Argus-Kriminal-Bibliothek
Von
Walther Kabel.
Als endlich die letzten Gäste die noch im vollsten Lichterglanz einer Unzahl elektrischer Beleuchtungskörper erstrahlende erste Etage des prunkvollen Hauses am Kurfürstendamm 304 verlassen hatten, seufzte Frau Wilma Liskow erleichtert auf. Gewiß, diese erste Abendgesellschaft, mit der der stadtbekannte Kommerzienrat die Wintersaison für seinen zahlreichen Umgangskreis heute eröffnet hatte, war wieder glänzend wie immer verlaufen. Aber doch – Frau Wilma war froh, daß sie nun endlich wieder sie selbst sein konnte und nicht mehr ihr trotz der bereits überschrittenen Vierzig noch beinah jugendfrisches Gesicht fortdauernd in liebenswürdig lächelnde Falten zu legen brauchte. Etwas schwerfällig ließ sie sich in eines der bequemen, seideüberzogenen Sesselchen fallen, die in einer lauschigen Ecke ihres Damenzimmers standen. Dieses beschloß eine Flucht von sechs Räumen, die höchst luxuriös ausgestattet und für große Repräsentation berechnet waren.
Im Nebenzimmer räumte Asta van Zourleeven, ihr einziges Kind aus erster Ehe, die auf dem Deckel des Bechsteinflügels verstreut umherliegenden Noten in den Ständer ein, wobei sie leise die Melodie eines schwermütigen Liedes vor sich hinsummte. Die Flügeltüren des in seiner feinen abgetönten Beleuchtung so traulichen Damenzimmers standen weit offen, so daß Frau Wilma jede Bewegung der graziösen Gestalt ihrer Tochter beobachten konnte. Wenn bisher nur ein leiser Zug von körperlicher und geistiger Abspannung auf dem Antlitz der noch immer schönen Frau hervorgetreten war, so machte sich jetzt ein anderer Ausdruck, der einer gewissen Unruhe und Sorge, darin bemerkbar. Langsam beugte die Kommerzienrätin sich in ihrem Sessel soweit vor, daß sie die Flucht der Gemächer bequem überschauen konnte. In ihrem Blick lag etwas ängstlich Forschendes, das sich auch in ihrer ganzen Haltung deutlich ausprägte. Dann erhob sie sich und überschritt die Schwelle zum Musiksalon.
Asta schaute nur flüchtig auf, als die Mutter zu ihr trat.
„Wo ist Papa?“ fragte Frau Wilma leise. Dann aber, ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie hastig fort, die Gelegenheit zu kurzer Aussprache benutzend. „Etwas Besonderes ist’s, das ich noch mit dir erörtern wollte, bevor er sich zu uns gesellt. – Du hast Baron Weitrap heute wieder reichlich kühl behandelt, liebes Kind. Eigentlich hat er mir ein wenig leid getan. Man merkte ihm deutlich an, wie sehr ihm deine Unnahbarkeit die Stimmung verdarb, obgleich er seine Enttäuschung mit möglichster Selbstbeherrschung zu verbergen suchte. Rührt dich denn diese zarte Aufmerksamkeit, mit der er dich stets umgibt, gar nicht, Asta? Empfindest du wirklich diesem Manne gegenüber, der seinen alten Namen und seine Millionen dir huldigend zu Füßen legt, auch nicht einmal ein wenig freundschaftliches Interesse? Und Weitrap ist doch fraglos das, was man eine interessante Erscheinung nennt, ein Kavalier, der für einen Gardekavalleristen beinahe allzu ernste Ansichten über das Leben besitzt. Alles in allem, er ist eine glänzende Partie, um die unzählige dich beneiden würden. Und dennoch – nicht nur, daß dein Herz völlig kalt bleibt, nein, du zeigst dich ihm gegenüber geradezu unfreundlich, fast ungezogen. Ich hab euch beide heute genügend beobachten können. Was soll ich denn unter diesen Umständen nur dem Papa sagen, dessen Herzenswunsch es ist, dich diesem seltenen Mann – denn das Prädikat kann man Weitrap in unserer heutigen Zeit ohne Übertreibung zuerkennen – als Gattin anzuvertrauen? Und Papa fragt sicher nach euch.“
Asta van Zourleeven, die von ihrer Mutter nur die herrliche Fülle des lichtblonde Haares geerbt hatte, im übrigen ihr jedoch nicht im geringsten ähnlich sah, hatte zuerst wie verlegen vor sich hin auf das leuchtende Muster des Perserteppichs geblickt, dann aber langsam den charaktervollen, beinahe etwas scharf markierten Kopf gehoben und der Mutter voll ins Antlitz geschaut. Jetzt grub sich um ihren Mund ein gequälter Zug.
„Was du dem Papa sagen sollst?“ meinte sie mit leichter Bitterkeit. „Daß ich den Baronen nie, nie heiraten werde. – Wenn du willst, kann er das aus meinem eigenen Munde hören.“
Die Kommerzienrätin machte eine beschwichtigende Bewegung mit der Hand.
„Sprich leiser, Kind – ich bitte dich. – Diese deine Entscheidung kann doch unmöglich schon eine endgültige sein!“ fuhr sie dann eindringlich, fast bittend fort. „Der Papa rechnet ja schon so bestimmt mit einer demnächstigen Verlobung, daß ihm dieses kurze Nein aus allen Wolken stürzen würde. Noch gestern sprach er mit mir über Weitrap. Er hat genaue Erkundigungen über dessen Vermögensverhältnisse eingezogen und geradezu glänzende Auskunft erhalten. Ich möchte dir doch nochmals vorstellen, wie unklug es –“
„Mama – verzeih, daß ich dir ins Wort fallen,“ unterbrach das junge Mädchen sie ernst. „Aber jeder weitere Überredungsversuch wäre ebenso vergeblich wie all die früheren. Sag – hast du denn etwa den Kommerzienrat Liskow vor nunmehr sechs Jahren nur deswegen geheiratet, weil andere ihn dir als „glänzende Partie“ empfahlen oder weil dich dein Herz zu ihm hinzog? – Sieh, ich kann meiner ganzen Veranlagung nach nie und nimmer einem Mann fürs Leben angehören, den ich nicht wirklich liebe. Und unter Liebe verstehe ich – darin kennt ihr alle mich ja viel zu wenig – nicht nur Achtung und ein freundschaftliches, warmes Gefühl, sondern mehr, weit mehr – eben jene alles überflutende Leidenschaft, die zwei Menschen willenlos einander in die Arme treibt, ihnen dann später aber auch in Stunden der Trübsal erst aus dieser Überzeugung des völligen Ineinanderaufgehens heraus das unendlich erhebende, über vieles hinweghelfende Bewußtsein gibt, nie mehr allein den Stürmen und Enttäuschungen, die unser unzulängliches Dasein ja niemandem erspart, gegenüberzutreten.“
In Astas graue, sonst so kühl blickende Augen war bei den letzten hastigen Sätzen ein Leuchten gekommen wie das Aufglimmen eines heimlich unter dunkler Aschenschicht fortschwelenden Feuers.
Der Kommerzienrätin entging diese Veränderung nicht. Neues Erschrecken malte sich auf ihrem Gesicht.
„Du liebst einen anderen, gesteh’s nur!“ flüsterte sie fast unhörbar.
Asta schüttelte, bereits wieder völlig gefaßt, leicht den Kopf.
„Nein, Mama, da befindest du dich in einem Irrtum. Allerdings – ich gebe zu, daß die Art und Weise, wie ich soeben meine Ansichten über Liebe entwickelte, dich leicht zu dieser Annahme bringen mußten.“
Frau Wilma war beruhigt. Lügen gehörte zu den Asta völlig fremden Charakterschwächen.
In diesem Augenblick tauchte in der Tür zum Speisesaal die mittelgroße, schlanke Gestalt des Hausherrn auf. Mit seiner straffen Haltung, seinem frischen Gesicht, den lebhaften, feurigen Augen und dieser geschmeidigen Beweglichkeit hätte man den Kommerzienrat, den Inhaber des Bankgeschäftes van Zourleeven & Co., sicherlich bedeutend jünger eingeschätzt, wenn nicht das graue, volle Haar und der ebenso gefärbte, hochgewirbelte Schnurrbart darauf hingedeutet haben würden, daß dieser Mann dem Höhepunkt der Lebensbahn bereits recht nahe gekommen sein mußte.
„Liebe Wilma,“ rief er jetzt seiner Frau schon von weitem zu, „Franz möchte das Silber fortpacken. Vielleicht bist du so freundlich und zählst es nach alter Gewohnheit erst noch einmal durch. Ich nehme ja nicht an, daß einer unserer werten Gäste, die mir jetzt besonders lieb sind, da sie unser Heim bereits wieder verlassen haben, an kleptomanischen Anwandlungen leitet, aber – sicher ist sicher.“
Er war inzwischen dicht an die beiden Damen herangetreten, deren Gesichter er nur mit einem schnellen, prüfenden Blick überflog. Zwar zwang die Kommerzienrätin sich dazu, möglichst unbefangen zu er-scheinen, aber Liskow merkte doch, daß er hier offenbar in eine nicht gerade sehr angenehme Aussprache hineingeplatzt war.
„Kinder – Leichenbittermienen sind das!“ rief er scherzend. „Was ist denn passiert?! Ist dir etwa dein Brillantkollier, dieses berühmte van Zourleevensche Erbstück, abhanden gekommen, Wilma? – Oder hat dir, Töchterlein, Baron Weitrap noch immer nicht den doch hoffentlich mit klopfendem Herzen erwarteten Antrag gemacht? – In einer Beziehung kann ich mich ja schnell beruhigen. Die Brillanten umgeben deinen Hals noch immer wie eine lohende, sprühende Kette, liebe Frau. – Aber du, Asta, wie steht’s denn mit dir –?“
Wie geschickt er doch wieder auf das Thema übergeleitet hatte, das ihm so sehr am Herzen lag, dachte das junge Mädchen, bevor es mit merklicher Zurückhaltung erwiderte:
„Ich wüßte nicht, Papa, was dir Grund zu der Annahme geben könnte, daß ich auf einen Antrag von Seiten Weitraps gerechnet habe. Mir steht der Baron nach wie vor recht fern. Daran hat auch der heutige Abend nichts geändert.“
„Schade,“ meinte Liskow leichthin. „Nun, was nicht ist, kann noch werden. – Übrigens liebes Kind, vielleicht nimmst du heute der Mama die Arbeit des Nachzählens des Silbers ab. – Du siehst nämlich recht angegriffen aus, Wilma. Mir selbst ist dieser heutige Abend auch stark an die Nerven gegangen.“
Inzwischen war Asta mit einem „aber gern, Papa“ davongeeilt. – Die Gatten waren allein.
Des Kommerzienrats Gesicht, das nur in dem Bau der Kinnpartie und dem lebhaften, klugen Blick der dunklen Augen die Summe von Energie verriet, die diesem in der Berliner Geschäftswelt ebenso geachteten wie gefürchteten Mann innewohnte, hatte jetzt einen Ausdruck erwartungsvoller Spannung angenommen.
„Noch immer keine Hoffnung, daß aus den beiden ein Paar wird?“ fragte er kurz.
„Leider nein.“ Frau Wilma schaute dabei wie schuldbewußt zu Boden.
Liskow war vor seiner Frau stehen geblieben.
„Wie hat sie sich denn heute abend dem Baron gegenüber verhalten. Etwa ebenso ablehnend wie früher?“
Sie zögerte etwas.
„Laß doch das Kind allein seinen Weg gehen, Arthur,“ bat sie dann eindringlichen Tones. „Sie hält diese Verbindung nun einmal nicht für ihr Glück, und bei ihrem Vermögen kann sie ja –“
„Ich bitte um eine glatte Antwort,“ sagte er mit merklicher Schärfe. „Keine Phrasen, Wilma. Wenn es sich auch nur um meine Stieftochter handelt, so halte ich mich dennoch für verpflichtet, nach besten Kräften für sie eine glückliche, schattenlose Zukunft aufzubauen.“
Die Kommerzienrätin raffte all ihren Mut zusammen.
„Nun denn, – Asta hat heute dem Baron deutlich gezeigt, daß ihr seine Bewerbung nicht angenehm ist. Und mir selbst erklärte sie vor wenigen Minuten, sie würde Weitraps Gattin nie werden.“
Über Liskows Gesicht flog’s blitzschnell wie eine düstere, drohende Wolke. War’s nur die Enttäuschung, die ihm so nahe ging, wenn dieses Heiratsobjekt doch nun einmal seinen besonderen Wünschen entsprach, oder war’s der Ärger, daß er hier auf einen Widerstand stieß, den zu brechen außerhalb seiner Macht lag? – Jedenfalls verschwand diese plötzliche Veränderung in seinem Gesichtsausdruck aber ebenso schnell wie sie gekommen.
„Warten wir ab. Ich gebe die Hoffnung trotzdem noch nicht auf,“ meinte er scheinbar gleichgültig, entnahm dabei seinem goldenen Etui eine Zigarette, zündete sie umständlich an und begann nun von etwas anderem zu plaudern. Frau Wilma merkte jedoch, daß seine Gedanken nicht bei der Sache waren. Des Öfteren machte er mitten im Satz Pausen und suchte zerstreut nach einem passenden Wort – alles Anzeichen dafür, daß er sich im Geiste mit ganz anderen Dingen beschäftigte.
Nach einer Weile gesellte sich Asta wieder zu ihnen. Und bald darauf erschien auch Franz, der noch in seiner tadellosen Dienerlivree steckte, machte einen ebenso tadellosen Bückling und fragte, ob er in den übrigen Räumen das Licht ausdrehen dürfe.
Liskow schaute nach der Uhr. „Wahrhaftig – bereits drei. Höchste Zeit, daß wir zu Bett gehen. Also dann, Licht aus, Franz! Und noch sämtliche Fenster öffnen. Der Zigarrenrauch haftet sonst tagelang in den Portieren.“
Asta sagte den Eltern gute Nacht und begab sich in ihr eigenes kleines Reich, das aus zwei im linken Seitenflügel am Ende des langen Korridors gelegenen Zimmern bestand. Der mit zierlichen Rokokomöbeln ausgestattete Raum des jungen Mädchens stieß an das Schlafgemach Frau Liskows, während diese wieder durch eine Tür mit dem nebenanliegenden Schlafzimmer des Hausherrn verbunden war. Die Wirtschaftsräume – Küche, Plättraum und die Stuben für die Köchin, das Hausmädchen und den Diener, befanden sich im anderen Flügel.
Frau Wilma hatte in ihrem Schlafgemach schnell die kostbare Gesellschaftstoilette abgestreift und einen leichten seidenen Morgenrock übergeworfen. Ihr Geschmeide, darunter auch das Brillantkollier, legte sie jetzt ziemlich achtlos auf die Spiegelplatte des Frisiertisches und öffnete nun beide Flügel der auf den Balkon führenden Glastür, um die schon empfindlich kühle Novemberluft einzulassen.
Für einen Augenblick trat sie noch hinaus und blickte in den großen, stillen Hof hinab, der mit seinen himmelanstrebenden Wänden in undurchdringlicher Finsternis dalag. Kein einziges Fenster des gegenüberliegenden Seitenflügels und des Gartenhauses war mehr erleuchtet. Auch die Liskowschen Dienstboten hatten sich nach dem anstrengenden Tag schnell zur Ruhe begeben.
Jetzt hörte die Kommerzienrätin auf das leise Rauschen eines gleichmäßig fallenden Regens. Sie fröstelte. Und die Schleppe ihres Morgenrockes aufraffend, ging sie in das Zimmer ihres Mannes hinüber.
„Hoffentlich störe ich nicht, Arthur.“
„Durchaus nicht. Hast du noch etwas auf dem Herzen?“ fragte er zuvorkommend, indem er sich sofort erhob. Er hatte an seinem Schreibtisch gesessen, auf dem die schwere Bronzelampe brannte und eine Anzahl auseinandergebreiteter, mit Zahlen bedeckter Schriftstücke beleuchtete.
„Behalte doch Platz,“ meinte die Kommerzienrätin und zog sich einen der leichten Korbsessel heran, die zu Füßen des breiten, französischen Bettes um ein Rauchtischchen gruppiert waren. „Beate hat vergessen, in meinem Zimmer die Heizung abzustellen, und ich mußte die Balkontür noch für eine Weile öffnen, sonst wäre ich morgen sicherlich mit Kopfschmerzen aufgewacht. Solange mußt du mich schon bei dir behalten.“
Jetzt bemerkte sie die auf dem Schreibtisch liegenden Papiere.
„Oh, du hast also doch noch gearbeitet, Arthur. Da will ich lieber zu Asta hinüberging. Sie wird sicher noch auf sein.“
Schon schob sie den Korbsessel auf seinen Platz zurück.
„Um ehrlich zu sein – ja, ich muß etwas sehr Dringendes erledigen.“ meinte er zögernd. „Aber trotzdem kannst du ruhig hierbleiben. Dort liegen die Abendzeitungen –“
„Sehr lieb von dir. Doch meine Anwesenheit würde dich vielleicht ablenken. Gute Nacht also, Schatz –“ Sie legte ihm mit einer Bewegung hingebender Zärtlichkeit die Arme um den Hals und küßte ihn mehrmals innig auf den Mund.
Frau Wilmas heiße Liebe zu ihrem zweiten Gemahl hatte die sechsjährige Ehe noch nicht im geringsten abgekühlt. Und diese ihre Leidenschaft war so groß, daß sie alles aus dem Wege zu räumen suchte, was einen Schatten auf ihr Eheglück hätte werfen können oder geeignet gewesen wäre, ihrem Abgott die gute Laune auch nur für Stunden zu verderben.
Der Kommerzienrat erwiderte ihre Zärtlichkeiten in einer Weise, die jedem anderen deutlich gezeigt haben würde, daß er seiner Frau gegenüber ein mehr korrekter als temperamentvoller Ehemann war. Frau Wilma jedoch hatte sich an diese etwas kühle Art bereits vollständig gewöhnt und fühlte sich schon glücklich mit dem wenigen, was er ihr an Liebesbeweisen spendete.
Als sie die Tür bereits geöffnet hatte, rief er sie nochmals zurück.
„Vielleicht könntest du die Gelegenheit gleich benutzen und mit Asta nochmals über Weitrap sprechen, – natürlich mit aller Vorsicht,“ meinte er leise.
„Ich will mein möglichstes tun,“ versicherte sie bereitwillig, reichte ihm mit zärtlichem Lächeln die Hand und trat auf den Korridor hinaus, wo zwei Glühbirnen unter mattgeschliffenen Glocken ein unsicheres Dämmerlicht verbreiteten.
Liskow wartete, bis er die Tür von Astas Zimmer ins Schloß fallen hörte und drückte dann die seines Schlafgemaches, das er sich der Bequemlichkeit halber gleichzeitig als Arbeitszimmer eingerichtet hatte, weil er häufig noch sehr spät aufzubleiben pflegte, ebenfalls wieder zu. Regungslos stand er jetzt sekundenlang auf derselben Stelle, die Stirn wie in tiefem Nachdenken gerunzelt, den Blick starr auf den Boden gerichtet.
Die Kommerzienrätin hatte bei ihrer Tochter vielleicht eine knappe Viertelstunde verplaudert. Das Thema Baron Weitrap hatte sie allerdings bald fallen lassen müssen, da Asta eine weitere Erörterung dieser Angelegenheit auch jetzt höflich, aber entschieden ablehnte. Es gab ja aber auch so noch genug Gesprächsstoff für die beiden Damen, besonders heute nach dieser ersten Gesellschaft, und Frau Wilma fuhr ganz erschreckt zusammen, als die zierliche Stutzuhr auf Astas Schreibtisch mit ihren hellen Schlägen den Ablauf der vierten Morgenstunde ankündigte. Eilig verabschiedete sie sich, huschte über den Korridor und wollte eben in ihr Zimmer eintreten, in dem sie die drei Deckenbirnen des elektrischen Kronleuchters hatte brennen lassen, als sie entsetzt zurückprallte. Denn ihr gegenüber im Rahmen der offenen Balkontür stand eine ihr fremde Männergestalt, die jetzt blitzschnell hinausglitt, auf das gußeiserne Geländer des Balkons kletterte und dann lautlos in der Tiefe verschwand.
Die Kommerzienrätin stand noch immer, an allen Gliedern zitternd und unfähig, sich zu rühren, da, bis sich ein schriller Schrei aus ihrer bislang wie zugeschnürten Kehle losrang. Dann zog sie die Tür ihres Zimmers hastig wieder zu, um wenigstens diese eine Scheidewand schnell zwischen sich und den unheimlichen Eindringling zu bringen, und flog die wenigen Schritte bis zu dem Schlafzimmer ihres Gatten hin.
Ihre bebende Hand fand zunächst den Drücker nicht. Dann endlich, sie wollte die Tür aufstoßen, doch diese war von innen verriegelt.
„Arthur – öffne – schnell – schnell.“
In höchster Angst gellte ihr Ruf durch das stille Haus. Und dann fing Liskow die halb Ohnmächtige in seinen Armen auf und führte sie zu dem nächsten Sessel.
„Was ist denn geschehen. So beruhige dich doch, Wilma, was in aller Welt ist dir zugestoßen?“ fragte er immer wieder.
Es dauerte eine geraume Weile, bis sie sich endlich soweit gefaßt hatte, daß sie ihm alles mitteilen konnte.
„Eine Männergestalt –?“ meinte er darauf ungläubig. „Du dürftest dich wohl getäuscht haben, Kind. Du bist übermüdet, deine Nerven auch sicher stark angegriffen. Vielleicht war’s nur eine Sinnestäuschung. So etwas soll ja vorkommen. Nun, ich kann ja gleich mal nachsehen, ob –“
Er wollte in ihr Schlafgemach eilen. Aber ihre Arme ließen ihn nicht los.
„Bleib, bleib – ich vergehe sonst vor Furcht,“ flehte sie unter Tränen. Und noch fester krallten sich ihre Finger um seinen Arm.
Zum Glück erschien Asta, die die angstvollen Rufe ihrer Mutter herbeigelockt hatten, in diesem Augenblick in der Tür. Liskow verständigte sie mit wenigen Worten von dem Vorgefallenen und konnte nun endlich, nachdem so viel kostbare Zeit verstrichen war, in das Nebenzimmer stürmen.
Sehr bald kehrte er wieder zurück.
„Du mußt dich wirklich geirrt haben, Schatz,“ meinte er achselzuckend. „Von einem Einbrecher – denn um einen solchen kann es sich hier doch nur handeln – ist weder in deinem Zimmer noch auf dem Balkon die geringste Spur zu entdecken.“
„Er hat sich eben vom Geländer in den Hof hinabgelassen. Das sah ich ebenso deutlich, wie ich dich hier vor mir erblicke,“ erwiderte sie hartnäckig.
Dann riß ein anderer Gedanke sie förmlich von ihrem Sitz hoch.
„Meine Brillanten. Sie lagen auf der Platte des Frisiertisches –“
Schon war Liskow wieder verschwunden. Und auch Frau Wilma hatte diese neue Befürchtung plötzlich frische Kräfte verliehen. Schnell war sie ihm nachgeeilt; ihr auf dem Fuße folgte die nicht minder bestürzte Asta.
Die Brillanten waren nirgends zu erblicken. Vergebens riß Frau Wilma Schubfächer und Schränke auf. Vielleicht hätte sie den Schmuck doch irgendwo anders hingelegt. Alles umsonst. Die Pretiosen waren geraubt. Darüber konnte man nicht länger im Zweifel sein.
Der Kommerzienrat bewies auch jetzt seine schon oft bewährte Kaltblütigkeit. Er weckte sofort den Diener und schickte ihn auf die nächste Polizeiwache.
„Sagen Sie nur, daß Brillanten im Wert von etwa 250.000 Mark gestohlen worden sind. Das wird den Eifer der Beamten wohl etwas anspornen. Und trommeln Sie auch den Portier heraus. Schubert soll gleich zu mir kommen.“
Das war für Liskows ein trauriger Abschluß ihres ersten Gesellschaftsabends. Niemand dachte an Schlaf. Auch die beiden weiblichen Dienstboten hatten sich in aller Eile wieder angezogen und standen mit übermüdeten, ängstlichen Gesichtern umher. In der großen Wohnung war ein fortwährendes Gehen und Kommen. In allen Zimmern brannte Licht. Die Revierwache hatte zwei Kriminalbeamte entsandt, die nochmals das Schlafgemach der Hausfrau, den Balkon und den Hof genau durchsuchten.
Aber wenn der Dieb auch vielleicht irgendwo am Geländer des Balkons oder unten auf den Fliesen des Hofes zunächst eine Spur hinterlassen haben mochte, der noch immer herabrieselnde Regen mußte längst alles fortgewaschen haben. So blieben denn die ersten Nachforschungen vollständig ergebnislos. Der Morgen graute bereits, als wieder etwas Ruhe in der ersten Etage des palastähnlichen Mietshauses am Kurfürstendamm einkehrte. Die beiden Beamten verabschiedeten sich. Am Vormittag würde der Herr Kriminalkommissar Werner sich einfinden und die weiteren Ermittlungen in die Hand nehmen, versprach der eine. Bis dahin sollten die Herrschaften sich nur gedulden. Auch Schubert, der Portier, ein wahrer Hüne mit martialischem Schnurrbart, fragte, ob er noch gebraucht würde. Er müsse in den Keller, um nach der Zentralheizung zu sehen. Liskow drückte ihm einen Taler und ein paar Zigarren in die Hand, worauf der Riese gleichfalls verschwand.
