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Das Dogmoore-Wappen

 

Das Dogmoore-Wappen

 

Kriminal-Roman

von

Walther Kabel

 

Verlagsanstalt Vogel & Vogel G.m.b.H.
Leipzig-Reudnitz

 

1. Kapitel.

Regen.

Vielleicht liegt es daran, daß das Stammschloß meiner Ahnen droben in Schottland in der Nähe der Meeresküste steht, wo traurige Hochmoore, kalte Nebel, das Toben der See und unendliche, unendliche Regengüsse der Menschenseele ein besonderes Gepräge geben. Man sagt den Schotten ja auch nach, ihre Seele sei außerordentlich leicht in die seltsamsten Schwingungen zu versetzen, sie seien mehr als andere Sterbliche unberechenbare Stimmungsmenschen, und diese Stimmungen würden bei ihnen durch die mannigfachsten Ursachen ausgelöst.

Merkwürdig trotz alledem! Bei mir tut’s der Regen! Er zwingt mir eine müde, mutlose Gleichgültigkeit auf, unter deren Einfluß alles um mich her ein anderes Aussehen gewinnt – alles, Menschen, Dinge, Geschehnisse …

Er zwingt sie mir auf. Ich gebe mich ihr nicht hin, ohne mich zu wehren. Ich neige nicht zu Träumereien, zum Nachgrübeln; verteidige mich gegen diesen Feind, verscheuche ihn auch so und so oft. Doch zumeist ist er stärker als ich.

Ich stehe am Fenster meines Arbeitszimmers und schaue nach Westen zu über den Bahndamm und über die verräucherten Bäume hinweg auf den dunklen, endlosen Forst, auf den Grunewald, der da drüben lagert wie ein schwarzer Streifen, wie ein uralter, mächtiger Wall, gegürtet um die Riesenstadt Berlin. Aus diesem Streifen drängt sich jetzt etwas unheimlich Dunkelgraues hervor, kriecht höher und höher, einem in Bewegung geratenen, vom Zwielicht schwach beleuchteten Gebirgsstock gleichend. Eine Regenwolke …

Ich schaue ihr entgegen wie einer Feindin.

Gerade heute, gerade jetzt muß sie auftauchen. Soeben schien noch die Sonne. Nun hat das grauschwarze Ungetüm das Tagesgestirn verschluckt.

Ich fühle bereits, wie eine seltsame Unruhe an meinen feinsten Nervensträngen reißt. Ich kenne diese Zeichen …

Das Fenster gibt undeutlich mein Spiegelbild wieder. Ich bin festlich gekleidet. Ich feiere heute Verlobung. Ich sehe die schneeweiße Hemdbrust, darin zwei schillernde Brillantknöpfe. Ein Geschenk von ihr, von Heliante, – das Brautgeschenk.

Noch eine Stunde, dann werde ich im Auto zu ihr fahren, nach der Hinterpforte des bestgepflegten Parkes der Villenkolonie Grunewald.

Mit frohem Herzklopfen habe ich mich vorhin angekleidet. Aber die Sehnsucht und die freudige Erregung sind jetzt mit einem Mal wie fortgewischt. Lag all das nur auf meiner Seele feinsten Oberschichten wie leichte Schriftzüge auf einer Schiefertafel, die schon ein feuchter Hauch verblassen läßt?! – Nein doch – nein! Der Regen ist’s, der Feind …

Das Fremde überfällt mich. Das Fremde. Anders vermag ich’s nicht zu bezeichnen, denn es ist mehr als nur Stimmungsumschwung oder Seelendruck …

Ich lege die Stirn an die kühle Scheibe und seufze tief auf. Wozu habe ich mich mit Heliante überhaupt verlobt?! Liebe ich sie?! Kann sie, dieses strahlende, verwöhnte Weltkind, mich einsamen Gelehrten lieben? Ist es nicht ein freventliches Wagnis, ein solches Weib an sich zu ketten …?!

Die ersten Tropfen fallen …

Fallen, treffen das Fenster, rinnen am Glas entlang, hinterlassen feuchte Streifen; fallen dichter und dichter. Die Musik des Regens setzt ein.

Ein Heer von Tropfen stürmt jetzt gegen die Scheiben. Ganze Bächlein fließen am Glas herab. Ich seh die Welt da draußen in wunderbarer Verzerrung. Ein Zug rast auf dem Bahndamm vorüber. Nein, es ist kein Zug, es ist ein stinkenden Qualm ausspeiender Drache, ein Ungeheuer der Vorzeit … Leute kommen aus dem Tunnel unter dem Bahndamm hervor. Leute – Menschen?! Zwerge, Kobolde sind’s, die der Schlund der Erde freiläßt – mit Fratzen, lächerlich oder grausig …

Und stumpf und müde denke ich: „Du mußt zu Heliante – du mußt!!“ Große Verlobungsfeier … Vierzig Personen … Darunter auch der Graf, der Heliantes Millionen und … meine Heliante daneben als Zugabe haben wollte …! Wollte! Hätte er sie doch beide für sich erobert, beide …! Denn Heliante und ich …?! Ein Wahnwitz! Heliante Bark, – eitles Püppchen, Parvenütochter – und ich, ich – Allan Lord Dogmoore, Stammbaum bis 1121, der letzte Dogmoore … Nicht mehr Schotte, Engländer, – Deutscher jetzt, auch im Herzen, deutsches Blut in den Adern – von der, die ich anbete, die mir alles ist: meine Mutter …!

Ich lasse mich in den Klubsessel fallen, der neben dem Rauchtischchen dicht am Fenster steht … Ich grübele und grübele. Eine dumpfe Feindseligkeite ist in mir, etwas Wildes, Zügelloses … –

So ist es immer, wenn der Regen mich überwältigt. Ein Fremder ist in die Hülle meines Ich’s hineingeschlüpft wie ein widriger Wurm. Ich grübele …: Heliante und ich – Wahnwitz …

War ich soeben eingeschlafen …?! „Raffe dich auf, Allan Dogmoore …! Sie erwartet dich – im Park, im Pavillon …“

Ah – doch keine Täuschung! Da ist Frau Meißlers Stimme, – hell, scharf wie das Schrillen eines Weckers.

„Herr Doktor – Herr Doktor …!!“

Ich werde munter, fahre mit der Hand über die Stirn, über die Augen, schaue verwirrt um mich … Ich muß wirklich im Klubsessel ein-geschlafen sein. Ich sehe draußen die Röte eines wunderbaren Sonnenuntergangs den Himmel färben …

Wieder der Wecker: „Herr Doktor …!!“ Die magere Witwe kreischt gräßlich …

„Ja doch – ich komme ja schon …!!“ Ich springe auf, und – mein Fuß stockt … Heliante, Verlobungsfeier, und draußen schon der Abend …!! – Das schießt mir durch den Kopf, und der Schreck lähmt mich förmlich.

Ich habe die Zeit verschlafen. Um viertel sieben hätte ich bei Heliante sein müssen – – Hinterpforte, chinesischer Pavillon – – weiche Arme, Küsse, Duft von Frauenhaar – – all das Süße ihrer Nähe – – und jetzt –, jetzt muß es etwa neun sein, neun …!!

Abermals: „Herr Doktor …!!“

Ich schüttele die Erstarrung ab, eile der Türe zu, – – da – – wer hat denn abgeschlossen?! – Ich drehe den Schlüssel um, reiße die Tür auf …

Mein Arbeitszimmer hat Flureingang. Das elektrische Licht brennt bereits im Treppenhaus. Ich sehe, wie verstört die Meißler ist. Ihre Augen sind ganz wild, ganz weit, und neben Entsetzen bemerke ich darin etwas wie Mitleid.

„Was gibt’s denn, Frau Meißler?“

„Oh, mein Gott, Herr Doktor … Ihr Schwager sitzt drüben bei mir …“

„Ja – ja – ich bin eingeschlafen – im Klubsessel – unverantwortlich von mir.“

„Nein – nein, – nicht das … Aber – kommen Sie – kommen Sie …!“

Und sie eilt mir voraus. Wenige Schritte sind’s nur bis zu ihrer Flurtür. Bei der Meißler riecht es wie immer nach muffigen Kleidern, Bratenfett und nach Petroleum, von dem Lämpchen, das hier im dunklen Wohnhausflur als Sparbrenner Tag und Nacht die Luft verpestet.

Neben der Küche haust sie in der ihr verbliebenen Hinterstube.

Und dort sitzt mein Schwager Erwin auf dem altertümlichen, roten Plüschsofa - ganz in sich zusammengesunken, ganz bleich …

„Allan,“ stöhnt er, „Allan, es – ist – etwas …“

Die zitternde Stimme versagt ihm den Dienst. Sein Kopf sinkt wieder auf die Brust. Ich sehe die Tränen, die über seine Wangen rinnen, sein junges Gesicht, das dem Heliantes fast zu sehr gleicht. Alle Barks ähneln sich – alle …

Mir ist’s, als sei die ganze Welt plötzlich von Wahnsinn befallen. Erst schlafe ich ein – verschlafe; dann die Meißler, kaum zu erkennen in ihrer Verstörtheit, – und nun noch Erwin in diesem Zustand, mit diesen Andeutungen …

Ich rüttele ihn.

„Erwin – was um Himmels willen ist denn geschehen?“

Da schreit er auf: „Allan, Allan – du schläfst, und Heliante … wird – wird – ermordet – ermordet …!!“

Meine Linke krallt sich in den Stoff seines Anzugs fest. So finde ich Halt; so taumele ich nicht zurück, stiere ihn nur an, stiere in sein weißes Gesicht, das mir wie in eine Wachsmaske, Schmerz und Entsetzen darstellend, erscheint …

Ich stiere auf seine Lippen, zwinge ihn so zum Sprechen.

„Heliante ist nicht mehr, ist tot …!“ schluchzt er auf und umklammert mit seinen beiden Händen meine Rechte, die sich schwer auf den Tisch stützt.

„Also – wahr ist’s – wahr?“ keuche ich halb besinnungslos.

Er nickt nur. Und eine Weile bleiben wir regungslos. Dann steht er auf, taumelnd, müde, zerschlagen.

„Mein Auto wartet unten – komm!!“ sagt er tonlos, fast mich unter und zieht mich mit fort.

Schwer poltern wir die Treppe hinab. Frau Meißler kommt mir mit Mantel und Hut nachgelaufen.

Vor dem Haus stehen die Hausbesorgerleute und sprechen mit dem Chauffeur meiner Schwiegereltern. Er ist schon zehn Jahre bei Barks im Dienst. Auch er hat gerötete Augen.

Das Auto rast davon. Erwin hält meine Hand in der seinen.

„Allan, Allan – sei stark nachher – es ist furchtbar!“ stöhnt er. „So jung, so glücklich, und dann sterben müssen, so – so sterben müssen …!! Vor vier Stunden noch so lebensfroh, und jetzt – still, stumm, – die Beute irgendeines Mordbuben.“

Ich will die Szenen in der Villa Bark übergehen. Alle meine Energie brauchte ich, um nicht ebenso hilflos, so ganz sinnloser Schmerz zu werden wie meine Schwiegereltern, wie meine Schwägerin Beatrix …

Gerade Beatrix benahm sich so seltsam. Sie, die Scheue, Zurückhaltende, war mir hier auf die große Diele entgegengeeilt. Schweigend standen wir uns ein paar Sekunden gegenüber. Ihre Augen bohrten sich in namenlosem Jammer in die meinen, als wollten sie darin suchen. Dann umschlang sie mich plötzlich, lag schwer an meiner Brust, hob den Kopf langsam, küßte mich mit so heißen, fiebernden Lippen, flüsterte dann etwas, das ich nur halb verstand … Es klang wie: „Ich weiß nichts – nichts – – ich habe nichts gesehen!“ – –

Ich kann mich aber auch geirrt haben; die Worte mögen andere gewesen sein – etwas anderes …

Ich hatte den Arm wie schützend um sie gelegt. Ich war verwirrt über die Art, wie ihr Schmerz sich äußerte.

Und dann ward ich mit einemmal inne, daß sie – Beatrix, gerade Beatrix! –heute von einer feinen Wolke jenes Wohlgeruchs umgeben war, den Heliante stets benutzte, auf den sie so stolz war, – ihre eigene Kreation, eine Mischung verschiedener Wohlgerüche, die ich so sehr liebte.

Beatrix gab mich frei, trat zurück. Täuschte ich mich? Hatte sie nicht soeben kaum merklich gelächelt …? Nein – es war doch wohl ein Irrtum … Was sollte wohl in diesem Augenblick ein Lächeln schmerzlichen Triumphes …?! – –

Die Polizei war längst im Hause. Die ganze Mordkommission. Überall schwärmten die stillen, ernsten Beamten umher, tauchten auf, wo man sie kaum vermuten konnte, fragten, horchten, spähten, beobachteten … –

Gunolt nahm mich nachher mit in den Park, – der bekannte, nein, der berühmte Kriminalkommissar Karl Gunolt.

Wir gingen schweigend durch die Abenddämmerung. Über die kiesbestreuten, gepflegten, noch regenfeuchten Wege schritten wir, vorbei an der Marmorgruppe der Wasserschöpferin, vorbei an einem Tennisplatz, dem Umkleidehäuschen, der weißen Bank davor … Dort hatte ich mich vor drei Tagen mit Heliante verlobt, auf jener Bank hatte sie mir die Augen zugehalten und mich dann geküßt … Und jetzt war Heliante tot - tot!!

Ich konnte es noch immer nicht fassen, schaute zur Seite, ob er auch wirklich Gunolt, der berühmte Gunolt war, der neben mir so schweigsam dahinschritt …

Er war’s – und daher war Heliante nicht mehr, daher war sie ermordet worden … Gunolt hätte an der Lebenden kein Interesse gehabt … –

Wir näherten uns dem entlegensten Teil des Parkes, der Hinterpforte, die auf eine enge Seitenstraße mündete. Hier steht auf einem künstlichen Hügel inmitten mächtiger Fliederbüsche ein kleiner, chinesischer Tempel, von dem aus man die Hinterpforte im Auge behalten kann; hier hatte Heliante mich so manchesmal erwartet, als wir noch Freunde waren und glaubten, daß Mann und Weib in feinstem, gegenseitigem Verstehen auch ohne Liebe, ohne Zärtlichkeiten sich alles sein könnten. Die weiße Bank am Tennisplatz hat nachher spöttisch gelächelt … –

Gunolt stieg vor mir die Stufen zu dem bunten Bauwerk hinauf.

Unten an der Treppe hatte ein Geheimpolizist uns begrüßt. Oben vor der Tür mit dem verschnörkelten Gitterwerk wartete oder wachte ein zweiter … Die tote Heliante war der Polizei sehr wertvoll … – –

Und dann sah ich Heliante …!

Man hatte hier im Innern des Tempelchens zwei Acetylenlaternen so aufgestellt, daß die blendend weißen Lichtkegel sich gerade auf der Leiche vereinigten.

Ich fühlte, wie mein Herzschlag stockte. Alles drehte sich um mich, ein wahnwitziges Karussell von Lichtbüscheln und toten Frauenkörpern raste um mich herum … Aber ich biß die Zähne zusammen – den Schrei würgte ich hinab.

Das jagende Drehbild stand still. Ich sah nur noch zwei Strahlenkegel, eine Tote … meine Braut – Heliante …!!

Wie schön sie war – selbst im Tode! Welche Seligkeit hätte sie verschenken können mit diesen Lippen, diesem herrlichen Leib …

Ihr Kleid, mattgrün, luftig, zeigte an der Stelle des Herzens einen kleinen Blutfleck. Ihre Augen waren geschlossen, die Lippen halb geöffnet; der Gesichtsausdruck feierlich, – und mehr noch, ein Lächeln spielte um den Mund, den ich noch am Vormittag geküßt hatte …

Gunolt berührte meinen Arm.

„Werden Sie den Anblick noch eine Weile ertragen können?“ fragte er leise. „Der Tod verändert die Züge sehr schnell. Und ich möchte gerade Sie bitten, Herr Doktor, Sie, als den Bräutigam, den mit am schwersten durch diesen Mord Betroffenen, das Antlitz der Toten genau sich anzusehen.“

Er suchte in seine Stimme warmes Mitgefühl hineinzulegen. Aber ich hörte doch heraus, daß diese Tote, die für mich die Zukunft bedeutet hatte, für ihn nur „der neue Kriminalfall“ war – die Pflicht, die Aufgabe: „Fang den Täter!“

„Unterschätzen Sie mich nicht!“ sagte ich hart. „Ich will Ihnen helfen, den Mörder zu finden. Verlangen Sie von mir, was Sie wollen. Ich tu’s! Nur rächen will ich diesen ungeheuren Frevel –!“

 

2. Kapitel.

Lächeln und Rosen.

„Setzten sie sich, Herr Doktor,“ meinte er weich.

Er hatte ein Gesicht wie ein römischer Gladiatoren, bartlos, hager, jede Linie Energie, Wachsamkeit! Die Stirn von Falten durchfurcht! Das Auge sehr wechselnd im Ausdruck, zumeist Gleichgültigkeit vortäuschend, und doch stets unruhig, stets auf der Lauer. Und das Organ der Stimme schmiegsame wie das eines guten Schauspielers.

Er schob mir einen der hellblau lackierten Gartenstühle hin. Ich setzte mich. Und er lehnte sich an die Wand mir gegenüber.

„Herr Doktor, Sie wurden um viertel sieben Uhr hier erwartet,“ begann er jetzt plötzlich mit einer kühlen Sachlichkeit, die mich fast abstieß. Das weiche aus seiner Stimme war verschwunden. „Ihre Braut ist Ihnen bereits um halb sechs, kurz bevor der Regen begann, bis hierher entgegengegangen.“

„Wir hatten uns verabredet,“ warf ich ein.

„Das hörte ich schon von der Frau Geheimrat, die Ihrer Braut des drohenden Regens wegen abriet, Sie hier zu erwarten. Aber Fräulein Heliante ließ sich nicht zurückhalten. Sie ist dann hier durch einen Dolchstoß ins Herz getötet worden, und zwar von einer Person, die auf dem Fußboden des Pavillons nur wenige und sehr verschwommene Fußstapfen zurückgelassen hat. Wir haben diese Spuren sämtlich abgezeichnet, auch photographiert. Sie geben einen gewissen Aufschluß über den Vorgang selbst, wenn auch nicht über den Verbrecher – leider!“

Wie entsetzlich mich diese Sachlichkeit marterte! – Aber ich blieb still, blieb geduldig. In meinen Ohren klang als Begleitung zu Gunolts Worten stets ein anderer mit: „Rache – Rache –!! Du wirst Heliante rächen –!!“

„Im Park haben wir keine Spuren finden können,“ sprach der Kommissar weiter „der Regen, der erst um acht Uhr nachließ, hat alles weggewaschen. So konnten wir uns nur an das halten, was hier zu sehen war. – Danach scheint Ihre Braut dem Mörder bis zur Tür dieses Pavillons entgegengeeilt zu sein. Und dort etwa,“ – er zeigte auf die Stelle, wo Heliantes zierliche Lackschuhchen unter dem Kleidersaum hervorragten – „hat sie den tödlichen Stoß erhalten, worauf der Mörder die Umsinkende auffing und auf den Bastteppich so hinlegte, wie Sie sie noch jetzt sehen. Der Tod ist fast augenblicklich eingetreten. – Ich behaupte nun, daß dieser Täter Ihrer Braut nicht fremd gewesen sein kann, möchte sogar die Behauptung aussprechen, daß sie – dem Mörder ob seiner Tat nicht zürnte. – Die Tote lächelt wie in stiller Glückseligkeit. So ist sie hinübergegangen in ein besseres Jenseits. – Gerade dieses Lächeln ist von großer Bedeutung. Und dann noch – die Rosen, die roten Rosen –!“

Wieder deutete er auf Heliante, auf die Rosen, die ich jetzt erst wahrnahm.

Sie hielt sie in der rechten Hand, die etwas vom Körper weggestreckt war, – vier langstielige, dunkelrote, erst halb erblühte Rosen …

Was folgerte Gunolts spitzfindiges Hirn aus diesen zarten, duftenden Kindern des Sommers? – Seltsam: Rosen in der Hand – dunkelrot – Blumen der Liebe –.

„Der Mörder hat sie nach der Tat von einem Strauch dicht am Pavillon abgeschnitten, mit einem sehr scharfen Instrument, vielleicht mit der Mordwaffe,“ sagte Gunolt wieder in seiner bedächtigen Art. „Er hat sie dann der Toten in die erstarrten Finger gedrückt. Als Ihre Braut die Villa verließ und hierher eilte, hatte sie weder die Rosen noch ein Taschenmesser bei sich. Die Rosen sind auch erst nach Beginn des Regens abgeschnitten worden. Ihre Kelche sind voll von Regentropfen. Dort, wo sie auf dem Bastteppich liegen, ist ein nasser Fleck entstanden. – Es ist so – der Mörder brachte seinem Opfer Blumen, und –“

Ich merkte, daß er noch mehr hinzufügen wollte.

Weshalb schwieg er?! Weshalb schaute er leicht verlegen an mir vorbei –?!

Eine seltsame Unruhe überkam mich. Schon Heliantes glückliches Todeslächeln war für mich die Ursache zu argwöhnischem Grübeln gewesen. Und jetzt noch die Rosen –!!

Seliges Lächeln und Blüten der Liebe –!!

Hatte man mir nicht vor kurzem noch einen anonymen Brief ins Haus geschickt –?! Hatte nicht in diesem Schandwisch das gestanden, was ich schon von anderer Seite gehört hatte, – von einer Neigung Heliantes zu einem armen Künstler, einem Maler?!

Ich blickte scheu zu Gunolt hinüber. Unsere Augen begegneten sich.

Dann formten seine Lippen ein Wort:

„Eifersucht!“ – Er betonte es ganz eigen.

Er hatte dasselbe gedacht wie ich …!!

Und leise fügte er hinzu: „Eifersucht – Verlobungsfeier heute – vielleicht vorher ausspioniert, daß Ihre Braut Sie hier öfters erwartete –.“ Es war, als ob ein Schachspieler die ersten Züge tut, die den Sieg vorausahnen lassen –.

Dann fragte er: „Wie heißt er doch?“

Ich blickte wie gebannt auf die Rosen im hellen Licht der Strahlenkegel. Sie wuchsen, wuchsen, wurden ein tiefrotes Meer, eine wogende See von Blut.

Und ganz unbewußt hob ich die Schultern als einzige Antwort.

„Sie wissen es nicht –? – Ach – richtig – Egon Wallner, der Maler hellblauer Landschaften mit violetten Bäumen und Menschen mit grünen Gesichtern.“

Er wußte mehr als ich, der berühmte Gunolt.

Eine Weile Schweigen –.

Das rote Meer wogte noch immer vor meinen Augen – darüber mußte sich ein Nachthimmel ausspannen –. Sternschnuppen durchkreuzten das Rot – Fünkchen, die ich zu sehen glaubte.

Abermals Gunolts Stimme – wie aus weiter, weiter Ferne, jetzt wie die eines Menschen, vor dem ich langsam zurückweiche, – immer leiser – verschwommener –.

„Ihre Schwägerin Beatrix hat die Tote zuerst entdeckt. Sie kam mit Schirm und Umhang für Ihre Braut hierher, wahrscheinlich kurz nachdem der Mörder sich entfernt hatte –.“

Arme Beatrix –! Sie war ja Heliantes Zwillingsschwester – ihr zum Verwechseln ähnlich – bis auf das dunkle Haar. Heliante war aschblond –

„Arme Beatrix!“ – Das war das letzte, was ich dachte, bevor ich ohnmächtig vom Stuhl sank –.

 

3. Kapitel.

Egon Wallner.

„Es war doch zu viel für Ihre Nerven –.“

Gunolt saß neben mir auf der Treppe zum Pavillon. Vorsorglich ins Freie geschafft, hatte mir die kühle Abendluft schnell die Besinnung zurückgegeben.

Ich schaute noch etwas verwirrt um mich, stand dann auf, stützte mich auf das Geländer, atmete tief, ganz tief – und roch den Duft von Rosen, – vielen roten Rosen, die dicht neben der Treppe ihre regenfeuchten Blüten graziös nach unten beugten und sich im Abendwind langsam bewegten, – – als ob sie mir zunickten – ja – verständnisinnig zunickten: „Wir wissen Bescheid, wir wissen vielleicht mehr, als du ahnst –.“

Rosen – Rosen und das Lächeln –!! Da stand die Wirklichkeit vor mir in greller, furchtbarer Klarheit.

Ich wandte mein Gesicht Gunolt zu.

„Wünschen Sie, daß ich mir die Tote nochmals ansehe?“

„Nein, danke. Sie sind der Mörder nicht, Herr Doktor.“

Ich stierte ihn an wie einen Menschen, den man plötzlich für wahnsinnig hält.

„Ich – Mörder –?!“ Ich brachte nur die beiden Worte über die schwere Zunge.

„Wir müssen jeden für den Täter halten, der uns auch nur im Bereich eines noch so geringfügigen Verdachtes zu stehen scheint. Sie, Herr Doktor, verschliefen Ihre Verlobungsfeier und eine Verabredung. Als ich hier am Tatort eintraf, fehlten gerade Sie, eine der beiden Hauptpersonen des heutigen Festes, das so düster enden mußte, bevor es noch begonnen hatte. Ihre Schwiegereltern wollten zu Ihnen schicken, Sie holen lassen. Ich verbot dies. Einer meiner Beamten ging zu Frau Meißler. Er heißt Heller, ist mein zuverlässigster Gehilfe. Er hat dann vom Flur aus durch das Schlüsselloch in Ihr Arbeitszimmer geschaut. Sie schliefen in dem Klubsessel am Fenster, den Rücken der Tür zugekehrt. Sie waren bereits im Frack. Die weiße Hemdbrust spiegelte sich im Fenster wieder. Heller ist ein sehr gewissenhafter Mensch. Volle zehn Minuten hat er Sie im Auge behalten. Man kann ja auch Schlaf vortäuschen. Dann war er seiner Sache sicher. Bevor er die Wohnung der Meißler wieder verließ, gestand die Frau ihm noch ein, daß sie etwa um viertel acht, also etwa zu der Zeit, wo das Verbrechen verübt worden ist, schon einmal das Schlüsselloch benutzt habe, um sich zu überzeugen, was Sie eigentlich trieben. Sie wußte zwar, wann das Fest beginnen sollte, dachte aber, es wäre vielleicht für später angesetzt worden, und ließ Sie daher schlafen. Sie waren mithin in der kritischen Zeit daheim, Herr Doktor. – Als Heller mir dieses Ergebnis seines Besuches bei der Meißler meldete, hatte ich nichts mehr dagegen, daß Ihr Schwager zu Ihnen fuhr. – Wenn nun überhaupt noch ein Rest von Mißtrauen gegen Sie in mir rege war, so wurde auch dieser vollkommen zerstreut durch Ihr Verhalten angesichts der Toten.“

Gunolt schwieg.

Da packte mich eine maßlose Empörung. Ich ballte die Fäuste, bin sicher ganz bleich geworden.

„Herr!“ schrie ich diesen fischblütigen, mit so hirnverbranntem Übereifer handelnden Menschen an. „Herr – und das wagen Sie mir alles so offen zu sagen –?! Ich – ich – der Mörder meiner Braut –?! Sie müssen …“

Vor dem Lächeln, das seinen Mund umspielte, und daß ich gerade noch zur rechten Zeit gewahr wurde, verstummte ich ganz von selbst. Es hätte seiner warnenden Handbewegung gar nicht bedurft.

„Meine Pflicht ist oft sehr, sehr schwer, Herr Doktor,“ sagte er ruhig und ernst. „Schwerer vielleicht, als Uneingeweihte ahnen –. Wir müssen manches tun, was uns widerstrebt, was gegen unsere Natur ist. Der Scharfrichter köpft auch nicht, weil es ihm Spaß macht.“ Und dann in energischem Ton: „Wollen Sie mit zu Egon Wallner kommen?“

Das Barksche Auto brauchte keine zwanzig Minuten bis zur Bitterfeld Straße in Schöneberg.

Wir drei – Gunolt hatte den Kriminalwachtmeister Heller noch mitgenommen – standen vor einem armseligen, alten Haus. In der Mansarde hatte der findige Wirt ein Atelier herrichten lassen. – Wie es mit Egon Wallners Einnahmen und seiner künstlerischen Tätigkeit bestellt war, sagte schon diese Wohnung.

Er empfing uns in einem einst weiß gewesenen Flanellanzug.

Wie er so in seiner Flurtür stand und uns erstaunt musterte, beleuchtet von dem brodelnden, flackernden Licht einer Gaslampe mit nur halbem Glühschrumpft, traute ich ihm alles Schlechte zu.

Er hatte ein richtiges Mephistogesicht. Nur die Haarmähne war zu lang, zu genial. Aber die Augen flackerten und flimmerten dafür desto unheimlicher.

„Sie wünschen?“ fragte er kurz

Gunolt bat um eine Unterredung, mußte aber erst seine Legitimation zeigen, ehe der Maler uns beide einließ. Heller blieb draußen.

In dem langgestreckten Atelier schwamm zwischen den beiden brennenden Lampen der Gaskrone dicker Zigarettenrauch. Und auf allerhand Sitzgelegenheiten rekelten sich drei junge Leute und zwei Damen, – Malweibchen, die wohl auch die Bäume violett sahen und die Menschengesichter grün. –

Gunolt fragte, wo Wallner sich heute Abend zwischen halb sechs und halb acht aufgehalten habe.

„Was soll das?!“ meinte der Mephisto unfreundlich. „Ach so – Sie sind ja von der Polizei. Also muß ich antworten.“ –

Er deutete auf seine Gäste. „Die Herrschaften sind seit sechs Uhr hier. Keiner ist wegen Meineides vorbestraft, also alle gut als Zeugen, – nicht wahr? – Ich selbst habe meine Wohnung nicht verlassen, nachdem ich mit jener Dame zusammen,“ – wieder eine Handbewegung nach einem der Malweiber hin – „für bare vier Mark für uns alle gegen sechs Uhr unten beim Krämer Abendrot eingekauft hatte. – Sind Sie beruhigt? Ist vielleicht in einem Juwelierladen eingebrochen worden? – Ich bin nämlich Maler – weder Einbrecher, Totschläger, Taschendieb noch sonst was, das Sie vielleicht interessieren könnte, Herr Kommissar.“

Während er so höhnte, suchte mich sein Blick immer wieder. Nun trat er plötzlich dicht vor mich hin.

„Sie sind doch der Privatdozent, Dr. Allan Dogmoore,“ zischte er mich an. „Sie – Sie sind ein Dieb – Sie haben mich bestohlen –!“ Dann lachte er wie ein verrückter auf. „Verzeihen Sie!“ fuhr er schnell und höflich fort, „nein, Sie können ja nicht Allan Dogmoore sein! Der feierte heute Verlobung – mit – zwei Millionen und dem dazugehörigen Puppenfrätzchen –!“

Gunolt schob mich schnell beiseite. Es wäre nicht nötig gewesen. Ich verließ von selbst das Atelier und gesellte mich Heller zu.

„Nun, Herr Doktor – Erfolg?“ fragte dieser. Er war jung, groß und kräftig, mit recht sympathischem Gesicht.

Ich zuckte die Achseln. Ganz mechanisch holte ich mein Zigarettenetui hervor, hielt es auch Heller hin.

Wir rauchten schweigend.

Dann kamen aus Egon Wallners Tür hintereinander seine fünf Gäste herausgeschlichen, schauten mich an, murmelt etwas von „aufrichtiges Beileid“ und verschwanden die Treppe hinab.

Wir rauchten und warteten.

Endlich erschienen Gunolt und der Maler.

Dieser reichte mir stumm die Hand. Ich sah Tränen in seinen Augen –. Wortlos kehrte er darauf in seine Behausung zurück.

„Gehen wir,“ meinte Gunolt leise.

Heller schickte er dann nach dem Polizeipräsidium mit irgendeinem Auftrag. Das Auto raste wieder der Villenkolonie Grunewald zu.

Nach einer Weile begann Gunolt: „Als ich Wallner mitteilte, was geschehen, hat er – geweint und seine Bekannten hinausgejagt. Er muß Ihre Braut sehr verehrt haben. Er hat mir alles erzählt. Es ist die harmloseste Schwärmerei gewesen – nur von seiner Seite! Fräulein Heliante hat ihn nie ernst genommen –. Armer Kerl, – die Todesnachricht traf ihn wie ein Blitz. Ich sagte ihm, daß Sie wirklich der Bräutigam seien. Er hatte nur Worte des Mitgefühls für Sie. Ein anständiger Charakter, ohne Frage.“

Minutenlang hing jeder seinen Gedanken nach. „Wallner hatte geweint. – Er hatte Heliante geliebt – wie ich. Aber, selbst wenn seine Liebe noch größer gewesen wäre als die meine, – ich hatte doch schwerer zu tragen an diesem düsteren Unheil, denn ich wußte, was Heliante einem Mann sein und geben konnte –.

„Ihr Schwiegervater wird dreitausend Mark Belohnung für die Ergreifung des Mörders aussetzen,“ begann Gunolt wieder.

Arme Heliante – nur dreitausend Mark!! So viel hatte dein letzter Pelzmantel gekostet –!

Ich erwiderte nichts.

„Geld schärft die Erinnerung,“ meinte Gunolt. „Vielleicht hat jemand den Mörder gesehen, als er über das hintere Parkgitter kletterte.“

Mir schien’s, als wollte er mich nur darauf vorbereiten, daß die Untat möglicherweise ungesühnt bliebe.

„Haben Sie sonst irgend einen Verdacht?“ fragte er dann. „Hat Ihre Braut vielleicht noch andere Bewerber gehabt? – Sie wollen doch, daß der Mörder entdeckt wird, Herr Doktor. Helfen Sie mir also –.“

„Graf Herbert Blenheim,“ erwiderte ich kurz.

„Ah – Blenheim! So, so!“

Das Auto hielt vor der Barkschen Villa. – Wir gingen durch den Vorgarten auf das Haus zu.

„Fräulein Beatrix soll im letzten halben Jahr drei sehr günstige Partien ausgeschlagen haben,“ meinte Gunolt, indem er stehen blieb.

