

Hand in Hand traten Mutter und Tochter gleich darauf auf den Balkon hinaus.

„Hier, Archibald Pearmount, übergebe ich Ihnen unser Kind. Ich weiß, daß und wie Ihr Euch liebt. Werdet glücklich miteinander …“

Und glückliche Menschen waren es, die dann an diesem Tage im Kreise der Familie das Verlobungsfest feierten.

Am nächsten Tage hatte dann Pearmount mit seinem Schwager eine Unterredung, bei der des jungen Leutnants Spielleidenschaft das Hauptthema bildete.

Hans-Günter gab ohne weiteres zu, daß er an jenem Abend trotz des Ehrenwortes bei der Theaterdiva die Bank gehalten hatte, bemerkte aber ausdrücklich, er sei von den anderen Herren geradezu zur Beteiligung am Spiel gezwungen worden, habe jedoch seinen Gewinn auf Heller und Pfennig an die Armenverwaltung von Altstadt geschickt.

„Und, Archibald – das mußt du doch einsehen,“ fügte er eifrig hinzu, „Glücksspiel treibt man doch nur dann, wenn man zu seinem eigenen Nutzen spielt.“

„Und wenn du verloren hättest?“ meinte Pearmount ernst.

„Dann – dann hätte ich mir eine Kugel vor den Kopf geschossen.“ –

Jedenfalls hat Hans-Günter in seinem Leben keine Karte mehr angefaßt.

 

Druck: P. Lehmanm G. m. b. H., Berlin.