„Legt euch auch nur etwas aufs Ohr, Kinder,“ meinte der Kommerzienrat dann zu dem Diener und den beiden Mädchen. „Helfen könnt ihr hier momentan doch nicht.“
Die drei schlichten wortlos davon.
Der Kommerzienrat trat gähnend ans Fenster, schlug die Portieren zurück und schaute hinaus in die fahle Dämmerung des heraufziehenden Morgens. Es regnete noch immer. Das Asphaltpflaster des Kurfürstendammes blinkte im Licht der Gaskandelaber wie polierter Stahl. Traurig reckten die entlaubten Bäume ihre feuchten Äste zum Himmel empor. Hin und wieder glitt fauchend ein Auto die Straße entlang oder klapperte müde eine Taxameterdroschke vorüber.
Liskow ließ die Portiere fallen und drehte sich um. Wieder gähnte er.
„Schlafen gehen – das lohnt ja kaum mehr,“ meinte er, seine Uhr ziehend. „Wenn der Kriminalkommissar kommt, müssen wir doch dabei sein. Lange wird er ja sicher nicht auf sich warten lassen. Immerhin – legt euch wenigstens halb angekleidet noch aufs Bett. Ich bleibe auf.“
Die beiden Damen verschwanden, sie waren zum Umsinken müde.
Liskow steckte sich eine frische Zigarette an und holte dann aus dem Büffet des Speisezimmers ein Gläschen und die Flasche mit dem alten französischen Kognak herüber. Dreimal schenkte er sich ein. Dann begann er eine ruhelose Promenade um den Tisch. Ihn begann zu frieren. Er warf sich in einen Klubsessel, zog die Diwandecke um die Knie und sann und sann. Es mußten wunderliche Gedanken sein, die das Hirn des einsamen Mannes durchkreuzten und jetzt, wo er keinen Beobachter zu fürchten hatte, seinen Gesichtsausdruck ständig wechseln ließen. Bald stierte er mit einer Miene wilder Verzweiflung geradeaus, dann irrte sein Blick wie hilfesuchend durch diesen Raum mit den hohen Gestellen, in denen sich Buch an Buch reihte. Blitzschnell veränderten sich seine Züge abermals zu einem höhnischen Lächeln. Doch das Lächeln schwand und machte dem Ausdruck unbeugsamer Entschlossenheit, zielbewußten Wollens Platz. Und diese harten Linien um den Mund blieben lange wie eingemeißelt.
Was mochte der einsame Mann denken – was?
Die Zeit verrann. Draußen wurde es heller und heller. Ein heiteres Lächeln lag jetzt um des Kommerzienrats schmale Lippen. Er war eingeschlafen. Auch zu ihm war der kurze Frieden des Traumglücks gekommen, den das Erwachen so grausam zerstört. –
Das Tageslicht kroch durch die Fenstervorhänge in Astas Zimmer, immer weiter, und füllte die dunklen Ecken mit grauer Dämmerung. Asta hatte es längst aufgegeben, mit fest zugedrückten Augen den Schlaf zu erwarten. Regungslos saß sie da und beobachtete, wie die Helle rings um sie zunahm, wie die Gegenstände allmählich aus dem verschwommenen Grau deutlicher herauswuchsen. Sie hörte das Erwachen des Hauses, Türenschlagen, Schritte auf dem Hof, das rasselnde Emporziehen der Stadtjalousien, hie und da ein lautes Wort aus einem bereits geöffneten Fenster.
Dann ein leises Klopfen. Schnell erhob sie sich. Es war Beate, das Stubenmädchen, die ihr einen Brief durch die Türspalte reichte.
„Ein Dienstmann hatte ihn soeben abgegeben,“ erklärte sie flüsternd.
Asta war wieder allein. Sie zog den eigenen Fenstervorhang auf und las die Adresse. Die Schrift kannte sie. Das waren Guido Gebhards kritzlige und ausgeschriebene Buchstaben. In der linken Ecke des Umschlags stand mehrfach unterstrichen: „Sehr dringend“. Was mochte er so Eiliges wollen?
Sie las:
„Liebe Asta! Absichtlich gebe ich nicht selbst dieses Schreiben bei Ihnen ab, sondern schicke es durch einen Boten. Ich muß Sie unbedingt sofort für wenige Minuten sprechen. Es hängt für die Ihrigen sehr viel von dieser Unterredung ab. Am besten ist, Sie kommen sofort in mein Atelier. Zu dieser frühen Stunde wird man Sie kaum beachten, wenn Sie schnell über den Hof schlüpfen. Lassen Sie sich durch kleinliche Rücksichten nicht abhalten. Und sagen Sie niemandem, wohin Sie wollen. Es grüßt
G. G.“
Asta überlegte nicht lange. Wenn Guido ein solches Ansinnen an sie stellte, so hatte er sicher schwerwiegende Gründe dazu. Schnell warf sie einen langen Mantel über ihr Hauskleid und bedeckte ihr blondes Haar mit einem Schal. Ungesehen gelangte sie durch den Korridor, zog leise die Flurtür hinter sich zu, eilte die Treppe hinab, weiter über den Hof und dann in Gartenhause die endlose Reihe der Stufen wieder hinan, bis sie ganz atemlos vor dem Atelier des jungen Malers stand.
Guido Gebhardt hatte sie offenbar schon erwartet. Die Außentür war nur angelehnt gewesen.
Er gab ihr kameradschaftlich die Hand.
„Gut, daß Sie da sind, Asta. Ich habe eine schlimme Nacht hinter mir.“ Er sah wirklich ganz hohläugig aus.
„Sie auch –?“ entfuhr es ihr.
Er nickte nur. Und dann trat er ganz dicht an sie heran und sprach flüsternd auf sie ein. Langsam verlor ihr Gesicht jede Spur von Farbe. Ein Zittern überlief ihre Gestalt.
„Unmöglich – unmöglich,“ stöhnte sie plötzlich auf und streckte ihm wie abwehrend die Hände entgegen.
„Tatsachen, Asta, Tatsachen,“ sagte er traurig.
Da griff sie, wie einen Halt suchend, hinter sich. Sie schwankte. Aber ebenso schnell überwand sie auch diesen Anfall von Schwäche. Nur in ihren unnatürlich geweiteten Augen blieb ein Ausdruck hellen Entsetzens.
Frage und Antwort wechselten in hastender Eile zwischen den beiden. Nach wenigen Minuten schon reichten sie sich die Hände zum Abschied.
„Also Asta, – zu niemandem eine Silbe davon, mag kommen, was will. Wir geben uns gegenseitig unser Wort darauf.“
Ein nochmaliger fester Händedruck, und das junge Mädchen eilte wieder von dannen. –
Auf der breiten, läuferbedeckten Treppe im Vorderhaus wischte der Portier gerade den Staub vom Geländer. Asta blieb stehen.
„Guten Morgen, Herr Schubert. Ich suchte Sie. Ich wollte Sie etwas fragen. Haben Sie nicht vielleicht inzwischen erfahren, ob ein Bewohner unseres Hauses um die fragliche Zeit – Sie verstehen mich, ich meine gleich nach dem Diebstahl, also gegen viertel fünf Uhr – bemerkt hat, daß jemand das Haus verließ?“
Der Portier schaute verlegen vor sich hin und zog den Staublappen unruhig durch die Hände. Dann meinte er zögernd:
„Ja, verlassen hat wohl jemand das Haus, gnädiges Fräulein. Aber der kommt hier nicht in Frage.“
„Wer war’s denn?“ forschte sie weiter, während ein unbestimmtes Angstgefühl plötzlich in ihr aufstieg.
„Hm – ja, es war Herr Gebhard. Meine Frau suchte gerade mit einem Licht ihre Zahnschmerztropfen und da hat sie ihn erkannt, wie er an unserem kleinen Guckfenster im Flur vorüberkam. Gleich darauf ließ der Herr Kommerzienrates mich durch den Diener nach oben holen.“
Astas Zähne gruben sich tief in ihre Lippen ein. Der Schmerz sollte sie aufrütteln. Es half. Und sich zu einem Lächeln zwingend, sagte sie mit gemachter Gleichgültigkeit:
„Da haben Sie allerdings recht, Herr Gebhard kommt nicht in Betracht. – Guten Morgen, Herr Schubert.“
Dann stieg sie die Treppe empor, öffnete die Entreetür der Etage mit ihrem Schnepper, ging den Korridor entlang, erreichte ihr Zimmer und wankte auf den Schaukelstuhl zu. Ihre zitternden Glieder hätten sie keine Sekunde länger aufrechtgehalten. Halb ohnmächtig lag sie zurückgelehnt da, den Kopf auf die Brust gesenkt. Und ganz unbewußt formte ihr Mund stets dasselbe Wort.
„Unmöglich – unmöglich –“
Zwei Stunden später. Kriminalkommissar Werner, ein noch junger Mann, dessen glattrasiertes Gesicht in keiner Lebenslage seinen ernsten, nachdenklichen Ausdruck zu verlieren schien, hatte bereits den Tatort besichtigt und wurde nun von dem Hausherrn in die Bibliothek geführt, wo er sich einige Notizen machen wollte, wie er die nun folgende einstweilige Vernehmung der Familienmitglieder und der Dienstboten harmlos bezeichnete. Der Kommerzienrat räumte ihm eigenhändig die Platte des Mitteltisches frei und rückte in ebenso zuvorkommender Weise einen Stuhl zurecht.
„So, Herr Kommissar, Platz genug haben Sie jetzt wohl. Hier ist auch Papier und Feder. Und wen wünschen Sie jetzt zunächst zu hören?“
„Ihre Frau Gemahlin, wenn ich bitten darf,“ erklärte Werner mit leichter Verbeugung.
Liskow hatte vielleicht erwartet, während der Vernehmung seiner Frau im Zimmer bleiben zu dürfen. Der Kommissar erklärte jedoch in höflichster Weise, dies ginge aus beruflichen Gründen nicht an, worauf der Kommerzienrat sich mit einem „Ich begreife das vollkommen“ zurückzog.
„Gnädige Frau, bitte nehmen Sie Platz,“ begann Werner mit jener ruhigen Sicherheit, die seinem ganzen Auftreten den Stempel ungezwungener Vornehmheit aufdrückte. Er wußte es dann so einzurichten, daß die Dame mit dem Gesicht nach den Fenstern hin zu sitzen kam, während er selbst das Licht im Rücken hatte.
Nunmehr mußte Frau Wilma über ihre Begegnung mit dem Einbrecher ganz ausführlich berichten.
„Daß der Mann eine schwarze Maske vor dem Gesicht trug, haben Sie also deutlich gesehen?“ warf der Beamte ein.
Sie nickte zustimmend. „Ganz deutlich, Herr Kommissar. Das Licht der Deckenbeleuchtung fiel durch die offene Tür in breitem Schein auf den Balkon. Daher konnte ich auch jede Bewegung des Eindringlings verfolgen, als er über das Geländer kletterte.“
„Sie hatten den Eindruck, daß er sich an einem Strick in den Hof hinabließ, nicht wahr?“
„Den Strick selbst sah ich nicht. Jedenfalls verschwand der Mann nach unten hin in einer Weise, als ob er an einem Tau hinabrutschte. Seine ausgestreckten Arme blieben am längsten sichtbar.“
„Und sein sonstiges Äußerers – Kleidung, Figur, Größe? Können Sie mir in dieser Beziehung vielleicht einige Fingerzeige geben, gnädige Frau?“
Die Kommerzienrätin dachte nach. „Ich fürchte, Sie werden mit meiner Auskunft nicht sehr zufrieden sein, Herr Kommissar. Ich hatte den Menschen nur wenige Sekunden vor Augen. Außerdem war ich auch viel zu entsetzt, um auf derartiges zu achten. Ich glaube aber, der Mann war von mittlerer Größe, etwas korpulent und trug einen schwarzen, steifen Filzhut, eine dunkle Arbeiterbluse und Beinkleider von derselben Farbe. Irgend ein helles Kleidungsstück wäre mir an ihm doch wohl aufgefallen. – Noch eins. Als er sich über das Balkongeländer schwang, schien es mir, als ob das Licht aus meinem Zimmer sich in merkwürdig glänzenden Stiefeln widerspiegelte. Ich möchte sogar mit ziemlicher Bestimmtheit behaupten, daß es Lackschuhe gewesen sein müssen.“
„Nun, das ist immerhin schon etwas,“ meinte Werner und notierte sich schnell das Wesentlichste.
„So. – Jetzt komme ich zu einer heiklen Frage, die wir aber gewohnheitsmäßig in jeder Kriminalsache stellen,“ begann er wieder. „Haben Sie vielleicht irgend jemand als Täter in Verdacht, gnädige Frau? – Bitte äußern Sie auch den geringsten Argwohn ohne jede Rücksichtnahme, die hier ja auch wenig angebracht wäre.“
Frau Wilma schüttelte energisch den Kopf. „Auf diese Frage muß ich mit einem entschiedenen Nein antworten,“ entgegnete sie mit unverkennbarer Offenheit.
Der Kommissar schien eine andere Erwiderung kaum erwartet zu haben.
„Ein sonderbarer Fall,“ meinte er sinnend. Und dann sagte er ganz unvermittelt:
„Hiermit, gnädige Frau, wäre unsere Unterredung beendet. Vielleicht haben Sie jetzt die außerordentliche Güte und schicken mir Ihren Herrn Gemahl herein.“
Gleich darauf nahm Liskow dem Kommissar gegenüber Platz. Er wartete jedoch eine Anrede nicht ab, sondern begann sofort mit gewinnender Offenherzigkeit:
„Mit mir werden Sie nicht viel Glück haben. Zur Sache selbst weiß ich gar nichts anzugeben, wenigstens nichts zur Klärung der Hauptmomente.“
Wenn er aber vielleicht gehofft hatte, daß der Kommissar ihm nunmehr seine Ansicht über diesen in vielfacher Beziehung doch recht eigenartigen Diebstahl entwickeln oder sich wenigstens mit ihm in eine ungezwungenere Aussprache einlassen würde, so hatte er sich gründlich getäuscht.
Werner machte ihm jetzt, ohne sich von seinem Sitz zu erheben, eine leichte Verbeugung und sagte förmlich:
„Dann danke ich Ihnen, Herr Kommerzienrat. Ihr Fräulein Tochter dürfte zur Sache selbst wohl noch weniger angeben können als Sie. Aber an die Dienstboten möchte ich doch einige Fragen richten – nur um zu sehen, welchen Eindruck sie auf mich machen. Zunächst also dann den Diener, wenn ich bitten darf.“
Als Liskow auf den Korridor hinaustrat, sah er Franz an dem anderen Ende emsig die Bohnermaschine handhaben. Er schickte ihn zu dem Kommissar in die Bibliothek und begab sich dann zu seiner Gattin, die er in ihrem Boudoir in Astas Gesellschaft antrat.
„Auf deine Aussage verzichtet der zugeknöpfte Herr,“ meinte er zu seiner Stieftochter in etwas ärgerlichem Ton.
Asta, die ihm mit fast ängstlicher Erwartung entgegengeblickt hatte, atmete sichtlich erleichtert auf. Hoffnung zog wieder in ihr gequältes Herz ein. Sie wußte ja nur zu genau, hätte der Kommissar sie gleich heute vernommen, wo ihre Gedanken nur ein einziges wildes Chaos bildeten, sie würde nie und nimmer die nötige Ruhe und Überlegung haben aufbringen können, um sich den Anschein völliger Harmlosigkeit zu geben.
Liskow hatte sich inzwischen in eins der Sesselchen geworfen und wandte sich nun an seine Gattin, die matt und übernächtigt auf dem mit einem prachtvollen Eisbärenfell bedeckten Diwan ruhte.
„Na, Kind, war der Kommissar mit den Angaben, die du über deine Begegnung mit dem Spitzbuben machen konntest, zufrieden?“
„Wohl kaum. Nur eins schien ihn recht interessant zu sein, was ich dir auch noch nicht mitgeteilt habe, weil ich erst vorhin bei der Vernehmung drüben im Bibliothekszimmer daran dachte.“ Und sie erzählte ihre Beobachtung hinsichtlich der auffallend glänzenden Schuhe des Einbrechers.
Der Kommerzienrat horchte auf. Aber ebenso schnell verlor sich auch wieder dieser Ausdruck von Spannung aus seinen Zügen.
„Lackschuhe –? Schon möglich,“ meinte er dann gelangweilt. „Die Zeiten, wo die Herren Spitzbuben auf dicken, wollenen Socken und mit einer Ballonmütze auf dem struppigen Schädel umherschlichen, sind längst vorüber. Unsere moderne Gaunerzunft kleidet sich tadellos. – Falls wir es hier überhaupt mit einem gewerbsmäßigen Spitzbuben –“
Er wurde durch das Stubenmädchen unterbrochen, das soeben in der Tür erschien.
„Was gibt’s, Beate?“ fragte Frau Wilma, sich etwas aufrichtend.
„Der Herr Kriminalkommissar läßt das gnädige Fräulein in die Bibliothek bitten,“ wandte sich das Mädchen an Asta.
Diese fuhr entsetzt in die Höhe. Ihr Gesicht, plötzlich krankhaft bleich, drückte qualvollste Angst aus.
„Mich?“ fragte sie wie geistesabwesend.
„Ja, das gnädige Fräulein,“ wiederholte Beate mit leisem Mitgefühl. Sie konnte verstehen, daß man vor diesem Herrn von der Polizei derartige Furcht hatte. Ging es ihr selbst doch nicht anders.
Asta nahm alle ihre Kraft zusammen, erhob sich und verließ lang-sam, unsicheren Schrittes den Damensalon.
Sich gewaltsam aufraffend, überschritt Asta van Zourleeven die Schwelle des Bibliothekzimmers mit einer Miene, die nichts als kühle Ruhe ausdrücken sollte.
Der Kommissar wies ihr mit einer einladenden Handbewegung den Stuhl ihm gegenüber an.
„Ich habe von dem Stubenmädchen Beate gehört, gnädiges Fräulein, daß Sie heute morgen gegen sieben Uhr durch einen Dienstmann einen Brief erhielten,“ begann Werner ohne besondere Betonung. „Weiter erfuhr ich, daß Sie gleich nach Empfang dieses Schreibens in das Gartenhaus eilten und dort einige Minuten blieben. Ich gehe wohl nicht fehl, wenn ich annehme, daß Sie Herrn Gebhard aufsuchten, – nicht wahr?“
In Astas Gesicht zeigte sich etwas wie trotzige Auflehnung. Jetzt, wo sie der Gefahr so dicht gegenüberstand, war ihr plötzlich ein ungeahnter Mut gekommen. Vielleicht ließ sich das Verhängnis doch noch abwenden.
„Muß ich auf diese Frage antworten?“ fragte sie etwas von oben herab.
„Durchaus nicht, gnädiges Fräulein,“ meinte Werner höflich, indem er seinen Bleistift langsam durch die Finger zog. „Nur im Interesse der Untersuchung dieses Falles, der mir übergeben worden ist, dürfte es liegen, wenn Sie mir auch über Dinge Rede und Antwort stehen wollten, die vielleicht Ihrer Ansicht nach nicht zur Sache gehören.“ Dabei schaute er Asta so harmlos und liebenswürdig an, daß sie völlig entwaffnet war. In der Art und Weise, wie der Kommissar zu ihr sprach, lag so viel weltmännische Zuvorkommenheit, der gegenüber sie notwendig ihre Taktik ändern mußte.
„Nun denn – ich war bei Herrn Gebhard,“ sagte sie leicht verwirrt.
„Herr Gebhard ist Ihnen verwandt. Ich weiß es von den Dienstboten,“ suchte Werner ihr über die Peinlichkeit dieses Zugeständnisses hinwegzuhelfen.
Und nach einer Weile: „Der Brief heute Morgen kam doch auch von Herrn Gebhard, gnädiges Fräulein?“
Asta zögerte mit der Antwort. Aber die kühl blickenden Augen des Kommissars, von denen sie sich so unverwandt beobachtet fühlte, zwangen förmlich die Wahrheit aus ihr heraus.
„Ja.“ entgegnete sie leise. Ihr Mut war wieder dahin. Sie merkte, wie ihre Widerstandskraft immer mehr erlahmte und alle ihre Vorsätze in einen unentwirrbaren Knäuel von Gedanken sich auflösten.
„Und stand diese Mitteilung, die Herr Gebhard Ihnen zu so ungewöhnlich früher Stunde zukommen ließ und auf die hin Sie sich sofort zu ihm begaben, in irgendeinem Zusammenhang mit den Vorgängen der verflossenen Nacht?“ fragte der Kommissar weiter.
„Nein – nicht im geringsten,“ entfuhr es ihr hastig. Aber ihre Augen wichen den seinen aus.
„So – so –“ Das klang gedehnt, fast etwas spöttisch. Dann merkte sie, daß er ihr nicht glaubte. Und plötzlich schoß ihr eine nur zu verräterische Glut in die Wangen.
„Sie glauben mir nicht?“ Sie reckte sich höher. Aber diese Miene gekränkter Unschuld war zu sehr erkünstelt.
„Nein,“ erwiderte er gemessen. „Es wäre denn, daß Sie mir den Brief zeigten.“
Astas sank förmlich in sich zusammen. Haltlos starrte sie vor sich hin. Darauf war sie nicht vorbereitet gewesen.
„Den habe ich vernichtet,“ brachte sie endlich mühsam heraus. Ihr selbst kam die Rolle, die sie hier spielte, jetzt so kläglich vor, daß sie sich gar keine Mühe mehr gab, den Beamten von der Wahrheit ihrer Worte zu überzeugen.
„Schade.“ Das war alles, was der Kommissar hierzu bemerkte.
Asta brannte förmlich der Boden unter den Füßen. „Kann ich jetzt gehen?“ fragte sie fast ungeduldig.
„Ganz wie Sie wünschen, gnädiges Fräulein,“ meinte er gelassen und erhob sich. „Wir werden dann eben zu einer Ihnen gelegeneren Zeit auf all die Widersprüche zurückkommen, die ich in Ihrem Benehmen entdeckt habe.“
Sie schritt bereits auf die Tür zu, als er schnell hinzufügte:
„Ich fürchte, Sie suchen mir umsonst meine Aufgabe zu erschweren. Ich glaube bereits den Schuldigen zu kennen, gnädiges Fräulein.“
Sie war stehen geblieben. Aus ihren Augen sprach trostloseste Mutlosigkeit. „Sie werden einen Unschuldigen an den Pranger stellen. Denken Sie an diese meine Worte!“ stieß sie hervor und verließ fluchtartig das Zimmer.
„Merkwürdig – merkwürdig!“ murmelte Werner nachdenklich vor sich hin. „Das war ja plötzlich ein so ganz anderer Ton. – So klingt nur die Wahrheit.“
Zehn Minuten später verließ er die Liskowsche Wohnung, nachdem er noch mit dem Hausherrn eine kurze Rücksprache gehabt hatte und suchte die Portiersleute unten im Erdgeschoß auf. In einer knappen Viertelstunde hatte er dort von Frau Schubert alles Wissenswerte erfahren.
„Ob wohl Herr Gebhard daheim sein mag?“ fragte er jetzt und griff nach seinem Hut, den er in Ermangelung eines besseren Platzes auf das Fensterbrett des kleinen viereckigen Guckfensters gelegt hatte, welches auf dem marmorverkleideten Hausflur mündete.
„Sicher, Herr Kommissar,“ entgegnete die kleine redselige Portiersfrau, „ich habe ihn vorhin nach Hause kommen sehen, seitdem ist er nicht wieder fortgegangen.“
Daraufhin verabschiedete sich der Kommissar und stieg im Gartenhaus zum Atelier des Malers hinauf.
Auf sein Klingeln antwortete zunächst lautes Hundegebell. Dann wurde geöffnet. Gebhard selbst stand auf der Schwelle und musterte den ihm unbekannten Herrn.
„Sie wünschen?“
„Ich bin Kriminalkommissar Werner und komme in amtlicher Eigenschaft.“
Der Maler erbleichte. Seine Hand griff wie haltsuchend nach dem Türpfosten.
Dann sagte er mit heiserer Stimme:
„Wollen Sie bitte näherkommen?“
Ungeniert trat Werner ein. Seine Vermutung schien richtig zu sein – er würde bei dem Künstler finden, was er suchte.
Der Maler bot ihm einen Stuhl; er selbst lehnte sich mit über der Brust verschränkten Armen gegen den Schreibtisch.
„Sie wissen, in welcher Angelegenheit ich zu Ihnen komme?“ ging Werner sogleich auf sein Ziel los.
„Offen gestanden – nein.“ Das klang sehr ruhig und gefaßt. – „Ein nicht zu unterschätzender Gegner,“ dachte Werner und nahm sich vor, möglichst geschickt zu operieren. Vielleicht erreichte er etwas mit einer Überrumpelung.
„Fräulein van Zourleeven hat mir bereits den Inhalt des Briefes, den Sie heute Morgen für die junge Dame bei Liskows abgeben ließen, mitgeteilt,“ sagte er mit besonderer Betonung.
Gebhard wartete auffällig lange mit einer Antwort.
Schließlich meinte er gelassen: „Warum nicht? – Das stand Asta ja völlig frei.“ Und doch preßte ihm eine unbestimmte Angst förmlich die Kehle zusammen. Woher hatte der Kommissar nur Kenntnis von diesem Brief erhalten? Und was wußte er noch mehr?
„Nun, so ganz gleichgültig dürfte dieser Brief für bestimmte Personen doch wohl nicht sein,“ entgegnete Werner absichtlich recht ernst. Und diese klug berechnete Anzapfung hatte auch tatsächlich die erhoffte Wirkung. Guido Gebhard war deutlich zusammengezuckt. Aber eine Erwiderung, die der Kommissar bestimmt erwartet hatte, unterließ er. Schnell benutzte Werner die für ihn günstige Situation zu einem weiteren Vorstoß.