„Woher wissen Sie –?“

„Von der Frau des Pförtners, die bei den Zwillingen Amme war. – Ihre Schwägerin studiert Medizin. Sehr eifrig?“

Ich nickte zerstreut. – Weshalb standen wir hier? Was wollte er von Beatrix –?

„Ich möchte die junge Dame nochmals in Ihrer Gegenwart vernehmen, Herr Doktor?“ sagte Gunolt jetzt ohne besondere Betonung. Und doch wurde ich stutzig und schaute ihn mißtrauisch an.

„In meiner Gegenwart? Wozu das?“ –

„Ich habe zufällig die Begrüßung zwischen Ihnen und Fräulein Beatrix auf der Diele beobachtet. Ihre Schwägerin sprach dabei so einiges, was nicht recht klar erscheint. – Besinnen Sie sich? –“

„Ich weiß von nichts und habe nichts gesehen“ –

„Allerdings – ganz richtig, so etwa lauteten die Worte. Aber –.“

„Ja – aber sie waren überflüssig, wenn Ihre Schwägerin wirklich von nichts wüßte und nichts gesehen hätte. – Kommen Sie –.“

Wir gingen weiter.

Gunolt hatte recht. Was sollte diese Bemerkung –? Wozu diese seltsamen Sätze –? Überhaupt –. Auch das „Diva-Parfüm“ –! – Asra hatte Heliante ihre Mischung getauft, – Asra, vielleicht in Gedanken an jenen Volksstamm, die die sterben, wenn sie lieben –. Und nun war Heliante wirklich tot, ein höhnisches Spiel des Zufalls! – Beatrix und Parfüm –! Sie, die Medizinstudentin, die so vieles lächerlich fand, was ihre Mitschwestern für unbedingt nötig erachteten: polierte Nägel, Abonnement bei der Friseuse und dergleichen, – sie, die Heliantes mehr als verfeinerte Körperkultur stets als ein Zeichen von „Minderbegabtheit“ bespöttelt hatte –!

Mir war bangen und schwer zu Mute, als wir die Villa betraten. Auf der Diele entfernte gerade der Diener den zum Verlobungsfest angebrachten Blumenschmuck. –

 

4. Kapitel.

Beatrix.

Wir setzten uns in die tiefen Sessel vor den Marmorkamin. Nach ein paar Minuten betrat Erwin sehr eilig die Diele.

„Etwas Neues, Allan?“ – Er wußte nicht, wohin wir vor einer Stunde gefahren waren. Gunolt hatte mich zu strengster Verschwiegenheit verpflichtet. Mir war diese Geheimniskrämerei lästig und unverständlich. Man sah es meinem Schwager an, daß er sich über diesen nochmaligen Besuch wunderte. Ich hatte mich doch vorhin schon von der Familie verabschiedet gehabt –.

Gunolt erhob sich. Neben seiner kräftigen und doch schlanken Gestalt machte Erwin den Eindruck eines unreifen Knaben mit seinen abfallenden Schultern und dem lächerlich knapp geschnittenen Anzug, dem mädchenhaften Gesicht und dem ganz kurz geschorenen Schädel.

„Ich bitte um eine Unterredung mit Ihrem Fräulein Schwester,“ sagte Gunolt. Nichts weiter, keine Entschuldigung der späten Störung wegen, kein Wort der Erklärung für seinen Wunsch, der aus seinem Mund trotz aller Höflichkeit wie ein Befehl klang.

Erwin verneigte sich und verschwand wieder.

„Dieser Raum eignet sich nicht für die Rücksprache mit Ihrer Schwägerin,“ meinte Gunolt.

„Wir können in den Damensalon gehen –.“

Beatrix erschien in Erwins Begleitung. Ihre dunklen, großen Augen eilten flüchtig über Gunolt hin und blieben auf meinem Gesicht mit einem Ausdruck schlecht verhehlter Angst haften.

Gunolt wiederholte sein Anliegen und fügte hinzu: „Wir gehen wohl am besten in den Damensalon. – Ihnen, Herr Bark, danke ich. Ich will Sie nicht weiter bemühen.“

Beatrix wickelte ihre lange Uhrkette um die Finger und versuchte, die Gleichgültige zu spielen. Eine Frage, was Gunolt denn eigentlich von ihr wünsche, wäre hier das natürlichere gewesen.

Dann wandte sie sich um und ging uns voran, schaltete das Licht im Damensalon ein und setzte sich in einen der Seidensessel am Mitteltisch.

Auch wir nahmen Platz.

Eine drückende Schwüle schien plötzlich in dem stilvoll und vornehm ausgestatteten kleinen Raum zu herrschen.

Gunolt saß Beatrix gegenüber, ich auf einem Hocker unter einer Marmorbüste, die auf einer schlanken Säule stand.

Der Kommissar ließ sich Zeit, schwieg und starrte scheinbar ins Leere. Er schwieg wohl absichtlich so lange. Beatrix sollte zu sprechen beginnen.

Aber sie wartete gleichfalls. Ich hatte sie im Profil vor mir. Wieder dachte ich an die Ähnlichkeit zwischen den Zwillingen; sie war wirklich auffallend. Nur die Haarfarbe und die Frisur machten die Unterscheidung leicht. Heliante trug ihr Aschblond in Turbanform, Beatrix ihr Braun im Scheitel und flachem Knoten.

Das Spiel mit der goldenen Uhrkette begann wieder, wurde mit den entfliehenden Sekunden immer nervöser. Dann drehte Beatrix den Kopf nach mir hin. Ihr Gesicht brannte in krankhafter Röte. Ihr Blick schien mich voller Angst zu fragen: „Wozu quält Ihr mich?!“

Plötzlich sagte Gunolt: „Wir waren vorhin bei Egon Wallner, gnädiges Fräulein.“

Beatrix wandte sich Gunolt zu.

„Bei Wallner? – Ah – ich verstehe, ich verstehe,“ meinte sie überstürzt. „Sie denken an ein Verbrechen aus Eifersucht. Aber – Wallner wird Heliante wohl längst vergessen haben. Künstler überwinden schnell. Schneller als andere – weil sie sich leichter begeistern. Ich traue Wallner im übrigen nichts Schlechtes zu. Nein – auf keinen Fall! Die Spur ist sicherlich falsch, Herr Kommissar.“

„Sie kennen eine andere –“ Es war nicht herauszuhören, ob das eine Frage sein sollte.

Beatrix’ Uhrkette pendelte plötzlich in zwei Enden herab. Sie hatte sie durchgerissen –. Und das gab ihr Gelegenheit, den Kopf zu senken und den Schaden in Augenschein zu nehmen.

„Die drei Edeltannen links vor der hinteren Gitterpforte stehen in einer Linie, wenn man sich am Fuß der Pavillontreppe befindet,“ fuhr Gunolt mit eigenartiger Betonung fort. „Nicht wahr, gnädiges Fräulein – das haben Sie doch auch bemerkt?“

Beatrix’ Hände fielen in den Schoß. Und ihre Gestalt duckte sich zusammen wie die eines Menschen, der vor einem Gegner zurückweicht und sich zur Abwehr bereithält. – Ihr Kopf war leicht vorgestreckt, senkte sich jedoch langsam unter Gunolts Blick.

Dann erklärte der Kommissar streng: „Ich begreife Ihr Verhalten nicht, gnädiges Fräulein. Sie müssen jetzt doch einsehen, daß ich gut unterrichtet bin. Sie hätten nicht zu Herrn Dogmoore sagen sollen: „Ich weiß von nichts, und ich habe nichts gesehen –!“ Auf der Diele fielen diese Worte.“

Beatrix entging das, was ich deutlich herausfühlte. Gunolt stellte hier eine Falle! Er war nicht „gut unterrichtet“, tat aber so.

Beatrix’ Kopf sank noch tiefer. Die Abwehrstellung verlor sich, wurde zu einer seltsamen hilflosen Haltung.

Und dann ihre Antwort –! Ich glaubte erst, ich hätte mich verhört. –

Bevor diese Antwort aber das beklommene Schweigen unterbrach, richtete Beatrix sich auf – wie ein Mensch, der, noch eben verlegen um einen Ausweg, nun den rechten Pfad gefunden hat.

„Ich fürchtete mich –,“ sagte sie leise.

Gunolt verstand sie.

„Sie fürchteten ein gleiches Schicksal?“ fragte er milden Tones.

„Ja, – wenn ich ihn –,“ sie stockte, verbesserte sich schnell –, „wenn ich irgendwie mithalf, „ihn“ der Justiz auszuliefern –.“

Ich werde diese Sätze nie vergessen. Zum ersten Mal tauchte „Er“ darin auf. – Beatrix hatte also bisher etwas verschwiegen, das sich auf den Täter bezog.

Unaufgefordert sprach sie weiter, klar und durchdacht, – fast zu klar, zu kühl für eine solche Mitteilung –.

„Als ich am Fuß der Treppe angelangt war, gewahrte ich einen Mann, der über den Rasen hinweg auf die drei Edeltannen zulief. Neben dem ersten Stamm blieb er plötzlich stehen, schaute sich um, rannte aber sofort weiter und verschwand hinter den Haselnußbüschen, die links von der Pforte eingepflanzt sind. Das Gesicht des Mannes habe ich nur einen Moment gesehen. Ich könnte es nicht beschreiben. Es war aber von einer so tierischen Wildheit, so verzerrt in fürchterlicher Wut, daß ich am liebsten geflohen wäre. Mir gab auch nur der Umstand die Fassung wieder, daß ich auf der Straße vor mir das lustige Pfeifen eines Menschen hörte. Die Laute brachen plötzlich ab, und ich vermute daher, daß der, der trotz des Regens so vergnügt einen Gassenhauer pfiff, den Mann erblickt haben muß, der vielleicht gerade über das Gitter kletterte. Die Pforte wird ja stets verschlossen gehalten. Mein Schwager Allan trägt den Schlüssel immer bei sich. –

Dann – dann fand ich Heliante.“

Das Schweigen, das nun folgte, schien mir endlos. Beatrix wand wieder die Enden der Kette um die Finger. Und den Kopf hatte sie erneut gesenkt.

Dann – zaghaft und ohne rechte Überzeugung, ob wir sie begreifen würden:

„Ich glaubte, der Mann wäre geisteskrank. Der Gesichtsausdruck sprach dafür. Ich beschäftige mich viel mit Psychiatrie. Daher erschien es mir sehr wohl möglich, daß dieser Irrsinnige, der vielleicht nur an periodischem Wahnsinn leidet, mir nachstellen könnte mit jener raffinierten Schlauheit kranker Hirne, gegen die alle Vorsicht der Gesunden nicht aufkommt. Dieser Gedanke verließ mich nicht mehr. Sicherlich hat der Schreck über den Anblick der Toten mitgeholfen, bei mir eine Art Zwangsvorstellung zu erzeugen. Die, daß ich das nächste Opfer des Irren sein würde, wenn ich verriete, was ich gesehen. – Hierfür spricht auch das, was sich mir halb unbewußt über die Lippen drängte, als ich Allan auf der Diele begrüßte.“

„Ganz recht, gnädiges Fräulein, – ganz recht,“ meinte Gunolt mit einem Eifer, der mir sehr verdächtig vorkam. „Zwangsvorstellung – natürlich! Gar nicht wunderbar. Jetzt haben Sie endlich die Folgen des Schrecks überwunden. – Wie war denn der Mann gekleidet? Und – Sie sagten, auf der Straße hätte jemand einen Gassenhauer gepfiffen. Besinnen Sie sich auf die Melodie?“

Beatrix antwortete ohne Zögern:

„Der Mann trug einen grauen Anzug, dazu plumpe, gelbe Stiefel. Die Beinkleider waren ausgebeutelt und sehr kurz. Die Jacke stand vom Körper unten ab, da die Außentaschen vollgestopft zu sein schienen. Um den Hals hatte der Mensch ein buntes Tuch geschlungen. Das Gesicht schien mir leicht geschwärzt wie das eines Schmiedes. –

Und – und richtig – eine blaue Schirmmütze hatte er auf. – – Der Gassenhauer … Ja, – – es war ein Walzer, – ganz bestimmt ein Walzer!“

„Oh, das alles ist überaus wertvoll,“ meinte Gunolt erfreut. „Wir können das gleich in dem Zeitungsaufruf verwehrten. Ihr Herr Vater will ja eine hohe Belohnung aussetzen. Der, der den Walzer pfiff, wird sich melden. Ich hoffe, wir können die Sache bald aufklären. Vielleicht ist wirklich ein Geisteskranker der Mörder. Raubmord liegt hier ja nicht vor.“

Nein – es war kein Raubmord! Heliante trug so kostbare Dinge. Nichts fehlte. Und – ich dachte an das Lächeln, an die Rosen! Die Rosen paßten zu einem Irren. Aber das selige Todeslächeln paßte niemals dazu …!! Und das mußte sich auch Gunolt sagen …!!

Ich fühlte, daß Gunolt mit Beatrix ein falsches Spiel trieb, daß er sie nur in Sicherheit wiegen wollte. Wie würde er dieses Spiel fortsetzen?

Da … erhob er sich, erklärte die Unterredung für beendet. – –

Wir verließen gemeinsam die Villa.

Gunolt suchte auch mich irrezuführen, indem er sagte, als wir die stille Bismarckallee entlang gingen:

„Welche merkwürdigen Folgen ein übergroßer Schreck haben kann, zeigt der Seelenzustand Ihrer Schwägerin. Morgen hätte sie uns ohne Zweifel ganz freiwillig ihre wichtigen Beobachtungen mitgeteilt.“

Ich blieb stehen – es war gerade dicht vor der Brücke der Bismarckallee; vor dem Steinbild der Sphinx, die das Geländer abschließt. Ich deutete auf die Steinfigur, mit der wir den Begriff des rätselhaften unwillkürlich verbinden. Ich sagte nichts, streckte nur den Arm nach der steinernen Sphinx aus und schaute Gunolt dabei scharf an.

Ein feines Lächeln huschte über sein Gladiatorengesicht.

„Ihre Schwägerin oder ich?“ fragte er.

„Beide! Beatrix lügt, Sie lügen. Weshalb, weiß ich nicht. Sie beide sind mir Rätselwesen wie jenes dort …“

„Wenn auch Sie argwöhnisch geworden sind, brauche ich nicht mehr zu lügen,“ meinte er leise. „Was halten Sie von dem Benehmen Ihrer Schwägerin, Herr Doktor?“

Wir setzten unseren Weg fort, ließen die Brücke und die steinerne Figur hinter uns, beschäftigten uns mit der Lebenden … –

Es war eine wundervolle Juninacht.

Zu unserer Linken in einem Park schluchzte eine Nachtigall. Die Bäume rauschten leise. Die Straße zog sich wie ein weißgrauer Strich vor uns hin. An Himmel flimmerten die Sterne – auch so rätselhaft, so geheimnisvoll, mahnten an ferne Welten, von denen wir Menschenkinder so wenig wissen …

Die lebende Sphinx-Beatrix …!!

„Sie weiß viel, sagt aber nur die halbe Wahrheit,“ erwiderte ich auf Gunolt letzte Frage mit Überzeugung.

„Ganz meine Ansicht“ stimmte er zu.

Wir waren auf dem Bismarckplatz angelangt.

Irgendwo in einem Garten schrie jetzt ein Käuzchen – der Totenvogel. Dann nahte ein elegantes, innen hell erleuchtetes Auto fast lautlos. Wie ein Spuk huschte es vorbei. Zwei Damen in tief ausgeschnittenen Gesellschaftskleidern saßen darin, kamen wohl von einem Fest …

Auch ich hatte heute ein Fest feiern sollen …! So wurden meine Gedanken wieder auf das gelenkt, was ich verloren hatte … Totenvogel – Verlobungsfeier – Heliante – Heliante …!! Unendlicher Jammer preßte mir das Herz zusammen. Über dem glühenden Wunsch, dieses Verbrechen zu rächen, hatte ich das Opfer fast vergessen …

Ich stöhnte qualvoll auf …

Gunolt schob seinen Arm in den meinen. „Wenn es überhaupt einen Trost für Sie gibt, Herr Doktor, dann … Denken Sie daran, daß wir jetzt immerhin eine schwache Spur des Mörders vor uns haben.“

 

5. Kapitel.

Spuren und Zeugen.

Gunolt sprach wieder wie ein Dozent. Ich hatte mich an diesen kühl-sachlichen Ton noch immer nicht gewöhnen. Es war aber sein Geschäft; das meine die alten Assyrer; nutzbringender war das seine.

„Neben der ersten Edeltanne in dem grasfreien Erdring um den Stamm hatte Heller die Fußstapfen eines Mannes entdeckt. Diese konnten von dem Mörder herrühren – konnten! Als ich daher Ihrer Schwägerin gegenüber die Edeltanne erwähnte, schlug ich nur auf den Strauch. Die Redensart paßt hier leidlich. – Fräulein Beatrix bequemte sich daraufhin zu einer halben Aussage. Die andere Hälfte wird sie uns freiwillig nicht preisgeben, fürchte ich. Sie muß ganz schwer wiegende Gründe haben, so manches zu verschweigen, zum Beispiel genauere Einzelheiten über das Gesicht des Mannes im grauen Anzug.“

„Der Mann existiert nur in ihrer Phantasie.“

„Wer den Verdacht auf eine Phantasiegestalt zu lenken sucht, hat kein reines Gewissen.“

Mein Kopf schnellte herum. Ich starrte Gunolt in das undurchdringliche Gesicht.

„Keine Sorge, Doktor,“ sagte er hastig. „Beatrix kommt hier nicht in Frage, obwohl ich kurze Zeit auch diese Möglichkeit ins Auge gefaßt hatte.“

„Möglichkeit Nummer drei, – erst ich, dann Beatrix, dann Wallner …!!“

„Sie haben gut spotten! Wir müssen an alles denken, – auch an eine heimliche Liebe.“

„Was heißt das?!“

„Zwei Schwestern lieben denselben Mann. Die eine erringt ihn. Die andere, der stärkere Charakter, hatte ihre Gefühle stets zu verbergen gewußt. Aber die Eifersucht loht in ihr, erstickt alles andere, läßt die Medizinstudentin zur Waffe greifen. Dann wäre auch das Lächeln erklärt – durch diese Theorie. Die Schwestern sollen sich sehr geliebt haben trotz ihrer inneren Ungleichheit und deshalb könnte die Tote in der letzten Sekunde in unirdischer Großmut der Lebenden den Mann noch gegönnt haben. Diese Regung würde ein falsches Lächeln möglicherweise hervorzaubern können.“

Ich ging wie betäubt neben Gunolt her. Hätte er mich nicht Arm in Arm geführt, wäre ich wohl gegen einen der Bäume am Rande des Bürgersteiges gelaufen. – Zwei Schwestern lieben denselben Mann!!

Ich fühlte plötzlich wieder Beatrix’ Lippen auf den meinen … Noch nie hatten wir uns vorher geküßt. Sie belächelte ja diese Zärtlichkeiten stets.

Und heute …?!

„Die Theorie ist jedoch falsch, Doktor,“ hörte ich wieder Gunolts Stimme. „Der Mann in Grau existiert. Eine solche Einzelheit wie die von dem Gassenhauer, den jemand pfiff, um dann plötzlich abzubrechen, erfindet kein Weib, höchstens jemand, der schon die hohe Schule des Verbrechens mit Erfolg durchgemacht hat. Der Gassenhauerpfeifer wird sich melden, falls er nicht gerade für den Mörder Schmiere gestanden hat. Das nehme ich aber nicht an.“

„Ihre Beweisführung genügt mir nicht,“ erwiderte ich in Erinnerung an Beatrix’ Küsse. „Es gibt Frauen, die mehr Phantasie besitzen als Kriminalschriftsteller und alte Zuchthäusler.“

„Gewiß – wenn Sie diesen Frauen Zeit lassen, sich eine bedeutungsvolle Kleinigkeit auszudenken. – Beatrix wußte nicht, daß wir die Spur neben der Tanne gefunden hatten, weiß es jetzt noch nicht. Trotzdem sagte sie nur: „Der Mann blieb neben der Tanne stehen und wandte sich nach mir um.“ – Unsere Feststellung, die Fußeindrücke eben, und ihre Angaben decken sich also.“

Ich schwieg. Gunolt war der schärfere Geist. Ich mußte hier links abbiegen, und Gunolt wollte vom Ringbahnhof Halensee nach dem Alexanderplatz. Wir sagten „Gute Nacht“, trennten uns. –

Frau Meißler war noch auf, kam in mein Arbeitszimmer, sprach mir ihr Beileid aus. Ihre Augen schwammen in Tränen. Ich hätte ihr nie so viel warmes Gefühl zugetraut.

Dann entschuldigte sie sich weinerlich, weil sie mir den Besuch Hellers verschwiegen hatte.

„Diese Polizei –diese Polizei!!“ fügte sie empört hinzu. „Gerade auf Sie Verdacht zu haben, Herr Doktor – ein solcher Unsinn!! Ein Glück, daß ich schon vorher durch das Schlüsselloch geschaut hatte …Sie schliefen so fest in Ihrem Klubsessel …“

Ich setzte mich nachher an den Schreibtisch.

Der Brief an meine seit Jahren gelähmte Mutter, die bei ihrer Schwester in Emden ein Unterkommen gefunden hat, nahm Stunden in Anspruch. Zu ihr flüchtete ich mit meinem Schmerz. Sie war so glücklich gewesen über meine Verlobung, die ich ihr telegraphisch mitgeteilt hatte. Sie hatte sofort der Tante einen langen Brief für mich diktiert.

Und nun mußte ich ihr das Furchtbare vorsichtig beibringen. –

Den Brief trug ich selbst sofort in den Kasten. Der Morgen graute schon.

Ich bin dann vor Übermüdung eingeschlafen. Der Mann in Grau geisterte in meinen wilden Träumen umher – – Er – Er – –!! –

Er – existiert! Außer Beatrix haben ihn noch drei einwandfreie Zeugen gesehen. Sie meldeten sich auf den Zeitungsaufruf hin.

Gunolt überbrachte mir am zweiten Tag nach dem Mord diese Kunde. Es war vormittags gegen elf. Ich hatte gerade zu meinen Schwiegereltern gehen wollen.

„Ich werde nicht lange stören, Doktor,“ meinte er in seiner frischen Art. Er war nicht immer der bedächtige Beamte. Und dann mochte ich ihn lieber.

Er saß in meinem Klubsessel am Fenster und erzählte, rauchte dabei eine Zigarette nach der anderen, seine eigenen. Sie hatten ein wundervolles Aroma.

Er erzählte. Ein Bäckerlehrling hatte den Walzer gepfiffen. Er hatte Brote nach dem Grunewald-Sanatorium gebracht. Auf dem Rückweg sah er, wie der Graue über das Gitter kletterte. Da war ihm gleich der Gedanke gekommen: „Der Mann hat was ausgefressen! Einer mit gutem Gewissen schaut sich nicht so scheu nach allen Seiten um!“ – Deshalb folgte er ihm auch – mehr aus Langeweile freilich, und auch, weil sie denselben Weg zu haben schienen. Der Graue rief dann jedoch in der Königsallee ein Auto an und fuhr davon. Der Kraftwagen war rot gestrichen und hatte goldene Zierleisten.

„Jetzt suchen wir dieses Auto,“ erklärte der große Gunolt weiter. „Wir werden es bald haben. Der Chauffeur wird manches aussagen können. – Übrigens hat der Bäckerlehrling bestätigt, was Fräulein Beatrix über das leicht geschwärzt Gesicht des Mörders anzugeben wußte. Leider konnte er sich jedoch auf Einzelheiten der Gesichtzüge ebensowenig besinnen, wie das Stubenmädchen der Villa, die der Hinterpforte des Barkschen Parkes gegenüberliegt. Dieses Stubenmädchen ist also die dritte Person, die unseren Mann beobachtet hat. Sie stand in der Veranda der Villa und deckte den Abendbrottisch. – Wir wissen jetzt also ganz zweifelsfrei: leicht geschwärztes Gesicht, grauer Anzug, gelbe Schuhe, Mütze … Hierin stimmen die drei Aussagen genau über einen – wir können zufrieden sein, Doktor.“

Er erhob sich. „Ich hoffe, in zwei, drei Tagen ist die Sache für mich erledigt,“ meinte er und warf den Zigarettenrest in die Aschenschale.

Ich blickte an ihm vorüber zum Fenster hinaus – auf den langen, dunklen Strich des Waldes, auf den Bahndamm, auf den Tunnel darunter. Die Schienen blinkten in der Sonne. Wir hatten jetzt klares, beständiges Wetter.

„Sie sind leicht zufriedenzustellen, sehr leicht, – zu leicht für Ihr Metier, Gunolt,“ sagte ich, von Zweifeln gepeinigt „Sie vergessen das Lächeln und die Rosen –. Aber ich denke daran. Und ich überlege mir, Heliantes letzte Gedanken nach dem tödlichen Stoß von der Hand dieses Mannes können nicht dieses Lächeln hervorgelockt haben – niemals! – Wo bleibt Ihre Ansicht jetzt, daß Heliante den Täter gekannt haben muß –?!“

„Wenn dieser Fall keine starken Widersprüche in sich tragen würde, Doktor, werde ich nicht hinter dem Mörder her,“ erwiderte er. „Gunolt läßt sich keine alltägliche Arbeit zuweisen. – Der Mann kann verkleidet gewesen sein. Unserer heutigen Schmiede, Schlosser und Arbeiter in rauchigen Werkstätten waschen sich nach Arbeitsschluß, laufen nicht schmutzig umher. Das war früher mal. Vielleicht könnte uns Fräulein Beatrix Gewißheit geben, ob er verkleidet war.“

Wieder Beatrix –!

Ich zuckte die Achseln, lachte ironisch auf. „Ich vermag Ihren Gedanken auf so verworrenen Pfaden nicht zu folgen, Gunolt –!“ entgegnete ich kurz. Er war mir jetzt unleidlich mit seinen erkünstelten Theorien, durch die er die Widersprüche auszugleichen trachtete.

Er blickte mir prüfend ins Gesicht.

„Sagte ich Ihnen nicht, Doktor, daß gerade wir wenig Freunde haben –? Begegnet man mal einem Menschen, dem man die Hand zu treuem Bunde uneigennütziger Freundschaft hinstrecken möchte, so liest man bei den des anderen Augen kühle Zurückweisung.“

Ich schaute meine Fingernägel an. Die Verlegenheitspause war nur kurz.

„Ich war vorhin bei Bark,“ fuhr Gunolt gleichmütig fort. „Ich habe Ihre Schwägerin gesprochen, ihr zuerst erzählt, daß zwei weitere Zeugen den Grauen gesehen haben. Absichtlich fügte ich hinzu: „Ihre Schwester wird gerächt werden. Jetzt werde ich den Mann finden. Das rote Auto mit Gold werde ich zu verwerten wissen.“ – Was, meinen Sie, Doktor, tat Beatrix darauf?“

Ich hob gespannt den Kopf.

„Sie wurde bleich, Doktor, sehr bleich, und sie quälte die Worte hervor – nur um diesen Farbenwechsel zu bemänteln: „Hoffentlich haben Sie Glück.“ – Ich fühlte, daß sie das gerade Gegenteil meinte. – Ihre Schwägerin kennt den Grauen –!“

Es klopfte. Die Meißler brachte mir einen Brief.

Ah – von meiner Mutter –!

Gunolt verabschiedete sich. Ich blieb in recht zwiespältiger Stimmung zurück. – Heliantes Tod würden nie gerächt werden, davon war ich überzeugt. Gunolt nahm die Sache zu leicht. Nun sollte gar Beatrix wissen, wer der Graue war …!

 

6. Kapitel.

Das Haar.

„– ich wünsche nur, daß dir noch Schwereres erspart bleibt, mein lieber Sohn. Ich werde täglich zu Gott beten. Ich habe mir die tiefe Frömmigkeit von deinem Vater erworben. Die meisten Schotten sind gläubig. Viele behaupten, sogar abergläubisch! – Seltsame, unheimliche Gaben sagt man den Kindern des Landes nach, dem das Geschlecht der Dogmoores entstand: die des zweiten Gesichts, – und noch anderes. – Ich weiß viel hierüber – zu viel. Ich spreche nicht gern davon. Ich bete nur: Gott Vater, erspare meinem Einzigen noch Schwereres! – Sollten aber doch harte, die härtesten Prüfungen an Dich herantreten, mein lieber Sohn, so säume nicht, mir dasselbe Vertrauen zu bezeigen, das stets zwischen uns geherrscht hat. Ich könnte dich vielleicht aufrichten in deiner größten Seelennot durch das, was dein Vater für mich niederschrieb, bevor er von uns ging – das liegt nun zwanzig Jahre zurück. Und trotzdem kann ich noch immer nicht glauben, daß er wirklich tot ist. Die Gerichte haben ihn als verschollen, als spurlos verschwunden, für tot erklärt – auf dem Papier. Papier ist leichtgläubig, nimmt alles hin. Nicht so das Herz eines Weibes, die so glücklich und - so unglücklich mit einem geliebten Manne zwölf Jahre zusammengelebt hat wie ich mit deinem Vater. Vielleicht kehrt er eines Tages doch noch zurück –.“

Ich legte den Brief auf meinen Schreibtisch.

Ich dachte an meine Mutter. Wenn sie ahnen würde, daß ich ihr verheimliche, was mir selbst unheimlich an mir dünkt.

Sie ist eine Deutsche. So weich, so lieb, so treu. Durch sie bin ich selbst Deutscher worden. Ich habe von ihrem Wesen vieles geerbt. Leider aber auch manches von meinem Vater, von dem letzten echten Dogmoore, wie die englische Verwandtschaft sagt, die mich als Abtrünnigen betrachtet. Ich lache darüber. Ich habe für das Engländertum kein Verständnis; ich bin kein kalt berechnender Egoist, kein Heuchler und Frömmler; bin vielleicht zu sehr Phantast; liebe die Menschen; so das Gute an ihnen; entschuldige Fehler und Schwächen. All das danke ich meiner blonden, lieben Mutter –.

Draußen scheint die Sonne. – Dort hängen neben meinem Schreibtisch zwei teure Instrumente, die jede Änderung des Wetters für Tage voraussagen. Wenn Menschenblicke auf Glasscheiben etwa wie ein Sandgebläse wirken würden, müßten die Glasplatten vor den Zeigern der Instrumente bereits Löcher haben, – so oft ruht mein Auge darauf.

Unwillkürlich prüfe ich auch jetzt die Zeigerstellung.

Das sieht bedrohlich aus. Seit gestern so viel nach der schlechten Seite herumgeschwenkt …!!

Unbehagen beschleicht mich …

Übermorgen soll Heliantes Beerdigung sein. Das könnte der Feind mir einen bösen Streich spielen. Ich werde an dem Tag mit zitternden Nerven umher wandeln, wo mein Liebstes mir ganz genommen wird. Noch ist Heliantes entseelter Körper mein. Ich habe es zum Friedhof so nahe. Und der Kirchhofinspektor gibt mir stets bereitwilligst den Schlüssel zur Kapelle, hilft mir den Sargdeckel anheben. Gestern war ich so oft bei Heliante … Und heute sollte ich Beatrix abholen, gemeinsam unsere Tote zu besuchen. –

Beatrix …!! Mir fallen Gunolts Worte ein – „Sie kennt den Grauen …!!“

Mich überläuft es heißt … – Nein, ich werde nicht mit Beatrix zu Heliante gehen, werde eine Ausrede gebrauchen …

Es klopft.

Ich stecke schnell den Brief der Mutter, den sie wieder der Tante diktiert hat, in die Tasche.

„Herein!“ – Frau Meißler – hinter ihr – Beatrix.

Die Meißler bleibt draußen stehen, nur Beatrix kommt zögernd auf mich zu.

Ich starre sie an.

Beatrix …?! – Ist’s nicht Heliante –! –

Sie ist verlegen. Die ersten Worte zwischen uns fallen wie welke Blätter, die von herbstlichen Bäumen schweben – zögernd, langsam, als möchten sie lieber verharren, wo sie bisher gewesen.

Und dann bemerkte ich’s … Unter dem schwarzen Schleier über der Stirn – die die Heliantes ist, liegt aschblondes Haar – ohne Scheitel – – so wie Heliante es trug …

Damals das Asra-Parfüm … Heute gefärbtes Haar – anders frisiert …

Gunolts Theorie steigt in meinem Hirn wie ein grinsendes Gespenst auf, – diese Theorie, die er sofort wieder verworfen hat: „Zwei Schwestern lieben denselben Mann …“

Ich stehe vor Beatrix, stütze mich schwer mit der Linken auf den Schreibtisch … Meine Rechte fährt über die Augen hin … Ich muß mich ja täuschen – muß – muß …!! – Aber das aschblonde Haar bleibt, und der Scheitel ist verschwunden …

Beatrix – Heliante … Der Unterschied ist verwischt – der äußere! Zwillinge – – jetzt gleichen sie sich vollkommen …

Das Asra-Parfüm umweht mich wieder. Eine namenlose Sehnsucht steigt in meinem Herzen auf. Meine Blicke verdunkeln sich – Tränen, Tränen.

Wie aus weiter Ferne eine Stimme:

„Ich will dir helfen, Allan … Du wirst siegen!“

Ich lausche – erst ohne den Wunsch zu verstehen. Dann höre ich: „Siegen!“ – – Siegen?! – Was soll dieses Wort? Ich werde mißtrauisch.

Die Sehnsucht erlischt.

„Wie meinst du das – siegen?!“ frage ich hart und blicke sie voller Argwohn an. Gunolts Saat sprießt höher.

„Ich habe mich im Ausdruck vergriffen, Allan.“ Ganz leise, zart, melodisch … Das ist nicht mehr die Studentin, die über Zärtlichkeiten spottete … „Ich meine, du wirst überwinden – vergessen … Komm’, wir wollen gehen …“

Wie im Traum die Treppen hinab. Vor dem Hause Kinder, die Kreisel peitschen … Ein Kreisel fliegt mir gegen das Schienbein. Ich zucke zusammen. Der Schmerz gibt mir die Wirklichkeit zurück, die Überlegung, die Fähigkeit zu unterscheiden: Heliante – Beatrix –.