„Wäre es in Ihrem eigenen Interesse nicht auch besser, wenn Sie mir in dieser Beziehung völlig reinen Wein einschenkten?“ fragte er, sich möglichst unbestimmt ausdrückend.
Doch Gebhard hatte sich schon wieder gesammelt. Blitzschnell überlegte er sich, daß Asta dem Kommissar gegenüber sicherlich nur das zugegeben haben konnte, was abzuleugnen unmöglich war. Und selbst wenn diesem schlimmstenfalls das Schreiben durch einen Zufall in die Hände geraten sein sollte, so hätte der Beamte daraus doch nichts entnehmen können. Dazu war es zu vorsichtig abgefaßt gewesen. Fraglos war er also dem Kommissar soeben in eine Falle gegangen. Das sollte nicht noch einmal passieren. Er wurde jetzt schon auf seiner Hut sein.
„In welcher Beziehung? Ich verstehe Sie nicht?“ meinte er daher, den Erstaunten spielend.
Werner wurde ungeduldig. „Dann muß ich deutlicher werden. – Wann sind Sie in der vergangenen Nacht nach Hause gekommen?“
„Gegen halb vier Uhr morgens.“
„Und was taten Sie nach Ihrer Heimkehr?“
„Ich las erst die Abendzeitung und schrieb dann den Brief an Fräulein van Zourleeven.“
„Und dann –?“
„Dann ging ich nochmals aus und zwar ins Humser-Bräu in der Tauentzienstraße, wo viele jüngere Künstler verkehren und ich selbst ständig zu Mittag esse, und übergab dem mir gut bekannten Oberkellner den Brief mit der Bitte, ihn morgens gegen acht Uhr durch einen Dienstmann an die angegebene Adresse befördern zu lassen.“
„War das Restaurant denn zu so später Stunde noch geöffnet?“
„Ja. In den reservierten Zimmern wurde ein kleines Fest gefeiert. Eine Nachfrage bei dem Kellner wird meine Angaben bestätigen. – Hierauf machte ich mich wieder auf den Heimweg, schlief bis gegen sieben Uhr, trank Kaffee und ging dann wieder aus, um beim Verlag Modern einige fertige Illustrationen abzuliefern.“
Der Kommissar, der den Maler nicht eine Sekunde aus den Augen ließ, wiegte unzufrieden den Kopf hin und her.
„Wozu dieses Versteckspiel, Herr Gebhard?“ meinte er etwas ironisch. „Ich weiß zufällig ganz genau, daß Sie inzwischen noch Besuch hatten. Fräulein van Zourleeven war bei Ihnen.“
„Freilich. Mir erschien das aber zu nebensächlich, um es besonders zu erwähnen,“ erklärte Gebhard, dieses Mal um eine Antwort nicht verlegen.
„Nebensächlich? Das käme doch sehr darauf an,“ sagte Werner etwas gereizt. Er hatte sich nicht getäuscht. Leicht machte ihm dieser junge Künstler die Sache nicht. Er mußte es mit einem letzten Gewaltstreich versuchen.
„Die junge Dame ist klug genug gewesen, mir auch den Inhalt dieser kurzen Unterredung mit Ihnen nicht vorzuenthalten,“ begann er wieder in möglichst eindringlichem Ton. „Ich wiederhole daher nochmals: „Sie tun wirklich am besten, wenn Sie ein Geständnis ablegen, Herr Gebhard.“
Wie sehr er mit dieser letzten Bemerkung daneben getroffen hatte, mußte er nur zu schnell einsehen. Denn es schien, als ob der Maler jetzt fast erleichtert aufatmete. Sein Gesicht nahm einen ganz anderen, direkt zuversichtlichen Ausdruck an. Wußte er nun doch endlich, daß der Beamte mit all diesen Fragen, die so raffiniert doppeldeutig gefaßt waren, nur hatte auf den Busch klopfen wollen und daß er in Wahrheit noch völlig im Dunkeln tappte.
„Ein Geständnis?!“ meinte er deshalb mit kaum merklichem Lächeln. „Also darum dieses Verhör! Sie halten mich wohl gar für den Dieb der Liskowschen Diamanten! – Nun, wenn Ihnen an der Versicherung eines Menschen, der noch nie mit den Gesetzen in Konflikt gekommen ist, etwas liegt, ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich dem Verbrechen völlig fern stehen.“ Dies konnte er ja mit ruhigem Gewissen versichern.
„Und wer erzählte Ihnen zuerst von dem Diebstahl, Herr Gebhard?“ machte Werner einen letzten Versuch, den andern irgendwie in Widersprüche zu verwickeln.
„Fräulein van Zourleeven bei Gelegenheit ihres Besuches,“ entgegnete der junge Künstler ohne Zögern.
Der Kommissar begann sich recht unbehaglich zu fühlen. Denn das sagte ihm die reiche Erfahrung seines Berufes: Mochte ein Mensch auch ein noch so vollendeter Heuchler und Schauspieler sein, diese natürliche, ungezwungene Sicherheit, mit der der Maler sich jetzt plötzlich gab, nachdem er erfahren hatte, um was es sich hier eigentlich handelte, konnte nur den Gefühlen völliger Unschuld entspringen. –
Diese Fährte, die er bis jetzt verfolgt hatte, war mithin falsch. Der Brief und Asta van Zourleevens Besuch bei Guido Gebhard, denen er so große Wichtigkeit beigemessen hatte, bildeten fraglos – dafür sprach das eigentümliche Verhalten der Beteiligten nur zu sehr – den Schlüssel zu einem anderen Geheimnis. Mit dem Verbrechen der vergangenen Nacht aber standen sie in keinerlei Zusammenhang.
Ebenso konnte man auf den Umstand, daß der Maler, kurz nachdem der Diebstahl ausgeführt worden war, das Haus verlassen hatte, lediglich als einen Zufall ansehen. Und doch war es dieser Zufall gewesen, durch den der erste Verdacht gegen Gebhard in dem Kommissar aufgestiegen war.
Werner gelang es nur schwer, seine Enttäuschung zu verbergen. Er suchte vergeblich nach Worten, mit denen er seinen offenbaren Mißgriff wieder gutmachen konnte. Schließlich dachte er aber doch, mit Offenheit diesen Zweck am ehesten zu erreichen.
„Herr Gebhard,“ begann er, zunächst allerdings noch etwas zögernd, da ihm dies Geständnis nicht ganz leicht wurde, „ich glaube Ihnen jetzt, daß Sie an dem Diebstahl völlig unbeteiligt sind, und gebe zu, daß ich mich in einem für Sie recht unangenehmen Irrtum befand. Ich hielt Sie tatsächlich für den Täter. Die Jagd nach dem wirklichen Dieb beginnt nun von neuem. Mit wenig Lust gehe ich nach diesem Fehlgriff wieder ans Werk. Ich bin in der Beziehung abergläubisch. Noch immer mißlang mir die Aufdeckung eines Verbrechens, wenn ich nicht sofort die richtige Spur aufnahm.“
Er streckte dem Maler die Hand hin.
„Es tut mir aufrichtig leid, daß ich Sie in dieser Weise belästigt habe, Herr Gebhard. Bitte, tragen Sie’s mir nicht weiter nach. Ich tat ja nur meine Pflicht. Denn auch wir Kriminalbeamte sind ja leider, leider nur Menschen und können als solche irren – wie hier in Ihrem Fall.“
Es war an demselben Tag gegen drei Uhr nachmittags. Baron von Weitrap, der in einem Geschäft Unter den Linden einige Einkäufe gemacht hatte, wollte eben wieder in sein Auto steigen, als er plötzlich stutzte und dann auf einen schlanken Herrn zuging, der am Rande des Trottoirs stand und aufmerksam den Automobildroschken entgegenblickte, die in fast ununterbrochener Linie vom Brandenburger Tor her nach dem Königlichen Schloß vorüberratterten.
„Lönning, wär’s möglich –!“
Der Angeredete fuhr herum. „Weitrap? Wahrhaftig, der Axel Weitrap! So hat man doch wenigstens mal eine Freude!“
Sie schüttelten sich kräftig die Hände.
„Deine letzte Randbemerkung klang merkwürdig weltschmerzlich, Fred,“ meinte der Baron und musterte wie prüfend den alten Bekannten, mit dem er noch vor wenigen Jahren recht vergnügte Zeiten auf Reitschule in Hannover verbracht hatte.
„Sag’ schon lieber unzufriedener,“ verbesserte Lönning ihn mit einer Handbewegung, als ob er einen ganzen Chor von Gespenstern verabscheuchen wollte. „Viel Gaudi hab ich, seitdem wir uns zuletzt gesehen, wirklich nicht erlebt. Du wirst’s ja wohl gehört haben, ich bin seit zwei Jahren zur Reserve übergetreten. Der Not gehorchend – im vollsten Sinn dieses tristen Wortes.“
„Ich weiß,“ nickte Weitrap. „Dein Vater hat Unglück gehabt und –“
„Starb zur rechten Zeit, um nicht mehr mitansehen zu müssen, wie seine drei Kinder in die Welt hinauszogen, um irgendwo kümmerlich ihr Brot zu verdienen,“ vollendete der andere bitter, doch schnell fügte er, schon wieder in anderem Ton, hinzu: „Aber die Hauptsache, sie verdienen sich’s. Ob’s ihnen Spaß macht, steht freilich auf einem etwas undeutlich gedruckten Papier.“
„Was treibst du denn jetzt eigentlich, Fred?“ lenkte Weitrap ab. „Du als früherer gymnasialer Abiturient mußt doch leicht irgendwo ein gutes Unterkommen gefunden haben.“
„Lieber Axel – gutes Unterkommen! Bei der heutigen Überfüllung in allen Berufszweigen! Untergeschlüpft bin ich schleunigst, wo gerade noch eine freie Stelle und wenigstens etwas Aussicht auf Karriere vorhanden war. Und diese Gelegenheit bot sich mir bei der Königlichen Polizei in Frankfurt am Main. Auch nur durch Vermittlung sogenannter wohlmeinender Verwandten in höheren Staatsstellungen. Seit einem Monat bin ich nun Kriminalkommissar. Auf meinen Antrag wurde ich nach Berlin versetzt, eben weil ich hoffte, hier schneller vorwärtszukommen, wo die Herren Gauner der ganzen zivilisierten Welt sich ein Stelldichein und dadurch einem strebsamen Polizeimenschen leichter die Möglichkeit geben, sich besonders hervorzutun. Ich fürchte nur, diese Hoffnung wird bei mir eine trügerische bleiben. Denn ganz unter uns, Axel – was man so gesunden Menschenverstand nennt, den hab’ ich ja wohl. Aber zum Kriminalkommissar gehört doch ein bißchen mehr. Das ist mir klar geworden. Und in dieser Beziehung haperts bei mir. Dieses „bißchen mehr“ fehlt eben.“
„Bist du aber bescheiden geworden, was die Einschätzung deiner eigenen Person anbetrifft!“ lächelte Weitrap. „Nun – das schadet ja nichts,“ setzte er ernster hinzu. „Besser, man wird sich bei Zeiten darüber klar, was man zu leisten vermag. Dann richtet man eben sein Wollen schön verständig nach seinem Können ein. Kommt schließlich doch Besseres dabei heraus, als man selbst anfänglich vermutete, so ist’s nur eine angenehme Enttäuschung.“
„Wahrhaftig – wahrhaftig! Noch immer der alte Weitrap, der Philosoph, wie wir dich auf Reitschule nannten,“ sagte Lönning mit immer mehr durchbrechender Fröhlichkeit, die ja auch den Grundzug seines Charakters bildete.
Dann besann er sich plötzlich auf seine dienstlichen Obliegenheiten.
„Verflixt – ich stehe hier und sonne mich im Glanz deiner Gardeuniform und müßte eigentlich längst auf dem Kurfürstendamm sein. Dienstlich. Sogar sehr. Ein Fall, bei dem mir meine Vorgesetzten wohl so etwas auf den Zahn fühlen wollen. Suchte eben, als du erschienst, ein leeres Auto. Die Sache hat Eile. Ich möchte mir nämlich noch bei Tageslicht den Tatort so etwas ansehn.“
„Aber warum sagtest du das denn nicht gleich. Da steht ja mein Wagen. Bitte, steig ein. – Keine Widerrede. Ich habe nichts zu versäumen. – Und wohin soll’s gehen?“
„Kurfürstendamm 304.“
Als der Baron die Nummer hörte, stutzte er unwillkürlich. Aber er unterdrückte vorläufig die sich ihm aufdrängende Frage, gab dem Chauffeur die nötigen Befehle und setzte sich neben den alten Bekannten in den Fond des eleganten Autos, an dessen Türen das Wappen derer von Weitrap und darüber die freiherrliche Krone in bescheidener Größe sichtbar waren.
Der Chauffeure kurbelte den Motor an. Wie ein nervöses Zittern durchlief es das moderne Gefährt. Da wandte sich der Baron auch schon an seinen Begleiter.
„Ein merkwürdiger Zufall, Lönning. Kurfürstendamm 304 wohnt nämlich auch eine Familie, bei der ich sehr viel verkehre, Kommerzienrat Liskow.“
Der ehemalige Kaiserulan fuhr ordentlich herum.
„Das wird ja hochinteressant. Zu Liskows bin nämlich auch ich hinbeordert – wegen des großen Diamantenraubes.“
Der Baron starrte seinen Nachbarn ganz entgeistert an. Eben passierte das Auto das Brandenburger Tor. Der Posten der Wache präsentierte. Aber Weitrap war so ganz von dem Gehörten in Anspruch genommen, daß er zu danken vergaß.
„Diamantenraub – bei Liskow –? – Ja träume ich denn. Davon habe ich ja keine Ahnung,“ stieß er ganz gegen seine Gewohnheit in überstürzter Hast hervor. „Ich war ja noch gestern abend dort. Und jetzt – Diamantenraub –?! Wann ist denn das passiert?“
Aber Lönning ließ ihn eine geraume Zeit auf Antwort warten. Das Zusammentreffen mit Weitrap war unter diesen Umständen ja mehr als ein glücklicher Zufall, sagte er sich. Führte der Baron ihn bei Liskows ein, so würde man ihn fraglos ganz anders behandeln, als wenn er sich nur als Beamter dort einstellte. Und nicht nur behandeln. Darauf kam’s ja auch weniger an. Aber man würde ihm freiere Hand bei seinen Ermittlungen lassen, würde mitteilsamer sein, und das alles mußte ihm ja seine Aufgabe wesentlich erleichtern. Wirklich – da hatte er Glück gehabt, daß er gerade Unter den Linden nach einem Auto ausschaute.
Da fiel ihm ein, daß er dem Baron noch immer eine Erklärung schuldig war.
„Verzeih’, Axel. – Ich habe dich soeben in meinen Feldzugsplan gegen den unbekannten Spitzbuben, der bei Liskows einen so erfolgreichen Fischzug veranstaltet hat, als verbündete Macht eingestellt – wenigstens in Gedanken. Davon später. Zunächst will ich also deine berechtigte Neugier befriedigen. – Der Kommerzienrätin sind also in der vergangenen Nacht ihre sämtlichen Preziosen gestohlen worden – durch einen Gauner, der über den Balkon in ihr Schlafzimmer kletterte, wo sich gerade niemand aufhielt, und die Brillanten hübsch handlich auf dem Frisiertisch liegend – nur zu nehmen und einzustecken brauchte. Das besorgte der Spitzbube denn auch gründlich und verduftete wieder auf demselben Weg, den er gekommen. Zwar hat ihn Frau Liskow noch im letzten Augenblick überrascht, aber vor Schreck sich natürlich den Mann nicht gerade auf besondere Kennzeichen hin angesehen. Der Diebstahl ist bisher so unaufgeklärt wie nur möglich. Und da soll ich nun helfend eingreifen, nachdem mein Kollege Werner bereits in der Sache tätig gewesen ist, aber nur festzustellen vermochte, wo man den Spitzbuben nicht zu suchen hat. Immerhin schon etwas und „besser wie jarnischt“, wie ich früher sagte, wenn ich auf dem grünen Rasen einen elenden Schinder, der den Ehrentitel Rennpferd kaum verdiente, dank meines bißchens Reitkunst noch glücklich als dritten platzierte.“
Weitrap war noch immer ganz sprachlos über diese Neuigkeit.
„Ein böser Abschluß des gestrigen Festes,“ meinte er bedauernd. „Man sieht wieder, wie nahe Freude und Leid nebeneinander wohnen. – Denn angenehm kann ja diese Überraschung für die Kommerzienrätin kaum gewesen sein. Das berühmte van Zourleevensche Erbstück, ein Kollier von erbsengroßen Diamanten, muß allein einen Wert von hunderttausend Mark haben. Und einen derartigen Verlust verschmerzen selbst Millionäre ungern.“
„Vermutlich,“ nickte Lönning etwas zerstreut. Er wußte nicht recht, ob er den alten Kameraden um die Gefälligkeit bitten sollte, ihn bei Liskows einzuführen. Nun – eine vorsichtige Anfrage, wie der Oberleutnant sich dazu stellen würde, konnte ja nichts schaden.
„Würdest du nicht vielleicht mit zu Liskows nach oben kommen?“ sagte er daher so nebenbei. „Wenn du bei den Herrschaften viel verkehrst, wär’s ja vielleicht ganz angebracht, ihnen –“
„Genau dasselbe beabsichtigte ich auch,“ unterbrach der Baron ihn eifrig. „Ich wußte nur nicht, ob ich dich nicht störe. Du hast doch dienstlich dort zu tun und –“
„Von Stören ist keine Rede. Im Gegenteil. Ich will ganz ehrlich sein, es wäre mir sogar sehr angenehm, wenn du mich begleiten würdest. Aus verschiedenen Gründen. Da sind wir ja anscheinend schon am Ziel. – Donnerwetter – das ist ja eine riesig feudale Bude,“ warf er beim Aussteigen hin und musterte das vornehme, reich mit Sandstein verkleidete Gebäude langsam von dem mit Türmen flankierten Dach bis hinab zu dem breiten Portal mit der schweren, schmiedeeisernen Tür. –
Weitrap klingelte im ersten Stock.
Der Diener öffnete und ließ sie eintreten.
„Die Herrschaft zu Hause?“ fragte Weitrap kurz und begann dabei, seinen grauen Paletot aufzuknöpfen. Er war bei Liskows noch nie abgewiesen worden.
„Der Herr Kommerzienrates ist verreist. Aber die Damen sind zu Hause,“ gab Franz mit tiefem Bückling Auskunft.
„Gut. Melden Sie uns.“ Der Diener verschwand mit dem silbernen Kartenteller. Bald war er wieder zurück.
„Die gnädige Frau läßt bitten.“ Er half den Herren erst aus den Mänteln und führte sie dann in den großen Salon.
„Die gnädige Frau wird sofort erscheinen.“
Lönning schaute sich auch hier prüfend um. „Gediegene, vornehme Einrichtung,“ stellte er fest. „Zeugt alles von erlesenem Geschmack. Keine Protzerei – nirgends.“ –
Es dauerte doch eine ganze Weile, ehe Frau Wilma Liskow den Salon betrat.
Weitrap ging ihr entgegen.
„Meine gnädige Frau, ich wollte nicht versäumen, Ihnen mein aufrichtiges Bedauern über dieses unangenehme Nachspiel des gestrigen Festes auszusprechen.“ Und er zog ihre leicht nach einem diskreten Parfüm duftende Hand ehrerbietig an die Lippen.
„Gleichzeitig möchte ich mir aber auch erlauben,“ fuhr er schnell fort, „Ihnen einen alten Bekannten, den dieselbe traurige Sache zu Ihnen führt, vorzustellen – Herrn Kriminalkommissar von Lönning.“
Frau Wilma fand erst jetzt Gelegenheit, dessen Erscheinung mit einem schnellen taxierenden Blick zu überfliegen. Unzweifelhaft ein früherer aktiver Offizier, dachte sie. Die ganze Haltung und die ungezwungenen, sicheren Bewegungen, mit denen er jetzt auf sie zukam, sprachen unzweifelhaft für die Richtigkeit dieser Annahme.
Sie reichte auch ihm die feine, schmale Hand. „Seien Sie mir willkommen, Herr von Lönning. Ihr Name kommt mir recht bekannt vor. Sollten wir uns nicht schon irgendwo begegnet sein?“
„Bedaure unendlich, gnädigste Frau. Ich entsinne mich nicht. Allerdings – ich habe ja seinerzeit – in besseren Tagen – so ziemlich alle Rennplätze Deutschlands unsicher gemacht, und da könnte es immerhin möglich sein, daß ich bereits den Vorzug gehabt habe.“
„Nun, das wird sich schon noch feststellen lassen. Aber – wollen die Herren nicht Platz nehmen? – Von Ihnen, Herr Baron, ist es jedenfalls sehr aufmerksam, daß Sie so schnell den Weg zu uns gefunden haben. Wenn ich recht gehört habe, Herr von Lönning, kommen Sie auch in dieser Angelegenheit zu uns, nicht wahr?“ wandte sie sich dann an den Kommissar.
„Allerdings. Ich bin zum Nachfolger meines Kollegen Werner bestimmt worden, der die bisherigen Ermittlungen geleitet hat, jetzt aber plötzlich in einem anderen dringenden Fall nach auswärts berufen worden ist. – Ich hätte auch eine Bitte, gnädige Frau. Könnte ich vielleicht sofort, noch ehe es dunkel wird, den Tatort in Augenschein nehmen? – Alles andere, was das Verbrechen anbetrifft, habe ich bereits von meinem Kollegen erfahren.“
„Aber gern, Herr von Lönning. – Lieber Baron,“ bat sie den der Tür am nächsten sitzenden Oberleutnant, „klingen Sie doch bitte dreimal. Da dicht hinter Ihnen an der Wand befindet sich der Druckknopf.“
Als der Diener erschien, händigte sie Lönning mit feinem Lächeln einen Schlüssel aus.
„Ich bin ganz gehorsam gewesen,“ erklärte sie. „Herr Kriminalkommissar Werner sprach heute Vormittag meinem Mann gegenüber den Wunsch aus, daß in meinem Schlafzimmer nichts berührt werden sollte, bis er wiederkäme. Ich habe es daher abgeschlossen. Hier ist der Schlüssel. – Franz, führen Sie den Herrn Kommissar in den Seitenflügel und geben Sie die gewünschte Auskunft.“
Als Lönning in Begleitung des Dieners das Schlafgemach der Kommerzienrätin betrat, schaute er sich darin zunächst nur flüchtig um und ging dann sofort auf den Balkon hinaus, der zu den beiden Schlafräumen des Ehepaares gehörte und auch von jedem der Zimmer aus betreten werden konnte. Nachdenklich, sich all die Einzelheiten, wie das Verbrechen nach Ansicht Werners begangen sein mußte, nochmals vergegenwärtigend, blickte er in den Hof hinab, wo die armseligen, längst entblätterten Linden standen, deren eine der Dieb wahrscheinlich erklettert hatte, um sich zu überzeugen, ob das Schlafzimmer Frau Liskows leer war. Dann wanderten seine Augen bis zu den Atelierfenstern des jungen Malers empor. Er begriff jetzt vollkommen, daß Werners Verdacht gegen Guido Gebhard durch die örtlichen Verhältnisse nur noch verstärkt worden war. Eigentlich doch eine großartige Leistung von seinem Kollegen, wie dieser all die feinen Kombinationen so trefflich aneinandergereiht hatte. Schade nur, daß diese ganze Geistesarbeit umsonst gewesen war. Und hier sollte nun er, Ferdinand Lönning, mit seinen geringen Erfahrungen zupacken und die auf dem toten Punkt angelangte Geschichte wieder flott machen – hier, wo Werner, der „große Werner“ sogar versagt hatte! Ihm wurde immer unbehaglicher zu Mute. Lorbeeren gab’s hier für ihn sicher nicht zu holen.
Leise aufseufzend verließ er den Balkon und trat in das Schlafzimmer zurück, wo Franz noch immer wartend neben dem berühmten Frisiertisch stand, in dessen geschliffener Glasplatte sich noch vor etwa zwölf Stunden die farbigen Strahlenbündel der Diamantengeschmeide wiedergespiegelt hatten. Lönning blickte sich in dem mit lichtblauem Stoff ausgeschlagenen Raum jetzt etwas eingehender um. Aber zu sehen gab’s da leider nichts Besonderes. Und nur um irgend etwas zu fragen, wandte er sich schließlich an den Diener:
„Die Türglocke führt in das Zimmer des Kommerzienrats?“
„Jawohl, Herr Kommissar.“
„Gut. Dann brauche ich Sie jetzt hier nicht mehr.“
Franz verschwand auf diesen deutlichen Wink hin sofort. Der frühere Leutnant der Kaiserulanen lehnte sich gegen das Fußende des breiten französischen Bettes und starrte ziemlich mißmutig vor sich hin. Sollte er denn wirklich hier wieder fortgehen, ohne auch nur das geringste Neue entdeckt zu haben?! –
Und wieder rief er sich all das ins Gedächtnis zurück, was Werner ihm über diesen schwierigen Fall mitgeteilt hatte. Halt – ein Gedanke. In der verflossenen Nacht hatte es geregnet. Konnte da der Dieb, der doch von dem nassen Hof her in das Zimmer gekommen war, nicht vielleicht auf dem glänzend gebohnerten Fußboden Spuren hinterlassen haben?! Ob Kollege Werner daran nicht gedacht hatte?!
Und aufgerüttelt durch diese bescheidene Hoffnung kniete Lönning schnell dicht bei der offenstehenden Balkontür nieder und musterte die Dielen immer aufs neue mit größter Aufmerksamkeit. Kein Fleckchen, keine Kratzspur entging seinen Blicken. Aber das, was er suchte, fand er nicht. Auch nicht vor dem Frisiertisch, wo der Dieb doch notwendig einige Sekunden auf einer Stelle still gestanden haben muß, als er die Brillanten zusammenraffte. Dort hätten dessen feuchte Schuhsohlen unbedingt auf dem tadellos blanken Boden einen matten Abdruck zurücklassen müssen – unbedingt! Und feucht mußten die Sohlen bei dem anhaltenden Regen der gestrigen Nacht gewesen sein, zumal der Spitzbube doch fraglos ohne langes Zögern vom Hof her in das Zimmer eingestiegen war und seine Schuhsohlen daher in der kurzen Zeit unmöglich trocken geworden sein konnten! Wie reimte sich aber dieser negative Befunde mit der Theorie seines Kollegen Werner zusammen? Wie?
Lönning erhob sich hastig. Sein Denken hatte eine ganz neue Richtung gekommen. Ja, er mußte die Geschichte hier anders anpacken, wenn er zu einem Erfolg kommen wollte. Bisher hatte er die Sache immer nur von den Gesichtspunkten aus betrachtet, die ihm von Werner vorhin auf dem Polizeipräsidium in so erschöpfender Weise entwickelt worden waren und die in der Annahme gipfelten, daß ein unbekannter Täter von außen in das Schlafgemach eingedrungen sei. Und diese Annahme hatte ihn auch dazu bestimmt, auf dem Fußboden nach Spuren zu suchen. Er war also gleich mit einer fertigen Ansicht über die Art der Ausführung des Verbrechens an seine Aufgabe herangegangen – ein Fehler, vor dem der alte Kriminalinspektor in Frankfurt, der ihn in die Praxis der kriminalistischen Tätigkeit eingeweiht hatte, nie genug warnen konnte.
Also fort mit all dem, was der Kollege ihm als gutgemeinte Fingerzeige mitgeteilt hatte. Aus den nackten Tatsachen und dem, was er selbst daraus weiter zu kombinieren vermochte, mußte er sich seine eigene Theorie aufbauen. –
Und so lehnte er sich abermals gegen das Bett und grübelte und grübelte. Sorgfältig wog er eine Möglichkeit gegen die andere ab. Aber immer wieder kam er jetzt dabei zu dem auffallenden Moment zurück, daß die nassen Schuhe des Diebes so gar keine Spuren hier in diesem Zimmer hinterlassen hatten. Dieser Umstand gewann stetig an Bedeutung. Er mußte sich daher unbedingt über diesen Punkt völlige Sicherheit verschaffen.
Da stand ja eine Wasserkaraffe auf dem Nachttischchen. Schon hatte er sein Taschentuch angefeuchtet und rieb sich nun die Sohle seines linken Stiefels damit ein. Daß einige Tropfen dabei auf den Boden flossen, kümmerte ihn wenig. Dann wartete er eine Weile und stellte nun den Fuß fest auf den Boden auf. Als er ihn nach einigen Sekunden wieder hochhob, war ganz deutlich auf der glänzenden Bohnermasse ein trüber Fleck zu sehen. Aber – würde der auch von Bestand sein oder etwa nach einiger Zeit wieder verschwinden? –
Nun, davon konnte er sich später überzeugen. Inzwischen war’s vielleicht ganz angebracht, einmal in das nebenan liegende Zimmer des Kommerzienrats einen Blick zu werfen.
*
Franz war, als der Kommissar ihn weggeschickt hatte, in die Küche zurückgekehrt, wo die beiden weiblichen Dienstboten ihn sofort mit allerlei Fragen bestürmten. Bereitwillig erteilte er jede Auskunft.
„Noch einen zweiten Kriminalkommissar haben sie uns jetzt hergeschickt,“ sagte er etwas geringschätzig. „Der wird auch nichts finden. Das ist so ein ganz feiner. Aber scheinbar doch etwas gemütlicher als Werner, der Vormittags hier war.“
Plötzlich schellte nebenan die Klingel des Haustelegraphen.
„Viermal. Das gilt Ihnen, Beate,“ meinte Franz und warf sich, ungeniert gähnend, in den Küchenstuhl am Fenster. –
Das Stubenmädchen zupfte sich noch schnell vor dem Spiegel das weiße Häubchen zurecht und eilte davon.
Die Köchin legte jetzt schnell den Teller, den sie eben in dem Spülkasten gereinigt hatte, beiseite und trat ganz dicht an den Diener heran.
„Wissen Sie, Franz,“ begann sie leise, „was mir vorhin eingefallen ist? Die Beate hat doch seit einiger Zeit einen Verehrer, der sich Techniker nennt. Der Mensch ist mir gleich nicht ganz geheuer vorgekommen. Und als wir letzten Sonntag im „Orpheum“ auf dem Gesellenball waren, da hat er mich immer so recht neugierig ausgefragt, wie’s hier bei uns im Hause zugeht. Ob unsere Herrschaft reich ist, ob viel Gesellschaften gegeben werden und noch manches andere. Damals fiel mir die Aushorcherei ja nicht auf. Wer denkt auch gleich etwas Schlechtes. Aber jetzt. Gerade hier in Berlin sollen ja die Spitzbuben zuerst durch die Dienstboten sich so ‘ne gute Gelegenheit auszuspionieren suchen. Noch letztens stand was Ähnliches in der Zeitung. Wär’s nun nicht möglich, daß –“ Ihren Verdacht deutlich auszusprechen, wagte sie doch nicht. Aber ihr frisches, rotes Gesicht verzog sich dafür zu einer Grimasse, die vielsagend genug war.
Franz, der sich hier im Reich der Kochtöpfe gern als den geistig Überlegenen aufspielte, wiegte sinnend seinen etwas groß geratenen Kopf hin und her.
„Möglich ist alles, Marie,“ meinte er mit Pathos. „Aber beweisen, beweisen. – Hat der Schatz von der Beate sich denn auch nach den Brillanten unserer Gnädigen erkundigt? – Das wäre vielleicht von größerer Bedeutung.“
Marie senkte etwas verlegen das schon leicht ergraute Haupt, auf dem der falsche Kopf verräterisch mit seiner stumpfen braunen Farbe von dem übrigen Haar abstach.
„Ich will man ehrlich sein,“ erwiderte sie dann zögernd. „Gefragt hat er nicht danach. Aber ich habe ihm selbst davon erzählt. Eigentlich nur, um so’n bißchen zu prahlen.“
Franz riß seine Augen ganz weit auf. „Und das haben Sie der Polizei bisher verschwiegen, Marie?! Wie konnten Sie nur!“
„So wahr ich lebe – ich hab wirklich erst eben dran gedacht,“ verteidigte sie sich mit Eifer. „Und wenn Sie meinen, daß es wichtig ist, Franz, dann sagen Sie’s nur dem neuen Kommissar. Aber nicht so, daß Beate etwas davon erfährt. Ich will mich nicht mit ihr verfeinden. Sie hält auf den Karsten große Stücke.“
„Richtig – Karsten heißt er,“ brummte Franz mit der Miene eines strengen Staatsanwalts. „Also, Marie – ich werd’s dem Kommissar schon nachher noch beibringen. Am besten, ich halte mich im vorderen Flur auf. Wenn er dann aus dem Schlafzimmer zurückkommt, bietet sich ’ne unauffällige Gelegenheit dazu. Er wird schon –“
„Pst – Beate,“ warnte die Köchin und hatte bereits wieder einen Teller vor, den sie, die Gleichgültige spielend, abtrocknete.
Franz hatte Glück. Erst wenige Minuten hatte er sich in dem Korridor des linken Seitenflügels herumgedrückt, anscheinend eifrig den Staub von den Paneelbrettern wischend, als sich die Tür des Schlafgemachs der Kommerzienrätin öffnete und Lönning heraustrat.
„Ah – gut, daß ich Sie treffe,“ begann dieser sofort und winkte den Diener herbei. „Treten Sie ein. Ich habe Sie noch etwas zu fragen. Nichts, was mit dem Diebstahl zusammenhängt,“ fügte er hinzu, als sie wieder in dem Zimmer Frau Liskows standen, wo es jetzt schon ziemlich dämmerig war. „Sie könnten mir über einiges Auskunft geben, was gerade herrschaftliche Diener am besten zu wissen pflegen. Ich bin erst kurze Zeit in Berlin und kenne die hiesigen Geschäfte so gut wie gar nicht. Ist Ihnen vielleicht ein guter Schuhmacher bekannt – nicht allzu teuer? Ich lege aber Wert auf vorzüglich sitzende Fußbekleidung.“
„Ich wüßte schon einen Schuhmacher, der tadellos arbeitet,“ meinte Franz eifrig. „Der Herr Kommerzienrat ist dort ebenfalls Kunde. – Meinhard in der Kantstraße – Kantstraße 233, gleich am Savignyplatz.“
„Und der Kostenpunkt? – Was würden zum Beispiel ein paar Lackschuhe für Gesellschaftszwecke kosten?“ steuerte Lönning klug berechnend auf sein Ziel los.
„Der Herr Kommerzienrat hat noch letzte Woche ein solches Paar geliefert bekommen. Preis dreißig Mark. Wenn Sie es wünschen, kann ich die Schuhe holen, damit Sie sich die Machart ansehen, Herr Kommissar,“ erklärte Franz mit größter Bereitwilligkeit.
„Wenn Sie so gut sein wollen,“ nickte Lönning, ohne sein atemloses Interesse an diesem Zwischenspiel jedoch irgendwie zu verraten.
„Sehr gern. Die Stiefel stehen ja gleich im Nebenzimmer in dem großen Garderobenschrank.“
Franz war schnellstens wieder zurück. Lönning nahm einen der spiegelblanken Lackschuhe und trat damit an die offene Balkontür, wo es noch hell genug war, um dieses Meisterstück eines weltstädtischen Fußbekleidungskünstlers bewundern zu können.
„Gefällt mir,“ sagte er nach kurzer Musterung. „Elegante Form. Habe nichts daran auszusetzen. – Die Schuhe scheinen noch gar nicht getragen zu sein,“ fügte er so nebenbei hinzu.
„Nur einmal. Gestern Abend hatte der Herr Kommerzienrat sie zu der Gesellschaft an.“
Lönning ging es wie ein elektrischer Schlag durch den Körper. Aber er ließ sich diese innere Erregung nicht anmerken. Scheinbar gleichmütig reichte er dem Diener den glänzenden Stiefel zurück.
„Gut. – Und wie steht’s mit einem tipp toppen Schneider?“
Auch in dieser Beziehung vermochte Franz den Kommissar eine erstklassige, nicht zu teure Firma zu nennen. Und Lönning schrieb sich jetzt sogar, um die Komödie recht wahrheitsgetreu zu Ende zu führen, die beiden Adressen auf. Als er sein Notizbuch wieder fortgesteckt hatte, faßte sich Franz wirklich ein Herz und teilte ihm umständlich den Verdacht mit, den die Köchin gegen Beates neuesten Verehrer geäußert.
Der Kommissar ließ den Diener ruhig ausreden, obwohl dessen langatmige Erklärungen ihm durchaus nicht so schwerwiegend erschienen. Aus Klugheit heuchelte er nachher doch die größte Überraschung.
„Was Sie sagen!“ meinte er, scheinbar ganz Feuer und Flamme. „Das kann ja von ganz außerordentlicher Wichtigkeit sein! Endlich eine Spur. Denn bisher tappten wir völlig im Dunkeln. Bestellen Sie jedenfalls der Köchin, daß sie zu keinem Menschen davon ein Wort spricht, zu keinem. Auf Ihre eigene Verschwiegenheit kann ich mich ja wohl verlassen. – Noch eins. Wo wohnt dieser Techniker Karsten denn? Suchen Sie es doch zu erfahren und schicken Sie mir dann die Adresse in einem Briefumschlag nach dem Polizeipräsidium. Hier ist meine Karte – und dies nehmen Sie für Ihre Bemühungen.“ Er drückte ihm ein Dreimarkstück in die Hand. „So. Jetzt ist meine Aufgabe vorläufig hier erledigt. Ich werde dieses Zimmer wieder abschließen. Gegen neun Uhr abends komme ich nochmals her, da ich mir den Raum auch bei künstlicher Beleuchtung ansehen muß. – Adieu. Die Herrschaften sind wohl noch im Salon?“
„Wahrscheinlich. Herr Kommissar gestatten – ich werde vorangehen.“
Weitrap und die beiden Damen hatten sich inzwischen jedoch in Frau Liskows behagliches Damenzimmer zurückgezogen. Die schweren Portieren vor den Fenstern waren geschlossen und über dem runden Tisch brannte nur die mittelste, von einem gelbseidenen Schirm verhüllte Flamme der zierlichen Deckenlampe, so daß der kleine Raum in ein verschwommenes, Gemütlichkeit verbreitendes Dämmerlicht getaucht war.
Als der Diener jetzt den Kommissar meldete, erhob sich die Kommerzienrätin schnell und schaltete auch die übrigen Birnen ein. Dann sagte sie mit ihrer gewinnenden Liebenswürdigkeit zu Lönning, der abwartend an der Tür stehen geblieben war:
„Aber bitte, Herr von Lönning, treten Sie doch näher. Ich hoffe, Sie werden uns wenigstens noch eine halbe Stunde Ihrer gewiß kostbaren Zeit schenken.“
Da bemerkte sie den fragenden Blick, mit dem der junge Kommissar Asta van Zourleeven streifte, die gleichfalls aufgestanden war.
„Entschuldigen Sie, ich vergaß ganz – meine Tochter – Herr Kriminalkommissar von Lönning. – Und jetzt nehmen Sie bitte Platz. Darf ich Ihnen vielleicht eine Tasse Tee reichen? Oder ziehen Sie einen Likör vor? Oder beides? Dort stehen auch Zigaretten. Bitte, bedienen Sie sich. Asta und ich rauchen selbst – also erübrigt sich jede Rücksicht.“
Lönning fühlte sich schnell heimisch in dem kleinen Kreis. Als Gesprächsstoff mußten zunächst Theater, Konzerte und andere allgemeine Gebiete herhalten – wie immer unter Menschen, die sich zum ersten Male sehen und genug Takt besitzen, um sich gegenseitig erst etwas zu sondieren, bevor sie ein intimeres Thema anschlagen. Und zwar war es der Baron, der die Unterhaltung mit seinen treffenden, aber in etwas allzu lebhaftem Ton vorgebrachten Bemerkungen immer aufs neue anregte. In der Kommerzienrätin fand er eine aufmerksame, geistvolle Partnerin, mit der er sich bald in einen lebhaften Meinungsaustausch über Reinhardts moderne Regiekunst verwickelte.
Diese Gelegenheit benutzte Asta, um sich an den neben ihr sitzenden Kommissar mit einer Frage zu wenden, die ihr geradezu auf den Lippen brannte.
„Haben Sie eigentlich Hoffnung, daß Mama ihre Brillanten zurückerhält, Herr von Lönning?“
Der Kommissar, der sich schon die ganze Zeit über von den Augen dieses eigenartig schönen Mädchens beobachtet fühlte, wandte sich daraufhin seiner Nachbarin vollends zu und meinte mit leichter Verbeugung:
„Wenn ich ehrlich sein soll, gnädiges Fräulein – nicht sehr viel. Es ist ein Fall, der so gar keine Handhabe bietet, an irgend einem Punkt mit energischen Ermittlungen beginnen zu können.“
Das war zwar nach dem jetzigen Stand der Dinge alles andere als die Wahrheit. Aber Lönning war durch das, was Kollege Werner ihm von der Tochter der Kommerzienrätin erzählt hatte, doch etwas argwöhnisch geworden und wollte sich auf keinen Fall irgendwie eine Blöße geben.
Asta seufzte leicht auf. „Die arme Mama. Den Verlust der anderen Pretiosen würde sie ja leichter verschmerzen. Nur das Brillantkollier – es befindet sich seit einem Jahrhundert im Besitz unserer Familie – ist ihr sehr ans Herz gewachsen.“
„Nun, ich will ja nicht gesagt haben, daß es gänzlich ausgeschlossen ist, den Dieb zu fassen,“ meinte Lönning mit voller Absicht. „Oft erlebt man ja bei Kriminalfällen, die anfänglich ganz unerklärlich scheinen, die merkwürdigsten Überraschungen.“
Die letzten Sätze hatte er etwas leiser gesprochen. Die erwartete Wirkung blieb nicht aus. Das junge Mädchen zuckte leicht zusammen. Und hastig, fast ängstlich kam dann die ebenso leise Frage:
„Überraschungen? – Wie meinen Sie das, Herr von Lönning?“
„Nun – bisweilen verrät sich der Täter durch eine kleine Dummheit schließlich doch noch. Ein Plan kann noch so schlau ausgeklügelt sein – eine schwache Seite weist ein jeder auf. Es kommt nur darauf an, diesen Angriffspunkt herauszufinden. Ob aber gerade ich dazu die geeignete Kraft bin, möchte ich doch sehr bezweifeln. Tatsächlich. Ich habe ja erst so geringe Praxis in meinem Beruf. Sicherlich wäre Ihrer Frau Mutter vielmehr damit gedient gewesen, wenn mein Kollege Werner den Fall weiter bearbeitet hätte. Den nennen Sie unter uns den „großen Werner“ – wohl nicht zu Unrecht.“
Über Astas Gesicht glitt ein leichtes Lächeln.
„Vielleicht sind Sie gar zu bescheiden, Herr von Lönning. Wenn Ihre Vorgesetzten nicht ein gewisses Vertrauen in Sie setzen würden, wäre Ihnen dieser Auftrag doch wohl kaum übertragen worden.“
„Außerordentlich schmeichelhaft für mich, gnädiges Fräulein. Wie gern möchte ich mich dieses Vertrauens würdig erweisen. Aber die Kriminalistik ist halt ein Sattel, in dem ich mich bis jetzt noch gar nicht so sehr sicher fühle, – leider.“
Asta van Zourleevens Stimmung war ganz plötzlich auffallend umgeschlagen. Die Bedrücktheit war von ihr gewichen, und in ihren grauen Augen erwachte ein Frohsinn, der sich auch bald ihrem Nachbar mitteilte. Die Unterhaltung zwischen den beiden wurde zwangloser, und bisweilen glitt es jetzt wie ein befreites Lächeln über des jungen Mädchens Antlitz, wenn der einstige Kaiserulan ihr in etwas burschikoser Weise frühere heitere Erlebnisse aus seiner Leutnantszeit erzählte. Und dann unterbrach sie ihn plötzlich, als er ihr gerade seinen ersten Rennsieg in Baden-Baden schilderte und dabei erwähnte, daß er mit dem mächtigen Goldpokal im Arm beinahe die Tribünentreppe hinuntergefallen wäre, wie er nach der Preisverteilung mit langen Sätzen, noch ganz wirr im Kopf vor Stolz und Freude, zu seinen harrenden Kameraden zurückkehrte.
„Also das waren Sie, Herr von Lönning! Ich befand mich an dem Tag ja auch auf dem Rennplatz und wurde Zeugin dieser kleinen, vielbelachten Szene. Sechzehn Jahre war ich damals, und kam ganz frisch aus der Genfer Pension. Oh, wie habe ich Sie damals so glühend beneidet, weil der Großherzog Ihnen so kräftig die Hand schüttelte und so huldvoll zu Ihnen sprach. Und – wenn ich ganz ehrlich sein soll – damals wünschte ich mir wieder, wie früher schon so oft, daß ich ein Junge wäre, mich selbst in den Sattel schwingen könnte und mir die Menge dann als Sieger ebenso zujubeln müßte wie Ihnen –“
Sie hielt inne. Und dann brach sich ein perlendes Lachen zwischen ihren frischen Lippen Bahn.
„Wissen Sie auch, Herr von Lönning, daß es eigentlich bei uns beiden der heutigen Vorstellung durch Mama gar nicht bedurft hätte! Besinnen Sie sich einmal. Fällt Ihnen nicht ein, wo wir uns bereits früher flüchtig, allerdings sehr flüchtig, kennen gelernt haben?“
Nachdenklich wiegte er den Kopf hin und her, dessen scharfgeschnittene Linien geradezu den Typ des deutschen, adligen Kavallerieoffiziers darstellten.
„Bedaure unendlich,“ murmelte er, noch immer nachsinnend.
Da hatte Asta ihrer Mutter, die sich soeben eine neue Zigarette anzündete, schon einige Worte zugerufen.
Die Kommerzienrätin stutzte und nickte dann eifrig.
„Sehen Sie, Herr von Lönning, ich habe doch recht gehabt,“ wandte sie sich jetzt lebhaft an diesen. „Vom Rennplatz in Baden-Baden datiert unsere Bekanntschaft her. Und zwar war es Rittmeister Warnholz, der Sie uns vorstellte. Meine Tochter erinnerte mich eben daran. – Kein Wunder, daß sie es behalten hat,“ fügte sie fein lächelnd hinzu. „Den noch Monate nachher hat Asta von Ihnen als dem schneidigsten Reiter der deutschen Armee geschwärmt.“
„Es war mein erstes Rennen, das ich sah,“ warf Asta ohne jede Verlegenheit hin. „Die Eltern hatten mich gerade aus der Pension abgeholt, und wir machten noch vierzehn Tage in Baden-Baden Station.“
Und trotzdem war ihr eine leichte Röte ins Gesicht gestiegen.
Oberleutnant Weitrap, der befürchten mochte, daß das Gespräch jetzt auf den ihm trotz seiner Zugehörigkeit zur berittenen Waffe herzlich gleichgültigen Pferdesport übergehen könnte, wußte Frau Liskow nach dieser kurzen Ablenkung sehr bald wieder völlig mit Beschlag zu belegen. So waren die beiden anderen abermals auf sich allein angewiesen. Und was des Barons gemessene, etwas pedantische Art nie fertig gebracht hatte, daß erreichte Lönning mit seiner geradezu herzerquickenden, ungezwungenen Fröhlichkeit und seinem natürlichen Talent, alle Dinge von der humoristischen Seite zu nehmen. Astra van Zourleeven, die stille, stolze Asta, taute völlig auf, vergaß alle ihre Sorgen und ließ mit glücklichen Augen das harmlose Wortgeplänkel über sich ergehen, in das ihr Nachbar sie immer wieder zu verstricken wußte.
Auch diese Stunde hatte ein Ende. Franz brachte ein Telegramm für die Kommerzienrätin, unter allgemeinem Schweigen öffnete diese es und überflog den Inhalt.
„Nichts Wichtiges,“ sagte Frau Wilma beruhigend und legte die Depesche vor sich auf den Tisch. „Mein Mann telegraphiert mir aus Hamburg, daß er doch nicht mit dem Nachtzug heimkehren kann, wie er es sich vorgenommen hatte. Geschäftliche Besprechungen halten ihn noch zurück. Also lassen wir uns nicht stören.“
Inzwischen hatte Lönning jedoch nach der Uhr gesehen und festgestellt, daß es für ihn die höchste Zeit war aufzubrechen. Die beiden Herren verabschiedeten sich. Sehr zu Astas stillem Bedauern. Der Kommissar teilte der Kommerzienrätin noch mit, daß er gegen neun Uhr abends nochmals vorsprechen würde, – aus dienstlichen Gründen. Bis dahin sollten, wenn irgend möglich die beiden Schlafzimmer nicht mehr betreten werden. – – –
Weitrap und Lönning waren langsam den Kurfürstendamm entlang geschritten.
Sie standen vor dem Eingang der Untergrundbahn auf dem Wittenbergplatz. Weitrap schaute den Kommissar fragend an.
„Wohin willst du?“
„Aufs Präsidium nach dem Alexanderplatz, nur für Minuten allerdings. Und dann nach Hause. Ich habe ehrlich Hunger. Bin seit Mittag auf den Beinen, ohne einen Happen genossen zu haben.“
„Kann ich dich begleiten?“ fragte der Oberleutnant unsicher. „Ich bin nicht in der Stimmung, in der man gern allein bleibt. Vielleicht essen wir in irgend einer gemütlichen Weinkneipe gemeinsam?“
„Unmöglich, Axel. Ich muß mich in dieser Beziehung einschränken. Aber wenn du mit einem einfachen Bissen bei mir daheim vorlieb nehmen willst, so bist du herzlichst eingeladen. Meine Schwestern werden sich sicher sehr freuen, dich kennen zu lernen. Erzählt habe ich ihnen oft genug von dir.“
Weitrap wollte Einwendungen machen. Aber schließlich gab er dem Drängen des Freundes doch nach. Und bald entführte sie der Untergrundbahnzug in der Richtung nach dem Alexanderplatz.