Schweigend gehen wir nebeneinander, schreiten durch die Friedhofspforte. Ich kaufe beim Inspektor von dessen rundlicher, rotwangiger Frau – blühendstes Leben inmitten von Gräbern! – weiße Rosen. Die roten hasse ich jetzt …

Der Inspektor kommt mit. Die kühle Kapelle nimmt uns auf. Gedämpft fällt das Licht durch bunte Scheiben auf den Sarg. Wir heben vorsichtig den Deckel ab, stellen ihn beiseite.

Heliante … – Ich stehe zu Häupten des Sarges, ich schaue – schaue …

Heliante …?! – Wie doch der Tod und die wenigen Tage das Gesicht verändert haben, – besonders seit gestern.

Hinter mir feines Rauschen. In den Duft der Kränze und Blumen mischt sich etwas, das an Leben und Liebe mahnt: Asra-Parfüm …

Beatrix ist dicht neben mir. Es ist wie ein Zwang. Ich blicke sie an. Sie hat den schwarzen Schleier ganz zurückgeschlagen … Feine Röte liegt auf den Wangen. Die Augen strahlen. Die Lippen sind wie frische Rosenblätter … Es ist Heliante – lebende Heliante …

Ich schaue schnell zur Seite, flüchtig auf der Toten Gesicht, wende mich um, winke dem freundlichen Inspektor, der geduldig in der Tür steht. Sonst hat er fünf, zehn Minuten gewartet. Heute kaum zwei …

Wir legen den Deckel wieder auf. Ich vermeide es, der stillen Schläferin Antlitz nochmals mit den Augen zu streifen. –

Vor der Friedhofspforte sage ich rauh zu Beatrix, ohne sie dabei anzusehen: „Ich muß jetzt allein sein!“

Sie nickte nur, reicht mir die Hand.

Die Handschuhe hat sie vorhin ausgezogen. Ich fühle ihre heißen Finger in den meinen. Ich habe gestern in tiefem Gram der Toten wächserne Hand gestreichelt. Die war so eisig, so grabeskalt.

Die andere Hand hier ist für mich glühendes Eisen. Ich reiße mich los, stürme davon.

Vor meinem Haus begegne ich dem Kriminalwachtmeister Heller.

„Guten Morgen, Herr Doktor.“

„Sie wünschen?“ fragte ich unwirsch.

„Wie benahm sich Ihre Schwägerin am Sarg, Herr Doktor?“

Ich stutzte. „Sind Sie uns etwa gefolgt?“

„Ja. Und hinter Fräulein Beatrix ist jetzt mein Kollege Flemming her.“

Ich bin wie erstaunt. Gunolts Schergen also schon an der Arbeit …!! Ich werde noch den Verstand verlieren über alledem!!

„Also – wie benahm das Fräulein sich?“ forschte er wieder.

„Ich habe nicht darauf geachtet …“

„Schade …! – Haben Sie bemerkt, Herr Doktor, daß das Fräulein sich das Haar hat färben lassen? – Sie ist heute morgen zwei Stunden bei dem Damenfriseur Kniewel auf dem Kurfürstendamm gewesen.“

Also auch das wissen die Häscher schon …!!

„Ich habe es bemerkt …“

„So, so. Hm – das Auto ist auch schon gefunden.“

„Ah – wirklich?!“ Ich wurde lebhaft. Jetzt handelte es sich um ihn – ihn!

„Ja, aber es war eine Enttäuschung. Der Graue ist im Tiergarten dicht bei den Zelten ausgestiegen. Wir hatten gehofft, er würde vielleicht die Unvorsichtigkeit begangen haben, sich bis zu seiner Wohnung fahren zu lassen. Nun ist die Spur wieder verloren gegangen – – vorläufig.“

Er verabschiedete sich. „Auf Wiedersehen, Herr Doktor …“

Ich lüftete nur den Hut. – Heller hatte „Auf Wiedersehen“ gesagt. In mir war nur der Wunsch, ihm nicht mehr zu begegnen. Alle diese Leute sind mir zuwider, die Polizisten … Wie ein harmloser Stutzer schaut dieser Wachtmeister aus. Nur Gunolt nennt ihn den besten seiner Beamten. – Alles Komödianten …!! – –

Der Wald lockt mich plötzlich, die Einsamkeit. Ich kenne da dicht am Bahnhof Grunewald einen Pfad, der durch eine Kiefernschonung führt, eine grüne, nach Harz duftende Einsamkeit. Einmal habe ich schon drei Mark Strafe bezahlt. Der Pfad ist verboten, – wie vieles Schöne, was man ganz allein genießen möchte. –

Die grüne, harzduftende Einsamkeit umfängt mich. Ich dränge mich durch die Zweige bis zu einer kleinen Lichtung, lege mich in das Moos, strecke mich wohlig …

Eine Eidechse raschelt, ein Rotkehlchen hüpft von Ast zu Ast. In der Ferne rattert ein Eisenbahnzug. Vom kleinen Exerzierplatz her bringt der Ostwind den Knall von Schüssen mit … Ich versuche an nichts zu denken, an nichts … Ich schlafe ein. Die Müdigkeit der letzten durchwachten Nächte kommt nach. Und die Kiefern rauschen so wundervoll beruhigend …

Als ich erwache, ist es vier Uhr. Ich habe Hunger. Ich fühle mich frisch, belebt, gehe eilig davon. Gedanken an Beatrix-Heliante weise ich ängstlich zurück. Und fühle doch, wie zwei Gestalten ineinander verschmolzen sind. Vielleicht noch nicht ganz …

 

7. Kapitel.

An einer Gruft.

Ich bin schon um sechs Uhr aufgestanden. Meine Nerven befinden sich in einem tollen Aufruhr. Ich habe Träume gehabt, die so merkwürdig gut zu den Gedanken passen, die immer wieder in mir auftauchen, seitdem ich neben Beatrix am Sarg Heliantes geweilt habe. – –

Heliante trat durch die Tür ein. In ihrem aschblonden Haar leuchtete ein großer Stern; sie trug schleppende, lose Gewänder, die so zart weiß schienen, daß sie förmlich strahlten. In der Rechten hatte sie einen vergoldeten Palmwedel.

Sie kam langsam näher; ein weltentrücktes Lächeln spielte um ihre Lippen; blieb stehen und schaute mich an. Ihr Lächeln wurde schmerzlich. Sie nickte mir zu – dreimal, voll erhabener Würde. Dann wurden die Umrisse ihrer Gestalt immer undeutlicher. Sie schien sich in leichte, leuchtende Nebel aufzulösen …

Das war einer meiner Träume …

Ich stehe jetzt am Fenster und luge nach der Sonne aus. Aber der Himmel ist eine graue Riesenglocke. Die Sonne hat sich verhüllt. Es ist der Tag der Beerdigung eines jungen Weibes, das noch vor kurzem pochenden Herzens der Erfüllung heißer Wünsche entgegensah, dessen Lippen trunken flüsterten und wie im Fieber glühten, wenn eine Hand mir die Augen zuhielt auf der weißen Bank im Park … Konnte die Sonne an diesem Tag scheinen …?! Durfte sie es –?!

Ich hätte mir eine durchsichtig blaue Himmelsglocke gewünscht, grellen Schein auf Häusern und Bäumen. Gerade heute …

Wenn heute der Feind mich beschlich …?! Wenn ich merkte, wie der häßliche Wurm in mich hineinkroch – vielleicht gerade dann, wenn ich eingekeilt zwischen wenigen Leidtragenden und vielen Neugierigen vor einer offenen, mit Tannenzweigen ausgekleideten Gruft stand?! Was dann?! Würde ich da nicht vielleicht irgendetwas tun, wodurch ich die Angehörigen der Toten und mich selbst bloßstellte …?!

Wenn nur kein Regen fiel – – nur kein Regen!

Die Stunden schlichen mit trägen Schritten. Ich versuchte zu arbeiten, zu lesen. Dann schrieb ich einen Brief an meine Mutter, – schrieb von ihm, dem Grauen, dem Mörder Heliantes – alles, was ich wußte.

Das lenkte mich noch am besten ab. Und doch sprang ich so und so oft auf, eilte ans Fenster, lehnte mich hinaus und prüfte, ob die Riesenglocke nicht dunkle Flecken bekam – Regengewölk.

So wurde es elf, halb zwölf.

Um die Mittagsstunde, wenn aus allen Fabriken, Geschäften Jugend und Alter hinauseilte zu karger Freizeit, sollte Heliantes irdische Hülle der Erde übergeben werden …

Das Harmonium spielte, während der Sarg aus der Kapelle hinausgetragen wurde.

Ich hatte kaum gehört, was der Geistliche sprach. Meine Augen starrten die ganze Zeit über auf denselben Fleck – auf einen Kranz gerade vor mir, – einen Kranz aus weißen Narzissen, dazu ein Dutzend dunkelrote Rosen, erst halb erblüht … Wassertropfen hingen an den Rosenblättern wie Tränen …

Es war wie damals im kleinen chinesischen Tempel vor Heliantes Leiche … Die Rosen lösten sich in wallende, rote Gebilde auf, in Wolken, die durcheinanderwogten, immer größer wurden, bis vor mir nicht war wie eine rote Nebelwand, in die der Wind stoßweise Bewegungen bringt … Oh – – der rote Nebel war fort … Ich glaubte durch die polierten Bretter, die Kränze hindurchsehen zu können, – ich sah hindurch, sah ein gelbes, verändertes Totengesicht, eingefallene Wangen, bleiche Lippen …

Das war nicht die, die ich geliebt hatte … Das war nicht Heliante …! – Heliante lebte –! Trotz all der Blumen, die ihre Düfte in die Kapelle ausströmten, spürte ich mit einemmal mit den Geruchsnerven etwas anderes, einen Duft des Lebens, des Genießens, der Freude …

Beatrix – Beatrix – – nein, Heliante –!! – Ich hob den Kopf, schaute zur Seite …

Da gerade wurde der Sarg hinausgetragen. Das Harmonium sang und schluchzte ganz leise …

Ich blickte die Lebende an. Heiße Sehnsucht quoll in mir auf. Meine Augen durchdrangen den dunklen Schleier, fraßen sich fest in den rosigen Antlitz.

Dann trat sie schnell auf mich zu.

„Komm, Allan, – reiche mir den Arm …“ Es klang wie ein Befehl.

Und wie im Traum ließ ich mich führen, – hinter den beiden alten, gramgebeugten Leuten her, meinen Schwiegereltern … Auch sie gingen Arm in Arm. – Was waren sie mir …?! Fremde – Fremde..!! Nichts weiter – – und all das Treiben um mich her …?! Mußte dieser ganze, durch die Gewohnheit geheiligte Aufzug sein, um ein der Verwesung bestimmtes Etwas in einem Erdloch zu versenken?! Mußten all diese Menschen hier ihre wahre Natur für eine halbe Stunde verleugnen und mit Leichenbittermienen umherstehen, – Menschen, die gleich hinter der Kirchhofpforte auf der Straße wieder sie selbst waren, lachen, scherzen und – kritisieren würden … Eine lächerliche Komödie – lächerlich …

Wir traten ins Freie.

Jetzt sah ich …

Vor mir die Eltern der Toten, der hin und her schwankende Sarg auf den Schultern der Träger in speckigen Fräcken … Rechts und links aber ein Meer von aufgespannten Schirmen. Und von oben herab aus düsterem Grau wie dichtgespannte, unaufhörlich abrollende Fäden der Regen – ein feiner, warmer Regen.

Während der Trauerandacht in der Kapelle mußte er eingesetzt haben – Regen – Regen …

Wir gingen weiter …

Der Geistliche schloß sich neben meiner Schwiegermutter dem Zug an. Er machte den Hals kurz. Die Nässe war ihm unangenehm …

Asra – Asra!! „…die die sterben, wenn sie lieben …“ – Nein, – „die die leben wollen, wenn sie lieben …!“

Der Duft begleitete mich. Sie schritt neben mir – sie – sie – Heliante – – Beatrix – beide – und doch eins …

Ich fühlte ihren Arm. Seine Wärme rieselte in meine Adern, machte mir das Blut heiß … Mein Herz klopfte schneller.

„Heliante!“ flüsterte ich in den langen, schwarzen Schleier hinein, hinter dem jetzt das Aschblond lockte. „Heliante – weißt du noch?!“ – Ich dachte an die weiße Bank, an eine Hand, die sich über meine Augen deckte, an einen Körper, der sich an mich schmiegte …

„Heliante …!!“ Heiser kam es heraus, so, wie die Leidenschaft spricht, wenn der Verstand erstickt ist in wildem Taumel der Sinne …

„Allan – nachher – nachher …!!“ kam die Antwort, die Verheißung …

Ich dachte nur noch an dieses „Nachher“, an nichts anderes … Meine Wangen glühten, wie im Fieber raste mein Blut. Ich hörte nicht, was der Geistliche sprach, hörte kaum hin, als die ersten drei Hände Erde auf die Kränze und die Sargbretter fielen …

Nachher – nachher …!! – Ich preßte ihren Arm an mich; mein Atem ging keuchend; Asra benebelte meine Sinne …

Leute kamen, die ich kaum kannte, wollten wir die Hand drücken, – Beileid – – ein Teil der Komödie …

Ich flüsterte ihr zu: „Komm’ – komm!!“

Wir drängten uns durch die Menge, rücksichtslos, eilig, waren nun allein zwischen den Gräbern …

„Heliante, ich liebe dich … Weißt du noch, – – die Bank im Park …“

„Bald, Allan – bald …!“

Wir hasteten weiter …

Wir stehen vor meinem Haus. Wir stehen auf den Steinplatten des Bürgersteiges auf einem dunklen, unregelmäßigen Kreis, – dem Schatten der Linde vor der Haustür. Jenseits des Kreises ist Sonnenschein, ist alles so hell, so glänzend –

Ich halte den Hut in der Hand, fahre mir mit der Rechten über die Stirn, werde wieder Allan Dogmoore …

Die Sonne scheint …

Ich schaue Beatrix fragend an …

„Was wollen wir hier? – Wo sind die Eltern? Wo ist Erwin –?“

„Du wolltest nur deinen Zylinderhut ablegen. Die Eltern erwarten uns zu Tisch. Geh’ nur nach oben, Allan. Ich bleibe hier –.“

Oben trete ich ans Fenster. Der Himmel ist klar. Das Grau hat sich in kleine Wölkchen aufgelöst, die nach Süden zu fliehen.

Ich bin bald wieder bei Beatrix. Wir gehen auf der Schattenseite der Straße entlang. Wir schweigen.

Dann sagt Beatrix: „Der Schülerinnenchor am Grabe war ergreifend, nicht wahr?“ – Ich fühle, daß sie mich prüfend ansieht von der Seite.

Ich nickte eifrig. „Sehr ergreifend –.“

Wir sind bei Barkes im Salon. Erwin steht vor uns, etwas verärgert …

„Es hat sehr peinliches Aufsehen erregt, als ihr so plötzlich fortgingt, bevor die Bekannten noch kondoliert hatten,“ sagte er leicht gereizt.

„Allan war einer Ohnmacht nahe. Ich mußte ihn wegführen. Sollte er mitten unter der Menge zusammenbrechen –?!“ erwiderte Beatrix ernst.

Ich verstehe sie nicht. – Mich – wegführen – Ohnmacht?!

Ich schaue sie unsicher an.

„Ja, Allan, du warst mit deiner Kraft zu Ende. Es war höchste Zeit!“ meinte sie herzlich.

Ich verstehe sie noch nicht. –

Es war eine stille Mahlzeit. Ich saß Beatrix gegenüber. Sie hatte, wie ich jetzt erst sah, ein Trauerkleid von raffinierter Einfachheit an. Schwarz stand ihr vorzüglich. –

Dann fiel mir ein, daß sie ja schon immer die dunkle Farbe bevorzugt hatte. Und doch erschien sie mir jetzt plötzlich wie eine Fremde, – doch nicht, – wie Heliante, obwohl ich die Dahingegangene nie in Schwarz gesehen hatte.

Ich saß grübelnd da. Etwas Schweres lastete auf meinem Herzen. Wir hatten Heliante zu Grabe geleitet – ich auch?! Ich –?!

Der Regen –, der Regen –!!

Etwas Schweres – Schuldbewußtsein drückt wie eine körperliche Bürde. Ich merkte ja, daß die Tote für mich immer mehr in weite Fernen entschwand, daß ihr Bild zusammenfloß mit dem einer anderen. War das die große Liebe gewesen, die ein langes Leben hatte vorhalten sollen?!

Ich grübelte –. War ich eine so unbeständige Natur, daß heute schon die Züge der Verstorbenen neu erstanden in Beatrix’ Antlitz –?! Oder – hatte hier nur ein Vielfaches zusammengewirkt, um diesen Erfolg hervorzubringen, den ich in diesem Augenblick anzweifelte, im nächsten wieder mit einem Gefühl der Befriedigung als Tatsache hinnahm –? Hatte hier nur die Schlauheit einer bisher Übersehenen mit Mitteln gearbeitet, denen ich schnell unterlegen war?! Hatte Beatrix, ihre Klugheit, in Raffiniertheit umwandelnd, es darauf abgesehen, die Tote aus meinem Herzen zu verdrängen –?! Sprach nicht alles für die letzte Annahme –?! Nur – wie mußte es um den Charakter eines Weibes bestellt sein, die bereits wenige Stunden nach dem Tod der Schwester den Kampf gegen die Erinnerung an diese dadurch aufnimmt, daß sie das zu beeinflussen sucht, was im Liebesleben der Natur eine so große Rolle spielt: den Geruchssinn –!! –

Welche Gefühlskälte verrät ein solches Tun, entsprungen einer kaltblütigen Berechnung, ausgeführt mit Hilfe eines – Diebstahls –!! Asra – Asra!!

Immer weiter wandelte ich diesen Pfad, immer weiter. Es war ein Dornenweg –.

Kalte Berechnung, ohne Gewissensskrupel in der Wahl der Mittel –. Auf der anderen Seite aber eine große heimliche Leidenschaft, – etwas, das mir, dem Mann, schmeicheln mußte –.

Der Pfad wurde gangbarer, heller. Liebe überstrahlte ihn –.

Da hob meine Schwiegermutter die Tafel auf.

Beatrix und ich gingen in den Park, – vorbei an der Marmorgruppe der Wasserschöpferin – hin zu der weißen Bank vor dem Umkleidehäuschen am Tennisplatz.

Nur hin und wieder fielen ein paar Worte zwischen uns.

Dann fragte ich:

„Weshalb hast du dir das Haar färben lassen, Beatrix?“

„Weil es sein mußte.“ erwiderte sie ohne Verlegenheit, indem sie das „mußte“ stark betonte.

Ich begriff sie schon wieder nicht. – Was wollte sie mit dieser Antwort sagen –?!

Erwin tauchte an der Biegung des Hauptweges auf, winkte mir zu, rief dann:

„Allan, Kommissar Gunolt möchte dich sprechen. Er scheint wichtige Neuigkeiten mitzubringen. Aber uns erzählt er ja nichts –.“

Wichtige Neuigkeiten –! Gunolt war alles wichtig. Hatte er etwa beobachtet, wie Beatrix mich von der Gruft schnell weggeführt hatte –?! Wollte er wissen, warum das geschehen –?

Er wollte ja alles wissen, ließ sogar Beatrix beobachten –

 

8. Kapitel.

Franz Orske.

Ich traf Gunolt bei meinem Schwiegervater in dessen Arbeitszimmer.

Der Geheimrat Bark ist ein feiner, vornehmer alter Herr. Er besitzt jene Vornehmheit, die nicht auf einer Reihe von Ahnen und einem altadligen Wappen, sondern auf selbst errungenen Werten gedeiht. Er ist eine Persönlichkeit. Er kann sehr liebenswürdig, aber auch sehr ironisch sein. Doch wird er nie verletzend als geistreicher Spötter.

Ich wußte, daß und wie Gunolt ihn schätzte. Er nannte ihn eine Vollnatur –.

Ich nahm gleichfalls Platz, nachdem Gunolt mir die Hand gedrückt hatte.

Mein Schwiegervater begann:

„Der Herr Kriminalkommissar hat mich soeben in die Erfolge der bisherigen Ermittlungen nach dem Täter eingeweiht. Ich bin überrascht. Du hast uns gegenüber noch mit keiner Silbe erwähnt, Allan, daß sich bereits zwei Zeugen gemeldet haben, die jenen Menschen gleichfalls sahen.“ Der leise Vorwurf in seiner Stimme war deutlich herauszuhören.

Gunolt überhob mich einer Antwort.

„Ich hatte Herrn Dogmoore um Schweigen gebeten im Interesse der Untersuchung, Herr Geheimrat,“ sagte er.

Bark nickte mir zu. Das hieß: „Die Sache ist erledigt, Allan –.“

Ich war begierig zu erfahren, was Gunolt eigentlich preisgegeben und was er für sich behalten hatte.

Bald merkte ich, daß das Wichtigste noch gar nicht besprochen worden war. – Desto besser. Ich ahnte ja, Gunolt verfolgte sicher einen bestimmten Zweck damit, daß er den Geheimrat Bark scheinbar mit ins Vertrauen zog. Er tat nichts, ohne ein bestimmtes Ziel im Auge zu haben. –

Mein Schwiegervater deutete auf das Kistchen mit den Importen, von denen Gunolt bereits eine rauchte.

Ich bediente mich, und Gunolt sagte:

„Ich habe mit meinen Neuigkeiten gewartet, bis auch Sie hier waren, Herr Doktor. –

Jetzt kann ich beginnen. –

Der Zeitungsaufruf wirbt neue Helfer. Ich werde mit Briefen geradezu überschüttet, auch mit persönlichen Besuchen von Leuten, die von einem Menschen im grauen Anzug, gelben Schuhen, zu kurzen Hosen und so weiter etwas wissen wollen. In einer Millionenstadt Berlin gibt es natürlich Dutzende, auf die eine so oberflächliche Beschreibung paßt. Wollte ich alle diese Angaben nachprüfen, müßten wir unsere Beamten verdoppeln. –

Das ist die Schattenseite des Aufrufs. –

Er hat auch eine Lichtseite: zwei Zeugen – und heute eine dritte Zeugin, sogar die Frau, bei der unser Mann gewohnt hat.“

Ich war ganz Ohr. – Er – er – !! –

Ich richtete mich in meinem Sessel auf, las Gunolt die Worte vom Munde ab –.

„Heute gegen ein Uhr ließ sich bei mir eine Frau Kremk melden – Gesindevermieterin Marie Kremk. –

Der Name war mir nicht ganz unbekannt. Wir wußten, daß die Kremk besonders gern weibliches Personal für Schankwirtschaften vermittelte. Doch das gehört nicht hierher. Jedenfalls steht die Frau bei uns auf der schwarzen Liste. Sie betrat denn auch sehr zögernd mein Dienstzimmer. –

Eine aufgeschwemmte Person in den Fünfzigern, dem Alkohol nicht ganz abgeneigt, herausgeputzt wie eine alte Fregatte, der man durch Ölfarbe den Anschein eines soliden Fahrzeuges zu geben sucht. –

Sie rutschte auf ihrem Stuhl hin und her und spielte mit ihrer ledernen Handtasche. Ihr asthmatisches Keuchen blieb eine Weile der einzige Laut zwischen uns.

„Ich hätte früher kommen sollen, Herr Kommissar,“ begann sie endlich und fächelte sich mit dem Taschentuch Kühlung und mir ein aufdringliches Parfüm zu. „Er ist mir schon lange verdächtig vorgekommen.“

Das war Frau Kremks vielversprechende Einleitung. Sie erzählte dann folgendes: Vor einem halben Jahr, Mitte Januar, sei bei richtigem Hundewetter abends ein Mann bei ihr erschienen und habe das gerade leerstehende möblierte Vorderzimmer mieten wollen. Der Mann habe sich als Schlossergeselle Franz Orske vorgestellt und ihr eine lange Geschichte von einer Erfindung erzählt, die ihn, den eigentlich im nahen Potsdam Ansässigen, wiederholt zwänge, ein paar Tage nach Berlin herüberzukommen. Daher brauche er ein Absteigequartier. So ein kleines, einfenstriges Zimmer mit Flureingang sei ihm gerade recht. –

Er hat dann den Mietpreis gleich für ein halbes Jahr vorausbezahlt, einen Handkoffer – angeblich vom Bahnhof – geholt und eine Nacht in seinem neuen Heim geschlafen. –

Dann sei er wochenlang ausgeblieben, plötzlich wieder aufgetaucht, nur für Stunden, abermals drei Wochen nicht erschienen, wieder nur für Stunden dagewesen – und sofort bis – bis zu dem traurigen Tag, an dem das junge, schöne Fräulein ermordet worden ist. –

Inzwischen hatte die Kremk, die keineswegs zu den Dummen gehört, doch schon gemerkt, daß Franz Orske eine etwas fragwürdige Persönlichkeit war. So selten er kam und sein Absteigequartier benutzte, so heimlich er sich auch stets in sein Zimmer schlich und so lautlos er sich darin bewegte, die Kremk wußte ihn doch diesmal zu stellen, unterhielt sich mit ihm und suchte tiefer in seine Geheimnisse einzudringen, was ihr aber nicht gelingen sollte. Die Unterhaltung fand stets nur durch die fingerbreit geöffnete Türspalte statt. Jedesmal behauptete Orske, er ziehe sich gerade um. –

Kurz, die Kremk hatte nicht viel Erfolg bei den Versuchen, ihre Neugier zu befriedigen. Der Schlosser war schlauer als sie. Er kam und ging, ohne daß sie ihn recht zu Gesicht bekam. In dem Zimmer blieb stets derselbe Koffer zurück, mit dem er seinen Einzug gehalten hatte.

Die Kremk sagte: „Ein sehr feiner Koffer, Herr Kommissar, – mit zwei Patentschlössern.“ – Und ich fügte hinzu: „Wahrscheinlich Schlösser, die sich nicht öffnen ließen –!“ Sie wurde etwas rot, war aber ehrlich genug zuzugeben, daß sie „probiert“ hätte. –

Als ich sie bat, mir Franz Orske recht genau zu beschreiben, machte sie ein ganz verzweifeltes Gesicht.

„Ich habe ihn ja eigentlich nur einmal so richtig gesehen, Herr Kommissar,“ meinte sie. „Und das war abends, und ich – na – ich hatte gerade viel Besuch, und wir hatten ein wenig gepichelt –. Sie verstehen, Herr Kommissar –! Was man dann sieht, vergißt man leicht –!“

In dieser Beziehung war bei der Kremk nichts zu holen. Dann aber kam sie auf denen „traurigen Tag“ zu sprechen, wie sie sich ausdrückte. Zwischen dem Zimmer Orskes und ihrer Wohnung gibt es eine beiderseits durch Schränke verstellte Verbindungstür. Trotz der Schränke hört die Frau aber nach ihrer Angabe ganz genau, wenn jemand sich in dem Vorderzimmer bewegt. So hat sie denn auch an jenem Tag gegen acht Uhr abends drüben Stimmen vernommen. Es war, als ob zwei Menschen erregt miteinander stritten. Sie wußte nicht, daß ihr merkwürdiger Mieter wieder einmal da war, hatte auch gerade eine Freundin bei sich und schenkte der Auseinandersetzung im Vorderzimmer zunächst keine besondere Beachtung, bis sie jemand ganz laut schreien hörte, offenbar in höchster Wut: „Es war doch richtig, daß ich’s getan habe –!“ Sie hat sich diese Worte gut gemerkt, die ja auch ihrem Inhalt nach leicht sehr ernst gedeutet werden können. –

Sie behauptet auch, Orskes Stimme erkannt zu haben, zumal gleich darauf wieder der Satz zu verstehen war: „Nun bin ich sie los – für immer!“ –

Die Freundin der Kremk fragte nun, gleichfalls aufmerksam geworden: „Was machen die denn da für einen Radau, Mieze?“ – Die Kremk scheint sich von ihren Intimen gern so nennen zu lassen. Marie klinge ihr wohl zu sehr nach Köchin. –

Sie wollte nun doch mal bei ihrem seltsamen und selten auftauchenden Miete anklopfen und feststellen, mit wem er sich denn eigentlich „in den Haaren habe“, ging in den Hausflur hinaus und steuerte auf die Tür Orskes zu. Da wurde diese plötzlich aufgerissen, und der Schlossergeselle stürzte heraus, warf die Tür hinter sich zu und rannte auf die Straße. Die Kremk fand dann in seiner Stube, die sie sofort betrat, keinen Menschen weiter vor, obwohl sie gehofft hatte, denjenigen noch „abzufassen“, mit dem sich Orske so erregt gezankt hatte. Dafür entdeckte sie aber etwas anderes. Auf dem Tisch vor dem kleinen Sofa lag ein Dolchmesser mit einem Griff aus schwarzpoliertem Holz, und in dem Kleiderschrank hingen heute zum ersten Mal seit dem Einzug des Potsdamer „ein paar Lumpen“.“

Wir hörten gespannt zu.

„Ich bemühe mich, meine Herren,“ schaltete Gunolt hier ein, „die bezeichnendsten Ausdrücke der Kremk wörtlich wiederzugeben.“

Niemand entgegnete etwas.

Mit den „paar Lumpen“ meinte sie einen grauen, abgetragenen Anzug, ein Halstuch, eine blaue Schirmmütze und ein paar gelbe Schnürschuhe mit schiefen Absätzen,“ fuhr Gunolt fort, nachdem er sich seine Importe frisch angezündet hatte. „Sie werden begreifen, daß ich nach diesen Mitteilungen der Gesindevermieterin nur schwer meine Ruhe bewahren konnte. – Ich bin durch meinen Beruf zum Zweifler geworden, besonders an dem Wert von Zeugenaussagen. Hier zweifelte ich keinen Augenblick. Unser Mann war gefunden! - Was die Kremk von dem Streit verstanden hatte – die beiden lauten Ausrufe – was sie nachher auf dem Tisch liegen und in dem Schrank hängen sah, – das genügte auch mir. –

Doch – lassen wir die Kremk weiterberichten. –

Das Dolchmesser hat sie sich sehr genau angesehen, sehr genau. Blut war nicht daran. Es sah sogar ganz neu aus. Dennoch beunruhigte es die Frau stark. Sie nahm sich vor, dem ihr unheimlich gewordenen Mieter bei nächster Gelegenheit zu kündigen, schloß das Zimmer ab und kehrte zu dem Besuch in ihre Wohnung zurück. Sie hat dann der Freundin die ganze Sache von Franz Orskes erstem Auftauchen bis zu dem Dolchmesser hin haarklein erzählt und sie gefragt, ob es nicht das beste sei, diesem Orske den „Stuhl vor die Türe zu setzen“. –

Die Freundin, Frau eines Versicherungsagenten – sie hat mir alles bereits bestätigt! – meinte, die Kremk hätte eigentlich die Pflicht, zur Polizei zu gehen; der Orske könnte vielleicht „ganz was Schlimmes“ sein. Die Kremk faßte die Vorkommnisse aber doch nicht so tragisch auf und unterließ den Gang zu der Behörde, mit der sie ja ohnehin auf etwas gespanntem Fuße steht. –

Am Tag darauf, wieder gegen Abend, erschien dann bei der Kremk eine Schwester des Orske und brachte ihr zweiundzwanzig Mark Miete für den Juli, kündigte das Zimmer und nahm ihres Bruders Sachen – den Koffer, die Kleider und so weiter, letzteres alles in einem von der Kremk geliehenen Pappkarton –, mit und fuhr mit einem Taxameter davon.“

Gunolt schaute jetzt erst mich und dann meinen Schwiegervater vielsagend an.

Weswegen, verstand ich sofort. Er legte dem Umstand, daß Franz Orske seine Sachen hatte abholen lassen, offenbar große Bedeutung bei.

 

9. Kapitel.

Die Schwester.

Gunolt hatte sich unaufgefordert eine zweite Importe in Brand gesetzt.

Ich wartete und schwieg. Mein Schwiegervater konnte sich nicht so gut beherrschen.

„Wo wohnt diese Frau?“ fragte er.

„Moabit – Rathenower Straße, Nähe des Kriminalgerichts,“ erwiderte Gunolt. „Und der Chauffeur des roten Autos hat ausgesagt, daß er den Grauen bis etwa nach den Zelten fahren mußte. Die allgemeine Richtung stimmt also.“

Geheimrat Bark fragte weiter:

„Sie hoffen jetzt also, den Mann sehr bald –.“

Gunolt machte eine abwehrende Handbewegung.

„Ich hoffe wenig, um ganz ehrlich zu sein, Herr Geheimrat. Gestatten Sie, daß ich auf einige Punkte hinweise, die diesen Mieter der Kremk in ein besonderes Licht rücken. –

Franz Orske hat nur eine einzige Nacht in jenem Zimmer geschlafen. Sonst kam er nur für Stunden, wie die Kremk behauptete. –

Dies und die Tatsache, daß Orske seine Tür stets nur fingerbreit öffnete, läßt es als gewiß erscheinen, daß er das Absteigequartier nur als Umkleidezimmer benutzt hat. –

In Potsdam gibt es keinen Franz Orske, wie wir schnell feststellten. Ich habe das auch nie angenommenen, und natürlich ist der Mensch auch ebensowenig Erfinder wie Schlosser.“

„Wofür halten Sie ihn?“ fragte der Geheimrat schnell.

„Jedenfalls für einen geistig nicht ganz normalen Menschen, der den besseren Ständen angehört.“

Ich horchte auf. – Beatrix hatte von dem wutverzerrtem Gesicht des Grauen und von ihrer Angst vor der Rache eines Irren gesprochen –!

„Geisteskrank – besseren Standes? – Das müssen Sie mir erklären,“ meinte Bark.