Weitrap hatte bei den Geschwistern, die in der Nähe des Alexanderplatzes in einer bescheidenen Vierzimmerwohnung hausten, einen überaus gemütlichen Abend verlebt. Selbst als der Kommissar gegen ein Viertel neun aufbrach, um noch zu Liskows hinüberzufahren, blieb der Baron bei den beiden Schwestern zurück, da Lönning sehr bald wiederzukommen versprach, und die beiden jungen Damen, mit denen der Oberleutnant sich schnell angefreundet hatte, diesen immer wieder baten, ihnen doch noch Gesellschaft zu leisten. Weitrap fühlte sich selten wohl unter diesen Menschen, die das Schicksal so urplötzlich aus üppigstem, sorglosestem Wohlleben herausgerissen und mitten in den harten Daseinskampf gestellt hatte und die sich jetzt eigentlich mit bewundernswerter Anpassungsfähigkeit in die veränderten Verhältnisse hineinfanden. Als der Baron, der gerade infolge seiner vielseitigen und gründlichen Bildung jede durch Arbeit verdienende Frau besonders hochschätzte, den Schwestern im Laufe des Abends seine Anerkennung über ihre offenbare Freude an geregelter Tätigkeit unumwunden aussprach, meinte Elsa, die etwa um zwei Jahre älter als ihr Bruder war, ernst:
„Wir haben diesen Sinn für das Praktische und die Lust an der Arbeit sicher von unserer leider nur zu früh verstorbenen Mutter geerbt. Mama stammte aus einer bürgerlichen Familie, deren Mitglieder sämtlich Kaufleute waren – schon seit gut einem Jahrhundert. Das Haus Wollner in der ostpreußischen Residenzstadt Königsberg ist ja nun leider auch eingegangen. Großpapa hat, als er das Zuckerexportgeschäft vor etwa zwanzig Jahren verkaufen mußte, nicht gestattet, daß der neue Besitzer den alten Namen der Firma weiterführte.
Die Familie Wollner ist auch so gestorben – wie auch die Lönnings von der Liste des alten schlesischen Landadels gestrichen sind. Unser schönes Lönninghof gehört jetzt einem Breslauer Brauereibesitzer, einem Millionär. Der wird sicher daraus eine Musterwirtschaft machen. Er schien einfach alles zu verstehen. Eben ein moderner Geschäftsmann, weitsichtig, vorurteilsfrei und – fleißig, unendlich fleißig.“
„Am schwersten von uns ist es Fredi geworden, sich in einen neuen Beruf einzuleben,“ ergänzte Wera von Lönning, die mit ihren neunzehn Jahren das getreue Ebenbild ihres Bruders war. „Der Ärmste hat mir manchmal sehr, sehr leid getan. Er war doch mit Leib und Seele Soldat. Ob seine jetzige Stellung ihm viel Freude macht, bezweifle ich sehr. Allerdings glaubt er ja auch von Elsa und mir, daß wir uns bei unseren Herren Chefs todunglücklich fühlen, was wirklich nicht der Fall ist. Er läßt sich das aber nicht ausreden. Und dabei gibt es für mich keinen froheren Augenblick, als wenn mir am Monatsletzten mein Gehalt von baren siebzig Mark ausgezahlt wird.“
Weitrap schaute dem jungen Mädchen beinahe andächtig in das feine Gesichtchen. Welch gesunder Kern steckte doch in diesen beiden Schwestern.
Und wortlos reichte er jetzt den beiden jungen Damen nacheinander die Hand. Darin lag mehr, als er durch Worte hätte ausdrücken können.
Gegen zehn kehrte der Kommissar zurück. Man blieb noch fast zwei Stunden zusammen, und als der Baron dann endlich aufbrach, bat er, bald wieder vorsprechen zu dürfen. –
Als Oberleutnant von Weitrap am nächsten Vormittag gegen elf Uhr vom Dienst nach Hause kam, fand er auf seinem Schreibtisch einen Rohrpostbrief vor. Die Handschrift der Adresse war ihm unbekannt. Er riß den Umschlag auf und überflog das engbeschriebene Blatt. Während des Lesens nahm sein Gesicht einen fast verstörten Ausdruck an. Und schnell ließ er sich dann durch den Diener seine Zivilsachen zurechtlegen, frühstückte hastig und saß keine Viertelstunde später in einer Autotaxe. Sein eigenes Automobil erst aus der Garage hervorzubringen, dauerte ihm zu lange.
Es war genau zwölf Uhr, als das Auto den Alexanderplatz, wo jetzt um die Mittagszeit ein geradezu beängstigendes Gedränge von Menschen und Wagen herrschte, überquerte und dann vor dem Hauptportal des Polizeipräsidiums hielt.
Weitrap fand sich in dem riesigen Gebäude nicht gleich zurecht. Schließlich stand er aber doch glücklich vor der Tür des Zimmers Nr. 34, an der ein Pappschild mit dem Aufdruck „v. Lönning, Kriminalkommissar“, hing.
Er klopfte und betrat dann den kleinen nüchternen Raum, dessen einziges Fenster in einen Hof mündete.
„Ist die Sache mit dem Guido Gebhard wirklich wahr?“ begann Weitrap sofort nach der Begrüßung, noch mit dem Hut in der Hand.
„Leider. Eine ganz rätselhafte Geschichte. – Aber bitte nimm Platz, Axel. Einen Klubsessel kann ich dir leider nicht anbieten. Soweit hat’s die Berliner Königliche Polizei in punkto Möblierung der Diensträume noch nicht gebracht.“
„Ich stehe lieber. – Und nun bitte – erzähle mir Genaueres. Du kannst dir denken, wie mich dieses neue Verbrechen interessiert.“
„Sehr begreiflich. – Zunächst dank ich dir aber, daß du sofort gekommen bist. Ich hätte dich sonst selbst aufgesucht, aber ich bin jetzt sehr beschäftigt, habe alle Hände voll zu tun.“
„So laß doch. – Wie wurde der Mord denn entdeckt? Du spannst mich ja rein auf die Folter.“
„Eigentlich durch einen Zufall. Ich ging heute früh gegen acht Uhr zu Gebhard, um ihm etwas auf den Zahn zu fühlen. Klarheit wollte ich mir darüber verschaffen, welcher Art die Beziehungen waren, die den jungen Maler mit Asta van Zourleeven verbanden. Ich klingelte also bei Gebhard, erst bescheiden, dann immer stärker. Die Portiersfrau hatte mir gesagt, er müsse zu Hause sein. Darum blieb ich. Ich hörte deutlich in der Wohnung einen Hund anschlagen. Und dieses Bellen machte mich stutzig. Es waren ganz besondere Töne, die das Tier ausstieß. Nicht jenes wütende Kläffen schlecht erzogener Köter, die das Schrillen der Flurglocke halbtoll macht. – Ein Regimentskamerad von mir, der lange Ingolstein, hatte sich vor – ja vor fünf Jahren erschossen. Und an dessen Leiche saß, als wir morgens in seine Wohnung eindrangen, sein kleiner Terrier und stieß Töne aus, die uns durch Mark und Bein gingen. Und ähnliche Töne vernahm ich deutlich in dem Atelier des Malers. Ich wußte nicht recht, was ich tun sollte. Zu einem gewaltsamen Aufbrechen der Tür lag ja kein rechter Grund vor. Und doch - eine innere Stimme sagte mir, daß da drinnen etwas Schlimmes passiert war. – Ich läutete nicht wieder, sondern stand still und lauschte. In kurzen Zwischenräumen stieß der Hund immer wieder diese langgezogenen Klagelaute aus. Da kam ich auf einen anderen Gedanken. Ich klingelte eine Treppe tiefer bei den unter Gebhard Wohnenden an. Ein alter, weißhaariger Herr öffnete mir. Von ihm erfuhr ich, daß der Hund bereits die halbe Nacht in derselben Weise geheult habe. Auf meine Frage, ob der Maler wohl daheim sei, schüttelte der Alte zweifelnd den Kopf. Das wisse er nicht, nehme es aber an, da Herr Gebhard selten vor neun Uhr vormittags ausgehe und in der vergangenen Nacht sehr spät nach Hause gekommen sei. „Wenigstens habe ich noch gegen ein Uhr morgens,“ erklärte der freundliche Herr weiter, „oben laute Schritte gehört. Es war mir sogar so, als wenn zwei Personen erregt in dem Atelier auf und ab liefen. Ich habe einen sehr leisen Schlaf, und unser Schlafzimmer liegt gerade unter dem Atelier. Dann schien es mir, als ob irgendein Möbelstück mit dumpfem Krach umfiel. Darauf wurde alles still, und ich schlummerte wieder ein. Gegen sechs Uhr begann dann der Hund zu heulen, fast ohne Unterbrechung, was er bisher nie getan hat. Ich bin auch schon oben bei Herrn Gebhard gewesen, um mir Ruhe auszubitten. Aber anscheinend will der junge Herr nicht öffnen – falls er überhaupt daheim ist!“ Nach diesen Mitteilungen, die doch manches recht Auffällige enthielten, zögerte ich nicht länger. Ich rief den Portier herbei, und mit Hilfe dieses Riesen, der wie alle Portiers auch etwas vom Schlosserhandwerk verstand, hatten wir sehr schnell den Eingang frei. Ich schritt voran in den kleinen dunklen Flur und stieß die nur angelehnte Tür nach dem Atelier auf. Vor den großen, hohen Seitenfenstern waren die blauen, von der Sonne streifig ausgeblichenen Vorhänge zugezogen. Aber durch das Oberlichtfenster drang genug Tageshelle hinein, um den phantastisch, aber mit meist billigem Kram herausgeputzten weiten Raum bis in die entferntesten Winkel überblicken zu können. In der Mitte, halb hinter einer schräg stehenden Staffelei, lag auf dem imitierten Perserteppich der Körper eines Mannes – still, regungslos. Und daneben hockte der kleine Wolfspitz, der jetzt schweifwedelnd dem ihm bekannten Portier entgegenlief.
Es war Guido Gebhard. Und er war tot. In der Stirn über dem linken Auge markierte sich scharf ein kleiner, blutiger Fleck – eine Schußwunde, wie ich sofort feststellen konnte. Der arme Ingolstein hatte damals auch so ein verhängnisvolles Zeichen an der Schläfe gehabt. Das merkwürdigste aber – nicht weit von der Leiche lagen auf dem Boden verstreut eine ganze Menge Banknoten, meist Hundertmarkscheine. Eine Waffe war jedoch nirgends zu bemerken. – Ich hatte genug gesehen. Dem Portier befahl ich, vorläufig keinem Menschen etwas von unserer schauerlichen Entdeckung zu erzählen. Eine halbe Stunde später traf dann die von mir telephonisch herbeigerufene Mordkommission ein. Erst jetzt wurden das Atelier und die Leiche genau in Augenschein genommen. Unser Arzt konstatierte Tod infolge eines Kopfschusses. Und, da noch immer, trotz genauer Nachsuche, die Schußwaffe fehlte, mit der der Maler sich vielleicht selbst hätte entleibt haben können, war die Annahme eines Mordes notwendig gegeben.“
„Und der Täter –?“ stieß Weitrap ganz atemlos hervor.
Lönning zog langsam die Schultern hoch. „Man hat Verdacht gegen eine bestimmte Person. Und höchstwahrscheinlich dürfte mir der Betreffende sehr bald zur Vernehmung vorgeführt werden. Unsere Kriminalpolizei arbeitet schnell. Mit welchem ungeheuren Apparat, davon ahnt der friedliche Bürger nichts. Wir befinden uns eben in der Reichshauptstadt.“
„Wo trotzdem so manches Verbrechen unaufgeklärt geblieben ist,“ meinte der Baron ernst.
„Stimmt. Auch die Polizei ist nicht allwissend. Vielleicht wächst sich der Fall Gebhard sogar auch zu einer dieser unerledigten Kriminalsachen aus. Denn ich bin hier nicht derselben Ansicht wie die Mordkommission, glaube vielmehr, daß man sich auf einer ganz falschen Fährte befindet. Gesagt habe ich aber nichts davon. Als einer der jüngsten Kommissare muß ich mit meinem Urteil hübsch vorsichtig sein.“
Der Baron hätte gar zu gern gefragt, auf wen sich der Verdacht gelenkt habe. Da Lönning sich jedoch darüber nicht von selbst näher ausließ, mochte er nicht weiter in ihn dringen.
„So sehr ich den armen Gebhard auch bedaure,“ begann der Kommissar nach kurzer Pause wieder, „jedenfalls werden wir jetzt über den einen Punkt bald völlig klar sehen, nämlich ob zwischen Asta van Zourleeven und dem Maler irgendein zartes Verhältnis bestanden hat. Ihr Benehmen dürfte sie verraten.“
Weitrap machte eine abwehrende Geste mit der Hand. „Und selbst wenn Gebhard mir bei meiner Bewerbung um Astas Hand hinderlich gewesen wäre, – ich wünschte, er lebte noch. Der Ärmste tut mir unendlich leid. Sein Leben war kein sehr frohes, das weiß ich genau. Ich habe ihn einmal bei Liskows zufällig kennen gelernt, und da machte er auf mich einen recht sympathischen Eindruck.“
„Genau so hat ihn mein Kollege Werner beurteilt. Doch nun zu dem eigentlichen Zweck, weswegen ich dich hergebeten habe. – Du verkehrst schon längere Zeit bei Liskows?“
„Etwa ein Jahr.“
„Stehst du mit dem Kommerzienrat in geschäftlicher Verbindung? – Ich meine, ist Liskow dein Vermögensverwalter oder doch wenigstens dein Ratgeber in Geldangelegenheiten?“
Der Baron hob erstaunt den Kopf.
„Welches Interesse hast du an diesen Dingen,“ fragte er argwöhnisch. „Das klingt ja beinahe so, als ob – –“
Er fand die rechten Worte nicht gleich. Da sagte der Kommissar auch schon:
„Mein Interesse für all diese Sachen – ich werde dir mit deiner Erlaubnis noch weitere Fragen vorlegen – ist das des Beamten, dem der Diebstahl der Pretiosen zur Bearbeitung übergeben worden ist und der sich daher über alles, selbst das Nebensächlichste, Aufschluß verschaffen muß, was mit der Familie Liskow zusammenhängt.“
Weitrap schüttelte den Kopf. „Seid Ihr Herren von der Kriminalpolizei aber gründlich! – Nun denn – der Kommerzienrat hat für mich vor etwa vier Monaten Spekulationspapiere gekauft und – arbeitet damit für mich. Das ist alles.“
„Und mit welcher Summe bist du bei ihm engagiert?“ forschte Lönning scheinbar gleichgültig weiter und zog dabei seine Uhr langsam auf, deren etwas zusammengedrehte Kavalierkette er soeben entwirrt hatte.
Der Baron ließ etwas auf die Antwort warten.
„Mit ungefähr einer Viertelmillion,“ meinte er dann wie schuldbewußt. Es war ihm unangenehm, dem Freund anzuvertrauen, daß er an der Börse spielte.
„Reitet der Kommerzienrat?“ begann Lönning abermals, die Geldsache nicht weiter berührend.
„Sehr eifrig. Er hat auch früher gemeinsam mit meinem Kameraden von Horsa ein paar Rennpferde besessen, seinen Anteil daran aber unlängst verkauft.“
„Wann?“
„Warte einmal – das war – richtig, im Frühjahr, kurz vor Eröffnung der Rennsaison.“
„Treibt er sonst noch irgendwelchen Sport?“
„Eigentlich jeden. Deswegen hat er sich auch wohl nur für seine Jahre so wunderbar jung und frisch erhalten.“
„Spielt er Tennis?“
„Sehr eifrig sogar. Er ist auch Mitglied einer Herren-Turnriege, – der sogenannten Millionärsriege. Er hatte mich einmal zu einem Schauturnen dieses kleinen, aber höchst exklusiven Vereins eingeladen. Und da konnte ich ihn als für sein Alter wirklich erstklassigen Turner bewundern.“
Lönning steckte seine Uhr wieder ein.
„Kann man eigentlich mit Spekulationspapieren was verdienen, Axel?“ meinte er jetzt vertraulich.
Weitrap lächelte. „Wenn man Glück und einen gerissenen Vermittler hat, allerdings. Willst du etwa auch dein Glück versuchen? Dann kann ich dir Liskow nur empfehlen. Er ist ein mit allen Hunden gehetzter Geschäftsmann. Ich habe bei ihm bisher so kleine zehntausend Mark verdient. Und die zweite Abrechnung kommt erst. Vielleicht wird’s wieder so viel.“
„Und du läßt den Überschuß weiter arbeiten?“ fragte Lönning eifrig.
„Bis jetzt ja. Nächstens muß ich allerdings etwas Bargeld flüssig machen, und da soll der Kommerzienrat einen Teil der Papiere verkaufen. Auf Wellshofen müssen sämtliche Ställe abgerissen und neu gebaut werden. Wellshofen ist mein neues Gut im Posenschen, Fred. Ich kaufte es erst vor einem Jahr von einem Polen verhältnismäßig billig. War ein ganz gutes Geschäft. – Hast du wirklich die Absicht, es mal an der Börse zu –“
Es klopfte. Lönning eilte mit einem „Verzeih!“ an die Tür. Draußen stand ein älterer Herr in Zivil. Der Kommissar wechselte mit ihm einige leise Worte. Dann wandte er sich dem Baron wieder zu, ohne die Tür zu schließen.
„So leid es mir tut, Axel, – ich muß dich jetzt hinauskomplimentieren. Dienst!“ sagte er in seiner liebenswürdigen Art. „Und besten Dank für deinen Besuch. Notabene – wenn du den Kommerzienrat in nächster Zeit zu Gesicht bekommst, so brauchst du ihm nicht gerade haarklein zu erzählen, daß auch ich für die Börse eine kleine Schwäche habe. Am besten, du erwähnst überhaupt nicht, daß wir über ihn gesprochen haben.“
Sie schieden mit freundschaftlichem Händedruck.
Kaum hatte der Baron das Zimmer verlassen, als auch schon Kriminalwachtmeister Märker, der bis dahin auf dem Korridor wartend auf und ab gegangen war, eintrat.
„Nun, Märker, was haben Sie ausgerichtet?“ fragte Lönning, sich wieder an den Schreibtisch lehnend.
„Das war wieder ein Reinfall, sogar ein ziemlich übler,“ meinte der Beamte mißmutig. „Dieser Techniker Karsten, der uns als Mörder des Malers Gebhard in Betracht zu kommen schien, ist nämlich kein anderer als mein früherer Kollege Salbak, der sich vor zwei Jahren pensionieren ließ und jetzt als Privatdetektiv tätig ist. Ich habe ihn gleich mitgebracht. Er ist unten in der Wachtstube.“
Lönning schien völlig verwandelt. „Was Sie sagen, Märker. Das wird ja hochinteressant. Da schicken Sie mir den angeblichen Herrn Karsten doch bitte gleich darauf.“
„Hochinteressant?!“ Der Wachtmeister schaute seinen Vorgesetzten verdutzt an. „Ich fürchte, Salbak wird uns hier auch nichts nützen, Herr Kommissar.“
„Wir werden sehen und staunen.“ Lönning war plötzlich in fast übermütiger Laune.
Der Beamte verschwand. Und der frühere Kaiserulan begann jetzt im Sturmschritt, leise vor sich hinpfeifend, das kleine Zimmer zu durchqueren. Also hatte er doch recht gehabt mit seiner Vermutung. Mit diesem Karsten, den die Herren der Mordkommission auf einige Verdachtsmomente hin als Mörder Gebhards so schnell aufs Korn genommen hatten, war’s nichts. Und das freute Lönning aufrichtig, denn andernfalls wären ja alle seine Vermutungen, aus denen er in der vergangenen schlaflosen Nacht ein so feines Netz für einen Dritten gewoben hatte, barer Unsinn gewesen.
Privatdetektiv Salbak, ein schlanker, sehr gut gekleideter Mann in den besten Jahren, nahm den ihm angebotenen Stuhl ohne Umstände an. Lönning setzte sich ihm gegenüber halb auf den Fensterkopf, schlug die Beine übereinander und begann dann:
„Hat Ihnen Märker schon erzählt, wie wir gerade auf Sie verfallen sind, Herr Salbak?“
„Nur in groben Umrissen. Wir benutzten die Elektrische, und da muß man mit Gesprächen vorsichtig sein.“ Und mit behaglichem Lächeln fügte er hinzu: „Daß ich in dieser Sache ein ganz reines Gewissen habe, Herr Kommissar, brauche ich Ihnen wohl nicht erst zu beteuern. Das war recht spaßig, wie Märker bei meiner Wirtin nach einem Techniker Karsten nachfragte und ich ihm dann entgegentrat – selbst einer vom Fach.“
„Die Situation kann ich mir ganz gut ausmalen. Märkers Gesicht hätte ich da sehen mögen! – Doch nun will ich Sie zunächst darüber aufklären, weshalb gerade Sie uns als der Tat verdächtig erschienen. Wir erfuhren nämlich von zwei Freunden Gebhards, die mit ihm gestern bis Mitternacht im Humser-Bräu in der Tauentzienstraße zusammen gesessen hatten, daß dort seit einiger Zeit auch ein Herr verkehrte, der Guido Gebhard in allerhand Verkleidungen dauernd nachspionierte. Dieser ließ sich jedoch nicht anmerken, daß er den Fremden längst durchschaut hatte, der ihm dann auch gestern nacht, als er in Begleitung seiner beiden Bekannten aus dem Humser-Bräu heimging, wieder nachschlich. Als wir uns von den Freunden Gebhards den Herren nunmehr beschreiben ließen, und dann den Portier von Kurfürstendamm 304 fragten, ob er eine Person, auf die die Beschreibung paßte, vielleicht öfters in der Nähe des Hauses bemerkt oder im Hause selbst angetroffen habe – wir wollten feststellen, wie weit das auffällige Interesse dieses Menschen für den jungen Maler eigentlich ging – erhielten wir die besonders für mich recht überraschende Auskunft, daß der Portier allerdings einen Mann von ganz ähnlichem Äußeren einige Male mit Beate, dem Stubenmädchen des Kommerzienrates Liskow, zusammen gesehen hätte und daß die übrigen Dienstboten sich erzählten, der Betreffende wäre Beates neuester Schatz. Da ich selbst nun über diesen merkwürdigen Verehrer des Mädchens von anderer Seite bereits manches gehört hatte, was ihn verdächtig machte, und außerdem dessen übergroße Teilnahme für Guido Gebhard ebenso zu denken gab, da ferner die Freunde des Malers, die diesen bis vor die Haustür begleitet hatten, bestimmt zu sagen wußten, daß der Unbekannte, sofort nachdem Gebhard im Haus verschwunden war, sich an das schmiedeeiserne Eingangstor gestellt und in den Flur hineingestarrt hatte, so lag die Möglichkeit immerhin recht nahe, jener Fremde könnte vielleicht der Täter sein. Und deshalb wurde dann Märker, nachdem wir die Adresse dieses Technikers Karsten in Erfahrung gebracht hatten, zu Ihnen geschickt, Herr Salbak. Wir ahnten ja nicht, daß Karsten nur eine Maske war, unter der Sie sich zu irgendwelchen Zwecken der Zofe des Kommerzienrates genährt hatten.“
Der Privatdetektiv schaute recht mißmutig vor sich hin.
„Schade. So werde ich denn wohl meine Absicht, in dieser Mordsache auf eigene Faust Ermittlungen anzustellen, aufgeben müssen,“ meinte er. „Vielleicht ist’s auch besser, ich rücke gleich mit dem heraus, was ich weiß. Ganz unwichtig dürfte das nicht sein. – Vor einiger Zeit erhielt ich von jemandem den Auftrag, das Privatleben Guido Gebhards zu überwachen. Um nun einen Grund zu haben, mich häufiger in der Nähe des Hauses Kurfürstendamm 304 aufzuhalten, bändelte ich mit dem Stubenmädchen des Kommerzienrats an. Nebenbei hoffte ich auch, von dieser so manches über den jungen Maler zu erfahren. Daß Gebhard meine Absichten durchschaut hatte, ahnte ich freilich nicht. Auch gestern nacht folgte ich ihm wieder, als er mit seinen Freunden gegen ein Uhr morgens nach Hause ging. Auf dem Kurfürstendamm machte ich nun hierbei eine Beobachtung, die mir gleich zu denken gab. Ich schlenderte nämlich in einer Entfernung von etwa fünfzehn Metern hinter den Herren her und zwar auf dem Reitweg, wo die Baumreihen mich etwas verbargen. Und da bemerkte ich vor mir einen Mann, der ebenso wie ich öfters nach den drei jungen Leuten hinübersah, stehen blieb, wenn sie einmal Halt machten, und erst wieder weiter schritt, wenn jene den Weg fortsetzten. In der Nähe von Nr. 304 suchte der Unbekannte dann einen Vorsprung zu gewinnen, überquerte sehr hastig die Straße und verschwand in dem Haupteingang des Hauses. Da das Benehmen des Fremden meinen Argwohn erregt hatte, eilte ich schnell an die Haustür und schaute in den Flur hinein, wo die Nachtbeleuchtung eingeschaltet war, so daß ich Zeuge der folgenden Szene wurde.
Am anderen Ende des Flurs stand Gebhard und ihm gegenüber jener Mann, den ich schon auf dem Kurfürstendamm erblickt hatte. Jetzt konnte ich mir den Unbekannten auch etwas genauer ansehen. Er war mittelgroß, hatte einen grauen, langen Ulster an und auf den Kopf einen breitrandigen schwarzen Schlapphut. In seinem roten, gesunden Gesicht fiel mir nur eine große Brille mit dunklen Gläsern auf und der Schnurrbart, der ungepflegt um die Mundwinkel herabhing. Gebhard und der Fremde schienen miteinander zu streiten. Ihre Bewegungen waren heftig und erregt. Besonders der Maler streckte mehrmals wie beschwörend die Hand aus. Nach wenigen Minuten verschwanden beide dann durch die auf den Hof mündende Tür. Ich wartete noch eine Weile. Aber der Unbekannte kam nicht wieder heraus. Ich machte mich daher auf den Heimweg. Es war genau ein Uhr, als ich meinen Lauscherposten verließ. Wie mir nun Märker vorhin von dem Mord erzählte, kam mir sofort der Gedanke, der Fremde und kein anderer müsse der Mörder sein. Ich habe Märker hiervon jedoch nichts mitgeteilt – eben weil ich allein versuchen wollte, den Täter zu entdecken. Mich lockte die Belohnung, die doch fraglos für die Ergreifung des Schuldigen ausgesetzt werden dürfte. Nun haben mir Gebhards Freunde einen Strich durch die Rechnung gemacht, von denen die Polizei bereits erfahren hat, daß ich in der verflossenen Nacht an dem Eingang von Nr. 304 gestanden und dem jungen Maler nachgeschaut habe. Und unter diesen Umständen war’s wohl das klügste, mit der Wahrheit nicht zurückzuhalten. Sonst wäre ich womöglich doch noch in Verdacht geraten, bei dieser Geschichte nicht ganz unbeteiligt zu sein.“
Lönning hatte mit atemloser Spannung zugehört. Ihm wirbelte beinahe Kopf. Das waren ja Neuigkeiten von allergrößter Bedeutung. Der Privatdetektiv hatte recht. Der Fremde war der Mörder, zweifellos. Die Zeit stimmte ja ganz genau. Gegen ein Uhr morgens hatte der alte Herr, der in der Etage unter Gebhard wohnte, Schritte im Atelier gehört, und zwar seiner Ansicht nach Schritte von zwei Personen, bald darauf einen dumpfen Krach wie von einem umfallenen Möbelstück – vielleicht der Schuß, der dem Leben des armen Malers ein Ende bereitet hatte. Und nach Salbaks Aussage mußte Gebhard zwischen dreiviertel und ein Uhr mit dem Unbekannten zusammen das Atelier betreten haben. Denn daß dieser den Maler in dessen Wohnung hinaufbegleitet hatte, konnte ohne weiteres als sicher angenommen werden.
„Sie haben uns durch Ihre Bekundungen ein gut Stück weitergebracht, Herr Salbak,“ sagte er jetzt hochbefriedigt zu diesem. „Denken Sie doch einmal nach. Haben Sie den Mann vielleicht in letzter Zeit einmal mit Gebhard zusammengesehen? Sie müssen dessen Umgangskreis doch jetzt so ziemlich kennen.“
Der Detektiv schüttelte energisch den Kopf. „Nein, – ganz bestimmt nicht. Mein Personengedächtnis ist vorzüglich. Aber vielleicht können Gebhards Freunde Ihnen da einen Fingerzeig geben. Denn ich bin, wie wohl auch Sie, der Ansicht, daß der Maler und der Fremde alte Bekannte waren. Wenigstens machte die Art und Weise, wie sie miteinander sprachen, sehr stark diesen Eindruck.“
Lönning wollte sich mit Salbak jedoch auf keine näheren Erörterungen des Falles einlassen. Ein ihm bis dahin unbekannter Ehrgeiz hatte ihn gepackt. Diese beiden geheimnisvollen Verbrechen, die im Verlauf von vierundzwanzig Stunden in demselben Haus am Kurfürstendamm verübt worden waren, möglichst schnell und ohne eine andere Hilfe als die seines Kollegen Werner aufzuklären. Sollte ihm dies aber gelingen, so mußte er mit seinen Äußerungen sehr vorsichtig sein. Zu leicht konnte er durch ein unbedachtes Wort verraten, daß er bereits eine bestimmte Spur in der einen Sache gefunden zu haben glaubte.
„Ich hätte noch etwas zu sagen, Herr Salbak,“ sagte er daher, ohne auf die Anzapfung, die in des Privatdetektivs letzten Sätzen lag, irgendwie einzugehen. „Würden Sie mir vielleicht den Herrn nennen, der Ihnen den Auftrag gegeben hat, Guido Gebhard zu überwachen?“
Der frühere Kriminalbeamte schien unschlüssig. „Sie wissen, Herr von Lönning – bei uns kommt alles auf äußerste Diskretion an. Das können unsere Mandanten schließlich auch von uns verlangen. Ich weiß daher wirklich nicht, ob ich diese Frage beantworten darf.“
„Von „dürfen“ kann wohl keine Rede sein,“ meinte Lönning etwas ungeduldig. „Es handelt sich hier um einen Mord, und da sind Sie einfach verpflichtet, auch die geringste Kleinigkeit anzugeben, die das Vorleben Guido Gebhards betrifft.“
Salbak nickte. „Sie haben ganz recht, Herr Kommissar. Und – wenn Sie von mir in solchem Ton Auskunft verlangen, dann muß ich eben nachgeben und bin dadurch auch meinem Mandanten genügend entschuldigt. – Kommerzienrat Liskow ist mein Auftraggeber.“
Lönning wußte seine Überraschung sehr gut zu verbergen.
„So – also der Kommerzienrat. Welch plötzliches Interesse hat er denn an dem jungen Künstler gehabt?“
Der Privatdetektiv lächelte auf besondere Weise. „Liebesgeschichten, Herr Kommissar - Liskow vermutete, daß zwischen seiner Stieftochter und Gebhard irgend welche herzlichen Beziehungen beständen, und da er mit Fräulein van Zourleeven wahrscheinlich andere Pläne hat, wollte er sich zunächst einmal Gewißheit verschaffen, ob sein Verdacht berechtigt war. Vielleicht hoffte er auch, daß ich über Gebhard so manches in Erfahrung bringen würde, was geneigt gewesen wäre, ein eventuelles Einvernehmen zwischen den beiden zu zerstören, – falls man es eben der jungen Dame hinterbrachte. Nun, bisher habe ich keinerlei Resultate bei meinen Beobachtungen gehabt. Ich glaube, der Argwohn des Kommerzienrats ist ganz unbegründet. Ebenso wenig kann oder besser konnte man aber auch den Maler hinsichtlich seines Lebenswandels irgendeinen Vorwurf machen. Er war sogar für einen Künstler überaus solide.“
Schon während der letzten Worte des Privatdetektivs hatte die Glocke des auf dem Arbeitstisch Lönnings stehenden Telephons zu schrillen begonnen.
Der Kommissar ergriff den Hörer. „Hier Polizeipräsidium – Kriminalkommissar von Lönning.“
Dann horchte er gespannt. Der Ausdruck seines Gesichts veränderte sich dabei auffällig.
„Jawohl, Herr Regierungsrat, – sofort.“
Damit legte er den Hörer wieder auf die Stützen zurück.
Salbak merkte, daß irgendetwas von Wichtigkeit vorgefallen sein mußte. Aber Lönning direkt zu fragen wagte er nicht. Da gab ihm dieser von selbst Aufschluß.
„Denken Sie sich, man hat in der Wohnung Gebhards in einem Geheimfach seines alten Schreibtisches eine Brillantbrosche gefunden, die zu den der Kommerzienrätin gestohlenen Kleinodien gehört. – Eine nette Überraschung,“ fügte er, wie zu sich selbst sprechend, hinzu „das wirft alle meine Vermutungen über den Haufen – alle. So ist Gebhard doch der Dieb gewesen.“
Der Privatdetektiv horchte auf. „Also verfolgt man in dieser Sache doch schon bestimmte Spuren. In der gestrigen Abendzeitung stand – und Märker behauptete dasselbe – daß man noch keine Ahnung hätte, wer der Täter sein könnte.“
Lönning hatte kaum hingehört. Er war zu sehr mit seinen eigenen Gedanken in Anspruch genommen.
„Selbstverständlich müssen Sie diese Neuigkeit vorläufig für sich behalten,“ sagte er zu Salbak. „Warten Sie bitte hier. Ich bin zum Herrn Regierungsrat befohlen. Vielleicht will der Sie später selbst noch sprechen.“
Damit verließ er sein Dienstzimmer und begab sich zu der Konferenz, die der Vorsteher der Kriminalabteilung mit den Beamten der Mordkommission über diese neue Wendung in dem Gebhardschen Fall abhalten wollte.
Die Zeitungsverkäufer auf den Hauptverkehrsstraßen machten an diesem Abend glänzende Geschäfte. Immer wieder riefen die mit Zeitungen und Zeitschriften dicht behängten wandelnden Litfaßsäulen ihre lockenden Sensationstitel in die vorüberflutende Menge.
„Das Doppelverbrechen auf dem Kurfürstendamm“ – „Der ermordete Juwelendieb“ – „Die Rätsel eines Malerateliers“.
Das zog. Die Leute rissen sich förmlich um die Blätter. Und Lönning, der eben von Liskows kam, wo er mit der Kommerzienrätin eine lange Unterredung gehabt hatte, konnte noch von Glück sagen, als er am Eingang des Untergrundbahnhofes Wittenbergplatz eine Nummer des „Lokal-Anzeigers“, eine der letzten erwischte. Aber zum Lesen fand er in dem überfüllten Wagen keine Gelegenheit. Und dabei hätte er gar zu gern gewußt, inwieweit der Pressedezernent des Polizeipräsidiums die Zeitungen über die neuesten, mit den beiden aufsehenerregenden Verbrechen zusammenhängenden Vorfälle unterrichtet hatte. –
Am Alexanderplatz angelangt, begab er sich geradeswegs nach Hause. Es war längst acht Uhr vorüber. Die Schwestern würden auf ihn mit dem Abendessen warten. In diesem Gedanken beschleunigte er unauffällig seine Schritte noch mehr. Als er dann den Korridor der gemeinsamen Wohnung betrat, fiel ihm sofort auf, daß dort die Gaslampe brannte, eine Verschwendung, die seine sparsame Schwester Elsa, das Hausmütterchen, nie geduldet haben würde, falls nicht gerade ein besonderer Grund vorlag.
Da stutzte er. Wahrhaftig. Am Kleiderriegel hing ja eine Offiziersmütze, daneben ein gelbgrauer, mit Seide gefütterter Militärpaleton und ein Säbel. Kein Zweifel, – der Axel Weitrap hatte von der Erlaubnis ganz zwanglos Gebrauch gemacht. Das freute Lönning aufrichtig. Denn schon in dieser kurzen Zeit des Wiedersehens nach Jahren hatte er den Baron als einen Menschen schätzen gelernt, der trotz seines Reichtums und seines alten Namens auch nicht die Spur hochmütiger Zurückhaltung, im Gegenteil eine selten gesunde, echt moderne Lebensauffassung und dabei einen durch und durch gediegenen Charakter besaß. Das war ihm damals, als sie noch auf Reitschule in Hannover zusammen waren und der ernste Weitrap stets mit „Herr Philosoph“ tituliert wurde, nie zum Bewußtsein gekommen. Und gerade daran merkte er erst, wie sein neuer Beruf doch auch seine eigenen Ansicht völlig umgeändert, sein Horizont erweitert und er manche Vorurteile abgeworfen hatte, die früher von ihm für ganz selbstverständlich gehalten und daher nie als solche betrachtet worden waren.
Mit einem „guten Abend allerseits“ betrat er jetzt das Speisezimmer, wo Weitrap, sich offenbar urbehaglich fühlend, zwischen den Schwestern an dem gedeckten Mitteltisch saß und sich eben eine Brotschnitte mit einer rosigen Schinkenscheibe belegte.
„Das ist aber wirklich sehr nett von dir, Axel,“ sagte Lönning warm und schüttelte dem Freund kräftig die Hand. „Einen besseren Beweis, daß es dir bei uns gefallen hat, konntest du uns gar nicht geben.“
Der Baron lächelte ganz glücklich. „Und ich fürchtete schon, aufdringlich zu erscheinen, bin erst unten vor dem Haus ein paarmal auf- und abgegangen und wollte mich schon wieder in den Stumpfsinn meiner Stamm-Weinkneipe in der Jägerstraße begraben, als mich noch im letzten Augenblick Fräulein Wera abfaßte und mitnahm.“
„Ja, denke dir, Fredi, und dann sind wir beide einkaufen gegangen,“ lachte Wera. „Die Jünglinge in unserem Delikatesswarenladen haben mich noch nie so zuvorkommend bedient, noch nie. Ja, was doch die Uniform alles macht –“
Weitrap ließ kein Auge von dem reizenden Geschöpf, das mit seiner frischen Natürlichkeit und diesem harmlosen Geplauder, aus dem doch immer wieder die Anzeichen eines tiefangelegten Gemüts hervorleuchteten, auf ihn wie ein prickelnder, belebender Trank wirkte. Ein Gefühl fast übermütiger Lebensfreude überkam ihn plötzlich, und er, der ernste, pedantische Philosoph, taute mit einem Male auf und entpuppte sich nun als ein ganz anderer, –mals einer, der jedes Scherzwort des kleinen Sprühteufelchens Wera ebenso treffend wiedergab und des öfteren so froh und frei herauslachte, so recht aus innerstem Herzensgrunde, wie Lönning dies noch nie von seinem alten Bekannten gehört hatte, noch nie.
Bisher hatten die Schwestern und Weitrap es vermieden, Lönning nach den traurigen Ereignissen zu fragen, mit denen er sich dienstlich in den letzten Tagen so viel beschäftigen mußte. Jetzt konnte die lebhafte Wera ihre Neugier aber nicht länger zügeln. Und eben wollte der Kommissar ihr bereitwillig Auskunft geben, als es draußen im Korridor schellte.
Lönning sprang auf. „Kinder, ich fürchte, das wird was Dienstliches sein. Vielleicht muß ich nochmals aufs Präsidium.“ Damit eilte er hinaus und öffnete die Entreetür.
Vor ihm stand Kriminalkommissar Werner, und etwas im Hintergrund ein Postbote, der Lönning einen Rohrpostbrief entgegenhielt.
„Herr von Lönning?“
„Stimmt. Geben Sie nur her.“
Dann nötigte er den Kollegen in den Korridor.
„Ich komme soeben aus Stettin, wo ich den Bankdefraudanten Herms glücklich erwischt habe,“ erklärte Werner. „Und da ich auf dem Präsidium gehört habe, was sich in der Liskowschen Sache inzwischen alles ereignet hat, wollte ich mich mit Ihnen über diese Neuigkeit noch aussprechen. Hoffentlich störe ich nicht.“
„Keineswegs! Bitte legen Sie doch ab. – So, – hier herein.“
Nachdem Werner den Damen und Weitrap vorgestellt war, zogen sich die beiden Beamten in Lönnings Arbeitszimmer zurück.
„Entschuldigen Sie mich nur noch einen Augenblick,“ meinte Lönning, vor dem noch immer der uneröffnete Rohrpostbrief lag, jetzt. „Ich muß doch sehen, werden wir so Eiliges mitzuteilen hat.“
Damit schnitt er den kleinen Umschlag auf und zog mehrere vielfach zusammengelegte Bogen ganz dünnen, sogenannten überseeischen Briefpapiers heraus. Kopfschüttelnd schaute er auf die ihm völlig unbekannte, zierliche Handschrift. Er wandte die Briefbogen hin und her und suchte nach der Unterschrift. Und unwillkürlich las er diese dann in der ersten Überraschung laut vor.
„Asta van Zourleeven –“
Seine Augen verschlangen jetzt förmlich die engesetzten Zeilen.
„Unglaublich,“ stieß er mitten im Lesen hervor. „Wer das geahnt hätte –“
Endlich faltete er den Brief wieder zusammen. Und sich etwas vorbeugend, sagte er mit Nachdruck zu Werner, der kühl und gelassen wie immer in seinem bequemen Armsessel lehnte:
„Auch die letzten Rätsel des Falles Liskow sind gelöst. Fräulein van Zourleeven hat mir gegenüber in diesem Brief eine unumwundene Beichte abgelegt. – Ich habe keinen Grund, Ihnen den Inhalt dieses Schreibens vorzuenthalten, der allerdings nie in die Öffentlichkeit dringen soll. Das möchte ich doch verhüten. – Hören Sie also …
Sehr geehrter Herr von Lönning!
Soeben hat mir meine Mutter erzählt, daß Sie, während ich in der Friedrichstadt umherirrte, bei uns gewesen sind und daß Mama Ihnen auf Ihre Bitte Auskunft über Guido Gebhards Vorleben gegeben hat. Ich bedauere es sehr, Sie in unserem Hause nicht mehr angetroffen zu haben, da ich dann das mündlich hätte erledigen können, was ich nun einem Brief anvertrauen muß. Als ich heute nachmittag erfuhr, daß die Polizei bei einer Durchsuchung von Gebhards Wohnung in dessen Schreibtisch jene Brillantbrosche gefunden hat, die meiner Mutter zusammen mit ihren anderen Pretiosen geraubt wurde, glaubte ich zunächst noch, diese Nachricht könne unmöglich wahr sein. Sehr bald zerstörte mir aber unser Portier, der der Haussuchung beigewohnt hatte, diese letzte Hoffnung. In dieser Minute, als der einfache Mann mir so schonungslos eröffnete, jetzt könne kein Zweifel mehr über die Person des Diebes herrschen, da brach etwas in mir entzwei, was ich mir trotz mancher Enttäuschungen immer noch bewahrt hatte: der Glaube an das Gute im Menschen, an Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit. –
Warum gerade ich durch die Entlarvung Gebhards so schwer getroffen wurde, werden Sie begreifen, wenn Sie diesen Brief erst ganz gelesen haben. –
Um meine Gedanken abzulenken, und getrieben von einer Unruhe, die ich den Meinen verbergen wollte, stürmte ich ins Freie hinaus und suchte mich in dem Menschengewühl unserer belebtesten Straßen zu zerstreuen. Und dort kaufte ich mir dann eine Abendzeitung und flüchtete damit in eine Konditorei, wo ich den ausführlichen Artikel über den Diebstahl und den Mord in unserem Haus immer wieder und wieder las. Jedes, auch das letzte Bedenken, ob Gebhard denn wirklich der Dieb sein könne, schwand vor der unerbittlichen Logik dieses Berichtes. Darin war ja so klar entwickelt, auf welche Weise der Maler den Diebstahl ausgeführt, wie er dann wahrscheinlich seinen Raub an einen Hehler weitergegeben hatte und in der Nacht darauf selbst das Opfer eines Raubmordes wurde, den nur dieser Hehler oder ein guter Bekannter des Malers begangen haben konnte, – eben Personen, die wußten, daß Gebhard eine größere Summe Geldes, den Erlös aus dem Diebesgut, besaß, worauf die ganze Art des Verbrechens, besonders aber der Umstand hinwies, daß man neben der Leiche verstreut auf dem Boden 900 Mark in Scheinen aufgefunden hatte, welches der Mörder bei seinem hastigen Rückzug nicht mehr mitnehmen konnte. –
Und vor diesen überzeugenden Ausführungen streckte nun auch ich die Waffen. Ein weiteres Geheimhalten dessen, was ich zur Aufklärung des Falles noch beitragen kann, hat jetzt keinen Zweck mehr. Ich bin von Gebhard – und der ewige Richter möge ihm diese Lügen verzeihen, in schändlichster Weise getäuscht worden und dadurch in die demütigste Situation, besonders Ihrem Herrn Kollegen Werner gegenüber, geraten. Ich habe für etwas mit Aufbietung all meiner weiblichen List und Verstellungskunst gekämpft, was ich zu verteidigen nicht nötig hatte. Ohne Rückhalt will ich Ihnen jetzt erklären, um was es sich handelt. Dann werden auch Sie, der durch all das Vorgefallene zu einer für mich wenig angenehmen Beurteilung meiner Persönlichkeit gelangt sein muß, vielleicht etwas besser von mir denken. Ich gehöre eben nicht zu den Naturen, die sich leicht darüber hinwegsetzen, wenn sie von anderen verkannt werden. –
Herr Kommissar Werner wird Ihnen mitgeteilt haben, welch harten Kampf wir ausgefochten haben, – ich, um das zu verheimlichen, was ich wußte, er, um die Wahrheit aus mir herauszulocken.
Es handelt sich in der Hauptsache dabei um den Brief, den der Maler mir am Morgen nach dem Diebstahl zugeschickt hatte. Dieses Schreiben enthielt die dringende Aufforderung, ihn sofort heimlich zu besuchen, da er mir für meine Familie sehr wichtige Dinge zu sagen habe.
Ich schlich mich daher heimlich aus der Wohnung und eilte über den Hof in sein Atelier. Dort erzählte er mir, nachdem ich ihm kurz hatte mitteilen müssen, was in der Nacht bei uns passiert war, in fliegender Hast und mit allen Anzeichen höchster Erregung folgendes:
Er sei gegen halb vier Uhr morgens nach Hause gekommen und habe noch, um eine Weile frische Luft zu schöpfen am offenen Fenster des linken Seitenflügels gestanden. Im ganzen Hause seien nur die Fenster unserer Etage erleuchtet gewesen, wo die Schlafgemächer meiner Eltern und meine beiden Zimmer liegen. Da habe er plötzlich aus der offenen Balkontür des Schlafzimmers meiner Mutter einen Mann hinaustreten sehen, in dem er sofort meinen Stiefvater erkannte. Dieser habe sich erst vorsichtig im Hofraum umgeschaut und sich dann an dem Balkongeländer zu schaffen gemacht, worauf er wieder in das Gemach zurückgekehrt sein und dort von der Platte des Frisiertisches verschiedene im Licht der elektrischen Deckenbeleuchtung aufblitzende Gegenstände fortgenommen und zu sich gesteckt habe. Dies vermochte der Maler alles recht gut zu beobachten, weil man von seinem Atelier aus tatsächlich einen Teil des Zimmers meiner Mutter überblicken kann. Hiernach sei mein Stiefvater im Hintergrund des Zimmers verschwunden. –
Gebhard behauptete nun weiter, daß durch das seltsame Gebaren meines Stiefvaters sein Verdacht rege geworden wäre und er daher noch länger auf seinem Beobachtungsposten ausgeharrt hätte, in der dunklen Vorahnung, es würde sich noch etwas Besonderes ereignen.
Nach einiger Zeit sei dann abermals eine männliche Gestalt in dem hellen Lichtkreis des Balkons erschienen, die jetzt aber aus der im Dunkel liegenden zweiten Balkontür auftauchte und eine Maske vor dem Gesicht trug, in der Gebhard aber doch an den Bewegungen und der ganzen Figur meinen Stiefvater zu erkennen glaubte. Der Maskierte habe erst eine Weile wie horchend im Türrahmen gestanden, sich dann plötzlich über das Geländer des Balkons geschwungen und sich anscheinend an einem Tau ein Stück herabgelassen, sei aber sofort wieder mit großer Schnelligkeit emporgeklettert und durch die in das Schlafzimmer meines Stiefvaters führende, offenbar nur angelehnte zweite Balkontür geschlüpft.
Wieder nach einigen Minuten sei mein Stiefvater, diesmal ohne Maske, in dem Zimmer meiner Mutter sichtbar geworden und habe blitzschnell vom Geländer des Balkons etwas losgemacht, anscheinend einen Strick. Gleich darauf sei auch meine Mutter in meiner Begleitung auf dem Balkon erschienen, und aus einzelnen unserer in dem stillen Hof deutlich vernehmbaren Worte habe Gebhard geschlossen, daß wir Schmucksachen suchten und vermuteten, der Dieb, der diese geraubt hätte, sei über das Balkongeländer in den Hof geflüchtet. –
Gebhard berichtete mir dann weiter, wie er sofort für das merkwürdige Treiben meines Stiefvaters die einzig mögliche Erklärung gefunden und darauf ohne Zögern den Brief an mich geschrieben und zur Weiterbeförderung einem Kellner des Humser-Bräus übergeben habe, um sich möglichst bald mit mir zu beraten, was in dieser unheildrohenden Lage zu tun sein.
Diese Eröffnungen, die meinen Stiefvater als raffinierten Dieb hinstellten und an deren Wahrheit zu zweifeln für mich nicht der geringste Grund vorlag, brachten mich einer Ohnmacht nahe. Schnell raffte ich mich aber wieder auf. Gebhard, der meine Mutter sehr verehrte, da sie ihn nach Möglichkeit unterstützte, versprach mir, daß er in Mamas Interesse unter allen Umständen schweigen wolle. Nachdem ich diese Zusicherung von ihm erlangt hatte, kehrte ich in unsere Wohnung zurück. In welcher Verfassung, werden Sie sich leicht vorstellen können. Was dann geschah, ist Ihnen bekannt. Ihr Herr Kollege hatte sehr bald einen unbestimmten Verdacht gegen mich gefaßt. Die Folge war meine Vernehmung in der Bibliothek, bei der ich wahre Folterqualen ausgestanden habe.
Ich bin der Ansicht, daß es nach dem jetzigen Stande der Dinge für die Behörde wohl kaum noch nötig sein dürfte, das Ränkespiel, in das Gebhard mich mit hineingezogen hat, der breiteren Öffentlichkeit mitzuteilen. Gewiß gestatte ich Ihnen, von dem Inhalt dieses Briefes Gebrauch zu machen. Nur lassen Sie mein trauriges Geheimnis in meinem Interesse nicht den Meinigen zu Ohren kommen. Bisher ahnt weder mein Stiefvater noch meine Mutter etwas davon. Besonders die Letztere leidet bereits genug unter der Erkenntnis, ihre Fürsorge an einen Unwürdigen verschwendet zu haben.
Gebhard ist nicht mehr. Ich verzeihe ihm, was er mit seiner mir völlig unbegreiflichen Handlungsweise, diesem schlau erdachten Lügensystem, angerichtet hat. Denn in der Tat – es ist mir völlig unverständlich, aus welchem Motiv heraus er meinen Stiefvater mir gegenüber als Dieb hinzustellen suchte. Ich kann nicht glauben, daß er jenen so sehr gehaßt hat – verstanden haben sich die beiden allerdings nie – um sich auf diese Weise an ihm rächen zu wollen. Vielleicht verfolgte er auch andere, weitergehende Pläne. Wer vermag das so sagen. Die Seele dieses Mannes, für den ich bisher aufrichtige freundschaftliche Teilnahme empfand, in ihren geheimsten Tiefen zu enthüllen, dürfte jetzt nicht mehr möglich sein, da der Mund, der allein über all das hätte Aufklärung geben können, für immer verstummt ist.