„Ich schließe das einmal aus den Angaben Ihrer Tochter über den Gesichtsausdruck des Grauen, dann weiter daraus, daß das, was die Kremk für einen Streit zwischen Orske und einer anderen Person gehalten hat, nur ein überlautes Selbstgespräch des Orske gewesen sein kann. Welcher Mensch mit gesundem Verstand schreit aber derart, daß noch im Nebenraum Wort für Wort gehört wird?! Diese lauten Selbstgespräche sind an sich ja eine häufige Eigenart schwachnerviger Naturen. Zu Ausrufen, in höchster Wut hervorgestoßen, werden diese Selbstgespräche aber nur bei Geisteskranken. Das wird Ihnen Fräulein Beatrix bezeugen, Herr Geheimrat, die sich ja viel mit Psychiatrie beschäftigt.“

Die letzten Sätze, in denen Beatrix abermals erwähnt wurde, klangen nicht anders als die vorigen. Und doch glaubte ich aus ihnen etwas Besonderes heraushören zu können – denn in Gunolts Gesicht war dabei ein Ausdruck, etwas Lauerndes, Überlegenes und kalt Berechnendes, das mich argwöhnisch machte. –

Oder – sah ich vielleicht zu viel auf diesem Antlitz, war es nur die versteckte Angst, die mir diese Veränderung der Züge vortäuschte, die Angst, die urplötzlich in mir aufgestiegen war um die Sicherheit des Weibes, die in sich eine Lebende und Tote für mich vereinte?! –

War Gunolt meinem Schwiegervater gegenüber jetzt nur deshalb so offen, weil er ihn über Beatrix ausholen wollte –?!

Ich fürchtete für Beatrix! Ich sah, wie Gunolt Netze stellte, sie zu fangen, glaubte, es zu sehen –.

In meine hastenden Gedanken fielen die Worte Barkes hinein: „War es wirklich nur ein Selbstgespräch? Kann nicht –.“

Gunolt unterbrach ihn. „Vor dem Haus hielt der Gemüsewagen eines fliegenden Händlers von halb acht bis gegen viertel neun Uhr abends. Der Händler hat sich auch gemeldet. Er hat den Grauen ebenfalls gesehen – wie dieser das Haus betrat und wie er dann wieder nach etwa zehn Minuten herauskam – in größter Eile – aber allein, wie er auch hinein gegangen war.

Nun Punkt zwei – aus besseren Kreisen. – Beweis: der elegante Koffer und der Inhalt der Taschen des grauen, abgetragenen Anzugs: eine Nagelfeile und ein Zahnstocher in silbernen Hülsen, ein Schächtelchen Mundparfüm – Pillen und ein Federmesser mit silbernen Schalen.“

„Sie haben doch aber den Anzug bei der Kremk gar nicht mehr vorgefunden,“ warf Bark erstaunt ein.

„Allerdings nicht, den hatte ja die – Schwester mitgenommen. Aber die Kremk war so schlau gewesen, gerade die Sachen, die auch hier gegen den Schlosserberuf Orskes zu sprechen schienen, in die Waschtischschublade zu legen – schon in der Absicht, Orske gelegentlich mit Hilfe dieser Kleinigkeiten klar zu machen, daß sie an den Schlossergesellen nicht glaube. Als die Schwester dann erschien, will sie an die Sachen nicht gedacht haben. – Auf diese Weise bin ich in Besitz von vier Gegenständen gelang, die dem Mörder gehören.“

„Er kann sie gestohlen – gefunden – selbst nie benutzt haben,“ meinte Barke achselzuckend.

„Das gebe ich zu. – Die vier Gegenstände allein genommen, beweisen nichts. – Aber Orske hat erstens noch auf der Seifenschale ein wenig benutztes Stück Seife liegen lassen – eine sehr teure Seife, zweitens auf der Spiegelkonsole ein Büchschen mit bräunlichem Herrenpuder, drittens in dem Bett ein neues, gesticktes Nachthemd ohne Monogramm. – Mir genügt dies alles. Der Mörder ist ein Mensch, der verfeinerte Lebensgewohnheiten hat, sogar etwas Lebemanngewohnheiten.“

Mein Schwiegervater nickte nur. Er gab sich geschlagen.

„Nun zu meiner Behauptung ‚Umkleidezimmer’,“ fuhr Gunolt fort. – „Ich habe die Kremk so lange ausgefragt, bis ich mir über diese gelegentlichen Besuche des Grauen in dem Absteigequartier ein richtiges Bild machen konnte. – Er kam zu dem verschiedensten Tageszeiten, blieb kurze Zeit, ging wieder fort, kehrte nach ein paar Stunden zurück, blieb abermals kurze Zeit, die aber zum Wechseln eines Anzuges genügte, und verschwand wieder. Er kleidete sich dort also um, schwärzte sich leicht das Gesicht, wurde „der Graue“, trieb in dieser Verkleidung irgendwo, irgendwelche lichtscheuen Dinge und – verließ nachher wieder in seiner wahren Gestalt das kleine Zimmer.“

„Und – was trieb er?“

„Da bietet sich der Phantasie ein weiter Spielraum, Herr Geheimrat. – Ich weiß nichts Bestimmtes. Aber wir werden wohl auch hierüber Klarheit gewinnen.“

„Hm,“ meinte Bark, „wenn man die Schwester fände –“

„Ja – diese Schwester –! Fragen Sie Fräulein Beatrix –“

Mein Herzschlag setzte aus –.

„– Beatrix, ob es nicht allen Erfahrungen mit geisteskranken Verbrechern widerspricht, daß sie sich jemand anvertrauen, sich einen Helfer werben, wie diese angebliche Schwester es gewesen ist, die das Eigentum Orskes abholte. Niemand ist mißtrauischer als Irrsinnige, niemand verschwiegener. Niemand lebt so ganz für sich allein in einer Welt des Wahns, wie ein Geistesgestörter. Keinem gönnt er einen Blick in sein Herz, sobald er finstere Pläne wälzt. – Die Schwester bringt meine Theorie von dem Irren schwer ins Wanken, ganz abgesehen von dem Lächeln auf dem Antlitz der Toten.“

Ich saß ganz steif in meinem Sessel. Mir war’s, als lag eine eisige Hand auf meiner Stirn. Dieses Gefühl der Kälte habe ich stets, wenn ich meine Gedanken auf einen Gegenstand mit aller Energie vereine. Nur hier wollte ich feststellen, ob ich wirklich Grund hatte, um Beatrix besorgt zu sein.

Der nachdenkliche Zug in Gunolts Gesicht trat noch schärfer hervor, als er nach kurzer Pause hinzufügte: „Die Kremk ist mit allen Hunden gehetzt – fraglos. Aber dieser – Schwester gegenüber hat sie doch eine Dummheit gemacht. Sie hätte die Sachen zurückbehalten sollen. Wenn sie argwöhnte, daß hinter die Person ihres Mieters ein großes Fragezeichen zu setzen sei, durfte sie nicht das aus der Hand geben, was ihr vielleicht den besten Aufschluß über Orske gegeben hätte: den Koffer mit den beiden Patentschlössern, der recht schwer gewesen sein soll.“

„Wie sah denn diese Person eigentlich aus? – Auch aus besseren Kreisen –?“

„Die Kremk meint nein. Die Schwester soll ungefälschten Berliner Dialekt gesprochen haben. Aber ich wette, das war nur ein Trick, um zu täuschen. Jedenfalls trug die Schwester einen langen Lodenmantel und dazu einen Lackhut mit sehr dichtem weißen Schleier, den sie bei der Kremk nur bis zum Kinn hochnahm. Also wohl auch eine Art Verkleidung. Im übrigen schätzt die Kremk sie auf „so gegen zwanzig“.“

Minutenlanges Schweigen folgte. Ich sah es meinem Schwiegervater an, daß er, angeregt durch diese Mitteilungen und Folgerungen Gunolts, jetzt versuchte, das verschleierte junge Weib in irgend eine Beziehung zu dem Mord zu bringen.

Ich hätte gewünscht, auch noch im Dunkeln zu tappen wie er. Aber für mich war das Dunkel bereits mehr als zur Hälfte gelichtet. –

Gunolt qualmt dicke Wolken. Der Geheimrat grübelt. Ich – denke nach – die Schwester. Nicht an Franz Orskes Schwester allein –.

Dann Gunolt wieder, wie zu sich selber redend:

„Ja – wenn wir dieses junge Weib fassen könnten, – dann –!“

Bark regt sich, streicht mit der Rechten über die Stirn, sagt:

„Ich habe mir soeben noch mal all diese Einzelheiten überlegt, Herr Kommissar. Eines ist mir nicht klar geworden. Sie äußerten vorhin selbst: „Die Schwester bringt Ihre Theorie von dem Irren ins Wanken“. – Haben Sie denn diese Theorie nunmehr als unrichtig erkannt?!“

„Zur Hälfte, Herr Geheimrat. Ich habe sie abändern müssen. Und diese Abänderung erscheint mir sehr gelungen. Der hypnotische Zustand ist gewissermaßen auch eine Geistesumnachtung, aufgezwungen durch den überlegenen Willen eines Anderen.

„Der Mörder verübte die Tat in Hypnose, – daran denken Sie jetzt, nicht wahr?“ fragte der Geheimrat hastig.

„Ja. – Herr Dr. Dogmoore lernte seine spätere Braut im Oktober vorigen Jahres kennen. Im Dezember bereits sprach man in Ihren Bekanntenkreisen davon, daß hier wohl eine Verlobung sich anbahne. Und – bald darauf mietete Orske das Zimmer –“

Bark beugte sich vor, schaute Gunolt ungläubig an, rief:

„Wollen Sie etwa behaupten, daß dieses Verbrechen bereits vor einem halben Jahr eingeleitet wurde?“

„Ich behaupte nichts. Ich entwickle Ihnen nur auf Grund von Tatsachen meine Theorie –. Sie kann falsch sein. Aber – doch nein, – urteilen Sie selbst.“

 

10. Kapitel.

Der Schatten.

Das Arbeitszimmer meines Schwiegervaters wird von der Bibliothek durch eine Schiebetür getrennt. Diese steht gewöhnlich offen. Ein dicker, roter Friesvorhang hängt an einer Messingstange an Ringen in der Türöffnung. –

Bark hat eine große Schwäche, seinen Papagei „Lorchen“.

Der Vogel ist ein Scheusal. Er müßte nicht „Lorchen“, sondern „Satanas“ oder „Mephisto“ heißen. Einmal seiner Häßlichkeit wegen. – Papageien werden sehr alt. Man sagt bis zu hundert Jahre. Ich weiß darüber nichts Gewisses. Weiß nur, daß alte Papageien die Federn verlieren und fast nackt werden. Dann sind sie von einer grotesken Häßlichkeit, besonders wenn stellenweise das bunte Federkleid noch vorhanden ist. – Lorchen besaß diese Alterserscheinung in wirkungsvollster Weise. Als ich dieses Monstrum von Abscheulichkeit zum ersten Mal sah, wurde mir fast übel. Ich dachte an ein schlecht gerupftes Huhn, das ein Junge aus Übermut vor dem Schlachten mit roter und grüner Ölfarbe bekleckst hat. – Die Charaktereigenschaften und sonstigen Eigentümlichkeiten des Vogels stehen zu seinem Äußeren in durchaus richtigem Verhältnis. Heimtückisch, voller Launen wie jedes verwöhnte Geschöpf, leicht zu reizen, unberechenbar und schadenfroh, auch geschwätzig und vorlaut – das ist Lorchen, meines Schwiegervaters Liebling. –

Lorchen hauste zumeist in einem Käfig von riesigen Abmessungen in Barkes Arbeitszimmer. Heute stand der Käfig nebenan in der Bibliothek, und wir hörten das halblaute Plappern Lorchens nur zu oft, auch das Klirren der Gitterstäbe, wenn der krumme Schnabel daran gewetzt wurde.

Gerade als Gunolt sagte: „Doch meinen – urteilen Sie selbst!“ begann Lorchen wild zu kreischen – in heller Wut offenbar und so laut und anhaltend, daß der Kommissar einen ärgerlichen Blick auf den Friesvorhang warf.

Mein Schwiegervater pfiff jetzt die Beruhigungstakte für seinen Liebling: „Ich hatt’ einen Kameraden, einen bessern find’st du nit –“. Und Lorchen schnatterte nur mehr, aber immer noch in offenbar erregter Stimmung.

Ich dachte daran, daß Beatrix den Papagei ebenso wenig ausstehen konnte wie ich. Ich hatte es schon wiederholt erlebt, daß Lorchen geradezu Wutanfälle bekommen hatte, wenn Beatrix das Zimmer betrat. Deshalb schaute ich jetzt auch auf den Friesvorhang und bemerkte so, daß dahinter jemand stehen mußte, da der Schatten dieser Person den hellen Streifen zwischen Vorhangrand und Dielen gerade in der Mitte verdunkelte. –

„Beatrix“ –! dachte ich sofort. Sie spielte bei diesem Drama: „Der Mord im Pavillon“ eine besondere Rolle – eine nicht ganz einwandfreie! Sie wußte, daß Gunolt hier war, daß er uns Wichtiges mitteilen würde. Wohl nicht nur Neugier allein konnte sie dazu getrieben haben, uns belauschen zu wollen. Beim lautlosen Eintritt in die Bibliothek war Lorchen ihrer ansichtig geworden. Daher das plötzliche Wutgeschrei. Das Schnattern des Vogels blieb ja auch erregt trotz des beruhigenden Pfiffes.

Ich muß erwähnen, daß die Bibliothek sehr breite Fenster hat, die er Verbindungstür gerade gegenüberliegen, daß draußen Sonnenschein die breiten Fenster traf und mithin hinter dem Vorhang bei der Lichtfülle in der Bibliothek leicht ein Schatten hervorgerufen werden konnte, sobald jemand in tief herabhängender, breiter Bekleidung – einem Frauenrock – das Licht an einer Stelle abgesperrte. Es handelte sich auch um keinen scharf abgegrenzten Schatten, sondern mehr um eine Verdunkelung eines Teiles des Fußbodens, der immerhin aber als Schatten anzusprechen war.

Dieser bildete für mich eine neue Quelle der Angst. Wie, wenn auch Gunolt ihn bemerkte, wenn er Beatrix hinter dem Vorhang entdeckte?!

Inzwischen hatte er bereits begonnen, uns seine Theorie zu entwickeln.

„In unserem Fall muß man das Hauptmotiv aller Schwerverbrechen, Habgier, von vornherein ausschalten. Das Opfer hatte kostbaren Schmuck an den Fingern, an den Handgelenken und am Hals. Nichts davon fehlte. Im Gegenteil, der Toten drückte der Mörder noch blühende Rosen in die erstarrende Hand. Mithin muß man nach einem anderen Motiv suchen. Und dieses kann den ganzen Umständen nach nur – Eifersucht sein,“ fuhr der Kommissar fort „eine bis ins krankhafte gesteigerte Eifersucht.“

Ich will hier nicht im einzelnen ausführen, wie Gunolt seine Kombinationen geschickt aufbaute, wie er schließlich ein Gebäude zustande brachte, das klar und deutlich vor uns lag, das wir mit entstehen sahen und von dem wir genau wußten, wie gut ein Stein auf den anderen paßte.

„Ich behaupte also,“ erklärte er, das Gesagte kurz zusammenfassend, „daß der Mörder von einer willensstarken Person bereits seit langem, seit einem halben Jahr, für diese Tat gleichsam dressiert worden ist, daß er durch Suggestion gezwungen wurde, jenes Absteigequartier bei der Kremk zu mieten, daß jene Personen ihn immer wieder hypnotisiert und ihn immer gefügiger, leichter empfänglich für den Einfluß eines fremden Willens gemacht hat, bis diese unheimlichen Macht so groß war, daß jene Persönlichkeit es wagen konnte, auch zum letzten, vernichtenden Schlag auszuholen – das heißt, die Braut Dr. Dogmoores zu beseitigen. –

Was nun diesen eigentlichen Mörder anbetrifft – denn der Graue war ja nur willenloses Werkzeuge! – so kann es sich entweder um einen Mann oder um ein Weib handeln, – um einen Mann, der die Tote bis zum Wahnsinn geliebt haben mag, um ein Weib, dessen Herz in gleicher schrankenloser Liebe zur Dr. Dogmoore entbrannt war. Kommt ein Mann in Betracht, so hat er die Tote dem anderen, dem Begünstigteren nicht gegönnt, hat sie lieber hingemordet, damit sie nicht Allan Dogmoores Weib wurde. –

War’s ein Weib, so kann sie vielleicht noch aus weitgehenderen Motiven dieses Drama vorbereitet und durchgeführt haben. Vielleicht hoffte sie eben, nach dem Tode der Nebenbuhlerin im Herzen des abgöttisch Geliebten einen Platz einnehmen zu können.“

Gunolt schwieg.

Nebenan schnatterte Lorchen. Manches davon war zu verstehen … „Lügner, Lump, Schwindler!“ Dazwischen ein meckerndes Lachen. – Lorchen verfügte über eine Blütenlese von Schimpfworten, die Erwin dem gerupften Huhn eingepaukt hatte.

Mein Blick glitt über die beiden Männer hinweg. –

Bark saß mit gesenktem Kopf und grüblerischem Gesichtsausdruck da. Und Gunolt wieder – ah, ich hatte ihn gerade dabei ertappt!! – –

Gunolt hatte seine Augen auf den Friesvorhang gerichtet …! Ich hatte sein Profil vor mir. Und doch erkannte ich, daß sein Mund zu einem Lächeln verzogen war –. Er lächelte … Und seine Augen ruhten noch immer auf dem Schatten. –

Ja – es mußte der Schatten sein, denn was gab es sonst wohl da unten auf der Diele zu sehen …?!

Mein Blut gefror mir in den Adern. Wie Posaunenklänge tönten mir seine letzten Worte in die Ohren, als ob ein Echo sie jetzt wieder zu uns zurückwarf. „… deren Platz einnehmen zu können …!!“ Da wandte er den Kopf uns wieder zu. Ich blickte schnell zur Seite, spielte den Gleichgültigen.

Und er sprach weiter: „Die Sache steht also so, meine Herren, daß wir nur Aussicht haben, das Geheimnis dieses Mordes völlig aufzuklären, wenn Sie beide mir gegenüber rückhaltlos offen sind, – Sie, Herr Geheimrat, als Vater Fräulein Heliantes, der mir vielleicht einen Wink über jenen eifrigen Verehrer geben kann – Sie, Herr Doktor, als der, den vielleicht ein Weib bis zur tollsten Leidenschaft geliebt hat. – Ich muß mich hier in Ihr Vertrauen eindrängen, muß Sie bitten, auch die entfernteste Möglichkeit einer solchen unerwiderten Neigung zu berücksichtigen. Ich werde dann schon aus den in Frage kommenden Personen die richtige herausfinden. Dies ist insofern ja nicht allzu schwer, als die Fähigkeit, jemanden zu hypnotisieren, nicht gerade alltäglich ist, besondere Eigenschaften voraussetzt und somit den wahren Mörder bereits so etwas kennzeichnet.“

Gunolt schaute Bark fragend an. Der zuckte die Achseln.

„Sie sollten sich damit besser an meine Frau oder Beatrix wenden, Herr Kommissar,“ meinte er zögernd. „Ich weiß nur von zwei Herren, die –, – na, Sie verstehen ja. Der eine ist Graf Blenheim. Der scheidet hier aus. Heliante gab ihm einen Korb. Das Herz sprach nicht mit. – Dann der Maler Egon Wallner …“

Gunolt winkte mit der Hand ab. „Scheidet auch aus.“ –

Dann sollte ich beichten. Aber ehe Gunolt noch von mir eine Erklärung verlangen konnte, sagte ich schnell:

„Der Papagei stört mich. Ich werde den Käfig zudecken, dann haben wir Ruhe.“ Ich hatte sehr laut gesprochen, erhob mich und schritt auf den Vorhang zu.

Ich schlug das schwere Tuch an der linken Seite nur ganz wenig hoch und betrat gebückt die Bibliothek.

Sie war leer …

Nein – doch nicht! In der linken Ecke neben der Schiebetür, die von der Wand und einem mächtigen Bücherschrank gebildet wurde, stand … Beatrix.

Ich tat, als ob ich sie nicht bemerkte, redete laut zu dem kahlen Scheusal, deckte das Tuch über den Bauer, drehte mich dann um, winkte Beatrix zu, deutete auf den Nebenraum, schritt im Bogen an ihrem unzureichenden Versteck vorbei und flüsterte:

„Gunolt hat Argwohn geschöpft – – Schatten!!“ Mein Finger zeigt auf die Diele unterhalb des Vorhanges.

Dann kehrte ich in die Bibliothek zurück …

Beatrix’ Gesicht tanzte vor mir her … Ach – ich hätte gewünscht, dieses Gesicht wäre unter meinem ernsten Blick soeben erblaßt, zum mindesten verlegen geworden –!! Nichts davon – nichts …! Augen hatten mich angeschaut, in denen ein ganz sonderbarer Ausdruck gelegen hatte, – – doch es war nicht Furcht, nicht Verwirrung! Über diesen Ausdruck hatte ich mir so schnell nicht klar werden können. Aber eines war mir zur Gewißheit geworden: Beatrix hatte kein reines Gewißen, und – Beatrix besaß eine Kaltblütigkeit, die sie selbst in dieser Situation, in der Ecke als Lauscherin, nicht verlassen hatte …! Das war ein Beweis für eine seltene Willensstärke, ein Beweis, der mir genügte. Welche Frau in gleicher Lage hätte mich wohl – mich, den Warner, so ansehen können, so – so … Ja, – wie eigentlich –, wie …?

„Na – ist’s geglückt?“ fragte Gunolt.

Da verschwand Beatrix’ Gesicht. Ich setzte mich lässig.

„Sie hören ja – oder besser, Sie hören nichts mehr,“ sagte ich. „Lorchen ist stumm gemacht.“

„Das Tier ahmt alle möglichen Geräusche nach,“ meinte Gunolt. „Soeben war mir’s, als versuchte es, das leise Einschnappen eines Türschlosses nachzumachen.“

Die Worte umwogten mich, ich faßte sie nur halb; ein Verdacht jagte mir das Blut in aufsteigender Angst schneller durch die Adern.

„… leiser Einschnappen eines Türschlosses!“ Und die seltsame Frage: „Ist’s geglückt …?“ – Das bedeutete etwas …!!

Aber Gunolt rauchte so gleichmütig seine Zigarre …!!

Trotzdem: „Ich traue dir nicht! Ihr seid alle gute Komödianten, Ihr seht mehr, als …“

Gunolts Stimme zwang mich, meine Gedanken anderem wieder zuzuwenden …

 

11. Kapitel.

Liebe gegen meinen Willen.

Ich hatte Gunolt versichert, ich wüßte kein einziges Weib, das für seine Theorie in Betracht käme.

„Dann werde ich wohl noch Ihre Frau Gemahlin und Fräulein Beatrix fragen müssen,“ hatte er darauf zu Bark gesagt. „Doch heute nicht mehr. Das hat bis morgen Zeit. Heute möchte ich mir nur nochmals den Tatort ansehen. Vielleicht begleiten Sie mich, Herr Doktor.“

Das war keine Bitte, sondern ein Befehl.

Was sollte ich im Pavillon …?! Was wollte Gunolt jetzt wieder von mir …?! Etwa über das Scheusal Lorchen mit mir reden, über … das Einschnappen des Türschlosses …?!

Ich witterte eine Gefahr für Beatrix. Aber Gunolt sollte mich gerüstet finden. Die letzten Tage hatten mich stark aus dem seelischen Gleichgewicht gebracht. Heute fühlte ich mich frisch. Ich fürchtete den Kampf nicht …! – –

Gunolt und ich schritten dem Pavillon zu.

Der Kommissar sprach über Spalierobst. Er verstand von allem etwas.

„Ich staune,“ sagte ich. „Sind Sie mal bei einem Gärtner in der Lehre gewesen?“

„Drei Monate, Doktor. Aber – innerhalb meines Berufes. Ich mußte den Gärtnerburschen auf einem großen Gut spielen, wo die Frau des Besitzers unter etwas eigentümlichen Umständen Selbstmord verübt hatte – durch Einatmen von Acetylengas. Das Gut hatte eine eigene Beleuchtungsanlage. Ich brauchte drei Monate, um den Gatten der Toten des Mordes zu überführen. Er hatte eine Liebschaft mit der Erzieherin seiner Kinder. – Vielleicht werde ich bei Barks auch bald eine Anstellung suchen …“

Ich vertrat ihm den Weg. Wir standen uns ganz dicht gegenüber.

„Was heißt das, – was wollen Sie hier bei meinen Schwiegereltern?“ fragte ich, den Erregten spielend. „Ich muß endlich Klarheit haben, Herr Kommissar. So geht das nicht weiter. Sie scheinen mir jetzt da eine Spur zu verfolgen, die …“

Er legte mir schwer die Hand auf die Schulter. Sein scharfgeschnittenes Gladiatorengesicht war düster und ernst.

„… eine Spur, die auch Sie bereits bemerkt haben,“ beendete er meinen Satz. „Oder – wollen Sie das leugnen, Herr Doktor?!“

Er war wieder stärker als ich. Ich hätte zupacken, ihn würgen mögen, hätte – hätte … – Ich fühlte eine furchtbare Wut gegen diesen Mann in mir hochquellen wie eine Welle betäubenden Dunstes! Ich merke, wie meine Finger sich krampfhaft öffneten und schlossen –. Und doch stand ich still und stumm vor ihm – machtlos, willenlos … Nicht einmal eine schnelle Erwiderung fand ich.

Und deshalb hatte ich auch – verspielt! Auf Worte, die den von mir begonnenen Satz vollendeten, hätte die Antwort Schlag auf Schlag fallen müssen, – etwa: „Ich verstehe Sie nicht! Ich muß Sie doch sehr bitten, sich klarer auszudrücken …!“ Dann hätte ich Zeit gefunden, mir mein ferneres Verhalten zurechtzulegen –.

So aber, – so?! – Mein Schweigen war in dieser Lage mein „Ja“.

„Gehen wir weiter,“ meinte Gunolt.

Wir gingen. Er erzählte von dem Selbstmord mit Azetylen, der – ein Mord war. Von der Erzieherin war der Plan gekommen, der Gutsbesitzer hatte dem eigenartigen jungen Reiz blindlings gehorcht.

„Auch so etwas wie Hypnose,“ sagte er lebhafter. „Ein Mann in reiferen Jahren, der einem solchen Weibe ganz verfallen ist durch den Zwang nie zur Ruhe kommenden Begehrens, hat zwar keinen Anspruch auf den Strafausschließungsgrund des berühmten Paragraphen 51 – krankhafte Störung der Geistestätigkeit und so weiter –, aber – als voll zurechnungsfähig ist er doch nicht zu betrachten. Jene Erzieherin war ein Teufel, eines von jenen Weibern, für die die Folter wieder eingeführt werden sollte. Denken Sie, er hat sie zu schützen gesucht bis zum letzten Augenblick, hat alles allein auf sich genommen. Hätte ich die beiden nicht mal nachts belauscht, wäre der Scharfrichter um einen Henkerlohn gekommen. – Nun wissen Sie, weshalb ich von dem Spalierobst anfing. – Hier liegt die Sache natürlich anders, Herr Doktor. Und doch haben die beiden Fälle eine gewisse Ähnlichkeit. – Weshalb suchen Sie Beatrix zu schützen?“

Mein Gelehrtenhirn nützte diesem Mann gegenüber nichts – es versagte. Die alten Assyrer waren leichter zu behandeln …

Ich wollte schon wieder stehen bleiben, den maßlos Erstaunten vortäuschen, aber – ich gab es auf.

Wir waren gerade an der Treppe des Pavillons angelangt. Gunolt sagte: „Bitte!“ und ließ mir den Vortritt.

Langsam stieg ich Stufe für Stufe empor. Ich erinnerte mich. Dort hatte ich gesessen, nachdem ich aus der Ohnmacht erwacht war, dort hatte ich am Geländer gelehnt und Gunolt mir gegenüber, und er hatte die Worte gesprochen, die mich wie das Geplapper eines Irren getroffen hatten: „Sie sind der Mörder nicht, Herr Doktor …!“

Das alles erschien er jetzt wie ein Traum, an den man nach Jahren wieder denkt, – wie ein Traum –. Ich mußte mich geradezu zu dem Gedanken zwingen: „Es ist Wirklichkeit gewesen!“ mußte mir die Kapelle auf dem Friedhof vergegenwärtigen, ein entstelltes Totenantlitz, um wieder glauben zu lernen, daß Heliante nicht mehr war – –. In dem Moment, wo jetzt meine unsichere Hand nach dem Drücker der Pavillontür faßte, – in dem Moment, das will ich hier hervorheben, packte mich zum ersten Male die Angst vor mir selbst, vor der Unausgeglichenheit meines Empfindungslebens, meines ganzen Charakters, – da hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, als ob nicht nur die harmlose Naturerscheinung des Regens eine völlige Umwandlung meines Ichs hervorbringe, sondern als ob auch unter gewöhnlichen Umständen etwas Zwiespältiges in mir wohnte, mich beherrschte – etwas, vor dem ich ein Grauen empfand.

Das Grauen …! Ich habe es später noch oft kennen gelernt –, später, als – ich gegen Beatrix kämpfte – –.

Wir traten ein. Gunolt wies auf den Gartenstuhl. Es war derselbe wie damals, derselbe, auf dem ich gesessen, von dem ich ohnmächtig herabgeglitten war.

Gunolt lehnte sich an die Mauer – wie damals.

„Weshalb suchen Sie Beatrix zu schützen?“ fragte er nach einer Weile.

Ich starrte auf den buntgemusterten Bastteppich. Einem anderen wäre jetzt vielleicht das Bild der Toten erschienen … Ich sah ein Bild. Aber der Teppich wurde zur blumenbesprenkelten Wiese –. Ein junges Weib hatte sich ins Gras gestreckt –. Und trunkenen Blickes stand ich vor so viel lockender Jugend und Schönheit …

Das – das war doch Heliante gewesen – dort auf dem ländlichen Besitz der Barks in Pommern, – vor vier Wochen etwa –. Heliante –? – die hatte es ja gegeben für mich - Beatrix war’s – Beatrix, die ich liebte, nach der ich mich sehnte, die ich – liebte –liebte – liebte –.

Und da kam mit der abermals schnell hochsteigenden Wut gegen den, der mir Beatrix vielleicht rauben und der sie den Schergen ausliefern wollte, gleichzeitig eine kaltblütige Ruhe über mich, die alle Angst von mir nahm. Da vermochte ich sehr echt aufzuspringen, den Stuhl auf den Boden zu stoßen und zu rufen: „Herr, wollen Sie etwa meine Schwägerin beschuldigen, diejenige zu sein, die den Grauen sich zu Diensten machte?!“

Gunolt schaute mich mit eigentümlichem Blick an.

„Sie sind mir ein Rätsel, Doktor,“ sagte er kopfschüttelnd.

„Bitte „Herr“ Doktor – „Herr“!“ brauste ich auf. „Ein Mann, der einem so unsinnigen Verdacht nachgeht, nur um –.“

Er hatte eine unerhört selbstbewußte Art, einem durch eine Handbewegung Schweigen zu gebieten.

„Mich täuschen Sie nicht,“ sagte er leise, als spräche er einem Kranken gut zu. „Mich nicht, Doktor! In ihrem Verhalten ist etwas, das stutzig macht. Es paßt nicht zu Ihnen. Sie haben Ihre Braut fraglos über alles geliebt. Sie schrien: „Rache, Rache –!“ Boten sich mir als Verbündeter an –. Und jetzt – jetzt – ich begreife Sie nicht, denn Sie wissen ja ebenso gut wie ich, daß Ihre Schwägerin bei diesem Mord eine höchst unklare Rolle spielt. – Soll ich Ihnen die einzelnen Belastungsmomente aufzählen? –: Sie verschweigt erst, daß sie den Grauen gesehen hat. Ich muß Sie zu diesen Angaben zwingen. Vorher schon die Szene auf der Diele mit Ihnen, die Begrüßungsszene – die –.“

„Sparen Sie sich das alles,“ unterbrach ich ihn schroff. „Sie klammern sich an Tatsachen, die ganz belanglos sind. Wenn Sie –.“

Wieder die Handbewegung.

„Ich möchte so gern herausbringen, Doktor,“ sagte er, „ob etwa Beatrix in den letzten Tagen mit Ihnen häufiger allein gewesen ist, ob sie also Gelegenheit gehabt hat, Sie zu – hypnotisieren, – denn Sie sind ganz sicher sehr empfänglich für Suggestion, sehr –!“

Ich prallte zurück. Mich packte geradezu ein lähmendes Entsetzen. Ich stand eine Weile weit vorgebeugt da, nachdem ich erst einen Schritt zurückgewichen war …

Heliante – Beatrix, – verschmolzen in eins; nur die Lebende noch, der meine Gedanken galten –! – War das nicht wie ein unfaßbares Wunder?! Und nun hier aus Gunolts Mund die Erklärung: „Hypnose – Seelenzwang – mein Wille tot –!“

„Ich habe ihn Beatrix’ Zimmer viele Werke über Suggestion und ähnliche Gebiete der Seelenkunde gefunden,“ fuhr Gunolt wieder mild und leise fort. Mild! – ich fühlte, er sprach zu mir als Freund, der mir das Schwere liebevoll beibringen wollte. „Ich weiß noch mehr, Doktor. Beatrix ist an jenem Abend, als Franz Orskes angebliche Schwester die Sachen von der Kremk abholte, nicht zu Hause gewesen, sondern hat einen medizinischen Vortrag in der Aula der Universität sich anhören wollen, wie sie auch der Pförtnerfrau anvertraute. Sie trug Lodenmantel, Lackhut. Beides gehörte Heliante, wie Ihnen bekannt sein dürfte. Orskes Schwester ist Beatrix – dieselbe Beatrix, die uns vorhin belauschte, die Sie warnten, die Sie – hypnotisiert hat, die Sie liebt –!“

Ich taumelte wie ein Trunkener nach dem Stuhl, sank darauf zusammen, kraftlos, – wieder einer Ohnmacht nahe. Das war die Gewißheit –: Beatrix – die Schwester –!

Gunolt trat zu mir. Ich fühlte seine Hand auf meiner Schulter.

„Seien Sie ein Mann, Doktor! – Hinter einer reizenden Larve verbergen sich oft wahre Ungeheuer. Denken Sie an die Erzieherin, die für das Acetylengas auf dem Schafott büßte. Ich sagte ja, die beiden Fälle haben eine gewisse Ähnlichkeit. Nur – daß Sie nicht das Werkzeug waren, sondern – der Graue! – Wir werden jetzt wohl wieder gute Verbündete sein, Doktor, – nicht wahr?“

Ich nickte matt.