Ich habe nichts mehr hinzuzufügen. Mich drängt es, diesen Brief schnell in Ihre Hände gelangen zu lassen. Vielleicht, daß ich mich dann freier fühle.
Mit freundlicher Begrüßung
Asta van Zourleeven.“
Lönning schob die eng beschriebenen Briefbogen in den Umschlag zurück.
„Nun, was halten Sie von dieser Überraschung?“ meinte er, seinen Kollegen fragend anblickend.
Werner hatte die Arme auf die Seitenstützen des Sessels gelegt und die Finger ineinandergeschlungen. Seine Zigarre lag unbeachtet im Aschbecher. Mit halbgeschlossenen Augen hatte er ohne jede Bewegung zugehört. Und in dieser Stellung verharrte er noch eine ganze Weile, ein Bild tiefsten Nachdenkens. Dann sagte er auffallend ernst:
„Fräulein van Zourleeven ahnt nicht, wie bitter unrecht sie dem armen Gebhard tut.“ Und nach kurzer Pause fügte er hinzu: „Oder nehmen auch Sie an, daß der Maler der Dieb gewesen ist?“
Diese Frage beseitigte auch die letzten Zweifel, die Lönning noch gehegt hatte, und gab ihm den Mut, ganz offen mit seiner eigenen Meinung hervorzutreten.
„Nein. Ich habe bereits seit meinem gestrigen Besuch bei Liskows starken Verdacht auf dieselbe Person, die auch von Gebhard beschuldigt wird – auf den Kommerzienrat.“
Werner nickte zustimmend. „Teilen Sie mir bitte mit, wie dieser Verdacht entstanden ist.“
„Sie werden sich erinnern,“ begann Lönning, jedes Wort genau abwägend, um sich möglichst kurz und übersichtlich auszudrücken, „daß in dem Schlafzimmer der Kommerzienrätin zwischen der Balkontür und dem Frisiertisch kein Teppich liegt. Bei der Besichtigung dieses Raumes stieß mir nun auf, daß der Dieb, der nach Ihrer Ansicht doch aus dem regenfeuchten Hof gekommen war, mit seinen nassen Schuhen auf dem blanken Parkett so gar keine Spuren hinterlassen hatte. Und derartige Spuren hätten unbedingt vorhanden sein müssen, wie ich später feststellte, und zwar besonders vor dem Frisiertisch, wo der Dieb doch, als er die Juwelen zusammenraffte und einsteckte, zum mindesten einige Sekunden auf derselben Stelle verweilt haben mußte. Und um mich nun zu überzeugen, wie lange der gebohnerte Fußboden die Abdrücke nasser Sohlen festhielt, feuchtete ich mir selbst meinen linken Stiefel an und erzeugte so einen trüben Fleck auf den blanken Dielen. Und dieser Fleck – das war das Wichtigste für mich – markierte sich, als ich spät abends dieserhalb wieder bei Liskows vorsprach, noch ebenso deutlich, wie vordem, obwohl inzwischen fünf Stunden vergangen waren. – Das ist die eine Beobachtung, die ich damals machte. Unwillkürlich war mir nun bei dieser vergeblichen Suche nach Merkmalen von Fußtritten eingefallen, daß der Dieb, wie Frau Liskow mit ziemlicher Bestimmtheit zu bekunden wußte, sehr glänzende Schuhe, also anscheinend Lackstiefel getragen hatte. Wie ich mich dann auch in dem Schlafzimmer des Kommerzienrats so etwas umschaute, vorläufig noch ohne jede bestimmte Absicht, da entdeckte ich unter dem Bett ein paar elegante Zugstiefel, die nur deswegen meine Blicke auf sich zogen, weil sie eben aus Lackleder gefertigt waren und ich kurz vorher gerade an derartiges Schuhwerk gedacht hatte. Ich holte mir also, immer noch ganz ahnungslos, welche wertvolle Entdeckung mir bevorstand, die Stiefel hervor und sah sie mir genauer an. Sie waren offenbar erst sehr wenig getragen. Schon wollte ich sie wieder fortstellen, als mir auf dem Spann des rechten Schuhes eine etwas bescheuerte Stelle auffiel, die, schwächer werdend, in der Richtung nach dem kleinen Zeh hin verlief. In demselben Augenblick tauchte in meinem Geist eine alte Erinnerung auf, wie sie manchmal in uns durch ganze Kleinigkeiten mit greifbarer Deutlichkeit wachgerufen wird.
Ein Sommertag auf meinem väterlichen Gut in Schlesien. Ein alter hoher Birnbaum im Obstgarten von dessen stärkstem, wagerechtem Ast ein Strick herabhing. Meine Schwestern und ich stehen unter dem Baum. Wera, die Jüngste fragte mich neckend, ob ich mir wohl zutraue, bis zu dem Ast emporzuklettern. Ich war damals Fähnrich und hatte zu meiner bequemen Litewka aus Eitelkeit ein paar fast neue Lackstiefel angezogen. Weras Zweifel an meiner turnerischen Gewandtheit lassen mich nicht lange überlegen. Im Nu bin ich oben, sitze auf dem Ast und rufe dem Schwesterlein zu: „Mach’s nach, wenn du kannst.“ Sie läßt sich das nicht zweimal sagen. Schon ist sie neben mir. Sie kletterte wie eine Katze. Aber nachher kam die Strafe für dieses völlige Vergessen meiner Fähnrichswürde. Meine Lackstiefel hatte ich mir so ziemlich verdorben. Denn der rechte war durch den Strick beim Kletterschlußnehmen arg bescheuert worden, der linke ebenfalls etwas, wenn auch nicht ganz so schlimm. –
Und nun sah ich hier an dem rechten Stiefel des Kommerzienrats genau dieselbe Scheuerstelle wie damals, genau dieselbe. Auch der linke Lackschuh zeigte eine ähnliche Beschädigung. Da – in diesem Moment durchzuckte es mich wie eine blitzartige Erleuchtung. Hier hielt ich ein paar Lackstiefel in der Hand, mit denen ihr Besitzer fraglos an einem Strick emporgeklettert war. Und Lackschuhe hatte der Dieb getragen! Erfuhr ich nun noch, daß der Kommerzienrat diese Schuhe in der Nacht, in der der Diebstahl geschah, angehabt hatte, so war dies immerhin schon ein gegen ihn zeugender, recht beachtenswerter Beweispunkt. – Und er hatte sie damals getragen, und zwar zum ersten Mal. Das bestätigte mir keine zehn Minuten später der Diener, aus dem ich, ohne ihn argwöhnisch zu machen, alles herausholte, was ich nur wissen wollte.“
Jetzt konnte Werner, der sonst so schweigsame Werner, doch nicht länger an sich halten.
„Kollege, das haben Sie ja großartig gemacht. Mein Kompliment!“
Lönning freute diese Anerkennung, die ihm der „große Werner“ so neidlos zollte, mehr, als er es sich anmerken ließ.
„Sie werden mich wahrhaftig noch eitel machen,“ lachte der frühere Kaiserulan recht verlegen, „besonders das Lob aus Ihrem Munde –“
In demselben Augenblick wurde leise an die Verbindungstür nach dem nebenanliegenden Speisezimmer geklopft, und Wera von Lönning steckte vorsichtig den Kopf durch die Türspalte.
„Fredi, der Baron möchte sich von dir verabschieden.“
„Wie, ist’s denn schon so spät?“ fragte Lönning ganz überrascht und schaute nach der Uhr. „Wahrhaftig, bereits kurz vor elf. – Ich komme sofort, Wera!“
Lönning half dem Freund im Korridor in den Mantel.
„Nun, Axel, hast du dich mit den Mädels auch nicht zu sehr gelangweilt?“ meinte er dabei scherzend.
„Gelangweilt?! Wir haben uns sogar ganz prächtig unterhalten – auch ohne dich,“ lächelte der Oberleutnant. Und leiser fügte er hinzu: „Ich kann dir nur sagen, Fredi, – deine Schwester Wera ist ein Prachtgeschöpf. Die hat mich „alten Philosophen“ völlig umgewandelt. Ich komme mir mit einem Male ordentlich jung vor!“
Als Lönning die Haustür hinter Axel Weitrap ins Schloß gedrückt hatte, murmelte er ein paar undeutliche Worte vor sich hin. Es klang fast wie: „Er wird doch nicht etwa –!“ Und dann kehrte er nachdenklich zu Werner in das Arbeitszimmer zurück.
„Eigentlich müßte ich mich nun auch empfehlen,“ meinte dieser, Lönning fragend anblickend.
„Bewahre. Unser Dienst kennt keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht. Und was wir hier besprechen, ist doch Dienst. Also –“
Und wieder saßen sie sich gegenüber an dem runden Tisch in dem behaglichen kleinen Zimmer, zwei Männer, die jetzt soeben das Schicksal eines dritten in ihrer Hand hielten und sich anschickten, diesen dritten noch fester einzuspinnen in ein unzerreißbares Netz, aus dem es kein Entrinnen gab.
Eine halbe Stunde später ging dann auch Werner.
„Wir halten also an unserem Programm fest,“ sagte er nochmals beim Abschied. „Ich fahre morgen mit dem ersten Zug nach Hamburg, wo ich ohnehin nach dem Komplizen des Defraudanten Herms zu suchen habe, und übernehme die dort auszuführenden Recherchen, während Sie hier einiges Interesse für alte Schreibtische und noch einige andere Dinge zeigen. Aber Vorsicht, Kollege. Der Vogel, den wir fangen wollen, ist schlau und, wenn es darauf ankommt, auch gefährlich.“ – – –
Lönning hatte Werner ebenso wie vorher schon den Baron bis an die Haustür hinunterbegleitet. Als er sein Zimmer wieder betrat, fand er dort zu seinem Erstaunen Wera vor, die mit verweinten Augen wie ein Vögelchen zusammengekauert, in der Sofaecke saß.
„Wie, – du noch auf? Ich denke du bist längst im Bett?“ meinte er scherzend. „Da wird’s morgen früh mit dem Aufstehen wohl recht sehr hapern, Kind.“
Jetzt erst bemerkte er ihre geröteten Augenlider und die letzten Tränenspuren auf ihren Wangen.
„Werusch – was ist denn das? Tränen? Nanu?!“
Wera von Lönning schaute den Bruder bittend an. Und indem sie einen Stuhl dicht an ihren Sofaplatz heranzog, sagte sie mit halb erstickter Stimme: „Komm, Fredi, setz’ dich zu mir. Ich habe mit dir zu sprechen.“
„Das klingt ja rein zum Angst bekommen. – So – und nun, Kleines, was gibt’s denn!“
Er hatte schnell ihre Hand in die seine genommen mit fast väterlicher Fürsorge.
„Du bist schon immer mein Vertrauter gewesen, Fredi,“ begann sie stockend.
„Stimmt. Und deshalb – ohne Angst raus mit der Sprache, wie Papa immer sagte.“
„Ja! Ich möchte dich nämlich etwas fragen –“ Wieder zögerte sie. Er streichelte jetzt sanft ihre Hand. Und das gab ihr Mut.
„Du machtest doch gestern Abend so eine Andeutung, als ob Baron von Weitrap schon verlobt wäre,“ stieß sie schnell heraus. „Stimmt das? – Bitte, sag’ mir die Wahrheit.“
Lönning pfiff leise durch die Zähne.
„Schau einer die Werusch an! Ei, Ei, Kleines, was hast denn du für’n Interesse daran?“
Da fiel ein warmer Tropfen auf seine Finger. Wahrhaftig – sie weinte schon wieder. Warum, ahnte er nur zu gut. Und deshalb sagte er schnell:
„Weitrap ist nicht verlobt. Er hat nur die Absicht gehabt, sich zu verloben. Dabei ist es bisher auch geblieben. Und ich glaube beinahe, aus der Geschichte wird überhaupt nichts mehr –“
Ihre Tränen waren im Augenblick versiegt.
„Und wer ist die junge Dame, um die es sich dabei handelt?“ fragte sie schnell.
„Das kann ich wirklich nicht sagen, Kleines, ohne mich einer groben Indiskretion schuldig zu machen. Gib dich zufrieden mit dem, was du jetzt weißt. Und alles andere überlaß der Zukunft.“
Damit zog er sie sacht aus ihrer Sofaecke hoch, küßte sie auf die Stirn und schob sie zur Tür hinaus.
„Gut’ Nacht, Werusch.“
Aber plötzlich war sie wieder dicht bei ihm, schlang ihm die Arme um den Hals und flüsterte:
„Fredi, wenn er mich wiederliebte! Wär’ das ein Glück!“ Dann floh sie blitzschnell ins Nebenzimmer.
Lönning stand noch immer kopfschüttelnd auf demselben Fleck. – Liebe auf den ersten Blick, – das schien’s also wirklich zu geben. –
Die Räume des Bankhauses van Zourleeven & Co., in dem Liskow, der jetzige Kommerzienrat, als Prokurist gearbeitet hatte, bevor er von dem Gatten seiner jetzigen Frau als Sozius angenommen und dann nach Heinrich van Zourleevens Tod durch seine Heirat alleiniger Inhaber der Firma geworden war, befanden sich in dem Erdgeschoß eines weitläufigen Gebäudes und waren noch mit demselben alten modischen Inventar ausgestattet, welches der Gründer des Geschäfts, Frau Wilmas erster, um beinahe zwanzig Jahre älterer Gatte, vor nunmehr einem halben Jahrhundert angeschafft hatte, machten aber vielleicht gerade deswegen diesen gediegenen, vertrauenerweckenden Eindruck. Auch in Liskows Privatkontor standen noch dieselben Möbel, die schon sein verstorbener Teilhaber benutzt hatte – der auffallend unmoderne Schreibtisch mit dem hohen, das Licht absperrenden Aufbau und die Sessel mit den geraden steifen Lehnen, die alles andere, als bequem waren.
Der Kommerzienrat hatte mit kurzem Gruß für die Angestellten den langgestreckten Arbeitsraum durchschritten und stand jetzt, noch mit dem Hut auf dem Kopf in seinem Kontor vor dem Schreibtisch und sah flüchtig den Berg von Briefen durch, der sich in den zwei Tagen seiner Abwesenheit angesammelt hatte. In letzter Zeit waren die gesamten Eingänge stets zuerst von ihm allein geprüft worden, worauf sie zur Erledigung weiterverteilt wurden. Erst nachdem Liskow sämtliche Briefe schnell überflogen hatte, nahm er sich die Zeit, Hut und Mantel abzulegen. Dann setzte er sich hin und schrieb einige Zeilen.
Plötzlich hielt er inne und warf die Feder achtlos auf die grünbezogene Tischplatte.
„Es ist doch alles zwecklos – alles,“ stöhnte er auf, in trostloser Verzweiflung vor sich hinstarrend. „Das Verderben läßt sich nicht mehr aufhalten. Hätte ich doch nur den Mut gehabt, schon vor einem halben Jahr nach den ersten größeren Verlusten das Geschäft aufzulösen. Dann wäre ich ein ehrlicher Mensch geblieben! Und jetzt – jetzt –“
So saß er wohl eine Viertelstunde und grübelte und grübelte, suchte immer wieder nach einem Ausweg, den drohenden Zusammenbruch der Firma aufzuhalten, und fand keinen.
Mit müder Gleichgültigkeit beendete er schließlich das begonnene Schreiben. Dann klingelte er nach dem alten Meinecke, der Prokurist und Kassierer in einer Person war und bereits unter Heinrich van Zourleeven diesen Posten bekleidet hatte.
Der weißhaarige, schon etwas gebückte Herr mit der großen Stahlbrille vor den kurzsichtigen Augen, begannen sofort nach der ersten Begrüßung, indem er ängstlich seinen Bleistift, den er bis dahin hinter dem Ohr getragen hatte, zwischen den Fingern hin und herdrehte:
„Herr Kommerzienrat, soeben hat Graf Kramsta wieder antelephoniert und um endliche Auszahlung seines Guthabens ersucht – recht unbehaglichem Tones schon.“ Dann eine kleine, schwüle Pause. „Und dabei habe ich zur Zeit keine dreißigtausend Mark in der Kasse, sehe auch keine Möglichkeit, anderswoher die noch fehlenden siebzigtausend zu beschaffen.“
Liskow hatte sich bereits wieder vollständig gefaßt. Er griff in die Rocktasche und holte ein Bündel Banknoten heraus, die er vor dem alten Herrn auf die Schreibtischplatte hinzählte.
„– neunzigtausend – hunderttausend. Da nehmen Sie, Meinecke, und schicken Sie dem Grafen sofort das Geld zu. Was ist in nächster Zeit noch abzuzahlen? Haben Sie die Summen im Kopf?“ fragte er dann, das freudige Erstaunen seines langjährigen Mitarbeiters völlig ignorierend.
„Jawohl, Herr Kommerzienrat,“ erwiderte der Prokurist mit hoffnungsfreudigem Eifer. „Da käme also zunächst die Frau Regierungsrat Anders, die nach Köln zu ihren Kindern zieht, mit fünfunddreißig Mille, dann er nach Stettin versetzte Major von Blaschke mit zweiundsechzig Mille, ferner –“
„Wann müssen diese Summen bereit sein?“ unterbrach Liskow ihn mit leicht vibrierender Stimme.
„Spätestens übermorgen.“
„Gut! Weiter!“
„Dann hat heute früh Herr Baron von Weitrap antelephoniert und gebeten, die Industriepapiere, die wir für ihn gekauft haben, bis zur Höhe von achtzigtausend Mark sofort zu veräußern und diese Summe sowie sein Barguthaben dem Gutsverwalter Kaliski auf Wellshofen, Provinz Posen, zuzustellen.“
Liskow wandte blitzschnell den Kopf nach dem Fenster hin, damit Meinecke nicht sah, wie ihm bei dieser niederschmetternden Nachricht alles Blut aus dem Gesicht gewichen war. Er wußte – das war das Ende. Jetzt gab’s kein Aufhalten mehr. Dicke Tropfen Schweiß traten ihm auf die Stirn. Und wie aus unendlicher Ferne klangen die Worte Meineckes jetzt an sein Ohr. Er begriff nicht mehr, was jener sprach, nickte nur ganz mechanisch hin und wieder mit dem Kopf, nur um den Anschein zu erwecken, als ob er auf all das hinhörte.
Dann war er wieder allein. In sich zusammengesunken saß er da, die Farbe des Todes im Gesicht, mit einem Ausdruck in den Augen wie ein gehetztes Tier in qualvollster Todesangst.
Plötzlich griff seine Hand nach der inneren Tasche seiner Weste. Seit Wochen schon trug er ein kleines, schmales Fläschchen mit aufschraubbarem Glasstöpsel mit sich herum, – Blausäure.
Aber die tastende Hand wurde ebenso langsam leer zurückgezogen. Er wollte nicht sterben, wollte nicht. Hatte er etwa nur dazu die Folter dieser letzten Tage durchgemacht, um jetzt die Waffen zu strecken? Es mußte einen Ausweg, eine Hilfe geben – mußte.
Und wieder jagten des bleichen Mannes Gedanken von Möglichkeit zu Möglichkeit, getrieben von einer schmeichelnden Gerte – der Hoffnung.
Als Asta van Zourleeven, die zusammen mit ihrer Mutter die nötigen Besorgungen für Gebhards Begräbnis erledigen wollte, sich zur vorgenommenen Zeit zum Ausgehen fertig machte, wurde sie durch das Stubenmädchen an das Telephon gerufen.
„Ein Herr möchte das gnädige Fräulein sprechen. Seinen Namen hat er aber nicht genannt,“ bestellte Beate, die seit gestern dauern mit verweinten Augen umherging, da auch ihr neuester Schatz, der forsche Techniker Karsten, ihr mit der kurzen Begründung abgeschrieben hatte, sie paßten doch nicht füreinander, wie er jetzt eingesehen habe, und daher wäre es besser, diesem „schönen Traum“, wie er sich so hochpoetisch ausdrückte, sofort ein Ende zu machen.
Asta eilte an den Apparat, in der unsicheren Hoffnung, daß es vielleicht Lönning sein könne, der sie anrief, um ihr ihres gestrigen Briefes wegen einige Worte des Dankes zu sagen.
Sie hatte sich nicht getäuscht. Es war der Kriminalkommissar, dessen Stimme sie auch deutlich erkannte.
„Gnädiges Fräulein, ich muß Sie unbedingt möglichst bald sprechen. Es handelt sich um eine Angelegenheit, die keinen Aufschub duldet. Da unsere Unterredung nun zunächst geheim bleiben muß, sich aber auch auf der Straße nicht erledigen läßt, so möchte ich Ihnen den Vorschlag machen, als Ort der Zusammenkunft die Wohnung meiner Schwestern zu wählen, die allerdings gleichzeitig auch die meine ist. Meine Schwester Wera, die wegen starker Migräne heute den Tag über daheim bleibt, wird sich freuen, Sie baldigst begrüßen zu können. Ich wiederhole nochmals, gnädiges Fräulein – es handelt sich um eine sehr schwerwiegende Angelegenheit. Wann darf ich also auf Ihr Erscheinen rechnen?“
Asta überlegte nicht lange.
„Paßt es Ihnen um zwölf Uhr vormittags?“
„Offengestanden – angenehm wäre mir eine spätere Stunde, da ich höchstwahrscheinlich bis halb ein Uhr dienstlich in Anspruch genommen bin. Also vielleicht ein Uhr –“
„Gut, ich werde pünktlich dort sein. Und Ihre Adresse Herr von Lönning.“
„Neue Königstraße 28, zwei Treppen.“
„Gut. – Auf Wiedersehen also.“
Sie traf auch wirklich kurz vor der verabredeten Stunde ein.
Fred von Lönning selbst öffnete ihr.
Nachdem er Asta auffallend ernst begrüßt hatte, führte er sie in sein Arbeitszimmer und bot ihr einen Stuhl.
„Gnädiges Fräulein,“ begann er dann, indem er sich ihr gegenüber an das hohe Büchergestell lehnte, „ich suche vergebens nach Worten, um Ihnen das mitzuteilen, was leider gesagt werden muß. Machen Sie sich auf sehr, sehr Trauriges gefaßt.“
Asta erbleichte. Ihre Nerven, denen die letzten Tage mit all ihren erschütternden Ereignissen bereits viel zugemutet hatten, versagten jetzt schon. Ein Zittern überlief ihren Körper, und wie beschwörend streckte sie ihre bebende Hand gegen Lönning aus.
„Quälen Sie mich nicht lange. Ich weiß ja nicht, was Sie mir zu berichten haben. Aber Ihr Gesicht läßt mich Schreckliches befürchten. Trotzdem will ich stark sein. Nur spannen Sie mich nicht unnötig auf die Folter.“
Lönning war die Kehle selbst wie zugeschnürt. Inniges Mitleid mit diesem bedauernswerten Wesen erfüllte ihn, daß da so ahnungslos vor ihm saß.
„Es betrifft Ihren Stiefvater,“ sagte er leise. Und die Worte kamen ihm seltsam dumpf aus der Kehle.
„Meinen Stiefvater –?!“ Asta war offenbar mehr überrascht als erschreckt.
Lönning raffte sich auf. Es half alles nichts – erfahren mußte sie die niederschmetternde Wahrheit ja doch.
„Gnädiges Fräulein,“ seine Worte überstürzten sich jetzt förmlich, „in Ihrem gestrigen Brief, für den ich Ihnen noch zu danken habe, steht zum Teil das, was ich Ihnen über den wahren Charakter Ihres Stiefvaters erzählen muß – zum kleinsten Teil. Gebhard hat die Brillanten Ihrer Frau Mutter nicht gestohlen. Der Dieb war vielmehr Ihr Stiefvater –“
Asta saß regungslos. Ihre Augen starrten an ihm vorbei ins Leere. Und wieder überlief dieses Zittern wie ein Frostschauer ihren erschöpften Körper. Und dann sagte sie ganz leise, ganz mechanisch:
„Weiter, weiter –“
„Wir sind uns vollständig klar darüber,“ fuhr Lönning fort, „aus welchem Grund der Kommerzienrat sich zu diesem Verbrechen hat hinreißen lassen und wie er es ausführte. Er hat infolge waghalsiger Spekulationen große Verluste erlitten, die ihn an den Rand des Ruins gebracht haben. Irgendeine uns zur Zeit noch unbekannte, fraglos aber besonders dringende Zahlungsverpflichtung trieb ihn dann dazu, den Diebstahl zu begehen, und dies mit einer Schlauheit, die beinahe über uns triumphiert hätte. Sie werden sich noch auf die Vorgänge jener Nacht besinnen, gnädiges Fräulein.“
„So hat mir Guido Gebhard doch die Wahrheit gesagt?“
„Ja – die volle Wahrheit.“
Sie hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen und schluchzte fassungslos vor sich hin. Umsonst versuchte Lönning, sie zu trösten. Und während er jetzt dicht vor ihr stand und voll heißen Mitleids auf sie herabschaute, sah er die Unmöglichkeit ein, ihr auch das andere noch mitzuteilen, das weit Schrecklichere, bei dessen Kunde sie unfehlbar völlig zusammenbrechen mußte. Nein – das brachte er nicht über’s Herz, nie und nimmer. Und nur fester nahm er sich vor, diesem Drama den Abschluß zu geben, den er sich in der letzten Nacht zurechtgelegt hatte und der allein Aussicht bot, daß die beiden beklagenswerten Frauen nie etwas von der ganzen Schwere von Liskows Verfehlungen erfuhren – mochten ihn selbst auch noch so große Unannehmlichkeiten daraus erwachsen.
Und gleich, nachdem Asta van Zourleeven gegangen war, setzte er sich an seinen Schreibtisch, nahm einen weißen Bogen vor und schrieb sein Gesuch um Entlassung aus dem Polizeidienst. Zum Schluß fügte er noch die Bitte hinzu, ihm bis zur Erledigung des Gesuches zu beurlauben. Als er damit fertig war und der adressierte Brief vor ihm lag, seufzte er, wie von einer Last befreit auf. Der Entschluß war ihm nicht leicht geworden. Befand er sich doch jetzt wieder in derselben Lage wie damals, als er so plötzlich infolge der veränderten Vermögensverhältnisse den bunten Rock hatte ausziehen müssen. Wieder begann jetzt diese traurige Jagd nach einer auskömmlichen Stellung.
Und dennoch – dieser Schritt war unumgänglich nötig gewesen. Er fühlte sich jetzt nicht mehr als Beamter. Was er nunmehr tat, darüber hatte er nach seiner Auffassung nur seinem eigenen Gewissen Rechenschaft abzulegen. –
Lönning hatte mit Werner verabredet, daß dieser ihn von Hamburg aus anrufen sollte, um ihm über den Erfolg seiner dortigen Recherchen Bericht zu erstatten. Und nun saß er und wartete in fiebernder Ungeduld Stunde um Stunde.
Endlich das Klingeln des Telephons.
„Hier Lönning. So, das ging ja schnell.“
„Die Hamburger Polizei half. Liskow war in dem Pensionat „Treumann“ abgestiegen – sonst wohnte er stets im Hotel – und hatte sich ein Zimmer ausgesucht, das direkten Eingang vom Flur besaß. Ob er in der Mordnacht hier gewesen ist, läßt sich daher gar nicht kontrollieren. Jedenfalls erfuhr ich aber von dem Stubenmädchen, daß er, gleich nachdem er sich in dem Pensionat das Zimmer hatte anweisen lassen, wieder weggegangen und am nächsten Morgen dann sehr spät aufgestanden sei. Unsere Vermutung stimmt also fraglos. Er wird mit einem der nächsten Züge nach Berlin zurückgekehrt sein, nachdem er sich eben durch das Belegen des Zimmers ein Alibi besorgt hatte. Schlauer Fuchs! – Und – wie steht’s mit Ihren Erfolgen, Kollege?“
„Ebenfalls alles erledigt. Bereits heute Vormittag um halb zehn hatten unsere Beamten den Chauffeur eines Autotaxameters ermittelt, der einen Herrn, auf den die Beschreibung Liskows mit Schlapphut, dunkler Brille, herabgekämmten Schnurrbart und langem Ulster genau paßt, in der betreffenden Nacht gegen zwei Uhr morgens für einen Preis von e100 Mark nach Hamburg gefahren hat. Um wessen Person es sich bei diesen Recherchen handelte, habe ich unseren Leuten natürlich nicht gesagt. – Die Erkundigungen nach der Herkunft des Schreibtisches Gebhards zog ich zu derselben Zeit ein, wandte mich dabei auch gleich an die richtige Adresse, an den Portier des Hauses Kurfürstendamm 304. Dieser wußte mir zu berichten, daß der Schreibtisch früher dem Kommerzienrat gehört habe und von diesem als unmodern vor einem Jahr dem jungen Maler geschenkt worden sei. Der Portier hat den Schreibtisch damals selbst vom Boden des Vorderhauses heruntergeholt und in Gebhards Atelier getragen.“
„Mehr brauchen wir nicht wissen. Ich komme wahrscheinlich schon abends nach Berlin zurück. Dann werden wir also morgen das Netz zuziehen. Bis dahin wollen wir aber die Sache noch für uns behalten. Daß Liskow flieht, ist nicht anzunehmen, da er sicher ganz ahnungslos ist.“
Jetzt sprach Lönning mit etwas gedämpfter Stimme, aber desto eifriger in den Apparat hinein. Es mußten Vorschläge sein, mit denen Werner nicht einverstanden war. Denn dieser erwiderte lebhaft:
„Kollege – das geht nicht – geht auf keinen Fall, auch wenn Sie bereits Ihr Entlassungsgesuch fertig haben und noch vorher der Post zur Beförderung übergeben wollen. Bedenken Sie doch, in welche Lage ich dabei komme!“
„Habe ich alles erwogen. Ohne mich rühmen zu wollen – den Beweis für Liskows Täterschaft bei beiden Verbrechen habe doch ich in der Hauptsache erbracht. Nehmen Sie also an, ich hätte Ihnen meine Verdachtsgründe gegen den Kommerzienrat nur privatim mitgeteilt. Dann wissen Sie also als Beamter von nichts. – Außerdem – wie sollte die Sache wohl je zur Kenntnis der Vorgesetzt gelangen, beziehungsweise in die Öffentlichkeit dringen?! – Bisher weiß niemand etwas davon, daß wir Liskow beargwöhnen, besser, daß wir ihn überführt haben. Daher – tun Sie mir den Gefallen und lassen Sie mich so handeln, wie ich’s im Interesse der beiden Damen für richtig halte. Es ist ja auch noch nicht einmal sicher, ob Liskow soviel Mut besitzt. Wenn nicht, wird er natürlich verhaftet.“
„Nun – meinetwegen. Aber – zu niemandem ein Wort über diese Verabredung – zu niemandem. Und, schicken Sie mir doch nachher sofort eine kurze Depesche nach hier ins Hotel „Stadt London“ an Ingenieur Fritz Werner, wie ich mich ins Fremdenbuch eingetragen habe. Inhalt bei Gelingen: „Kauf ist abgeschloßen,“ – bei Nichtgelingen: „Kauf hat sich zerschlagen.“ – Noch eins, Kollege. Seien Sie mit Liskow ja vor-sichtig, daß er nicht doch noch etwas das Weite sucht. Das könnte für uns sehr unangenehm werden.“ –
*
Gegen drei Uhr kehrte Liskow von der Börse zurück, wohin er eigentlich nur aus alter Gewohnheit gegangen war. Denn geschäftlich hatte er dort nichts mehr zu tun. Er war ruiniert, unfehlbar ruiniert. Das hatte er jetzt eingesehen. Auch seine erneuten Versuche, von Bekannten sich langfristige größere Darlehen zu besorgen, waren vergeblich gewesen. Seine mißliche Lage schien doch schon überall durchgesickert zu sein. Sein einziger Gedanke war nunmehr die Flucht. Er wollte verschwinden, spurlos verschwinden. Für die Depotunterschlagungen drohte ihm Zuchthaus. Dem mußte er entgehen. Er würde alles verfügbare Geld zusammenraffen und noch heute Berlin verlassen. Nur schade, daß er so töricht gewesen war, Meinecke die 100.000 Mark auszuhändigen. Vielleicht hatte dieser sie doch noch nicht abgeschickt.
Als er sein Privatkontor betrat, sah er auf dem Schreibtisch eine Depesche liegen. Sie kam aus London. Gleichgültig öffnete er sie. Für ihn hatte die geschäftliche Korrespondenz kein Interesse mehr.
Das Telegramm war in der mit seinem Londoner Geschäftsfreund verabredeten Chiffreschrift abgefaßt. Schon wollte er es achtlos fortlegen, als er sich doch eines Besseren besann. Man konnte ja nicht wissen. So holte er denn den Chiffreschlüssels hervor und übertrug Wort für Wort auf ein Stück Papier. Aber schon nach dem ersten Satz begann seine den Bleistift führende Hand zu zittern. Helle Röte schoß ihm in das bleiche Gesicht. In fieberhafter Eile vollendete er die Übertragung. Und dann las er das Ganze nochmals durch, als wollte er sich vergewissern, daß er sich auch nicht getäuscht habe.
„In der Maylor-Mine neue, gut sechs Meter breite und mindestens vierhundert Meter lange Schicht stark goldhaltiger Erde gefunden. Wird sehr leicht abzubauen sein. Nachricht nicht anzuzweifeln. Hochschnellen der Kurse um 150 sicher. Wenn möglich noch Aktien für uns vorsichtig ankaufen. Nachricht an Börse dürfte sich erst in zwei bis drei Tagen verbreiten.“
Liskow starrte noch immer das Blatt Papier an. Hochschnellen um 150! Dies war’s, was er immer wieder überlas. Er rechnete blitzschnell aus, welch einen Gewinn das für ihn bedeutete. Die Maylor-Papiere waren ja hauptsächlich schuld an seinem Ruin, da die Mine, die man anfänglich für so überaus goldhaltig eingeschätzt hatte, sich plötzlich als Blender herausstellte. Für rund 300.000 Mark lagen Aktien in seinem Tresor, die bis heute so gut wie gar keinen Wert besessen hatten – bis heute. Und nun die neue Goldader! –
Er nahm den Bleistifte wieder zur Hand, um ganz genau festzustellen, wieviel er im ungünstigsten Falle jetzt mit den Aktien verdienen mußte. Zahlen reihten sich an Zahlen. Dann stand das Resultat da. Über eine Million – eine Million! Er war gerettet.
Die alte Spannkraft, seine ganze Arbeitsfreude kehrten zurück. Elastisch erhob er sich, öffnete die Tür nach dem großen Nebenraum und rief den alten Prokuristen herbei.
Auch Meinecke traten Tränen der Freude in die Augen. Wenn er auch nur ahnte, daß sein Prinzipal sich vielleicht in der dringenden Notlage an den Depots, die dieser stets selbst verwaltete, vergriffen haben könnte, – jedenfalls war man jetzt aus allen Kalamitäten heraus. Ein neues Leben konnte beginnen, man würde waghalsige Spekulationen vermeiden, und bald würde dann das Bankhaus van Zourleeven & Co. ebenso sicher und festbegründet dastehen wie einst. – – –
Meinecke war wieder gegangen. Der Kommerzienrat hatte die Gaskrone angezündet, ebenso auch seine Lampe auf dem Schreibtisch, und setzte eben eine Depesche an einen Freund in Frankfurt a.M. auf, damit dieser für ihn morgen auch an der dortigen Börse unter der Hand Maylor-Aktien kaufe, als es klopfte und auf Liskows „Herein“ einer der jungen Leute erschien und ihm eine Karte überreichte. „v. Lönning, Königlicher Kriminalkommissar“ stand darauf.
Zuerst durchfuhr es den Kommerzienrat wie ein eisiger Schreck. Schnell beruhigt er sich jedoch wieder. Wozu die Angst – –?! Lächerlich! Sein Spiel war vermessen, aber auch schlau gewesen. Er brauchte nichts zu befürchten. Den Herrn konnte nur der Diebstahl der Pretiosen hergeführt haben – –
„Ich lasse bitten,“ sagte er daher ganz ruhig.
Und dann standen sich die beiden Männer Auge in Auge gegenüber.
„Sie kommen in der Diebstahlsache, nicht wahr, Herr Kommissar?“ begann Liskow und machte eine einladende Handbewegung nach einem der steiflehnigen Ledersessel hin, die um den Mitteltisch gruppiert waren.
„Nicht nur in der Diebstahlsache, auch wegen des an Gebhard begangenen Mordes bin ich hier.“
Es lag etwas in dem Ton dieser Worte, das Liskow erschreckte. Ein unbestimmtes Angstgefühl beschlich ihn plötzlich.
Da sprach der andere bereits weiter: „Die Polizei hat festgestellt, daß der Dieb der Pretiosen und der Mörder ein und dieselbe Person ist. Die Schmucksachen wurden von einem Mann gestohlen, der sich in bedrängtester pekuniärer Lage befand.“
Liskow fuhr sich plötzlich mit der Hand nach der Kehle. Er glaubte ersticken zu müssen. Feurige Punkte tanzten vor seinen Augen. Hatte er recht gehört, – – ging das nicht fraglos auf ihn, auf ihn allein – –? – Doch nur nicht sich verraten. Erst abwarten, was weiter kam – – –
Lönning hatte eine kleine Pause gemacht. Und in diese Stille klang’s jetzt hinein, unnatürlich heiser, wie mit äußerster Mühe hervorgequält:
„Das – – freut – – mich – – sehr – – sehr – – im Interesse meiner – – meiner Frau – –“
„Der Dieb,“ fuhr der andere jetzt unbarmherzig fort, „gehört zu den nächsten Angehörigen des Hauses, in dem der Raub begangen wurde. Er hat eine schlau berechnete Komödie gespielt, um den Eindruck zu erwecken, als sei der Täter in den Hof hinuntergeflüchtet, während er in Wahrheit in der Wohnung blieb. Durch irgend einen Zufall hat er dann den Verdacht geschöpft, daß er von Guido Gebhard, während er seine Vorbereitungen für den Diebstahl traf, beobachtet worden sein könnte; und zwar nimmt die Polizei an, daß er sich vielleicht Kenntnis von dem Inhalt des Briefes verschaffte, den der Maler an Fräulein van Zourleeven schickte und in dem er sie dringend aufforderte, sogleich heimlich zu ihm zu kommen, da er ihr im Interesse ihrer Familie Wichtiges mitzuteilen habe. Der Täter wird höchstwahrscheinlich aus der Art und Weise, wie dieser Brief der jungen Dame zugestellt wurde, besonders aus der ungewöhnlich frühen Stunde und weiter aus dem Umstand, daß ihm gegenüber nichts von dem Brief erwähnt wurde, den richtigen Schluß gezogen haben, daß Gebhard um das ganze Geheimnis wußte und sich Fräulein van Zourleeven anvertrauen wollte.“
Lönning, der bisher vermieden hatte, sein Gegenüber bei diesen Sätzen, die wie Keulenschläge treffen mußten, anzusehen, warf jetzt einen prüfenden Blick auf Liskow, um sich von der Wirkung seiner Ausführungen zu überzeugen. Er erschrak beinahe. Ein leichenblasses, verzerrtes Antlitz starrte ihm mit weitaufgerissenen, stieren Augen entgegen. –
Ein Gefühl des Grauens kroch da dem an solche Szenen nicht gewöhnten früheren Offizier mit Eiseskälte über den Rücken, und nur ein Wunsch beherrschte ihn noch, diesem Furchtbaren schnell ein Ende zu bereiten. Und abermals begann er, ohne den Kommerzienrat jedoch weiter anzublicken:
„Der Täter faßte nun den Plan, sich davon zu überzeugen, ob seine Vermutungen hinsichtlich Gebhards stimmten, um diesen dann gegebenen Falles als gefährlichen Mitwisser aus dem Wege zu räumen. Er fuhr sofort am Nachmittag jenes Tages, in dessen früher Morgenstunde der die Juwelen an sich gebracht hatte, angeblich in Geschäften nach Hamburg und stieg dort in dem Pensionat „Treumann“ ab. Dort suchte er sich ein Zimmer mit direktem Eingang vom Flur aus, ließ seine Reisetasche zurück, um den Anschein zu erwecken, als ob er nur in der Stadt Besorgungen erledigen wollte, kehrte aber in Wirklichkeit, versehen mit einer Schußwaffe, einer dunklen Brille und einem breiten Schlapphut – Sachen, die er vielleicht in Hamburg noch eingekaufte – mit einem der nächsten Züge nach Berlin zurück. Hier lauerte er nun dem Maler vor dem Haus Kurfürstendamm 304 auf, nachdem er sich durch Hut, Brille und den über die Mundwinkel herabgekämmten Schnurrbart unkenntlich gemacht hatte. Als er Gebhard dann gegen ein halb ein Uhr nachts heimkehren sah, schloß er schnell die Haustür auf und schlüpfte in den Flur, wo es dann zwischen beiden zu einer anscheinend heftigen Auseinandersetzungen kam. Diese hatte einen Zeugen, der der Polizei später hiervon Mitteilung machte. Es war der Detektiv Salbak, den der Täter schon früher beauftragt hatte, den jungen Maler zu überwachen. Gebhard hat dann, ahnungslos, welches Schicksal ihm drohte, den Mörder mit sich in seine Wohnung genommen, wahrscheinlich, um dort die Unterredung mit ihm fortzusetzen.
In dem Atelier – oder vielleicht auch schon vorher im Flur – hat jener erfahren, daß der Maler tatsächlich um den Diebstahl der Pretiosen wußte, und Gebhard dann durch einen Schuß niedergestreckt. Um nun den Verdacht von sich abzulenken, verbarg er in dem Geheimfach des Schreibtisches, der früher sein Eigentum gewesen war, dessen besonderes, für Polizeibeamte allerdings unschwer aufzufindendes Versteck er daher kannte, einen der gestohlenen Gegenstände, die Brillantbrosche – in der Voraussicht, daß dadurch nicht nur die Behörde, sondern auch Fräulein van Zourleeven notwendig zu der Annahme gelangen mußte, Gebhard sei der Dieb gewesen.
Weiter streute er neben der Leiche noch achthundert Mark in Bank-noten aus, und dies nur, um dem Verbrechen einen noch rätselhafteren Anstrich zu geben. Hierauf verließ er die Wohnung wieder, mietete sich ein Auto und fuhr darin nach Hamburg zurück, wo er sicher erst gegen Morgen eintraf, trotzdem aber ungesehen sein Zimmer im Pensionat „Treumann“ aufsuchte. Dieses Zimmer konnte er ja direkt von der Treppe aus erreichen, wodurch er der Gefahr entging, etwa von einem der Dienstboten der Pension bemerkt zu werden. –
Wo der Mörder die Schmucksachen gelassen hat, wissen wir nicht. Aber auch das dürften wir bald herauskriegen.“
Nun kam das Schwerste –: Liskow anzudeuten, daß es das beste wäre, wenn er sich der strafenden Gerechtigkeit für immer entzöge. Darauf lief ja der ganze Zweck dieses Besuches hinaus.
Lönning machte unwillkürlich eine Pause. Aber er wurde jedes weiteren Wortes überhoben.
Der Kommerzienrat war mit einem Ruck aufgestanden. Schwer lehnte er sich jetzt mit beiden Händen auf den Tisch und stieß mit gurgelnden Lauten, während sein Gesicht sich blaurot färbte und seine Augen förmlich aus ihren Höhlen herausquollen, lallend hervor:
„Umsonst – – alles – – umsonst.“
Plötzlich drehte er sich halb nach dem Fenster hin, stand noch einen Moment kerzengerade aufgerichtet und stürzte dann, indem er im Fallen den Sessel mit umriß, zu Boden. –
Fünf Minuten später traf der Arzt ein, den Meinecke sofort hatte holen lassen. Er konnte nur den bereits eingetretenen Tod konstatieren.
„Herzschlag,“ meinte er achselzuckend.
Am nächsten Abend brachten die Zeitungen der Reichshauptstadt im lokalen Teil die folgende, bei allen ziemlich gleichlautende Notiz:
Gestern Nachmittag verstarb plötzlich, wie schon kurz berichtet, an Herzschlag in seinem Privatkontor Kommerzienrat Liskow, der Inhaber des Bankgeschäfts van Zourleeven & Co., einer unserer angesehensten Geschäftsleute. Der Name Liskow war in den letzten Tagen häufiger genannt worden, da der Gattin des Verstorbenen unlängst ihre wertvollen Juwelen geraubt wurden und kurz darauf in demselben Hause am Kurfürstendamm der Mord an den Kunstmaler Gebhard geschah. Wie uns jetzt von bestunterrichteter Seite mitgeteilt wird, sind jedoch für den Verdacht, daß der Ermordete der Dieb der Pretiosen gewesen sei – eine Nachricht, die auch wir gebracht haben – keine weiteren Anhaltspunkte aufgetaucht. Zwar ist bekanntlich in dem Schreibtisch Gebhards eine Brosche entdeckt worden, die mit zu den geraubten Brillanten gehörte, doch dürfte diese nicht der junge Künster dort hingelegt haben, sondern der Mörder, von dem man bisher nur wenig aussichtsvoll Spuren gefunden hat. Die Behörde neigt der Ansicht zu, daß der Dieb der Pretiosen und der Mörder ein und dieselbe Person ist. Gebhard hat nämlich bei seiner Vernehmung vor einem Kriminalkommissar, die aus Anlaß des Diebstahl kurz vor seinem gewaltsamen Ende erfolgte, Äußerungen gemacht, die man erst jetzt in ihrer wahren Bedeutung erkennt, und aus denen hervorzugehen scheint, daß ihm der Name des Diebes nicht unbekannt war, daß er aber bestimmte Gründe hatte, diesen Namen nicht zu nennen. Jedenfalls hat jener Beamte, der dann leider dienstlich nach einer anderen Stadt gerufen wurde und daher jetzt erst diese wertvollen, die Ehre des Toten wiederherstellenden Angaben machen konnte, damals bei der Vernehmung den sicheren Eindruck gewonnen, daß der junge Künstler der Dieb nicht sein könne und daß hier irgend ein besonderes Geheimnis vorliegen müsse, welches Gebhard aus wahrscheinlich überhaupt nicht mehr aufzuklärenden Gründen auch auf die Gefahr hin für sich behalten wollte, selbst als Dieb verdächtigt zu werden. Man fahndet zur Zeit noch eifrig nach einem Unbekannten, der in der Nacht, in der der Mord geschah, den jungen Kunstmaler in dessen Atelier hinaufbegleitete. Hoffentlich haben die in dieser Richtung geführten Ermittlungen Erfolg. –
Es sei nochmals betont, nach dem jetzigen Stande der Untersuchungen hat der Ermordete mit dem Juwelen Raub unmöglich irgend etwas tun gehabt.
Diese Notiz war hauptsächlich auf Betreiben des Kriminalkommissars Werner den Zeitungen zur Verfügung gestellt worden, nachdem dieser und sein Kollege von Lönning ihrem nächsten Vorgesetzten gerade nur das mitgeteilt hatten, was zur Rehabilitierung Gebhards notwendig schien, wobei sie ihre vorher genau verabredeten Angaben der Art einrichteten, daß auf den inzwischen von dem göttlichen Strafgericht bereits ereilten Verbrecher keinerlei Verdacht fiel.
So hat denn auch weder Frau Liskow, die bei der Nachricht von dem Tod ihres Gatten in ein schweres Nervenfieber verfiel, von dem sie sich erst nach Monaten wieder erholte, noch Asta van Zourleeven je die die ganze furchtbare Wahrheit des so raffiniert angelegten Doppelverbrechens erfahren. Den Gedanken, unter der Hand nach dem Verbleib der Juwelen Nachforschungen anzustellen, ließ Lönning bald wieder fallen, da er sich mit Recht sagte, daß es am sichersten wäre, wenn die Pretiosen nie wieder auftauchten, was denn auch wirklich geschah.
Ebenso glückte es dem alten, treuen Prokuristen Meinecke in Folge des Steigens der Maylor-Aktien, sämtlichen Zahlungsverpflichtungen der Bank nachzukommen, so daß auch von den Unterschlagungen des Kommerzienrats nichts in die Öffentlichkeit drang. Nur eins konnte der alte Herr nicht vor der Gattin seines verstorbenen Chefs verheimlichen: daß deren Vermögen infolge unglücklicher Spekulationen zur Hälfte verloren gegangen war, – was auch auf die tiefgebeugte Frau keinerlei Eindruck machte. Seit dem Tode ihres Gatten hatte sie jegliches Interesse für die Außenwelt verloren.
Überschwenglich, wie ihre Liebe für ihren zweiten Gemahl gewesen, war auch ihre Trauer. Und nur als ihr einziges Kind sich ein Jahr darauf mit Ferdinand von Lönning verlobte, der inzwischen auf einem der Güter seines Freundes Weitrap eine Stellung als Gutsverwalter angenommen hatte, lebte sie in dem Glück ihrer Tochter wieder etwas mit auf.
Auch Weitrap, der längst eingesehen hatte, daß seine Neigung für Asta van Zourleeven nur ein Irrtum gewesen war und daß sein Herz einzig und allein dem kleinen Sprühteufelchen Wera gehörte, die seine etwas formelle Liebeserklärung wesentlich abkürzte, indem sie ihm mit einem Jubelruf in die Arme flog, reichte bald darauf seinen Abschied ein und widmete sich ganz der Bewirtschaftung seines ausgedehnten Grundbesitzes. Frau Wilma aber ließ es sich nicht nehmen, auch für Wera von Lönning, die schnell in der gleichaltrigen Asta eine treue Freundin gefunden hatte, die Hochzeit mitauszurichten.
So wurde denn ein und ein Vierteljahr nach dem Tod des Kommerzienrats in dem Hause am Kurfürstendamm ein frohes Doppelfest gefeiert. Auch für Elsa von Lönning brachte dieses eine große Veränderung mit sich. Die Kommerzienrätin, die mit Recht fürchtete, daß sie sich nach der Verheiratung Astas nur noch vereinsamter fühlen würde, nahm sie für immer zu sich.
Lönning, der schließlich dem Drängen seiner jungen Frau nachgab und kurz nach seiner Hochzeit wieder in sein geliebtes Regiment zurücktrat, wo man den allseits beliebten Kameraden mit offenen Armen empfing, hat es nie bereut, der menschlichen Gerechtigkeit damals mit voller Absicht vorgegriffen zu haben, da er fest überzeugt war, daß seine Schwiegermutter die Schmach, ihren Gatten als gemeinen Verbrecher abgeurteilt zu sehen, nie überlebt hätte.
So schmückt denn Frau Wilma im Spätherbst jedes Jahres zwei Gräber, unter denen die sterblichen Überreste zweier Männer ruhen, die das Schicksal dazu ersehen hatte, in einem an Wechselfällen reichen Drama die tragischen Hauptrollen zu spielen. Denn an Guido Gebhards Schuldlosigkeit hat die Kommerzienrätin später nie gezweifelt.
Seiner umgitterten, stets so wohlgepflegten letzten Ruhestätte sieht man es nicht an, daß darunter ein armer, vom Leben bitter betrogener Künstler ruht.