„Werden Sie mir helfen, Beatrix ihrer gerechten Strafe zuzuführen?“

Wieder nickte ich nur.

„Sehen Sie mich an!“ sagte Gunolt da plötzlich befehlend.

Ich blickte zu ihm auf. Er hatte sich zu mir herabgebeugt, fragte nun:

„Sie wollen also Heliante rächen?“

„Ja – ich will!“

Ich sah, wie erstaunt er war, – geradezu fassungslos. Er schüttelte den Kopf.

„Ich habe mich doch getäuscht, Doktor –“

„Inwiefern?“

„Beatrix kann Sie nicht hypnotisiert haben, daß Sie die Tote vergessen sollen. Diese Annahme trifft nicht zu.“

Ich schwieg, war jetzt ebenso fassungslos wie er vor Sekunden.

„Nein – an Ihnen hat Beatrix ihre Künste nicht versucht,“ fuhr er fort. „Wäre das der Fall, so würden Sie auch weiter hartnäckig für Beatrix eingetreten sein, hätten mir nie geglaubt, daß wir hier auf der richtigen Fährte sind, denn es ist ja ausgeschlossen, daß sie Ihnen in der Hypnose nur befohlen hat: „Vergiß die andere, liebe mich –!“ – Nein, sie hätte Ihnen bei ihrer Intelligenz fraglos auch ganz genaue Verhaltungsmaßregeln gegeben, um sich selbst durch Sie schützen zu lassen. Das ist nicht geschehen, und dies beweist mir, daß ich mich geirrt habe.“

„Sie haben sich dennoch nicht geirrt,“ sagte ich sehr bestimmt mit vor Erregung bebender Stimme. Und ich schilderte ihm, in wie seltsamer Weise seit jener Szene am offenen Sarg Heliantes die Persönlichkeiten der Schwester unmerklich immer mehr mir zu einer einzigen verschmolzen waren.

Wieder schaute er mich so prüfend an, reichte mir die Hand, erklärte:

„Durchforschen Sie Ihr Inneres, Doktor, recht genau! Ist Heliante wieder – Heliante für Sie geworden?“

Ich senkte den Kopf. Ich prüfte mein Herz, ich vergegenwärtigte mir die Tote, wie sie da vor mir mit den Rosen in der Hand und dem Lächeln auf den Lippen gelegen hatte.

„Ich bin mir meiner Sache nicht sicher, Gunolt. Aber mir scheint, die Gestalten lösen sich, beginnen sich zu trennen –.“

Ich preßte seine Hand, stand auf, blickte ihn flehend an:

„Helfen Sie mir, Gunolt –. Ich fürchte mich ja vor mir selbst. Es ist da etwas Fremdes in meiner Brust, das ich nicht begreife, nicht – mit Worten bezeichnen kann –. Helfen Sie mir, – denn das Grauen ist wieder da –.“

Mein Gesicht muß wohl beinahe entstellt ausgesehen haben. – Er beobachtete mich wie der Arzt den Kranken, schob dann seinen Arm in den meinen und führte mich in den Park hinab.

„Sprechen wir jetzt über diese Dinge nicht mehr, Doktor,“ meinte er herzlich. „Sie müssen sich erst beruhigen. Lassen Sie sich aber niemandem gegenüber etwas anmerken, besonders nicht – „ihr“ gegenüber.“

Er nahm mich dann nachher sofort mit, sagte zu Barks, wir wollten noch ein Stück spazieren gehen.

 

12. Kapitel.

Er und Heliante.

Als wir die Straße betraten, kam hinter uns ein stutzerhaft gekleideter Mensch her – Heller, Wachtmeister Heller.

„Was gibt’s?“ fragte Gunolt gespannt, als Heller uns ansprach. „Vor Herrn Dogmoore brauchen wir keine Geheimnisse zu haben.“

Was der Kriminalwachtmeister berichtete, war seltsam genug. –

Seit einem halben Jahr waren in Berlin verschiedene Diebstähle vorgekommen, bei denen man weder den Täter hatte erwischen können, noch ein Stück der Beute – zumeist Goldsachen und Brillantschmuck, irgendwo, vielleicht bei Hehlern, hatte auftreiben können. Diese Diebstähle – die Geschädigten waren Angehörige der ersten Gesellschaftskreise, und die Beute des Diebes stellte einen Wert von nahezu einer Million dar – waren in den Schleier eines undurchdringlichen Geheimnisses gehüllt. Die Zeitungen hatten darüber lang und breit berichtet, die Kriminalpolizei hatte eine fieberhafte Tätigkeit entwickelt, nichts war versäumt worden, um den schlauen Verbrecher, der sich stets vorher aufs Genaueste über die Gewohnheiten seiner Opfer und die Örtlichkeit unterrichtet haben mußte, zu fangen. Die Presse half der Polizei, so gut sie konnte. Selbst deren Leser beteiligten sich an den Nachforschungen. Alles umsonst. –

In ganzen handelte es sich um sechs Diebstähle. Die wertvollste Beute hatte der Dieb - denn man war längst überzeugt, daß es sich nur um eine einzelne Person und zwar wahrscheinlich um einen auf Abwege geratenen Zugehörigen der gebildeten Stände handeln müsse – bei Bekannten der Familie Bark, dem unlängst geadelten Geheimen Kommerzienrat vom Schönholz, gemacht: ein Brillantkollier, das auf eine viertel Million geschätzt wurde. – –

Und nun erzählte uns Heller – unsere erstaunten Gesichter waren nur zu berechtigt! – daß jenes Kollier heute morgen als Wertpaket durch die Post wieder in den Besitz der Frau vom Schönholz gelangt wäre, und daß auch zwei weitere Opfer des geheimnisvollen Diebes auf dieselbe Weise ihr Eigentum zurückerhalten hätten. –

Gunolt hatte uns inzwischen bis vor das Restaurant „Hundekehle“ geführt.

„Ich denke, wir setzten uns in den Garten und leisten uns ein Glas Waldmeisterbowle, die letztens ganz vorzüglich war,“ sagte er.

Wir nahmen an einem abseits stehenden Tisch Platz, Gunolt bestellte, hielt uns seine Zigarrentasche hin und schnitt sorgfältig die Spitze von einer langen Holländer ab.

Bisher hatte er sich zu Hellers Bericht in keiner Weise geäußert. Er sprach jetzt über Fingernägel. Ich wunderte mich nicht weiter darüber. Als er vorhin bei Barks über Spalierobst mir einen kleinen Vortrag gehalten hatte, war nachher der Mord mit Gas das Ende jener Ausführungen gewesen.

Der Kellner brachte das Bestellte. – Und Gunolt fuhr fort:

„Das Einzige, was wir als Merkmal von den geheimnisvollen Dieb besitzen, ist ein abgesprungener Fingernagel, – abgesprungen beim Aufbrechen des Schmuckkastens der Frau Professor Germattel. Ich sagte vorhin, daß Fingernägel ihre Eigentümlichkeiten haben. Auch dieser abgesprungene. Er ist sehr spröde, spitz zugeschnitten, zeigt, daß der Dieb auf Handpflege Zeit verwendete und daß er die Nägel polierte. Also ein Mensch mit verfeinerten Lebensgewohnheiten wie auch – Franz Orske.“

Heller nickte lächelnd. „An den habe auch ich gleich gedacht,“ meinte er bescheiden.

„In dem Koffer wird der Dieb seine Beute verschlossen gehalten haben,“ fügte Gunolt hinzu, indem er seine langen Holländer im linken Mundwinkel zu den mehr gemurmelt Worten wippend den Takt schlagen ließ. „Wir müssen den Koffer finden. Er wird irgendwo auf einem Bahnhof in der Handgepäckaufbewahrungsstelle stehen. Anderswo konnte die Schwester ihn nicht unterbringen, denke ich mir.“

Daß Heller eingeweiht waren, sah ich jetzt.

Er sagte nämlich sofort: „Ganz meiner Ansicht. Wer zu einem Vortrag nach der Universität geht, darf nicht mit einem Koffer nach Hause kommen.“

Ich zuckte trotzdem leicht zusammen, denn diese Worte bezogen sich ja auf Beatrix.

Gunolt qualmte dicke Wolken.

„Vieles ist noch unklar bei alledem,“ meinte er mit leicht gerunzelter Stirn. Dann wehte er den Rauch mit der fächelnden Hand weg. „Wir wollen uns aber nicht in Einzelheiten verlieren. – Die Schwester wird jedenfalls nie so unvorsichtig gewesen sein, etwa ihrem Werkzeug, dem Grauen, den Koffer anzuvertrauen. Ich behaupte sogar, daß dieser Mann in normalem Zustand, das heißt, wenn er nicht unter hypnotischem Einfluß steht, gar nichts von dem Absteigequartier weiß, ebenso wenig natürlich von den Einbrüchen und dem Mord. Ich habe mich schon einige Male mit den merkwürdigen Wirkungen der Hypnose beschäftigen müssen. Die Wissenschaft ist längst einig darüber, daß der Befehl des Hypnotiseurs, der unter seinem Einfluß Stehende solle gewisse Handlungen oder Tatsachen vergessen, bis zur äußersten Konsequenz von dem Hypnotisierten befolgt wird, das heißt, es wird ein teilweises Versagen des Gedächtnisses durch diese Art von Willensübertragung erreicht. – Dies liegt ohne Zweifel auch bei dem Grauen, dem Werkzeug der Schwester, vor. Diese, doch offenbar ein geistig hochstehendes Geschöpf, wird schon dafür gesorgt haben, daß jener Mann, wenn wir ihn entdecken sollten, aus bester Überzeugung vielleicht beschwören wird, jene Frau gar nicht zu kennen. Und natürlich wird ebenso sein Erinnerungsvermögen an alles, was mit dem Absteigequartier, den Diebstählen und dem Mord zusammenhängt, künstlich durch Suggestion ausgelöscht worden sein. In dieses Mannes Wohnung also etwa mangels eines anderen passenden Verstecks den Koffer abgesetzt zu haben, dazu ist die Schwester viel zu vorsichtig gewesen. Dritte Personen hätten ihn dort bemerken können, hätten fragen können: „Woher – wem gehört er?“ Und der Mann hätte dazu nur schweigen oder aber ein Märchen erzählen müssen, daß ihm für diesen Fall vorzubringen befohlen war. Unter allen Umständen wäre dies gefährlich gewesen. Wir wissen ja nun aus Erfahrung, daß die Hauptgepäckaufbewahrungsstellen gern als Versteck für unredliches Gut benutzt werden.“

Heller räusperte sich.

„Ich habe bereits Befehl gegeben, den Koffer suchen zu lassen,“ meinte er. – Also auch er war auf denselben Gedanken wie Gunolt gekommen.

Sein Vorgesetzter nickte Heller anerkennen zu.

„Wie denken Sie über die Diebstähle?“ fragte er ihn dann.

„Probeverbrechen,“ erwiderte der stutzerhafte Wachtmeister kurz.

Ich verstand nicht sofort. Gunolt wurde deutlicher. –

„Ganz recht – Probeverbrechen! Die Schwester hat ihrem Werkzeug die Ausführung dieser Einbrüche befohlen, um zu prüfen, wie weit jener Graue in der Hypnose blindlings gehorchte und ob er sich auch für noch ernstere Befehle eignete. – Die Diebstähle sind nicht aus Eigennutz verübt. Die Beute ist nicht zu Geld gemacht worden. Jetzt werden einzelne Stücke davon sogar den Besitzern zurückgegeben. Die Schwester muß sich sehr sicher fühlen. Sie braucht die Kleinodien nicht. Der Zweck ist ja erreicht. Sie sind ihr lästig. Also – schickt sie sie anonym zurück. Aber gerade dies beweist, daß wir es war mit einer schlauen, aber auch einer recht unerfahrenen Personen zu tun haben. Die Rücksendung der Beute muß doch Verdacht erregen, muß den Eifer der Polizei aufs neue anspannen, in diese dunkle Angelegenheit Licht zu bringen.“

Ich konnte ein qualvolles Aufstöhnen nicht unterdrückten. – Was hatte Beatrix nicht alles getan in ihrer wahnwitzigen Eifersucht, wozu hatte die Liebe sie verführt …?! – Wie ein furchtbarer Traum erschien mir das, was sie mit so viel kaltblütigem Raffinement eingeleitet hatte …! Und am niederdrückendsten für mich: Um meinetwillen all das, – aus Liebe zu mir …!! –

Ich kam mir wie ihr Mitschuldiger vor. Ich glaubte Stimmen zu hören, die mir zuraunten: „Heliante starb deinetwegen …!!“ Und da entschlüpfte mir das dumpfe Stöhnen, da mag mein Gesicht all die Seelenqual deutlich wiedergespiegelt haben …

Gunolt legten mir herzlich die Hand auf den Arm.

„Doktor, – seien Sie ein Mann!“ sagte er warm. „Sie müssen stets daran denken, wie die Tote damals im Pavillon vor Ihnen lag, herausgerissen aus jungfrohem Leben, ein Bild der Gesundheit, ein Bild der Glücksverheißung für Sie, den sie liebte … – Das wird Sie stark machen. Die andere ist – eine berechnende Mörderin, nichts weiter …!“

Ich starrte an ihm vorbei über den leuchtenden Spiegel des kleinen Sees … Ich sah dort Heliante über dem Wasser schweben, – Heliante – mit Rosen in der Hand – mit gebrochenem Blick – lächelnd – selig lächelnd …

Ich erinnerte mich an die weiße Bank im Park.

Heliante hält mir die Augen zu, küßt mich – küßt mich …

Es war wieder Heliante, deren Lippen ich auf den meinen zu fühlen wähnte, – – nicht die andere …

„Was sehen Sie?“ fragte Gunolt plötzlich eindringlich.

„Heliante!“ erwiderte ich ohne Zögern und in einem Ton der Freude. Als ich den Namen ausgesprochen hatte, kam mir erst zum Bewußt-sein, daß Gunolt wohl geahnt haben müßte, was ich sah – zu sehen glaubte. Ich schaute ihn überrascht an. Er konnte also noch mehr als nur Gedanken erraten, die im Laufe einer Unterredung unausgesprochen blieben.

„Der Tod Ihrer Braut wird gerächt werden,“ sagte er hart. „Aber – erst müssen wir ihn haben, ihn, den Grauen.“

Da erhob sich in mir wieder jene Stimme, die schon einmal so wild nach Rache geschrien hatte.

Gunolt hatte ihn erwähnt, ihn hervorgehoben. Und er war für mich noch immer weit mehr der Gegenstand heißen Rachegelüstes als … die Schwester, mochte diese auch den Arm gelenkt haben, der den Stoß ausführte. Für mich blieb er mein wahrer Todfeind …

Seltsame Gedanken schossen mir plötzlich durch den Kopf … Die Rosen – das Lächeln –!! – Gunolt schien beides vergessen zu haben, auch, daß er erklärt hatte: „Das Opfer muß den Täter gekannt haben …!“ – Hier war ein Punkt, von dem ich ausgehen wollte bei der Jagd nach ihm!! Für die Gesetze war er nicht zu fassen, – nein! Er hatte ja den Paragraphen 51 zur Seite …! – Aber ich würde ihn fassen, würde ihn fragen: „Wie standest du zu Heliante, daß sie den Todesstoß von deiner Hand lächelnd hinnahm, – was warst du ihr, bevor sie mich küßte, – küßte und mir die Augen zuhielt, als ob … als ob sie an einen anderen dabei denken wollte …“ –

Nie gedachte Gedanken flogen mir zu wie giftige Pfeile …

Vieles fand ich plötzlich heraus, was in dem Verhalten Heliantes mir gegenüber merkwürdig gewesen … Da waren winzige Kleinigkeiten, von mir bisher nie beachtet, nie kritisch geprüft … Nun ballten sie sich mit einem Mal zusammen, wuchsen zur Lawine an, preßten mein Herz, das alles daraus entschwand, daß nur die Zweifel blieben … Hatte Heliante mich wirklich geliebt …?! – – Mein Gott, – – wo geriet ich hin …, wo – wo – –?!

Ich schüttelte Gunolts teilnehmende Hand ab, sprang auf …

„Ich muß allein sein, meine Herren, – entschuldigen Sie mich …!“

Ich rannte davon – – ich lief! Aber die Gedanken blieben um mich wie ein Mückenschwarm bei Gewitterluft …

 

13. Kapitel.

Bei mir daheim …

„Wenn du die Wahrheit erfährst, die volle Wahrheit, Allan, wirst du entweder dein Leben im Irrenhaus beschließen oder dir eine Kugel in den Kopf jagen,“ sagte Beatrix leise, während ihre Stimme dabei so weich und tränenschwerer war, wie ich sie nie gehört habe.

Ein stummes Flehen klang durch ihre Worte, deren unglaublicher Inhalt mich geradezu erstarren ließ in bangem Entsetzen.

Sie erhob sich, reichte mir die Hand.

„Leb wohl, Allan!“ sprach sie ebenso leise, ebenso weich. „Ich habe einen schweren Weg vor mir. Ich weiß das. Aber ich will ihn gern gehen. – Leb wohl!“

Meine Finger umschlossen ohne Druck die ihren.

Augen schauten mich an, in denen eine ganze Welt von schmerzlicher Hingabe lag …

Ich wollte die Augen nicht sehen …

„Mörderin – arme Mörderin!“ dachte ich. „Ich bedaure dich …“

Eine Tür fiel ins Schloß. Ich war allein. –

Das war das Ende dieser Unterredung.

Und er Anfang? – Ich war wie gehetzt nach Hause gestürmt. Ich besaß ja Briefe von Heliante – ein ganzes Päckchen. Vielleicht täuschte mich mein Gedächtnis … Vielleicht sah ich das, was mich an Heliante irre machte, aus irgendwelchen Gründen in der Verzerrung … das geschriebene Wort war zuverlässiger. Die Briefe sollten mir ein Spiegelbild von Heliantes Empfindungen geben, – gerade die, die sie mir noch als dem guten Freund geschrieben hatte, gerade die … In diesen Plaudereien hatte sie sich ehrlich gegeben. Sie waren ja an den Privatdozenten gerichtet, nicht an den Mann … –

Ich kam heim, fand – Beatrix vor.

Ich blieb an der Türe stehen.

„Was willst du hier?“ –

Das war unhöflich, grob. Aber es war ehrlich.

Sie saß im tiefen Klubsessel am Fenster, hatte nur den Kopf nach mir hin gedreht …

„Ich muß dich sprechen, Allan,“ sagte sie ernst, fast traurig.

„Und dazu mußt du zu mir kommen, Beatrix?! – Du weißt, wie leicht die Menschen …“

Sie zuckte die Achseln, unterbrach mich: „Die Menschen!!“ Sehr ironisch klang es. „Die Menschen!! Sie werden mich ohnehin bald … doch nein, – nicht so! – – Setz’ dich hier zu mir, Allan. Ich bitte dich dringend darum.“

Ich saß dann ihr gegenüber an meinem bequemen Schreibtisch. Das volle Licht des Fensters fiel auf sie. Den Trauerschleier hatte sie hochgeschlagen …

Heliantes Haar … Auch Heliante Stimme. Und Asra-Parfüm – dieser Duft, der an ein Meer tropischer Blüten erinnerte, an Liebespaare, braune Leiber, die unter exotischen Bäumen wandeln, an Wundernächte des Orients …

Aber – es war nicht mehr Heliante. Es war die, die mich zu Liebessehnsucht gezwungen hatte, die, deren Wille den Geist von Männern unterjochte …

Ich saß zurückgelehnt da, kühl abwartend. Mein Blick traf die Schlummerrolle, die mir Heliante geschenkt hatte. Ein originelles Kunstwerk, eine indische Seidenstickerei … Beatrix’ linker Arm ruhte darauf. Und ich sah, daß sie … Ringe trug, blitzende Brillanten, daß die Fingernägel rosig schimmerten und glänzten … – Sie hatte die Nägel poliert, sie, die Medizinstudentin …

Feindseligkeit quoll in mir auf. Beatrix wollte jetzt nur Weib sein, zur Liebe, zum Glück bereit. Die Studentin war abgetan … – um meinetwillen!

Ich presste die Lippen zusammen, dachte an Gunolt: „Seien Sie ein Mann …!!“

Ich war es. Ich besaß ja Energie. Hatte mich durchgesetzt in meinem Fach trotz aller Widerstände. Eine Professur winkte mir … –

In Beatrix Antlitz war ein merkwürdiger Ausdruck. Etwas Müdes, Träumerisches, Entsagungsvolles.

Komödie?! – fragte ich mich. – Ja, – sie schauspielerte, das verstand sie sicher sehr gut. Und natürlich war sie zu mir gekommen, um den schlechten Eindruck zu verwischen, den sie als heimliche Horcherin bei mir hervorgehoben haben mußte.

Ich war gespannt, was sie zu ihrer Entschuldigung vorbringen würde.

Sie schaute noch immer mit weltverlorenem Blick geradeaus durch das Fenster.

Und dann begann sie, – und ich traute meinen Ohren nicht:

„Allan, deine Familie stammt aus Schottland. Auch die Frauen eures alten Geschlechtes waren bis auf deine Mutter reinblütige Kinder dieses Landes. Weshalb eigentlich wanderte dein Vater nach Deutschland aus, weshalb seid ihr seit einem Vierteljahrhundert Deutsche?“

„Ich kenne die Gründe nicht,“ erwiderte ich zögernd. Und fügte hinzu: „Dazu hättest du nicht gerade einen Junggesellen in seiner Wohnung aufzusuchen brauchen, Beatrix – das hättest du auch bei anderer Gelegenheit fragen können.“

Sie lächelte – so ein wehes Lächeln, das mir trotz allem, was ich wußte, ins Herz schnitt.

„Hast du nie nach diesen Gründen gefragt?“ forschte sie weiter.

Ich antwortete nicht gleich. Dann: „Ja – aber meine Mutter erklärte mir, ich solle diese Dinge unberührt lassen.“

Seltsam –! Sie nickte jetzt, als wollte sie sagen: „Ich dachte mir das …“

„Weißt du denn etwas über das Geheimnis, das über dem Verschwinden meines Vaters schwebt?“ fragte ich nun meinerseits.

„In dieser Frage liegt ungewollt eine Antwort auf das vorige,“ meinte sie, immer in derselben müden Art. „Ich bat um die Gründe für eure Niederlassung in Deutschland, und du sprichst darauf von deinem Vater, der eines Tages nicht wiederkam, der von euch ging ohne ein Wort des Abschieds, dessen Leiche die Polizei gesucht hat, da man in ihm das Opfer eines Verbrechens vermutete. –

Das hast du uns ja gelegentlich anvertraut. – – Du bringst also den Wechsel eures Wohnsitzes mit diesem späteren Verschwinden deines Vaters in Zusammenhang?“

„Was soll das alles, Beatrix?!“ Ich lachte kurz auf. „Ich bin nicht in der Stimmung, diesen alten Geschichten nachzugehen – wahrhaftig nicht.“

Der Leidenszug um ihren Mund prägte sich schärfer aus.

„Traust du mir bloße Neugier zu, Allan?“

Am liebsten hätte ich erwidert: „Ich traue dir alles zu!“ Aber Gunolts Worte fielen mir zur rechten Zeit ein … „Lassen Sie sich nichts merken!!“ –

Ich zwang mich zu einem freundlichen Ton.

„Beatrix – wollen wir doch all diese Nichtigkeiten beiseitelassen! Was mich heute schwer enttäuscht. – Weshalb horchtest du in der Bibliothek?“

Sie streichelte verlegen die Schlummerrolle mit der dicken, seltsamen Stickerei, die wie menschliches Haar an einer Stelle aussah und doch ein Stück frisch beackerten Feldes darstellen sollte.

„Lediglich aus Interesse an der Sache, Allan!“ sagte sie dann. „Gunolt tut so geheimnisvoll. Wir werden ganz im unklaren gelassen. Erwin macht das nichts aus. Ich bin nicht die Natur, die sich als Kind behandeln läßt, dem man Dinge vorenthält, die ihm besser ruhig mitgeteilt werden sollten.“

Das kam so natürlich, so ungezwungen heraus. Hätte Gunolt mir nicht die Augen geöffnet, so wäre ich durch diese Erklärung befriedigt gewesen.

„Sehr unvorsichtig von dir!“ meinte ich. „Wie hättest du wohl vor Gunolt gestanden, wenn auch er dich oder besser deinen Schatten bemerkt hätte?!“

„Er hat mich nicht bemerkt?“ fragte sie langsam und schaute mich dabei an.

„Nein.“ Die Klangfärbung gelang mir. Sie mußte an dieses „Nein“ glauben.

Und doch, ein Seufzer schlüpfte über ihre Lippen. Ihr Kopf sank tiefer. Und wie zu sich selbst sagte sie ganz leise:

„Verspielt – verspielt!“

Sie war mir ein Rätsel. In ihrem ganzen Verhalten war etwas, das den Glauben an Gunolts Theorie, an „die Schwester“, ins Wanken brachte. – – War das da vor mir ein Weib, das Mordbefehle gab …?! Konnte hier nicht ein Irrtum vorliegen, könnte nicht lediglich ein Scheinverdacht gegen Beatrix bestehen …?! Wie oft schon waren Unschuldige infolge einer dunklen Tücke des Schicksals in eine Sache mitverstrickt worden …! – Wieder schlichen die Zweifel auf mich zu wie häßliche Schlangen, wanden sich an mir hoch …

Fort damit – fort!! – Komödiantin – – nichts weiter!! – Sei ein Mann, Allan Dogmoore!! Das Astra-Parfüm wirkt … die Sehnsucht will dich betrügen, deine Sinne regen sich, treiben ein lügnerisches Spiel mit dir …! – –

„Verspielt …!“

„Was soll das nun wieder, Beatrix?! – Du quälst mich. – Sprich – wozu kamst du zu mir?“

Da nahm sie meine Rechte, sich weit vorbeugend, in ihre Hände, ihre Augen schwammen in feuchtem Glanz; Tränen – – Tränen!! – Und ihre Stimme war beschwörend, eindringlich, warm und voller Herzlichkeit.

„Oh, Allan, höre auf mich! Du bist durch Heliantes Tod so tief in deiner Seele erschüttert worden, daß du dir eine Weile völlige Ruhe gönnen mußt. – Allan – ich bitte dich in deinem eigenen Interesse: Geh in ein Sanatorium! Ich kann dir das des Professors Merkel empfehlen. – Allan – ich bitte dich – tu’s, tu’s wirklich, ehe es zu spät ist!“

Ich schüttelte ihre Hände ab, erhob mich schnell, – genau so, wie vorhin unter den grünen Linden in „Hundekehle“.

„Merkel? Professor Merkel?! – Das ist ja eine Heilanstalt für Nervenkranke! Was soll ich denn da …?!“ rief ich. „Ich habe hier Besseres vor. Ich stelle dem Grauen nach, Beatrix, – dem Grauen – ihn – ihn …!!“

Ihre Gestalt sank in sich zusammen. Ein Bild der Verzweiflung sah ich vor mir. – Natürlich – natürlich, sie wollte mich fortjagen von hier, – sie … fürchtete mich! Fürchtete auch, daß der Kampf, den sie um ihre Freiheit mit Gunolt ausfocht, der ja ihr schlimmster Gegner war, ihr durch meine Gegenwart erschwert werden könnte …!! – In ein Sanatorium …!! – – Wieder besann ich mich zur rechten Zeit auf das, was meine Pflicht war: „Vorsicht Beatrix gegenüber …!!“

Und ich stützte mich auf die Lehne des Schreibtischstuhles und sagte freundlicher:

„Ich kann jetzt hier nicht fort – wirklich nicht. Du machst ja um mein Wohlergehen besorgt sein, aber – – so schlimm steht es denn doch nicht mit mir!“

Ihrer Erwiderung war abermals seltsam genug.

„Weißt du, daß deine Mutter an Heliante geschrieben hat, noch bevor ihr euch verlobtet?“

Ich starrte sie unsicher an.

„Ja, ich weiß es,“ sagte ich. –

Ich – wußte es nicht …!! Und ich fuhr fort:

„Ich muß diesen Mord aufklären, Beatrix, muß! Eher finde ich keine Ruhe …! Ich – – will Gewißheit haben!“

Sie schwieg eine lange Weile, bis er gellende Pfiff einer vorüberfahren Lokomotive sie zusammenzucken ließ.

Und dann stand sie auf … dann –:

„Wenn du die Wahrheit erfährst, die volle Wahrheit, Allan, wirst du entweder dein Leben im Irrenhaus beschließen oder dir eine Kugel in den Kopf jagen …!! – –“

Und nun bin ich wieder allein …

Beatrix ist gegangen, hatte mir einen Chor von Gespenstern zurückgelassen …

 

14. Kapitel.

Verhaftet.

Ich bin allein …

Der Klubsessel am Fenster nimmt mich auf. Das dunkelrote Leder ist noch warm vom Körper des jungen Weibes.

Der Klubsessel spielt eine große Rolle in diesem Drama. Wenn die Möbel des Zimmers sich nachts um die Geisterstunde unterhalten, wird er das große Wort führen, sich sogar über den Schreibtisch erhaben dünken …

Ein Gespenst umkreist mich dauernd, raunt mir zu:

„Ich bin das Geheimnis eines alten schottischen Geschlechts, Allan Dogmoore! Schau mich an …!! Ich habe zwei Gesichter, zwei Herzen –! – Denke an den Brief, Allan Dogmoore, den deine Mutter an die schrieb, die du ihr gegenüber deine beste Freundin nanntest. Die Mutter hat diesen Brief verschwiegen, auch die Freundin, die spätere Braut –!!“

Klopfen an meiner Tür verscheuchte das Gespenst.

Gunolt trat ein und setzte sich dann in den Schreibtischstuhl. Er sah ernst aus, sogar etwas feierlich.

„Was bringen Sie, Gunolt?“ fragte ich scheu. Ich ahnte Böses …

„Wir haben den Koffer, Doktor.“

„Ah! – Und …?!“

„Und er enthält das, was ich vermutete. Alles, was „die Schwester“ mitnahm aus dem Absteigequartier und … den Rest der Beute des geheimnisvollen Diebes. Außerdem noch etwas …“

„Und das wäre?“

„Eine Art Tagebuch des Diebes, des Grauen – ein paar Blätter, bekritzelt mit einer Schrift zumeist, die ich nicht kenne – eine alte Schrift, eine sehr alte wohl. Nur einzelnes habe ich daher lesen können. Es genügte. – Das Tagebuch war in einem Geheimfach des Koffers verborgen. Die Schwester hat es dort nicht gefunden. Sonst hätte sie es wohl vernichtet.“

Kann ich diese Aufzeichnungen einmal sehen, Gunolt? Ich verstehe etwas von alten Schriftzeichen.“

„Es ist bereits einem Fachmann zugeschickt worden, Doktor. Aber Sie sollen es gleichfalls prüfen.“

Eine Pause.

Dann ich: „Sie machen ein so ernstes Gesicht, Gunolt. Bringen Sie noch mehr Neuigkeiten?“

„Ja. – Der Koffer ist von der Schwester, die die anderen Sachen während der Fahrt in der Droschke zum Stettiner Bahnhof – dort war der Koffer zur Aufbewahrung abgegeben – noch hineintun und einen Teil der Diebesbeute herausnehmen wollte, nicht mit den Schlüsseln der beiden Patentschlösser geöffnet worden. Sie hat ihn vielmehr aufgebrochen – mit Hilfe eines Stemmeisens, das sie sich von dem Taxameterkutscher lieh, der sie nach dem Bahnhof fuhr. Wir haben diesen ebenfalls entdeckt. Er hat noch andere wertvolle Angaben über die Person der Schwester gemacht.“

Ich winkte dem Kommissar zu, und der schwieg.

„Einen Augenblick, Gunolt … – Sie hat also die Schlüssel zu dem Koffer nicht in ihrem Besitz gehabt, sonst hätte sie doch …“

„Sehr richtig,“ unterbrach er mich. „Sonst hätte sie den Koffer nicht erbrochen und sich nicht auf dem Stettiner Bahnhof von dem Kellner des Wartesaales zweiter Klasse eine dünne Kette und ein Vorlegeschloß gekauft, um den Koffer damit wieder sicher zu verschließen.“

„Und – was hat der Taxameterkutscher über die Schwester ausgesagt?“

„Er hat etwas gerochen an ihr – ein Parfüm – und deshalb habe ich auch ihn vorhin zu Barks mitgenommen – auch ihn, außer der Kremk.“

Ich krampfte meine Finger in das Leder der Seitenlehnen.

„– Zu – zu Barks …?!“

Er nickte. „Ich durfte keine Rücksicht weiter nehmen,“ meinte er. „Ich habe die beiden Personen Beatrix gegenübergestellt. Sie waren sich ihrer Sache nicht sicher. Nur der Kutscher behauptete, Beatrix’ Parfüm sei dasselbe wie das jener verschleierten Dame. – Da mußte sie Lodenmantel, Lackhut und Schleier anlegen, mußte einige Sätze sprechen. – Ich habe sie verhaftet, und Heller bringt sie gerade nach dem Polizeipräsidium.“

Ich knickte zusammen. Alles drehte sich um mich.

Beatrix – verhaftet – verhaftet …!!

Und wie aus endloser Ferne kamen nun Gunolts Worte an mein Ohr:

„Ersparen Sie mir, Ihnen zu schildern, was für Szenen sich bei Barks abgespielt haben. Ihr Schwager hat sich eines ganzen Haufens von Beamtenbeleidigungen schuldig gemacht. Ihre Schwiegermutter fiel in Weinkrämpfe. Und der Geheimrat ist unterwegs zum Justizministerium. Sie alle wollen an Beatrix’ Schuld nicht glauben trotz der so schwer belastenden Beweise. Der Justizminister wird auch nichts ändern können. Ich bin meiner Sache ganz sicher.“

„Und Beatrix selbst?“ stieß ich heiser hervor.

„Leugnete hartnäckig, lachte mich aus, entwickelte eine Ruhe, die mir so recht zeigte, wie verderbt dieses junge Weib sein muß. In dem Hexensabbat bei Barks war sie wohl die gelassenste, tröstete die ihrigen, trug mir auch auf, Ihnen, Doktor, zu bestellen, sie möchten Professor Merkel nicht vergessen …! – Mehr sagte sie nicht. – Was meinte sie damit?“

Ich hatte keinen Grund, Gunolt zu verschweigen, was Beatrix mir vorgeschlagen hatte – zu meinem Besten.

Er schüttelte den Kopf, schaute grübelnd vor sich hin und sagte dann:

„Dieses Weib ist mir ein vollkommenes Rätsel. Sie will Sie zu Merkel schicken?! Mithin hat sie an Ihnen ihre hypnotischen Künste tatsächlich nicht versucht, Ihnen nicht Liebe suggeriert. Merkel wäre ja bald dahintergekommen. Er ist Spezialist für Seelenkunde.“

Wieder schüttelte er den Kopf, murmelte: „Etwas stimmt in meiner Rechnung doch nicht. Schon die Schlüssel, die sie nicht besaß, paßten nicht zum ganzen. Und nun - nun stößt sie uns selbst sozusagen auf hypnotische Beeinflussung durch Merkels Erwähnung …? – Mir gefällt das nicht –. Vielleicht – ein Schachzug, den ich in seiner ganzen Feinheit noch nicht erkenne – – vielleicht –!!“

Gunolt verabschiedete sich gleich darauf, sagte aber noch, bevor er ging:

„Ihre Schwiegereltern mußte ich notwendig darüber aufklären, daß auch Sie Ihre Schwägerin im Verdacht haben, die Anstifterin des Mordes zu sein. Es ließ sich nicht umgehen. Ich rate Ihnen daher, das Barksche Haus fürs erste zu meiden, bis auch dort die Überzeugung gesiegt hat, daß wir im Recht sind.“ – –

Ich war wieder allein …

Das Barksche Haus war mir verschlossen –!! – Nun hatte ich niemanden, mit dem ich mich aussprechen konnte, mußte ich alles mit mir allein durchkämpfen …

Niemand …?! – Ich dachte an meine Mutter.

Da kam die Sehnsucht nach ein paar alten, zittrigen Händen, die über meinen Scheitel hinstreichen würden, nach einer Stimme, die leise flüsterte: „Mein Junge – mein Junge …!!“

Ein volles Jahr hatte ich die Mutter nicht mehr gesehen. Wie würde sie sich freuen, wenn ich plötzlich dort erschien … –

Die Sehnsucht wuchs. – Und weiter dachte ich an den Brief, den Mutter an Heliante geschrieben haben sollte … – Ich mußte wissen, was in diesem Brief gestanden hatte …

Das Gespenst – – das Geheimnis eines alten Geschlecht …!!

Ja – ich würde verreisen – bald – sofort!

Kaum zu dem Entschluß gelangt, wollte ich auch schon mit den Vorbereitungen beginnen.

 

15. Kapitel.

Handtasche und Schlüssel.

Vorbereitungen …?! – Was bedurfte es großer Vorbereitungen, um vier, fünf Tage von Berlin fortzubleiben …?! –

Ich bin etwas pedantisch, etwas umständlich.

Erst hatte ich an den Rohrplattenkoffer gedacht, an zwei Anzüge, reichlich Wäsche usw.

Unsinn! Die alte, gestickte Handtasche genügte. Sie war ein Geschenk der Mutter für den Sohn, der zum ersten Mal als Student ins Semester fuhr. Eine jener Handtaschen, über die man lächelt, wenn man sie mit einem Reisenden sieht. „Aus der Provinz,“ denkt man …

Mutter würde sich freuen über die Handtasche. Und das Lächeln der Leute war mir gleichgültig. Doktor Alan Dogmoore darf sich schon solchen Großväterhausrat leisten …

Aber, wo ist sie nur …? – Ich suche in meinem Schlafzimmer; sie lag doch immer auf dem Kleiderschrank, ich besinne mich ganz genau …

Ich finde sie nicht. Ich gehe zu der Meißler hinüber …

„Keine Ahnung, Herr Doktor. Seit langem habe ich sie nicht mehr gesehen,“ sagte sie und komm mit, um suchen zu helfen …

„Das Ding ist doch kein Hemdknopf, Herr Doktor! Wir werden’s schon aufstöbern.“

Wir kehrten das Unterste zu oberst. Alles umsonst. Schließlich sage ich: „Nun hab’ ich die Geschichte satt. Ich nehme den Rohrplattenkoffer.“ – Der steht gelb und protzig mit seinen Messingbeschlägen unter dem Bett. Die Meißler zieht ihn hervor. Ich suche den Schlüssel an meinem Schlüsselring, schließe auf. Ich verwahre darin so allerlei, was mir selbst im Schreibtisch nicht sicher genug erscheint, – auch Heliantes Briefe.

Und in dem Koffer liegt auch die gestickte Handtasche –!

Die Meißler murmelt etwas von zerstreuten Gelehrten, legt mir das Nachtzeug bereit und verschwindet.

Die alte Handtasche –! – Wie ein kurzer Sack mit einem Stahlbügel. Schön ist sie ja nicht. Und das Blumenmuster zu beiden Seiten mit seinen grellen Farben dient auch nicht dazu, sie unauffälliger zu machen. – Außerdem …: Es sind Rosen darunter – rote Rosen …

Etwas klappert in der Tasche. – Ich habe sie seit Jahren nicht benutzt. Sollte ich darin etwas liegen gelassen haben, was ich vielleicht anderswo eifrig und ärgerlich gesucht habe …?!

Ach – es sind nur ein paar Schlüssel, mit einem Bindfaden zusammengebunden. Vielleicht gehören sie mir gar nicht. Ich habe die Tasche einmal der Meißler geborgt, als sie in Stettin eine Tante begraben half, von der sie etwas zu erben hoffte. Nachher hat sie noch wochenlang über die teure Reise gezetert, die Meißler, – denn die Tante hatte ihr nur ein Andenken vermacht – ein wertloses Ölbild. –

Ich muß der Meißler die Schlüssel wiedergegeben. Sie werden sicher ihr Eigentum sein. Sieben sind’s im ganzen, von verschiedener Größe.

Ich lege sie auf meinen Schreibtisch, beginne zu packen.

Dann suche ich den dunkelgrauen Wettermantel, den ich mir mal in Zürich gekauft habe; ein teures Stück, aber praktisch; auch als Reisemantel zu benützen. –

Die Meißler hat recht: Zerstreuter Gelehrter –.

Wo steckt nur wieder der Wettermantel –?! Er hing doch immer links im Kleiderschrank –!

Ich werde nervös …

Endlich!! – Unten in der Schublade des Schrankes liegt er – – total zerknüllt, hinter schmutziger Wäsche …! –

Wieder klingle ich bei der Meißler an.

Sie will den Mantel dort nicht hineingestopft haben. „Wo werd’ ich, Herr Doktor!! Ich bin die Ordnungsliebe selbst, das wissen Sie!“

„Zum Donner – ich hab’s auch nicht getan!! – Da, bügeln Sie ihn mir auf – sofort! Mein Zug geht kurz nach Mitternacht.“ –

Dann sitze ich an meinem Schreibtisch und halte ein Päckchen Briefe in den Händen.

Es duftet nach Astra – ist mit rotem Seidenband umschnürt, und die Knoten sind versiegelt. Ich sehe das Wappen der Dogmoore im roten Lack. –

Unser altes Geschlecht hat ein seltsames Wappen. –

Ich schau wie gebannt auf das Wappen. Erst jetzt denke ich daran, da ich’s vor Augen habe. Der Schwertträger im Mittelschild hat ein Doppelgesicht, und darunter in punktiertem Feld sind zwei Herzen dargestellt …

Das Päckchen hat alles Interesse für mich verloren. Ich grübele über anderes nach –.

Beatrix glaubt, oder besser, will mich glauben machen, meine Seele sei krank – daher Geheimrat Merkel …! – Nun – ganz Unrecht hat sie nicht. Ich bin anders als gewöhnliche Sterbliche. Ich besitze eine krankhaft rege Phantasie. Und dann … der Regen …!! – Was würde wohl der berühmte Professor dazu sagen, wenn ich ihm das alles erzählen würde …?! – –

Eine sonderbare Angst befällt mich plötzlich. Ich springe auf, eile zum Fenster, reiß er es auf, schau mir den Nachthimmel an …

Ein lichter Sommerhimmel, Sterne, unzählige Sterne. Keine einzige Wolke. –

Ich liebe die Sterne, mehr noch als die Sonne.

Etwas ruhiger setzte ich mich wieder an den Schreibtisch, nehme Heliantes Briefe.

Auf gut Glück ziehe ich einen heraus. –

4. März

Lieber Freund!

Man macht Ihnen den Vorwurf, originell erscheinen zu wollen. Ich habe Sie verteidigt, obwohl auch ich zugeben muß, daß Ihr Verhalten letztens auf der Schönholzschen Gesellschaft mir bis heute unerklärlich geblieben ist. Ich hätte diese Angelegenheit ja auch mündlich mit Ihnen durchsprechen können. Aber von Angesicht zu Angesicht sagt sich so manches schwerer. Darf ich hier ganz offen sein? –

Vergegenwärtigen Sie sich nochmals die Szene. –

Der Schönholzsche Wintergarten ist seiner Riesenpalmen wegen berühmt. Wir sitzen zu einem Dutzend Herren und Damen, nach der Tafel unter exotischen Bäumen und Sträuchern; wir sprechen über Volksküchen, Säuglingsheime, über bescheidene soziale Fragen. Mit einemmal – gerade als der Gewitterregen auf das Glasdach herabtrommelte – springen Sie auf, nehmen die Haltung eines Volksredners ein und – verurteilen das, was wohl jeder als segensreich ansieht, in Grund und Boden, ereifern sich, höhnen, spotten – der kleine Kreis ist starr. Und eben so unvermittelt eilen Sie davon, verlassen die Gesellschaft.

Der Brief fällt mir aus der Hand. Er ist zum glühenden Eisenstück geworden. –

Hat sich denn alles gegen mich verschworen?! – Meine Nerven zittern –. Vor meinen Augen steht eine leuchtende Schrift: „– gerade als der Gewitterregen auf das Glasdach herabtrommelte –.“ –

Regen – Regen!!

Wenn Heliante geahnt hätte –!! Das war nicht ich, der damals gehöhnt, gespottet hatte –!!

Ich sitze zurückgelehnt da und grübele wieder. Noch nie ist mir so klar zum Bewußtsein gekommen wie heute, daß das Fremde in mir ein häßliches Gemenge ist –.

Abermals steigt in mir eine schreckliche Angst hoch, die mir die Kehle förmlich zuschnürt –. Der Kragen wird mir zu eng. Ich reiße den schwarzen Binder ab, knöpfe das Hemd auf …

Da klopft es. Die Meißler kommt mit dem gebügelten Wettermantel.

Ich bedanke mich, deute auf die Schlüssel auf der Schreibtischplatte und sage:

„Gehören die Ihnen?“

„Mir?! – Wie kommen Sie denn darauf, Herr Doktor?!“

Sie besieht sich die Schlüssel –. Sie murmelt etwas – – sie geht, läßt mich allein.

Die Schlüssel bleiben –.

Ich habe den Kopf auf die Brust sinken lassen. Ich stiere geradeaus, blicke dann scheu zur Seite – auf die Schlüssel –.

Sie haben eine seltsame Macht, seltsame Eigenschaften.

Sie nehmen andere Formen an –. Das metallische Blinken hört auf.

Die Tischecke, wo sie liegen, wird zur Schwelle einer offenstehenden breiten Pforte, die in ein dunkles Gemach führt. Auf der Schwelle hockt ein Etwas, ein Graues, – – vielleicht eine scheußliche Katze, die eben einen Buckel macht, sich dann zum Sprung duckt –.

Die Angst in mir wächst. Schweiß tritt mir auf die Stirn –. Ich fühle es ganz deutlich. Eiskalter Schweiß –.

Ich schiele wieder hin – voll Grauen –.

Das Etwas ist noch da –.

 

16. Kapitel.

Der Graue gefunden.

Ich bin auf die Straße geflüchtet. Ich hielt es daheim nicht mehr aus –.

Ich wanderte über die Halenseer Brücke. Elektrische Straßenbahnen rollten an mir vorüber. Unter der Brücke verschwand die helle Fensterreihe eines Stadtbahnzuges; der schwarze Qualm der Lokomotive hing schwer wie eine Gewitterwolke einen Augenblick zwischen den Eisenbogen der Brücke, verwehte dann –.

Überall Leben, Wirklichkeit –.

Mir wurde leichter zu Mute. – Oh – ich bin noch lange nicht reif für Professor Merkers Sanatorium – noch lange nicht –!

Ich bin jetzt zu einem Entschluß gekommen. Ich werde die Wahrheit nicht suchen! Mag Heliantes Tod für ewig ein halb geklärtes Verbrechen bleiben. Der Graue ist vor mir sicher; ich stelle ihm nicht mehr nach! Ich werde mir doch nicht meine Seele verwirren lassen – durch ihn – ihn – den Grauen! Die Polizei mag zusehen, wie sie ihn findet; der berühmte Gunolt betreibt ja diese Jagd; da kann ein Erfolg nicht ausbleiben –.

Ich gehe in das behagliche Restaurant an der Ecke Kurfürstendamm und Joachim-Friedrich-Straße. Ich habe Hunger. Aber nur noch eine Stunde Zeit. –Also heißt es schnell wählen von der Speisekarte –.

Der grauhaarige Ober, der stark lispelt, kennt mich ganz genau.

„Ich kann Eisbein empfehlen, Herr Doktor,“ meint er. „Herr Doktor waren doch letztens sehr zufrieden damit –.“

Eisbein –?! – Ich – Eisbein –?! – Ich verabscheue es.

„Fritz, wollen sie sich einen Scherz mit mir erlauben?!“ frage ich ungnädig. „Zweierlei esse ich nie: Eisbein und dicke Milch –!!“

Fritz lispelte: „Wie würde ich es wagen –. Aber der Herr Doktor spaßen wohl! Nicht Eisbein essen?“ Er lächelte ein wenig. „Herr Doktor hatten es damals auch sehr eilig –.“

Und er spricht weiter –. Ich sitze wie versteinert da. Wage nichts zu erwidern –.

Ich rühre nachher die Hammelrippchen kaum an, trinke dafür drei halbe Liter Münchner. –

Dann gleitet ein Auto mit mir zum Lehrter Bahnhof. Wenn ich nur erst bei der Mutter wäre –!

Das schwere Bier wirkt. Das Auto schaukelt so angenehm.

Ich bin plötzlich so müde – so müde –. Die Lider fallen mir zu. Ich mag an nichts denken – an nichts –.

Der Chauffeur weckt mich. Wir halten vor dem Bahnhof. Ich bin ganz schlaftrunken, zahle, gebe Trinkgeld, – wohl recht viel. Der Chauffeur wünschten mir glückliche Reise.

Am Fahrkartenschalter ist es ganz leer.

„Emden – und zurück – zweiter Klasse,“ fordere ich, halte schon einen Hundertmarkschein bereit.

„Verzeihung, Herr Doktor …!“ –

Ich wende den Kopf.

Heller – Kriminalwachtmeister Heller …!

Und er tritt dich neben mich und ruft dem Fräulein hinter dem Fenster zu:

„Lassen Sie nur! Der Herr ist augenblicklich verhindert zu reisen.“ Und zu mir: „Herr Kommissar Gunolt wünscht Sie zu sprechen. Bitte – begleiten Sie mich.“

Mich empört diese Einmischung.

„Ich reise, und dabei bleibt’s, Herr Heller! Ich bin in spätestens fünf Tagen wieder in Berlin.“

Das Schalterfräulein beobachtet uns. Andere Reisende drängen uns beiseite.

Heller flüsterte mir zu: „Der Graue ist gefunden, Herr Doktor.“

Ich glaube falsch verstanden zu haben.

„Er – gefunden …?!“

„Ja, – bitte, kommen Sie! Die Menschen werden schon aufmerksam …“

Mir ist so leicht ums Herz.

„Gut, gehen wir, Herr Heller …“

Dann bleibe ich plötzlich stehen.

„Woher wissen Sie, daß ich verreisen wollte, daß sie mich gerade hier treffen würden …?“

„Von Ihrer Wirtin, Herr Doktor.“

„Ah, so!“

Vor dem Portale steht ein Auto. Wir steigen ein. In dem geschlossenen Wagen sitzt ein Herr, den Heller mir als seinen Kollegen Flemming vorstellt.

Ich bitte um Auskunft, wie man denn des Grauen habhaft geworden sei. –

Heller weicht aus.

„Das möchte Ihnen Kommissar Gunolt selbst mitteilen.“

Ich merke, wie mir alle Nerven förmlich vibrieren. Mein Körper flattert zuweilen wie im Schüttelfrost. Ich kann nicht still sitzen, nicht schweigen, obwohl ich krampfhafte Anstrengungen mache, recht beherrscht zu erscheinen. Ich frage vielerlei, – ob etwa Beatrix Bark alles eingestanden, ob sie zugegeben hat, daß der Graue nur ihr willenloses Werkzeuge gewesen, der einem ihm in der Hypnose erteilten Befehl nachkam … –

Es gibt ja so unendlich viele Fragen für mich, gerade für mich …

Während das Auto durch den Tiergarten rollt, während immer wieder Laternenlicht durch das Fenster einfällt wie der Lichtkegel eines schnell vorübergleitenden Scheinwerfers, ist in mir eine allmähliche Wandlung vor sich gegangen. Die erste fast freudige Erregung über den Erfolg der Polizei ist schnell abgeflaut, erreicht ihren Tiefstand, ein Gefühl dumpfer Gleichgültigkeit gegen alles, aus dem mit unheimlicher Deutlichkeit in meinem Hirn nur zu bald wieder ein neues Empfinden sich herauslöst, sich dehnt, sich breiter und breiter macht. Bebende Angst vor etwas, das ich nicht näher zu erkennen vermag, das aber doch nur zu große Ähnlichkeit mit dem hat, was in mir beim Anblick der Schlüssel, des Wettermantels und auch im Restaurant auf dem Kurfürstendamm an unbestimmter Furcht rege wurde …

Ich suche mich immer wieder zu beherrschen und – frage trotzdem nach wenigen Minuten abermals dies und das – zum Teil recht krause Dinge, zusammenhanglos, beinahe sinnlos, nur um die Stille zu unterbrechen, die meine dumpfe Furcht vor dem Unbekannten zu Folterqualen steigert.

Schweiß steht mir auf der Stirn … Ich merke, ich muß leichenblaß sein. Und Gedanken schießen mir durch den Kopf, in die ich keine Ordnung bringen kann … –

Das Auto hält.

Oben in meinem Studierzimmer brennt der dreiarmige Kronleuchter. Gunolt sitzt am Mitteltisch in einem der Sessel mit dem Gesicht nach der Tür.

Ich trete ein. Nur Heller hat mich die Treppe hinaufbegleitet. Er setzt sich auf den Stuhl neben der Flurtür.

Gunolt erhebt sich halb.

„Guten Abend, Herr Doktor …“

Ich strecke ihm die Hand hin.

„Guten Abend. – – Welch eine Überraschung, Gunolt! Sie haben also wirklich …“

Ich beendete den Satz nicht, denn meine Hand wird übersehen. Meine Worte haben unsicher geklungen. Ich stutzte, werde rot …

Gunolts Rechte weist auf den Sessel an der anderen Seite des Tisches.

„Nehmen Sie Platz!“ Das ist Befehl, keine freundschaftliche Aufforderung. Sein Gesicht ist versteinert.

Mir zittern die Knie. Ich sinke in den Sessel, fahre mit dem Taschentuch über die Stirn hin.

Gunolt sieht mich unverwandt an. Dann fragt er mich:

„Wie sind Sie in den Besitz jener Schlüssel gelangt?“ Er zeigt dabei auf meinen Schreibtisch, wo neben den Schlüsseln zwei Päckchen liegen …

Ich fahre hoch. Die Angst ist wie weggewischt.

„Sie haben es gewagt, meinen Schreibtisch zu erbrechen?!“ schrie ich empört. „Das – das ist eine …“

Kalt und hart gellt eine Stimme dazwischen:

„Bleiben Sie sitzen! – Ich bin Beamter, Herr Doktor Dogmoore, und als solcher habe ich nichts gewagt, sondern nur meine Pflicht getan …!“

Er ist wieder einmal der Stärkere. Ich lasse mich in den Sessel zurückfallen.

„Woher also die Schlüssel?“ sagte er wieder. „Aber, bitte, nicht die Geschichte von der alten Reisetasche, in der Sie sie fanden. Das alles hat mir schon Frau Meißler erzählt; auch von dem Wettermantel, der offenbar völlig durchnäßt in die Schublade gestopft worden ist.“

Ich lehne mich weit über den Tisch, streckte die Hände flehend aus, rufe heiser und ohne Kraft:

„Was sind’s für Schlüssel …? Geben Sie mir Auskunft …! Ich muß es wissen – gleich – sofort …!!“

Er schaut mich an – kühl, durchdringend.

„Sie spielen Ihre Rolle wirklich vorzüglich, Allan Dogmoore! – Die Schlüssel gehören der Kremk, gehören zu jenem Zimmer, das der Graue als Absteigequartier benutzte …“

Ich sinke ganz in mich zusammen, schlage die Hände vor das Gesicht und beginnen zu … schluchzen … Die feuchte Wärme der Tränen rinnt mir über die Wangen …

Wieder ist die Angst verflogen. Ich weiß jetzt, wovor ich mich fürchtete. Vor der Wahrheit …!! – Ich hatte mir selbst nicht eingestehen wollen, daß ich dieselbe Vermutung wegen der Schlüssel gehabt hatte, hatte mich selbst getäuscht, belogen, hatte diese Gedanken von mir gewiesen mit zähem Nichterkennenwollen … –

Ich vermag nur dies eine klar zu denken: „Es war die Angst vor der Wahrheit …, – es war die Angst vor der Wahrheit …!! Du selbst stehst in irgend einer dir ganz unbegreiflichen Beziehung zu dem Grauen, – du selbst …!!“ – –

Es dauert lange, ehe ich mich etwas beruhige.

Dann wieder Gunolt, jetzt freundlich, überredend:

„Ich hoffe, Sie werden ein offenes Geständnis ablegen, Doktor Dogmoore. Sie sehen ein, Sie haben verspielt …“

Mich überrascht jetzt nichts mehr. Ich bin so stumpf, so gleichgültig geworden, nachdem die Tränen wieder versiegt sind.

„Was soll ich gestehen?“ Mir ist, als ob das ein anderer fragt, nicht ich selbst …

„Daß Sie der Graue, der Mörder Ihrer Braut sind,“ erwiderte er gelassen.

Die Erlebnisse der letzten Stunden und diese Szene hier in meinem Arbeitszimmer kommen mir plötzlich vor wie ein Traum. Das kann ja nicht Wirklichkeit sein – unmöglich!! – –

Ein Lächeln gleitet über mein Gesicht, und ich murmele wie im Halbschlaf:

„Gott sei Dank – nur ein Traum …!!“

Ich sehe Gunolt ruhig an, richte mich auf, reibe mir die Augen, schaue wieder zu Gunolt hinüber, schaue mich um …

Gunolt ist noch da, sagt ungeduldig:

„Lassen Sie diese Komödie, Allan Dogmoore! Bei mir verfängt so etwas nicht …!“

Neben mir links steht auf einer Säule ein altes Tonbildnis eines indischen Götzen …

Ich packe danach, blitzschnell, schleudere es auf den Teppich, höre das Splittern der gebrannten Masse, ein Stück, der Kopf, fliegt mir an das Schienbein; der Schmerz durchrinnt meine Nerven wie ein glühen-der Strom; der Schmerz zeigt mir, daß auch dieses Hoffen eitel war …

„Wirklichkeit – Wirklichkeit, kein Traum!!“

Ich schreie es hinaus in die Enge des Zimmers.

Dann weiß ich nichts mehr – nichts …

 

17. Kapitel.

Das Schlüsselloch.

Ich sehe Spukgestalten vor mir …

Ein altes, herausgeputztes Weib mit roter Nase und entzündeten Augen …

Einen einfach gekleideten Mann mit fest eingeklebtem Scheitel.

Sie stehen neben Gunolt.

Kein Spuk – – wieder Wirklichkeit …

Ich komme langsam zu mir.

Eine Hand erscheint vor meinem Gesicht mit einem Glas Portwein. Und Wachtmeister Heller sagt: „Bitte, trinken Sie!!“

Ich stürze den Wein hinunter. Nun bin ich ganz wach …

Gunolt regt sich, wendet sich an das herausgeputzte Weib und fragt:

„Erkennen Sie in dem Herrn da“ – er zeigt auf mich – „den angeblichen Schlosser Franz Orske wieder?“

„Jawoll, Herr Kommissar, – ganz bestimmt!“

Eine ähnliche Frage richtet Gunolt an den Mann mit dem angeklebten Scheitel.

„Janz sicher ist er’s – janz sicher!“ erwidert dieser. „Es is der Herr, der damals aus dat Haus rausstürmte, wie ick mit mein’n Obstwagen den Rejen abwarten dat. Und der Lodenmantel da is auch der nämlichte, der hatte och hinten ‘ne Kapuze.“

„Ich danke Ihnen beiden. Sie können gehen.“

Das Weib und der Mann verließen mein Zimmer.

„Nun, Allan Dogmoore,“ wandte sich Gunolt an mich, „Sie sehen, daß die Kremk und der Händler Sie wiedererkennen. – – Wollen Sie noch leugnen?“

„Ich leugne nicht, weil ich nichts zu leugnen habe,“ sagte ich tonlos, müde …

„Es wäre günstiger für Sie, wenn das Komödienspiel der besseren Einsicht wiche. Es steht fest, daß Sie der Graue sind, mithin auch der Mörder Heliantes, Ihrer Braut …“

Ich stierte ihn an, schüttelte den Kopf …

„Wie sollte das wohl möglich sein …?! Hat Heller nicht selbst gesehen, daß ich dort am Fenster fest schlief in der kritischen Zeit …?!“

„Ich wußte, daß das Ihre letzte Abwehr sein würde, Allan Dogmoore. – Wollen Sie in Begleitung Hellers für einige Minuten das Zimmer verlassen …!“

Ich erhob mich und folgte Heller. Wir standen schweigend vor meiner Tür.

Dann klopfte es von drinnen gegen die Füllung. Wohl ein Zeichen für Heller.

Der sagte: „Sehen Sie durch das Schlüsselloch …“

Ich bückte mich.

In dem Klubsessel saß ein Mensch, der einen weißen Kragen umhatte. Der rechte Arm lag halb auf der Lehne. Der Kopf war nach links gedreht, so daß man nur das Haar sah und einen hellen Schimmer der Wangen. Der Mann hatte aber offenbar einen Frack an. Das weiße Vorhemd leuchtete als schmaler Streifen.

Ich richtete mich wieder auf. Und Heller sagte nun:

„So sah ich Sie damals, Herr Doktor … Die Beleuchtung war infolge des Regens sogar noch undeutlicher.“

Dann öffnete er mir die Tür und ließ mich wieder eintreten.

Gunolt lehnte am Schreibtisch.

Ich schritt schnell auf den Klubsessel zu, faßte nach dem Kopf des Unbekannten … Der Kopf war weich und gab nach, – – ich riß daran und hielt – die Schlummerrolle in der Hand, die Heliante mir geschenkt hatte …

Meine Gedanken verwirrten sich. – Beatrix hörte ich sagen: „Verstand verlieren – – Kugel!!“ – Eine wilde Heiterkeit wollte in ihr hochquellen: der Beginn des Irrsinns –! – – Ein Lachen lag mir schon auf der Zunge … Aber – – ich siegte …! Meine Willenskraft verscheuchte den Anfall; und ich lallte:

„Unbegreiflich – – unbegreiflich …!!“

Wie ein Trunkener ging ich schwankend auf Gunolt zu.

„So wahr ein Gott im Himmel lebt, so wahr ich meine Mutter liebe und verehre wie eine Heilige, ich begreife nichts von alledem – nichts – nichts!“

„Ich will Ihnen glauben, Doktor,“ sagte Gunolt nach einer Weile. „Sie haben, meine ich, die Probe bestanden, denn so – so heucheln kann kein Mensch. Ich habe jetzt den Eindruck gewonnen, ebenso auch Heller, daß sie Beatrix Barks Sklave gewesen, daß sie von ihr hypnotisiert worden sind. – Besinnen Sie sich vielleicht, ob Beatrix je mit Ihnen hypnotische Experimente versucht hat?“

„Nein.“

„Natürlich sagen Sie nein. Ihr Gedächtnis ist versiegelt hierfür. Daran liegt’s.“

Ich befand mich noch immer wie im Taumel.

„Wie sind Sie mir auf die Spur gekommen, Gunolt?“ fragte ich nach kurzer Pause.

„Heller hat den ersten Verdacht gegen Sie gefaßt,“ meinte Gunolt. „Heller fiel heute abend ein, daß er eigentlich durch ein Schlüsselloch, in dem noch immer der Schlüssel steckte – und so hätte es doch hier sein müssen! – niemals von dem schlafenden Mann im Klubsessel so viel hätte sehen dürfen, wie er gesehen hatte. Er ging zu der Meißler, sprach mit ihr, und auch sie erklärte, daß kein Schlüssel im Schlüsselloch gesteckt hätte, als sie erst allein und dann zusammen mit Heller hindurchschaute. –

Heller hat dann den Versuch sofort wiederholt. Sie saßen da wohl gerade an Ihrem Schreibtisch, lieber Doktor. Und – diesmal steckte der Schlüssel, und Heller konnte einen weit kleineren Gesichtskreis feststellen als damals. Die Folgerung hieraus war einfach genug! Da an jenem Tag kein Schlüssel sich im Schloß befunden hatte, als die Meißler und Heller sie schlafend zu erblicken glaubten, nachher aber von Ihnen der Meißler geöffnet wurde, ohne daß Sie erst den Schlüssel in das Schloß einführten, wie ihre Wirtin mit aller Bestimmtheit behauptet hat, konnten Sie nicht die ganze Zeit über fest geschlummert haben, sondern mußten inzwischen munter geworden sein und den Schlüssel wieder in das Schloß gesteckt haben. –

Diese einfache Überlegung warf nun aber Ihr ganzes Alibi über den Haufen, wie Heller sich sofort sagte. –

Sie wollten die Verlobungsfeier verschlafen haben. Und doch war nun der Beweis erbracht, daß Sie inzwischen aufgewacht waren, sich bis zur Tür begeben haben mußten, hier den Schlüssel in das Schloß gesteckt hatten und dann wieder – anscheinend – eingeschlafen waren, während Ihnen doch während dieses Wachseins unbedingt hätte einfallen müssen, daß Sie das Fest versäumt hatten, zu dem Sie bereits angekleidet waren. –

Heller fand nun, als er heute abend zu der Meißler kam, diese gerade beim Bügeln Ihres Wettermantels vor. Und nachher erfuhr er auch noch von den Schlüsseln, die Sie der Meißler als deren Eigentum hatten aushändigen wollen. Das Telephon hat dann viel gearbeitet. Die Kremk wurde befragt, ob der angebliche Franz Orske noch Schlüssel des Zimmers und der Schränke und so weiter im Besitz hätte; der Obsthändler mußte nochmals den Mantel jenes Mannes beschreiben, beide wurden als Zeugen hierher befohlen; ich selbst hatte mit Heller ein langes Gespräch. – –

Ich muß nur noch erwähnen, daß ich gerade in meinen Dienstzimmer über der Übersetzung des Tagebuchs des Grauen saß, die mir soeben erst zugeschickt worden war, als Heller mich anläutete und mir die Neuigkeit mitteilte. Dieses Tagebuch, das sie natürlich auch auf höheren Befehl geschrieben haben, hatte mir verraten, wie der schlafenden Mann im Klubsessel zustande gekommen war. Noch manches andere enthält es. – Wie es zu bewerten ist, – ich meine als Produkt des verbrecherischen Hirns dieses Frau, das werden Sie sofort selbst nachprüfen können. Ich habe die Übersetzung bei mir. –

Nun noch zum Schluß meiner Ausführungen die Gründe für meine Zweifel an Ihrer vollen Verantwortlichkeit für diese Tat. Zunächst erschien es mir mehr als unwahrscheinlich, daß Sie als Franz Orske ohne jede Verkleidung aufgetreten sein sollten, wenn Sie sozusagen freiwillig diese Doppelrolle als Gelehrter und als gewerbsmäßiger Verbrecher – denn auch die Diebstähle haben Sie fraglos begangen! – gespielt haben würden. Einem Mann von Ihrer Intelligenz, der zwei Leben leben wollte, mußte man auch notwendig die Schlauheit zutrauen, sein Äußeres als Franz Orske entsprechend zu verändern. Das war jedoch nicht geschehen, wie uns hier die Kremk erklärte, der wir eine Photographie von Ihnen vorlegten. – Als die Kremk Sie auf dem Bild sofort wiedererkannte, kamen mir Bedenken, ob Sie wirklich, woran ich zuerst gedacht, mit Beatrix Bark zusammen ein abgekartetes Spiel gespielt hätten, das heißt, ob Sie lediglich aus Liebe zu Ihrer Schwägerin Ihre Braut Heliante getötet haben könnten. Dann sagte ich mir weiter, so belastende Beweisstücke wie die Schlüssel und den Wettermantel würden Sie nie in Ihrer Wohnung aufbewahrt haben! Dazu wären Sie zu schlau gewesen! Beweise Ihrer verbrecherischen Klugheit glaubte ich ja schon genügend durch die geheimnisvollen Diebstähle erhalten zu haben! –

Ferner sah ich auch ein, daß, wenn Sie freiwillig, aus sich selbst heraus, die Tat verübt hätten, Sie nie und nimmer den Wettermantel der Meißler zum Bügeln ausgehändigt und sie noch auf die Schlüssel aufmerksam gemacht hätten. – Das waren Widersprüche in Ihrem Verhalten, die auch Heller stutzig machten und die nur eine einleuchtende Erklärung fanden. In diesen Einzelheiten hatte eben die Schlauheit des Weibes, daß Ihre unbeschränkte Gebieterin war, versagt. Gerade über diese Einzelheiten hatten Sie keine eingehenden Befehle empfangen und demgemäß so gehandelt, wie der normale Doktor Allan Dogmoore gehandelt hätte, der als Verbrecher kraft Auftrags zwar Mantel und Schlüssel in dem dumpfen Gefühl, sie verstecken zu müssen, verbarg, der dann aber, unbeeinflußt durch Hypnose völlig ahnungslos war, wie schwer ihn diese Sachen belasten könnten, sie ruhig zum Vorschein brachte und sogar noch ungehalten war, weil er ja nicht wußte, wer die gestickte Reisetasche in den Koffer und den Mantel unter die schmutzige Wäsche gesteckt hatte. –

Aus diesen Gründen entschloß ich mich, Sie auf die Probe zu stellen. Ich sehe, vorläufig gibt es keine bessere Lösung als die, daß Beatrix ihre Schwester beseitigen ließ, um selbst an deren Stelle treten zu können.“

Er machte eine kurze Pause.

Gunolt wollte weiter sprechen, da sagte ich schnell:

„Haben Sie auch in Betracht gezogen, daß Beatrix es war, die mich zu überreden suchte, Professor Merkel zu konsultieren …?! Haben Sie auch bedacht, Gunolt, daß Beatrix sich dadurch vielleicht selbst ans Messer liefert, wenn sie mich, ihr willenloses Geschöpf, einem Spezialisten für Seelenkunde zuführte …?! – Und – ich will Ihnen jetzt noch mehr anvertrauen. Beatrix erwiderte mir, als ich ihr erklärte, ich wollte dem Grauen nachstellen, bis ich ihn entdeckt hätte, daß die Kenntnis der vollen Wahrheit mich entweder dem Irrsinn in die Arme treiben oder aber zum Revolver greifen lassen würde! – Was sagen Sie nun hierzu?! Spricht dies alles nicht für Beatrix?! – Sie vermutete zwar, daß ich einen Mord auf dem Gewissen hatte, aber …“

Ich schwieg plötzlich. Anderes fiel mir ein, wie Beatrix gefragt hatte, weshalb die letzten Dogmoores Schottland verlassen hätten … – Damit hatte ja unsere Unterredung begonnen …

„Warum sprechen Sie nicht weiter?!“ fragte Gunolt schon zum zweitenmal.

„Meine Denkfähigkeit versagt,“ erwiderte ich.

Nach einer kleinen Pause sagte er:

„Beatrix belauschte uns, als ich Ihrem Schwiegervater und Ihnen gegenüber meine Theorie von dem Mord in Hypnose entwickelte. Der Papagei verriet sie und der Schatten. Sie besinnen sich, Doktor …?“

Ich nickte.

„Beatrix wird entsetzt gewesen sein, daß ich bereits den wahren Zusammenhang ahnte. Sie kam zu Ihnen; sie redet von Merkel, von Ihren angegriffenen Nerven, sogar von den Folgen, die die Kenntnis der vollen Wahrheit für Sie haben könnte. – Im übrigen, morgen, besser heute früh neun Uhr will ich Beatrix Ihnen gegenüberstellen.“

Er holte jetzt ein Päckchen Papier hervor und reichte es mir.

„Bitte, lieber Doktor, – das ist das Tagebuch des Grauen – denn „Ihr“ Tagebuch darf ich in diesem Fall nicht sagen! – Lesen Sie es! – Ich bin müde, will heim. Finden Sie sich heute um neun Uhr auf dem Präsidium ein, bitte.“

Er stand auf, reichte mir die Hand. „Gute Nacht!“

 

18. Kapitel.

Das Tagebuch.

Kaum allein, greife ich gierig nach den Blättern.

Erst das Papier: große, fast quadratische Geschäftsbriefbogen, leicht bläulich schimmernd.

Dann die Schrift, soweit es sich um die wenigen Stellen handelt, die mit deutschen Schriftzeichen abgefaßt sind. Sie erscheint mir auf den ersten Blick fremd. Bei näherem Hinsehen bemerke ich doch geringe Übereinstimmungen. Aber die Schrift des „Grauen“ ist doch auch wieder gänzlich verschieden von der des Doktors Alan Dogmoore; etwas kindlich unfertig, und ausgeschrieben, trotzdem aber brutal mit den langen, dicken Grundstrichen, schmucklos, frech, grob steht sie da auf dem Papier, scheint zu rufen: „Ich weiß, was ich will! Ich gehe über Leichen!“

Und die alten Schriftzeichen? – Sie sind keltischen Ursprungs, eine Verbindung von Runen- und lateinischer Schrift. Ich kenne sie sehr genau. Die Archive der Familie Dogmoore besaßen viele Aufzeichnungen dieser merkwürdigen Mischschrift.

Ich lese:

2. Februar

Das dicke Weib plagt die Neugierde. Die Kremk hat angeklopft. Ich habe gesagt, zöge mich um. –

Ich bin mit der Beute zufrieden. Die Sache ist so kinderleicht. Die Reichen legen ihre Kostbarkeiten für unsereinen so bequem hin. Ein Aderlaß schade ihnen nichts …

1. März

Ich habe es! Es hat mir schon lange in die Augen gestochen, dieses Brillantkollier. Frau von Schönholz wird einen bösen Schreck bekommen, wenn sie merkt, daß ihr Geschmeide futsch ist. –

Auch so eine ekle Emporkömmlingsgesellschaft wie die Barks, diese Familie von Schönholz …! Ausgerechnet auch noch geadelt!! –

Ich habe der feinen Bande erst im Wintergarten ordentlich meine Meinung über ihre Wohltätigkeitbestrebungen gesagt und bin dann einfach bis in das Schlafzimmer der Hausfrau vorgedrungen. Wo das Kollier lag, wußte ich ja. Die Schönholz wird nette Augen machen! Das Kästchen ist jetzt leer … – –

Ich werde mein Heim aufsuchen. Ich bin müde … Der Weg ist weit.

(Anmerkung Gunolts: Der Schmuck ist der Besitzerin jetzt wieder zugestellt worden.)

10. März

Ich glaube kaum, daß noch ein Mensch außer mir ein so seltsames Dasein führt wie ich, daß noch jemand außer mir ein so merkwürdiges Wesen ist wie ich … –

Ich wäre ein gutes Studienobjekt für einen Irrenarzt oder Seelenforscher.

Wer bin ich eigentlich?! –

Ich weiß es nicht. Ich lebe zeitweise, verschwinde dann wieder, als ob ich irgendwo einschlafe für lange Tage, – irgendwo, wo niemand mich sieht, stört … – –

Ganz allmählich ist mir erst klar geworden, daß ich nicht bin wie andere. Plötzlich tauche ich auf – bald hier, bald dort. Wie ich dorthin gekommen, ahne ich nicht. Ich bin eben plötzlich da, als ob mich jemand aus tiefer Bewußtlosigkeit erweckt hat. Einmal fand ich mich in einer recht eleganten Junggesellenwohnung vor, draußen in der Nähe des Grunewalds. Die Wohnung war mir fremd und doch auch wieder bekannt … Ich bin inzwischen noch verschiedentlich dort gewesen. Die zwei Zimmer hat ein Doktor Allan Dogmoore gemietet. Komischer Name. Klingt so englisch. Dieser Doktor ist selten zu Haus. Ich schleiche mich bei ihm ein und schleiche hinaus, ohne Furcht, daß er mich überraschen könnte … Ich habe ihn noch nie zu Gesicht bekommen …

Ich bin das seltsamste Wesen, das es gibt …

Eine Eintagsfliege, besser eine Stundenfliege, die immer wieder auflebt von Zeit zu Zeit. Was in der Zwischenzeit mit ihr geschieht, weiß ich nicht. Ich grüble auch nicht weiter darüber nach. Nur, ich beobachte mich jetzt genauer.

Ich beobachte mich seit der Geschichte bei Schönholz’ sehr genau. Ich bin jetzt zu der Ansicht gelangt, daß ich in der Zwischenzeit, wenn die Stundenfliege tot ist, unter einem geachteten Namen lebe. Ich bin aber verrückt … –

In meinem Hirn ist ein Riegel, die eine Türe verschließt. Steht die Tür offen, bin ich Franz Orske, der angebliche Erfinder … Ist sie geschlossen, ist Franz Orske dahinter eingesperrt und … schläft, ist scheintot, – – bis der Riegel wieder zurückgeschoben wird …

Wer tut dies – wer?! – – Ist mir gleichgültig!! Ich freue mich meines kurzen Daseins … Ich stehle, freue mich an meiner Beute, an dem blitzenden Tand, für den andere Tausende ausgeben …

Ja, ich beobachte mich sehr genau …! –

Das Kollier der aufgeblasenen Schönholz, dieser gekalkten, alten Wand, ist nicht die einzige Veranlassung hierzu. Ein Weib hat mich halb und halb gezwungen, mich selbst zu belauern …

Mit dem schönen Weibe war’s eine ganz merkwürdige Sache …

Gestern war’s. Nachmittags. Ein Vorfrühlingstag mit warmen Regen. Da geschah’s … da merkte ich zum erstenmal, – recht undeutlich merkte ich’s, wie ein mir Unbekannter sich in Franz Orske verwandelte, ganz langsam.

Und plötzlich sah ich dann ein blühend schönes, elegantes Weib vor mir, sah mich im Innern eines kleinen Häuschen, eines chinesischen Pavillons.

Sie sprach zu mir … – Das war das beste, was ich als Franz Orske in dem Häuschen hörte, wahrnahm …

Und da erkannte ich sie … – Bei Schönholz im Wintergarten hatte sie mich so entsetzt angestarrt, als ich der reichen Bande erklärte, was ich von ihren sozialen Bestrebungen hielt …

Sie sprach zu mir:

„Herr Doktor – lassen Sie doch dieses häßliche, ironische Lachen … Es ist genau dasselbe Lachen, mit dem sie damals ihre beinahe haßerfüllte Anklagerede gegen die Reichen bei Kommerzienrat Schönholz beendeten. – Besinnen Sie sich noch darauf? In derselben Nacht wurde ja das Kollier gestohlen.“

Ich lächelte nicht mehr.

Und ich witterte in ihr plötzlich die Feindin, die mich verderben wollte … –

Draußen rauschte aus einer dunklen Wolke der Regen herab … –

In ihre Blicke kam etwas Ängstliches, Verwirrtes …

„Was fehlt Ihnen heute nur wieder?!“ rief sie dann. „Sie – Sie haben so – so – böse Augen … Man könnte sich fürchten.“

Wir standen am breiten Fenster des Pavillons – ich sah den Regen mit einem Male dünner und dünner werden. Jetzt flog ein heller Schein über die Erde –: Die Sonne brach wieder durch die Wolken …

Und … von da ab ist Franz Orske wieder eingesperrt gewesen. –

28. März

Ich beobachte mich weiter sehr genau.

Ich weiß jetzt, ich bin Franz Orske und – Doktor Allan Dogmoore.

Wie ich dahinter gekommen bin, daß ich auch noch Allan Dogmoore heiße …?! –: Durch die Wohnung am Bahndamm im Grunewald …!

Ich bin dort wieder zweimal gewesen – ich, Franz Orske, der Einbrecher, der Dieb! Von dem Doktor mag ich nichts wissen, weiß auch so gut wie nichts von ihm. Er ist mir gleichgültig. Mehr noch, ich hasse ihn, wie ich alle und alles hasse –.

Durch seine Wohnung also. Und auch durch sie und durch die Szene im chinesischen Pavillon. Ich habe sie nämlich wieder gesehen. Im Walde –. Wir gingen spazieren. Der Wald roch nach Frühling. Ein hohler Tauwind fuhr durch die Fichtenwipfel.

Es tröpfelte auf den Schirm, unter dem wir Arm in Armen dahin-schritten.

Es regnete – die Luft war lau.

Sie lachte – die Tropfen schlugen knallend auf die straff gespannte Seide des Schirmes auf –.

Sie lachte und sagte: „Dieses Geräusch der Regentropfen erinnern mich an den Wintergarten in der Schönholzschen Villa. Damals knallten auch die Tränen des Himmels so laut auf das Glasdach, als sie den Feind der Geldprotzen markierten, Herr Doktor, und – als das kostbare Kollier verschwand.“

Aha – wieder der Schmuck!! – Meine Feindin – ich kenne dich, durchschaue dich, – Spionin.“

Wieder sagte sie dann etwas von meinen Augen –.

Dann kamen andere dazu, – ihre Eltern, ihr Bruder, ihre Schwester.

Ich entschuldigte mich mit Kopfschmerzen, floh, wollte allein sein – floh in die Wohnung Allan Dogmoores, in der ich gleich beim ersten Besuch so sonderbar gut Bescheid wußte. –

Und dieses bekannt sein mit den beiden Räumen hat mir die Gewißheit gegeben: Allan Dogmoore ist der andere Teil meines Ichs!

6. April

Wieder war ich mit ihr, der Feindin zusammen. Nur kurze Zeit.

Der Eindruck, daß sie mir nachspioniert, daß sie ahnt, wer das Kollier stahl, verstärkt sich bei mir. Wenn dieses schöne, junge Weib mir gefährlich wird, werde ich es vernichten –.

Ich sitze jetzt in meinem Zimmer bei der Kremk am Schreibtisch und beschäftige mich mit meinem Tagebuch.

Es gießt draußen. Das erste Gewitter –.

Ich habe wieder neue Beute gemacht. Auch eine neue Zerstreuung mir ersonnenen. Habe mir einen alten grauen Anzug, – ein ganzes Arbeiterkostüm bei einem Trödler letztens erstanden, schmiere mir das Gesicht an und treibe mich in Kneipen, Kellerwirtschaften, verrufenen Tanzlokal umher –.

Franz Orske amüsiert sich dort königlich! –

Franz Orske – Franz Orske? Wie ich nur zu dem Namen gekommen sein mag?! – Hießen meine Eltern so –? – Bin ich nun eigentlich ein Mitglied der Familie Dogmoore oder Orske? –

2. Mai

Sie, die Feindin, heißt Heliante Bark.

Sie hat eine Schwester mit ebenso überspanntem Vornamen: Beatrix.

Aber Beatrix ist nicht meine Feindin –.

Ich möchte gern noch weiter schreiben. Aber das verfluchte Weib, die Kremk, klopft schon wieder – –.

 

19. Kapitel.

Der Mord.

25. Mai

Beatrix ist nicht meine Feindin.

Franz Orske hat ein Gastspiel bei Barks gegeben. Ich war mit Beatrix allein im Musikzimmer –.

Sie ließ mich reden, wie und was ich wollte.

Sie nahm meine Hand, gerade als gegen die Fenster eine wahre Regenflut prasselte:

„Sie Ärmster – Sie Ärmster –! Ich möchte Ihnen so gern helfen –!“

Vor meinem schrecklichen Lachen fuhr sie doch zurück.

„Ich fühle mich sehr wohl in meiner Haut, sehr wohl!“ sagte ich voll höhnischen Triumphs. „Wozu bedauern Sie mich –?!“

Sie hielt meine Hand fest.

„Sie sind nicht Allan Dogmoore, nicht wahr?“ fragte sie dann.

„Allan Dogmoore ist jetzt eingekerkert,“ lachte ich. „Ich bin Franz Orske, der bei der Kremk wohnt. Zuweilen, – zuweilen auch anderswo.“

Dann fühlte ich plötzlich, wie in meinem Innern der merkwürdige Vorgang begann – die Umwandlung in den andern –.

Ich habe nun doch nachgegrübelt – über den Namen Franz Orske, über die Stunde meiner Geburt, – das heißt, über den Zeitpunkt, wann ich wohl zum ersten Mal auftauchte –, ich, der Dieb, der Menschenhasser –.

Bin ich ein Dogmoore oder ein Orske –?

Und wie kam ich dazu, wenn der andere von Geburt ein Dogmoore ist, nicht gerade Orske zu nennen –?!

Ich habe den Federhalter beiseite gelegt und denke nach.

Lange existiere ich noch nicht. Ich bin ein Wunderkind. Ich kam als erwachsener Mensch auf die Welt, erst vor ein paar Monaten –.

Ich besinne mich auch, wo ich geboren wurde.

Auf der Straße. – Mitten auf dem Potsdamer Platz.

Um mich her war eine dichte Menschenmauer; unter mir grauschwarzer Schneeschlamm –. Über mir ein düsterer Regenhimmel –.

Ein Schutzmann brüllte mich an:

„Nehmen Sie sich gefälligst mehr in acht, Herr! Um ein Haar wären sie tot gefahren worden! – Wie heißen Sie –? – Der Chauffeur des Autos, das Ihretwegen in den Lastwagen hineingefahren ist, verlangt ihre Feststellung.“

„Ich bin der Kunstschlosser Franz Orske und wohne Rathenower Straße Nr. 12,“ erwiderte ich mit ruhiger Selbstverständlichkeit.

Der Schutzmann beleckte seinen Bleistift und schrieb Namen und Wohnung auf. –

So entstand Franz Orske.

Und Franz Orske schritt dann durch die sich schnell wieder auflösende Mauer der Gaffer, nahm ein Auto und fuhr nach der unbekannten Straße, ließ aber vor Nr. 12 den Kraftwagen halten und ging zu Fuß zu der Kremk, – denn die wohnte Nr. 12, wo an der Haustür eine Papptafel „möbl. Zimmer“ hing. –

Ein Zufall, daß hier ein Zimmer frei war, ein merkwürdiger Zufall –!! –

So kam ich zu der Kremk …

9. Juni

Sie ist ermordet –.

Die Feindin ist tot. Ich bin vor Verrat sicher.

Wie der Entschluß bei mir zu Stande kam?! – Es ging schnell –.

Als der Riegel zurückgeschoben wurde, als ich wieder frei war für Stunden, ich, Franz Orske, saß ich mit ihr auf einer weißen Bank unter dem vorspringenden Dach eines Häuschens dicht an einem sauber gepflegten Tennisplatz –.

Nein – ich saß nicht mit ihr, – – sie saß auf meinen Knien, hatte die Arme um meinen Hals gelegt, schaute mich an, flüsterte –:

„Allan, Liebster, – du hast so seltsame Augen. – In der Tiefe deiner Augen schimmert etwas, das mich an dir irre machen könnte –. Es ist derselbe rätselhafte Glanz, den deine Blicke damals bei Schönholz hatten – – du weißt, als das Kollier gestohlen wurde. –

Ah – sie brachte jetzt schon das Flackerlicht der Diebesaugen mit dem Schmuck in Verbindung! –

Das war eine neue Falle! –! – Aber warte, Spionin, ich – ich werde – –.

Da war der Entschluß schon da –.

Und heute nun die Ausführung, – die doch nur halb gelang. –

Ich fand mich im Klubsessel an Allan Dogmoores Fenster sitzen. – Ich trug wie immer seine Kleider. Heute sehr noble; wie einer von den Geldsäcken: Frack, Lackschuhe –.

Nicht zum ersten Male habe ich dann, um die neugierige Meißler – etwas weniger unsympathisch als die Kremk ist sie mir doch! – zu täuschen, Allan Dogmoore im Klubsessel aufgebaut –.

Seit ich weiß, daß er und ich ein Körper, wenn auch nicht ein Geist, sind, bin ich sehr, sehr schlau geworden. Ich schütze ihn und schütze dadurch mich vor Entdeckung –. Uns beide –! – Ich muß es tun, obwohl er meinetwegen zu Grunde gehen könnte. Er steht mir so fern. Nur die Angst, daß, wenn er aufhört zu existieren, auch ich für immer verschwinden würde, läßt mich an ihn denken –.

Es ist kalte Selbstsucht also –

Ich bin dann davongeschlichen, zum Hause hinaus, unter all den Vorsichtsmaßregeln wie schon so oft –.

Bei der Kremk zog ich mich um. Den Frack hatte ich nicht mehr an. Der hing über einem Kissen. – Feiner Gedanke!!

Ich handelte wie eine Maschine, fuhr im Auto bis zur Hinterpforte des Barkschen Parkes, bezahlte den Chauffeur, tat, als ob ich in eine Villa gegenüber hineingehen wollte.

Ich kletterte nachher blitzschnell über das Gitter, schlich nach dem Pavillon –.

Ich duckte mich hinter die Sträucher, hinter die Edeltannen, deren Zweige waren schwer von Tropfen. Um mich her ein gleichmäßiges Rauschen, – Regen – Regen –.

Da – von der Tür des Pavillons glitt die Gestalt eines Mannes eiligst die Treppe hinab, – blitzschnell, als flüchte der Mensch –. Sein Gesicht sah ich nicht. Er trug einen breitrandigen, hellgrauen Filzhut mit heruntergeklappter Krempe, einen dunklen, weiten Ulster, Kragen hochgeschlagen –.

Vielleicht hat er eine gebogene, große Nase gehabt, beschwören möchte ich’s nicht. Aber ich glaubte so etwas zu erkennen – glaubte –. Es ist ja auch gleichgültig. Er ist mein Freund, er hat mir die Arbeit abgenommen –.

Der Mann verschwand hinter den Sträuchern. – Er hatte mich nicht gesehen –.

Gleich darauf stand ich vor dem Pavillon, hastete die Stufen empor. Ich hatte keine Waffe mit, – nur meine Fäuste. Ich wollte sie erwürgen, damit ich ihr noch während ihres Todeskampfes zuraunen konnte: „Das ist dein Lohn, Spionin, Schnüfflerin –!“

Ich riß die Tür auf. In Dämmerlicht lag sie vor mir auf dem Boden, schön wie immer – so schön.

Ich erschrak nicht. Ich sah nur – – den Dolch in ihrer Brust –.

„Dummer Mörder!“ dachte ich. „Die Waffe hier zu lassen!“

Ich trat näher, bückte mich, zog den Dolch aus der Wunde –.

Da schlug sie noch einmal die Augen auf –.

Sie erkannte mich trotz der Verkleidung –.

Ein letztes „Allan – Allan!“ –

Ein letztes Lächeln –.

Dann war sie tot –.

Ich wartete noch. Aber sie regte sich nicht mehr –.

Jetzt, wo sie mir nicht mehr schaden konnte, trieb mich irgend eine mir sonst fremde weiche Regung dazu, sie zu schmücken – vielleicht dachte ich daran, daß man einen gefallenen Feind ehren soll.

So brachte ich ihr Rosen aus dem Garten, rote Rosen, drückte sie ihr in den noch warmen Finger.

Dann verließ ich den Pavillon –.

An der ersten Edeltanne drehte ich mich nochmals um.

Beatrix stand am Fuße der Treppe – Beatrix, meine Freundin –.

Ich legte warnend den Finger auf die Lippen, bat so um ihre Verschwiegenheit –.

Sie wollte auf mich zueilen –. Sie war leichenblaß geworden –.

Ich floh –.

 

20. Kapitel.

Als der Morgen graute …

Die Blätter des Tagebuchs flattern zu Boden.

Wieder will ein Lachen über meine Lippen –. Ich kämpfe wieder dagegen an, würgte es hinab –.

Ich sammle meine Gedanken. Es gelingt. Gelingt nur deshalb, weil eine ganz, ganz schwache Hoffnung in mir lebt, daß das Tagebuch die Wahrheit enthalten könnte –.

Dann hätte ich ja Heliante nicht getötet –!

– Produkt des verbrecherischen Hirns dieses Mädchens –!

Produkt! – – Also nicht Franz Orske hatte in seinen Blättern gesprochen, sondern Beatrix –.

Konnte das sein –?!

Ich stiere in das Licht der Schreibtischlampe. – Die grüne Glocke verschwimmt, wird zu Bäumen, Sträuchern, Rasenflächen; mitten darin ein Pavillon; ein Mann im Schlapphut und Ulster eilt die Treppe hinab –.

Der Mörder – der Mörder –.

Die grüne Glocke ist wieder da –. Jetzt wird sie lichter und lichter, formt sich zum Menschenantlitz.

Es ist Gunolt. Und er sagt: „Dieses Tagebuch, das Sie natürlich auch auf höheren Befehl geschrieben haben –.“

Ich lausche und stiere sein Gesicht an.

Das Gesicht verschwindet –.

Und die schwache Hoffnung weicht weiter und weiter zurück, verschwindet ebenfalls –.

Beatrix hat diesen Mörder im Schlapphut ersonnenen –! Es ist so –! Hat ihn ersonnen, um im schlimmsten Fall von mir, den sie liebt, jede Gefahr abzuwenden –.

Der Mörder bin ich – ich –!!

Diese Erkenntnis vermag mir jedoch nichts mehr anzuhaben. Ich bin bereits innerlich zerbrochen –.

Und doch, plötzlich packt mich eine Angst. Nur nicht wahnsinnig werden, nur nicht hinein in ein Irrenhaus! Ich reiße die eine Schublade auf, in der mein Revolver liegt –.

Erlöser Tod, ich rufe dich –!

Die Waffe ist stets geladen.

Erlöser Tod – ich rufe dich –!

Ich drücke ab –.

Kein Schuß – nichts – nur das Knacken –!

Von der Tür eine Stimme:

„Lieber Doktor, ich habe leere Patronenhülsen in die Kammer gesteckt –!“

Es ist Gunolt. – Ich hatte die Tür nicht verschlossen, als er und Heller mich verließen. Und Gunolt hat außen gestanden und gelauscht, gewartet –.

Er nimmt mir den Revolver aus der Hand.

„Seien Sie ein Mann, Doktor –! Das würde Ihnen auch ihre alte, kranke Mutter sagen. – Wollten Sie nicht in Ihrer dumpfen Angst vor der Wahrheit zu ihr flüchten nach Emden –? Soll ich mitkommen dorthin –?“

Mutter – meine Mutter –!

Ein Schluchzen ringt sich aus meiner Kehle hoch. Ich weine.

Ich fühle mich leichter, als die Tränen langsam versiegen.

Da sagt Gunolt: „Werden Sie stark genug sein, Beatrix gegenüberzutreten? –“

Ich bin zum ersten Mal in dem Dienstzimmer eines Kriminalkommissars. Bei unserem Eintritt hat sich unter dem Schreibtisch von einem Bärenfell ein großer Wolfshund erhoben.

„Mein Freund Treu,“ stellt Gunolt vor, „dreimal hat er mir das Leben gerettet.“

Treu beschnuppert mich, wedelt, und Gunolt sagt: „Treu weiß die Spreu vom Weizen sehr gut zu unterscheiden.“

Ich verstehe Gunolt. Ich habe kein Verbrecherodeur –.

Er läßt Kaffee bringen.

Der Kaffee ist stark, erfrischt mich. – Gunolt zwingt mir auch eine Zigarette auf.

Wir sprechen über Treu. Gunolt meint:

„Ich bin neugierig, wie er Beatrix empfangen wird.“

Mein Herz jagt –.

Beatrix tritt ein. Ich habe den Kopf nach dem Fenster gewandt. Aber ich höre ihre Röcke rauschen, den leichten Schritt –.

„Bitte, setzen Sie sich dorthin, Fräulein Bark,“ sagt Gunolt farblos –.

Ein Stuhl knarrt leise. Treus Pfoten tappen langsam über den Fußboden. Er geht auf Beatrix zu – –.

Ich drehte den Kopf ein wenig, Treus Rute pendelt freundlich hin und her. Eine weiße Hand streichelt seinen Kopf. Er wedelt noch stärker. –

Ich schaue zu Gunolt hinüber. Der schüttelt den Kopf –.

Treu legt sich zu Beatrix Füßen nieder, streckte den Kopf auf die Vorderbeine –.

Dann beginnt Gunolt, – und mein Herz pocht abermals schneller:

„Fräulein Bark, Sie haben gestern Herrn Doktor Dogmoore gegenüber einer Äußerung getan etwa folgenden Inhalts –.“ Er wiederholte die eindringliche Warnung: „Wenn volle Wahrheit – Wahnsinn – Kugel –!“ –

“Sie wußten also, daß Doktor Dogmoore Ihre Schwester getötet hatte, daß er der „Graue“ war –?!“ beendet er diesen ersten Angriff.

Ich muß zu ihr hinübersehen – ich muß!

Unsere Blicke begegnen sich –. Beatrix ist leichenblaß. Ihre Augen scheinen sich zu weiten in namenloser Angst –.

„Antworten Sie!“ sagt Gunolt hart. „Und Sie, Herr Doktor, tun besser, Fräulein Barks Blicken auszuweichen –.“

Aber ich schaue sie weiter an. Wenn Gunolts Theorie stimmt, muß ich jetzt merken, ob diese Augen auf mich einen rätselhaften Einfluß ausüben.

Beatrix Augen wandern zu Gunolt, dann erwidert sie:

„Ich muß es … Ich habe meinen Schwager damals neben der Tanne trotz der Verkleidung erkannt.“

„Also geben Sie auch zu, daß Sie ihn zu Ihrem Werkzeug gemacht haben durch Hypnose …?“

Ein kurzes Zögern. Dann ein klares:

„Ja, ich gebe es zu!“

„Somit haben Sie also auch Doktor Dogmoore jene Aufzeichnungen niederschreiben lassen, Fräulein Bark, die ich in dem Geheimfach des Koffers fand?“ fragt Gunolt.

„Aufzeichnungen? – Ich weiß nichts davon. Kann ich diese Zeilen einmal sehen,“ bittet Beatrix plötzlich sehr lebhaft.

Gunolt zuckt die Achseln. „Was soll das?! Sie wissen doch ganz genau, was dieses Tagebuch erzählt.“

„Ich vermute es nur. – Darf ich es vielleicht schnell durchblättern?“

Gunolt reicht dann etwas widerwillig seiner Gegenüber die Blätter.

Beatrix’ Augen fliegen über die Zeilen hin. Sie atmet kurz und hastig …

Endlich hebt sie den Kopf. „Und dies – dies hier halten Sie für ein Phantasieprodukt, meinem Hirn entsprungen, Herr Kommissar?“ ruft Beatrix und hebt die Blätter hoch. Gunolts Stirn liegt in Falten.

„So sprechen Sie doch!“ drängt Beatrix. „Ich kann ja nicht glauben, daß der berühmte Gunolt so kurzsichtig sein sollte, in diesen Aufzeichnungen kalt berechnete Mache zu sehen …!“

 

21. Kapitel.

Beatrix spricht.

„Es ist mache“ sagt Gunolt kurz. Es klingt unsicher, zu barsch.

„Ich widerrufe jetzt mein Geständnis,“ erklärt Beatrix fest. –

„Dieses Tagebuch enthält die Wahrheit! Und wenn Sie auch daran zweifeln, Herr Kommissar. Über den Wert dieser Aufzeichnungen werden Spezialärzte entscheiden, die wissen, daß in einem Körper zwei Seelen wohnen können, daß es sehr wohl Fälle einer solchen Doppelpersönlichkeit gibt.“

„Oh, das ist auch mir bekannt, Fräulein Bark, aber …“

„Ich will Ihnen alles erklären,“ unterbricht Beatrix den Kommissar. „Die Aufzeichnungen Franz Orskes tragen so sehr den Stempel ureigensten Erlebens, daß nur er selbst, also eigentlich Allan, sie verfaßt haben kann. – Ich will nun erklären, wie ich dazu gekommen bin, mich Allans anzunehmen. –

Bereits im Januar dieses Jahres, als Allan noch lediglich gesellschaftlich bei uns verkehrte, merkte ich an einem Teeabend bei uns, daß er plötzlich ohne jeden äußeren Anlaß wie ausgewechselt war. Wir hatten damals eine berühmte Opernsängerin eingeladen, und während eines Vortrags dieses weltbekannten Stars saß Allan neben mir, beugte sich plötzlich zu mir hin und fragte ironisch, sogar höhnisch, was meine Eltern denn für diese „lebende Schallplatte“ bezahlt hätten. Ich war über diese Taktlosigkeit so überrascht, daß ich zunächst gar nichts erwiderte. Dann fragte ich: „Sollte das ein Scherz sein, Herr Doktor?!“ Worauf ich die Antwort erhielt: „Der Teufel hole alle Doktoren und alle Sängerinnen!“ – Recht geräuschvoll verließ Allan gleicht darauf den Salon. Nachher erzählte mir der Diener, daß Herr Doktor Dogmoore heute „recht komisch“ gewesen wäre, plötzlich seinen Mantel verlangt und in der Tür noch gerufen hätte: „Verdammt, wo bin ich hier nur hingeraten!“ Draußen hätte es geregnet, und trotzdem wäre Herr Dogmoore ohne Schirm in den Park gelaufen. –

Das war das erste Mal. Die Fälle wiederholten sich bald. Ich er-langte die Gewißheit, daß Allans seelische Beschaffenheit nicht normal sei. Über den wahren Umfang dieses krankhaften Zustandes gab mir dann jenes Begeben Aufschluß, das in dem Tagebuch erwähnt ist. Der Augenblick, in dem Allan mir mit einem schrecklichen Lachen erklärte, er sei gar nicht der Dr. Dogmoore, sondern heiße Franz Orske, wohne bei einer gewissen Kremk, manchmal auch anderswo, veranlasste mich dazu, ihn fernerhin wie einen Kranken zu beobachten. – Den Namen Kremk hatte ich mir gut gemerkt. Es war nicht schwer, mit Hilfe des Adressbuches und des Namens Franz Orske die richtige Kremk durch unseren alten, verschwiegenen Chauffeur ermitteln zu lassen. Also schon Mitte Mai wußte ich, wo Allans zweite Persönlichkeit ihren Schlupfwinkel hatte. Wenige Tage später wurde während eines Gartenfestes bei Professor Ruhla aus dessen Arbeitszimmer eine alte indische Fürstenkrone, bestehend aus einem Goldreif mit Brillanten, gestohlen. Auch damals ging spät abends ein heftiger Regenguß nieder. Auch damals befand sich Allan unter den Gästen. – Kurz – ich war bald überzeugt, daß Allans schlechteres Ich der schlaue Verbrecher war.“

Beatrix schwieg, schien jetzt doch etwas erschöpft zu sein.

Gunolt holte ihr aus einem Likörschränkchen ein Glas Wein. Sie nahm es dankend an und begann nach einer Pause aufs neue.

„Ich muß nun auf Heliante zu sprechen kommen. – Wir Schwestern glichen uns nur äußerlich. Trotzdem standen wir uns sehr nahe. Wir hatten keine Geheimnisse voreinander. Das änderte sich erst, als Allan bei uns zu verkehren begann. Ich merkte sehr bald, wie es um Heliantes Herz stand. Als ich gelegentlich eine scherzhafte Bemerkung über eine drohende Verlobung machte, wurde sie jedoch heftig und verteidigte das, was sie nur Seelenfreundschaft nannte. Heliante war sich eben über ihre Gefühle nicht klar. Ich wartete ab – aber mit Unruhe und Angst, da ich schon ahnte, daß Allans Person für eine zarte Neigung, für Liebe und Ehe überhaupt nicht geschaffen sei, daß er die unglücklich machen mußte, die er einmal heimführte. Ich hielt es für meine Pflicht, Heliante zu warnen, freilich mit aller Vorsicht. Sprach nur im allgemeinen von einer krankhaften Seelenverfassung Allans … – Die Verlobung kam zustande. Heliante schien überglücklich. Und doch glaubte ich zuweilen auf ihrem Gesicht den Widerschein trübster Nachdenklichkeit zu bemerken. – Ich ahnte, wem das ernste Grübeln galt … –: Allan Dogmoore – Franz Orske! Und – es kam eine Stunde, da Heliante trotz jener häßlichen Szene in ihrer Herzensangst sich zu mir flüchtete, sich mir an den Hals warf, weinte – ganz fassungslos. –

„Trixa“ – das war ein Kinderkosename zwischen uns gewesen – „Trixa, – – was hat Allan nur für Augen?! – Trixa, kann ich ihn nicht küssen, wenn ich diese Augen vor mir habe, -!“ – –

Ich versuchte sie zu beruhigen, dann müsse er einige Zeit in ein Sanatorium gehen … Allan sei überarbeitet. – –

Ich log damals, ich wußte, daß sie unglücklich werden mußte. Doch ich hatte einer Hoffnung, daß Allan nach der Verlobungsfeier Heliantes Bitten nachgeben und eine Heilanstalt aufsuchen würde. Dann wollte ich meinen Vater ins Vertrauen ziehen, die Verlobung müßte wieder gelöst werden … Alles kam anders …“

 

22. Kapitel.

Alles für ihn …!

„Ich habe Allan im Park neben der Edeltanne erkannt trotz des ärmlichen Anzugs, trotz des schmutzigen Gesichts. Die Verkleidung und sein Zeichen, das mich um Verschwiegenheit bat, verstärkten noch meine bangen Ahnungen, die mir bei seinem Anblick aufstiegen. Ich wollte ihm nachstürzen … Er floh – dann fand ich Heliante … – Als ich nach dem Hause zurücklief, kam plötzlich eine starre Ruhe über mich. Ich blieb stehen, überlegte … Nicht Allan hat Heliante gemordet, sagte ich mir. Franz Orske tat’s – Allans anderes Selbst! Wenn ich ihn verrate, wird man ihn verhaften, in der Einsamkeit der Zelle wird ihn der Wahnsinn packen. Ihn, den in Wahrheit Unschuldigen! – – In fieberhafter Spannung wartete ich auf Allans Erscheinen. Ich zitterte vor Angst, daß er nicht er selbst, sondern noch Franz Orske sein könnte, daß er sich verraten würde durch irgendetwas. – Ich raunte ihm zu, daß ich von nichts wüßte, nichts gesehen hätte. – Die Worte galten Franz Orske. Sie waren unnötig gewesen, denn Allan Dogmoore war bereits wieder er selbst!

Alles schien gut zu gehen. Ich hatte mir genau überlegt, was ich vor der Polizei aussagen wollte.

Sie glaubten mir, Herr Gunolt. Aber nicht ganz …!! In der Nacht, die auf Heliantes Tod folgte, habe ich kein Auge zugetan. Ich sah mich einer Aufgabe gegenüber, die für ein Weib fast zu schwer war. Ich mußte Allan retten, ihn vor weiteren Bloßstellungen bewahren, mußte das Zimmer in der Rathenower Straße sehen.

Der neue Tag kam. Die Meinen fanden es gefühllos, daß ich unter diesen Umständen an den Vortrag in der Universität dachte, fanden es herzlos und taktlos, daß ich ihn – angeblich! – besuchte. Ich holte damals Franz Orskes Sachen von der Keim. – Und eben so schickte ich dann einen Teil der Diebesbeute an die Eigentümer zurück.

Ich lebte fortgesetzt wie im Fieber. Ich hatte vor Ihnen Angst, Herr Gunolt, Angst um Allan –. Und diese Qualen wurden noch größer, als ich merkte, daß er selbst helfen wollte, den Grauen zu suchen.

Aber ich gab den Kampf nicht auf. Ich erniedrigte mich, spielte die Lauscherin, um ihren Schachzügen, Herr Gunolt, wirksam begegnen zu können.

Inzwischen hatte ich gemerkt, daß mein persönlicher Einfluß auf Allan stieg. Ich hatte, um ihm näherzukommen, Mittel angewendet, die bei der Familie abermals meinen Charakter in ein ungünstiges Licht rückten. Ich gebrauchte Heliantes Parfüm, ließ mir das Haar färben, änderte meine Frisur, suchte Heliante in allem möglichst ähnlich zu werden. Allan sollte mein Freund werden, der zu mir volles Vertrauen hatte. Auch wollte ich mit Allan tatsächlich hypnotische Experimente anstellen lassen, nicht etwa selbst machen! – – Also anstellen lassen, – durch Professor Merkel. Diesem großen Arzt wollte ich über Allan volle Klarheit geben. Aus den Werken über Seelenbeeinflussung, die ich studiert hatte, wußte ich, daß man durch Hypnose die eine von zwei Seelen, die in einem Körper wohnen, zu töten vermag.

So kam der Tag des Begräbnisses heran. Er brachte mir auch darüber Gewißheit, durch welche äußeren Einflüsse Franz Orske in Allans Körper einzog. Vermutet hatte ich wohl schon, daß die Witterung damit etwas zu tun haben müßte. Während der Feier in der Kapelle begann es zu regnen. Sofort wurde allerhand anders in seinem Benehmen. Da bemerkte ich an ihm etwas wie eine nervöse Unruhe. Dann begann er, mich mit Heliante anzusprechen … Ich fürchtete, daß die Trauerversammlung aufmerksam werden könnte, führte ihn schnell fort, nach seiner Wohnung. Und gerade vor seinem Haus brach die Sonne durch. Da war er plötzlich wieder Allan Dogmoore …

Ich wußte nun alles… – Ich ging zu ihm, beschwor ihn, ein Sanatorium aufzusuchen. Meine Bitten fruchteten nicht. Und mein Mund mußte stumm bleiben.

Bald darauf wurde ich verhaftet.

So überraschend mir dies kam, ich atmete auf, als ich erst erfahren hatte, weshalb die Polizei sich meiner Person versichern wollte.

Ich sollte Allan zu dem Mord gezwungen haben …!! –

Das würde Allan, dachte ich, immer noch leichter tragen als die Gewißheit, daß der Mordplan seinem eigenen Hirn entsprungen war.

Ich leugnete zunächst. Aus Berechnung. Später wollte ich langsam mit der Wahrheit herausrücken, – später, wenn erst Merkel Allan in Behandlung hatte. So hoffte ich, Allan vor dem Wahnsinn zu retten – oder dem Selbstmord. – –

Ich habe nichts mehr hinzuzufügen. Der Mörder erfreut sich noch seiner Freiheit, jener Mann im Schlapphut, den Franz Orske erblickte und der fraglos existiert. Wir wissen über ihn immerhin einiges. Zum Beispiel wird Allan – oder besser Franz Orske – sich wohl hinsichtlich der Hakennase kaum getäuscht haben. Er hat die Schilderung jener Begegnung mit dem Mann im Schlapphut sofort bei der Kremk noch unter dem frischen Eindruck des soeben Erlebten in das Tagebuch eingetragen.“

 

23. Kapitel.

Verbündete.

Beatrix schwieg.

Ich trat auf sie zu und sagte:

„Wie soll ich dir danken … Wirst du, kannst du mir verzeihen?“

Ihre Hände fanden die meinen.

Wir dachten nicht an Gunolt … Wir waren für viele Sekunden allein.

Ein eigenartiger Wohlgeruch umwehte mich.

Asra – Asra …!!

Und wieder war es Heliante, deren Finger ich umklammerte, nach der ich mich sehnte … – Heliante war tot und lebte doch …

In unsere glückselige Versunkenheit fielen Gunolts von warmem Gefühl getragene Worte hinein:

„Ich glaube Ihnen, gnädiges Fräulein. – Sie sind frei …! – Verzeihen Sie auch mir und helfen Sie, den Mörder zu finden.“

Unsere Hände lösten sich jetzt, und Beatrix sagte: „Ich helfe Ihnen! Nur müssen Sie mich in Ihre Absichten einweihen. – Im übrigen, vieles sprach gegen mich …“

Gunolt verbeugte sich. „Ich danke Ihnen herzlich, gnädiges Fräulein. – Wir drei sind nun also Verbündete. Die Hauptsache ist, daß die Öffentlichkeit vorläufig darüber nicht aufgeklärt wird, daß der Haftbefehl gegen Sie, gnädiges Fräulein, wieder aufgehoben ist. Der Mörder wird sich dadurch sicher wähnen. – Ich weiß allerdings nicht, gnädiges Fräulein, ob Sie es auf sich nehmen wollen, in den Zeitungen als …“

„Alles – alles nehme ich auf mich!“ unterbrach Beatrix ihn.

„Gut denn. – Ich schlage folgendes vor! Die Presse mag in gutem Glauben die Neuigkeit veröffentlichen, daß Sie, gnädiges Fräulein, und Doktor Dogmoore wegen Mordverdachts verhaftet sind. – Sie beide reisen heute sofort in meiner Begleitung nach Emden, und zwar von einer Station außerhalb Berlins, ab, wohin wir uns im geschlossenen Auto begeben. Ihre Eltern, gnädiges Fräulein, müssen ebenfalls zunächst noch in dem Glauben gelassen werden, daß sie beide Polizeigefangene sind. Bei ihrer Mutter, lieber Doktor, werden wir dann erfahren, ob Fräulein Barks Vermutung zutrifft, daß sie in ihrer Familie nicht der erste sind, der an Störungen des Seelenlebens leidet.“

Hier fiel ich Gunolt ins Wort.

„Ich bin überzeugt, daß Beatrix das richtige vermutet. Ich habe von meiner Mutter aus Anlaß von Heliantes Tod einen langen Brief erhalten, einen recht merkwürdigen. Darin finden sich Andeutungen, die ich heute erst verstehe. Diese Andeutungen über seltsame, unheimliche Gaben, die man uns Schotten noch außer dem zweiten Gesicht nachsagt, können sich nur auf ähnliches wie die Doppelpersönlichkeit beziehen. – Meine Mutter erwähnt auch ein Schreiben, das mein Vater vor seinem Verschwinden für sie zurückließ. Außerdem möchte ich meine Mutter fragen, weshalb sie sich einmal an Heliante schriftlich gewandt hat – ohne mein Wissen und ohne daß auch Heliante dieses Briefes je Erwähnung tat.“

Ich blickte Beatrix bei den letzten Worten forschend an.

Sie hatte mir ja von dem Brief erzählt …!!

Beatrix wurde rot, verwirrt … Dann sagte sie:

„Ich habe absichtlich dieses Schreiben vorhin übergangen, als ich mich von dem schweren Verdacht zu reinigen suchte. Jetzt aber muß ich wohl auch diesen Punkt aufklären. Deine Mutter schrieb damals unter anderem folgende Sätze, die sich mir ganz besonders eingeprägt haben: „Glauben Sie einer alten Frau mit vielen Lebenserfahrungen, es gibt keine Freundschaft zwischen Mann und Weib. Stets wird sie früher oder später sich in einen stärkeres Gefühl verwandeln: Liebe! – Und, wenn dies eintritt, dann bedenken Sie, daß eine solche Liebe sehr, sehr stark sein muß, um all das Schwere zu tragen, was das Schicksal mit grausamer Hand oft gerade in die glücklichsten Ehen hinein wirft. Dann bedenken Sie, daß mein Sohn einen Vater gehabt hat, der spurlos verschwand, der ein Schotte war, der von der Heimaterde auch nach Deutschland manch Außergewöhnliches gegen seinen Willen mitnahm, was nur in Schottlands Hochtälern gedeiht, – Gaben, die einen Fluch sind …“ – –

So etwa hieß es in dem Brief. – Was Heliante darauf geantwortet hat, weiß ich nicht.“

Gunolt fragte jetzt:

„Besinnen Sie sich auf irgend einen Herrn Ihres Bekanntenkreisen, der eine Hakennase hat?“

Beatrix meinte, die ihr bekannten Herren kämen sämtlich nicht in Betracht.

Plötzlich fühle ich jene mir nur zu wohlbekannte Unruhe, die einem „Anfall“ vorauszugehen pflegt.

Ich stehe auf, trete an das Fenster …

Die Steinplatten des Bürgersteiges gegenüber sind mit dunklen Flecken besprenkelten … Die ersten Regentropfen …

Ich warte – – auf ihn – ihn, der von ihr Besitz ergreifen soll …

Und er kommt …

Ich beobachte mich heute zum erstenmal ebenso genau, wie es Franz Orske getan hat, wenn er wieder Allan Dogmoore wurde …

Das erste sichere Anzeichen des beginnenden Austauschs der Persönlichkeiten ist ein Gefühl großer Müdigkeit. Aus dem Gefühl der Müdigkeit wird das des Ärgers, das sich bis zu einer gelinden Wut steigert.

Er, der sich dann an Gunolt wendet – Gunolt hat mir das folgende haarklein berichtet –, ist nicht mehr Allan Dogmoore …

„Was wollen Sie eigentlich hier von mir?!“ schreie ich ihn an. „Und was tut diese Dame hier – ha?! Sie ist meine Freundin, ist Beatrix Bark, die Schwester der Spionin, die einer für mich beseitigte … Ich bin müde, ich will heim, – – schlafen!“

„Sie sollen den Mann beschreiben, der Heliante tötete, Franz Orske …!“

„Zum Teufel – wer sind Sie?!“

„Ich bin der Kriminalkommissar Gunolt. – Wenn Sie, Franz Orske, nicht helfen, den Mörder Heliantes zu finden, so wird Allan Dogmoore das Henkerbeil zu kosten bekommen. Und dann – das wissen Sie ganz gut! – hat auch ihr Leben ein Ende!“

„Verdammt – steht die Sache so …?! – – Beschreiben soll ich den Mann …?! - Gut – – lassen Sie mich nachdenken … Er soll ans Messer – nicht der Doktor …! – Verrückte Geschichte! – Der Doktor bin eigentlich ich. Aber ich wüßte nicht, was mir gleichgültiger wäre, ob er den Kopf verliert, wenn eben nur nicht … – Also beschreiben: Ulster – dunkel, sehr weit, – ein ungehängter Sack … Hut – hellgrau, breite Krempe, Hutkopf eingeknickt … – – Hellgrau –?! – Unsinn! Der Mann hatte doch keinen Schirm, – ist doch im Regen zum Pavillon gekommen. Und ein nasser hellgrauer Hut wird dunkel …! – Aber er war hellgrau, dabei bleibe ich! Der Kerl wird ihn untern Ulster genommen haben, als er zum Pavillon eilte, hat vorher auf dem Hinweg vielleicht eine Mütze aufgehabt … – Und sonst – – richtig – stark gebogene Nase. So ist’s …! – – Noch was?! – Hm … – Ja, er ging mit den Fußspitzen nach innen. – Mehr kann ich nicht sagen, wer weiß ich nicht …“

„Dann dürfen Sie nach Hause …“

Gunolt flüsterte Beatrix etwas zu. Er begleitete dann mich, Franz Orske, bis zum Portale des Präsidiums …

Hier verschaffte er mir noch ein Auto.

Ich ließ mich von dem Chauffeur nach dem Kriminalgericht in Moabit fahren. Dort stieg ich aus, nahm einen Taxameter und … begab mich zur Kremk …

Ich klingelte sie heraus, da ich ja den Zimmerschlüssel nicht mit hatte. Sie lockte mich in ihre Wohnung, hielt mich hin und schickte ihre Aufwärterin zur nächsten Polizeiwache …

Gunolt fing die Frau an der Haustür ab. Er war mir gefolgt, kam dann in das Wohnzimmer der Kremk und … verhaftete mich – besser den anderen, brachte mich nach dem Präsidium zurück.

Unterwegs hörte der Regen auf … Ich wurde wieder Allan Dogmoore …

Gunolt und ich saßen in einem Auto. Was inzwischen geschehen, wußte ich nicht, bis er mich darüber aufklärte.

„Ich hätte eine so vollständige Ausschaltung der Persönlichkeit des Allan Dogmoore nicht für möglich gehalten,“ meinte Gunolt. „Der Regen kam zu sehr gelegener Zeit,“ fuhr er fort. „Wir wissen jetzt, daß der Mörder mit den Füßen nach innen geht, und zwar doch fraglos recht auffällig …!!“ –

Beatrix saß noch in Gunolts Zimmer, als wir zurückkehrten.

 

24. Kapitel.

Im Sanatorium.

Ich befinde mich in einem Sanatorium. Die Frau Oberin hat mir nach Rücksprache mit Gunolt ein Zimmer im ersten Stock angewiesen, während genau unter mir im Erdgeschoß Beatrix einquartiert worden ist.

Gunolt ist soeben gegangen; Gunolt, der jetzt über Beatrix und mich befiehlt wie ein Selbstherrscher.

Als wir von der Kremk zurückgekehrt waren, hatte er in seinem Dienstzimmer zu Beatrix und mir gesagt:

„Aus der Reise nach Emden kann nichts werden. Ich bitte Sie beide, vorläufig in aller Stille und Heimlichkeit in das Merkelsche Sanatorium überzusiedeln.“

Ich erwarte nun den berühmten Nervenarzt.

Ich hatte einen älteren, würdigen Herrn erwartet, und sah mich nun einem Mann gegenüber, der kaum älter, aber wohl noch einen halben Kopf größer als ich und recht hager war.

Die Stimme ist wohl das merkwürdigste an ihm.

Er hat mir liebenswürdig lächelnd die Hand gereicht. Wir nahmen Platz.

„Herr Gunolt hat mich nur in aller Kürze informiert, Herr Doktor,“ meinte er in unbefangenem Plauderton. „Erzählen Sie mir also selbst Ihre Lebensgeschichte.“

Ich begann, schilderte alles sehr eingehend. Besonders die Zeit von der traurigen Verlobungsfeier an. –

Merkel verabschiedete sich dann sehr bald, nachdem er mir noch eingeschärft, daß ich den für die Patienten erster Klasse bestimmten Teil des weiten Parkes nicht verlassen solle. Auch möchte ich nie vergessen, daß ich hier ein Privatgelehrter Dr. Albert Schulz aus Leipzig wäre, und nur mit Beatrix verkehren, die unter dem Namen Fräulein Beata Burg in der Hausliste geführt würde. –

Drei Tage verstrichen. Das Wetter blieb schön. Merkel kam nur zur Morgenvisite auf kurze Zeit. – Ich war viel mit Beatrix zusammen.

Gunolt ließ sich erst wieder am zweiten Tag abends sehen und erklärte mit ärgerlichem Achselzucken:

„Wir sind auf dem toten Punkt angelangt, fürchte ich. Schlapphut, Ulster und Einwärtsgang genügen scheint’s nicht, um den Mann zu fassen.“

Das klang wenig hoffnungsvoll. – –

Den nächsten Vormittag wollte ich mit Beatrix einen längeren Spaziergang machen. –

Ich will noch bemerken, daß das seltsame ineinanderfließen der beiden Gestalten der Zwillingsschwester sich wieder häufig einstellte und sogar so vollkommen, daß ich Beatrix zuweilen mit Heliante ansprach. Ich teilte dem Professor dies mit; er ging aber nicht weiter darauf ein.

Wir, Beatrix und ich, wollten also am dritten Tag einen Ausflug machen, natürlich im Einverständnis mit Merkel.

Der Morgen brachte jedoch Ostwind und träge ziehende Wolken. Ich traute mich daher nicht recht mit Beatrix allein zu weit von dem Sanatorium fort.

Ich äußerte meine Bedenken, aber Beatrix meinte:

„Deswegen bleiben wir nicht hier, auf keinen Fall! Ich fürchte dein zweites Selbst nicht, – das weißt du.“

Sie sagte das so eifrig, so flehend, als ob ihr etwas Besonderes daran läge, mich gerade an diesem Vormittag aus dem Sanatorium zu entfernen.

Wir brachen also gegen neun Uhr auf. Schließlich fiel mir das stille Wesen meiner Begleiterin auf.

„So schweigsam mit einemmal, Trixa?“ fragte ich, indem ich wieder – wie schon gestern – jenen Kosenamen gebrauchte, der von Heliante stammte, wie das Parfüm, das mich stets umwehte, wenn Beatrix nebenan war.

Sie blieb stehen.

„Allan, ich habe eine schwere Mission übernommen,“ sagte sie leise und zögernd.

Ich forschte. „Ist etwas geschehen, etwas, das – mir nachteilig ist?“

Sie nickte schwach...

„Nachteilige ist wohl nicht der richtige Ausdruck, Allan … Ein großer Schmerz, ein Verlust –“

„Mutter – meine Mutter …?“ schrie ich auf.

„Ja, Allan, – in der vergangenen Nacht … Da kam eine Depesche für dich an. Die brachte die Meißler zu Gunolt. Dann gestern abend ein Eilbrief, auch von deiner Tante … Hier ist beides. Gunolt bat mich, dir die Trauerbotschaft vorsichtig zu übermitteln …“

Wir gingen weiter. Ich war wie betäubt.

Die Depesche hatte ich überflogen: „Mutter sehr schwer krank. Sofort kommen, wenn möglich.“

„Hat Gunolt der Tante Nachricht gegeben, daß ich hierbleiben muß?“ fragte ich Beatrix.

„Ja. In einer längeren Depesche. – Dann hat er sich auch telephonisch noch mit ihr in Verbindung gesetzt. Er mußte es tun, Allan. – In dem Telegramm steht: „Sofort kommen, wenn möglich.“ – Wenn möglich …!?! Man hat in Emden gewußt, daß – daß –“

„– ich verhaftet bin …?!“

„Ja. Aus den Zeitungen erfuhr man’s …“

„Mein Gott, – daran habe ich gar nicht gedacht … Und meine Mutter – – ob sie etwa auch …“

„Ja, Allan, – sie hat jene kurze Notiz zuerst gelesen –. Und … drei Stunden später war sie nicht mehr. – Gunolt macht sich jetzt die bittersten Vorwürfen, weil er diese Nachricht von deiner Verhaftung hat verbreiten lassen …“ –

Plötzlich berührte ein feiner Tropfen mein Gesicht – noch einer – noch einer … Und da war ich auch schon wieder Franz Orske. –

Beatrix hat es sofort gemerkt. Ich habe ihr Brief und Depesche gezeigt, gefragt: „Was soll ich damit …?! Was geht mich Dogmoores Korrespondenz an …?!“

Beatrix hat sich sehr klug benommen.

Alles war ja mit Gunolt genau verabredet, wie ich nachher erfuhr …

Der Weg mündete auf einen Exerzierplatz. Beatrix führte mich noch dichter an die Reitbahn heran.

Das Regiment, das dort geübt hatte, rückte ab mit klingendem Spiel …

Beatrix sagte: „Es werden hier stets nach dem Dienst Rennpferde trainiert …“

Beatrix war Franz Orskes Freundin …

Gut – auch er wollte auf die Rennpferde warten …

Bald tauchten sie auf, – zwei magere, hochbeinige Gäule … Auf jedem hockte ein Stallbursche im Rennsattel.

Hinter den Gäulen kam ein leichter Jagdwagen hergefahren. Drei Herren darin. Einer in Uniform.

Jetzt gesellte sich plötzlich Professor Merkel zu uns. Er war uns heimlich gefolgt … –

Franz Orske benahm sich zu Merkel sehr umgezogen. Er hielt ihn vielleicht auch für einen Spion.

 

25. Kapitel.

Franz Orskes Sieg und Ende.

Der Jagdwagen hielt. Die Herren stiegen aus, gingen zu den Gäulen.

Dann stieg der in Uniform, ein kleiner, schmächtiger Gardeulan, in den Sattel. Schließlich lenkte er in die Hindernisbahn ein. Der Fuchs sprang tadellos. –

Während der kleine Ulan den anderen Gaul bestieg, sagte Merkel:

„Ist das nicht Kommissar Gunolt, der da auf die Herren zukommt?“

„Ja, es ist Gunolt,“ meinte Beatrix.

Franz Orske lachte auf.

„Ich kenne ihn –. Einer von den geheimen Greifern, von der Kriminalpolizei –!! Wir hatten letztens miteinander zu tun. Er verhaftete mich bei meiner Wirtin in der Rathenower Straße, bei der Kremk – mußte mich aber wieder laufen lassen –!“

„Gunolt hat eine Papiertüte in der Hand,“ meinte jetzt Beatrix. „Was mag nur darin sein?“

Gunolt lüftete drüben vor den Herren den Hut. Sie sprachen zusammen.

Der kleine Ulan ließ den Braunen über die Bahn gehen. Der sprang noch eleganter als der Fuchs.

Gunolt unterhielt sich mit dem schlanken Offizier in Zivil. –

Der dritte hatte eine Uhr in der Hand und stellte die Minuten und Sekunden fest, die der Braune für die abgesteckten 2800 Meter brauchte.

Nochmals mußte der Braune springen. –

Die Herren schienen zufrieden. Die Gäule wurden in Decken gehüllt und im Schritt nach Hause geritten.

Die vier Herren standen jetzt an der Hürde. Gunolt redete auf den ein, der die Zeit für die 2800 Meter mit der Stoppuhr festgestellt hatte.

Dieser Mann trug einen sehr weiten, dunkelbraunen Ulster und eine weiche Sportmütze, wie sie die Trainer bevorzugen.

Jetzt nahm er die Mütze ab, scheinbar widerwillig; setzte dann den grauen, breitkrempigen Filzhut auf, den der Kommissar aus der Papiertüte genommen hatte –.

Franz Orske entschlüpfte das erste „Ah“! gespannter Aufmerksamkeit –.

Der Mann im Ulster und Schlapphut überquerte die Hindernisbahn, bog links ab, schwenkte bald herum und eilte dann in halbem Laufschritt an den Büschen vorbei, die uns verbargen –.

Orske keuchte vor Aufregung, atmete hastig, – dann –.

„Ah – er ist’s – er ist’s!“

Es entfuhr ihm wohl gegen seinen Willen.

„Wer ist’s?“ fragte Merkel.

„Kümmert Sie einen Dreck –!“

„Aber Herr Orske, – bedenken Sie, was Gunolt damals zu Ihnen sagte –!“ mischte sich Beatrix ein. „Wenn der Mörder Heliantes nicht gefunden wird, droht Ihnen recht Unangenehmes –. Also – wer ist’s?“

„Na – vielleicht wirklich der Mörder –! Er geht ja auch einwärts! Und Hut und Ulster stimmen genau! Ganz genau sogar. Jetzt besinne ich mich, der Filzhut, der noch trocken war, hatte ein dunkleres Band als die Hutfarbe – wie der da! – Hm – nur – hm – die Größe des Mannes stimmt nicht, – nein, – die Nase auch nicht –.“

Beatrix trat plötzlich hinter den Büschen vor und schwenkte ihr Taschentuch nach Gunolt hin.

Merkel aber hatte seine beiden Hände Franz Orske schwer auf die Schulter gelegt –.

„Schauen Sie mich an, Orske!“ sagte der Arzt befehlend.

„Ha – – was soll das –?! Lassen Sie mich in Ruhe –!“

„Sie sollen mich ansehen –, recht genau ansehen –. Wir kennen uns schon von früher. Erinnern Sie sich –? Ja – blicken Sie mir nur in die Augen, – recht fest, dann werden Sie schon Ihr Gedächtnis auffrischen –. Jetzt – schließen Sie die Augen! Ich will es! Stehen Sie ganz still –. Sie werden jetzt einschlafen –sofort, – so – fort! – Schlafen Sie?“

„– Ja –!“

„Jetzt beantworten Sie mir meine Fragen. – Ich befehle es. – Werden Sie gehorchen?“

„– Ja –!“

„Wer sind Sie!“

„Franz Orske!“

„Nein, der sind Sie nicht! Es gibt keinen Menschen dieses Namens. Sie sind Doktor Allan Dogmoore. Ich befehle Ihnen, dies zu glauben. – Wer sind Sie?“

„– Doktor Allan Dogmoore –.“

„Nun geben Sie genau acht, was ich weitere befehle. Der angebliche Franz Orske waren nur die zweite Seele, die in Allan Dogmoore wohnte, die von ihm Besitz ergriff und die andere verdrängte, wenn er sich aus irgendwelchen Gründen in einer erregt Stimmung befand, und wenn gleichzeitig Regen einsetzte. – Diese Verwandlung wird nie wie-der geschehen – ich wünsche es! Franz Orske hört in diesem Augenblick auf zu existieren! – Sind Sie davon überzeugt?“

„Ja!“

„Erwachen Sie jetzt – sofort, – erwachen Sie!“

Er rüttelte mich leicht –.

Ich erwachte als Allan Dogmoore –. Öffnete die Augen, sah mich verwirrt um, strich mir nachdenklich mit der Hand über die Stirn – streckte dann Merkel dieselbe Hand zur Begrüßung hin:

„Sie sind Beatrix und mir gefolgt, Herr Professor. Hatten Sie Angst, daß ich Beatrix etwas antun könnte?“

Ich lächelte ganz wenig, ein befreites Lächeln war’s!

Ich war – Ich!! – Obwohl es regnete!

Merkel lächelte gleichfalls.

„Nein, bester Doktor, – ich hatte keine Angst um Fräulein Bark. Ich wollte nur diese Situation hier für meine erste Behandlung ausnutzen. Daß Gunolt die Herren dort drüben in bestimmter Absicht aufgesucht hat, wird Ihnen klar sein. Ich wußte, daß das, was wir hier eben gesehen, sich in dieser Weise abspielen würde, ich meine, daß der Mann im Ulster seine Mütze gegen den grauen Schlapphut austauschen und hier vorübereilen würde.“

Ich blickte jetzt unwillkürlich nach der Hindernisbahn hinüber –.

Der Jagdwagen war schon weit entfernt –.

Jetzt saßen aber vier Herren darin. Der vierte war Gunolt –.

„Ich denke, wir gehen heim,“ meinte der Professor. „Sie haben ja nun einen Mann in Schlapphut, Ulster und mit Einwärtsgang gesehen, Herr Doktor. Der Mörder war es nicht, – oder doch?“

„Nein! – Der, den ich bei Barks damals im Park bemerkte, war größer. Und er hatte eine starke Hakennase. – Aber – erklären Sie mir nun bitte, Herr Professor, weshalb mir Gunolt diesen Menschen hier vorgeführt hat –?“

„Zur Probe sozusagen, lieber Doktor. Sie sollten nur die Kleidung wiedererkennen und dabei sich vielleicht noch auf nähere Einzelheiten besinnen, das ist ja auch geschehen. Das dunklere Hutband! – Gunolt ist ein feiner Kopf, nicht umsonst berühmt!“

„So –, zur Probe –?! – Wenn Gunolt bereits Teile des Anzugs des Mörders so genau kennt, um einen dritten damit herausstaffieren zu können, dann müßte er doch eigentlich auch schon den Mörder selbst kennen –!“

„Die Sache liegt doch etwas anders, bester Doktor! – Das will Gunolt aber persönlich erzählen. Übrigens ist Ihr Inkognito überflüssig geworden. – Sie, gnädiges Fräulein, werden ja wohl sofort nach Hause zurückkehren. Unsern Doktor muß ich noch zwei Wochen hier behalten. Dann ist auch er frei. –“

Beatrix ging rechts neben mir. Ich schaute sie an, haschte nach ihrer Hand. – Unsere Augen strahlten –.

Frei – und gesund –!! –

Wir betraten durch die Seitenpforte den großen Garten des Sanatoriums.

Merkel verabschiedete sich, wir beide aber suchten uns eine leere Laube, wo wir ungestört den Brief meiner Tante lesen konnten.

 

26. Kapitel.

Das Wappen der Dogmoores.

Der Eilbrief enthielt folgendes:

Einen kurzen Brief meiner Tante. Er lautete:

„Mein lieber Allan!

Das Verhängnis, das seit Jahrhunderten über den Dogmoores schwebt, hat nun auch Deine Mutter, meine geliebte, einzige Schwester, ereilt. Ein unglückseliger Zufall ließ sie in unserer hiesigen Zeitung die Notiz über Deine und Deiner Schwägerin Verhaftung entdecken. Ein neuer Schlaganfall war die Folge. Aber sie fand doch noch die Kraft, einige wenige Zeilen für Dich mir zu diktieren sowie verschiedene Bestimmungen zu treffen. – Was ich unter dem Verhängnis der Dogmoore verstehe, wirst du aus den beigefügten Aufzeichnungen Deines Vaters ersehen.

Ich kann Dir heute nicht ausführlich schreiben, mein lieber Junge. Ich habe alle Hände voll zu tun. Aber wenn ich mehr zur Ruhe gekommen bin, hörst Du sofort wieder von mir –.“

Die gute, alte Tante –! Ich reiche Beatrix ihren Brief und greife nach dem letzten Gruß meiner Mutter –:

„Mein lieber, einziger, armer Junge!

Ich weiß, daß Du unschuldig bist, daß nicht Du es warst – nicht Du selbst –! –

Letztens schrieb ich Dir: „Ich wünsche nur, daß Dir noch Schwereres erspart bleibt.“ –

Nun ist doch zur Wahrheit geworden, was ich fürchtete! Auch Du leidest an der den menschlichem Geiste geradezu unfaßbaren Krankheit, die sich im Geschlecht der Dogmoore weitervererbte durch die Jahrhunderte als unheimliche Gabe. Aber mein heißes Flehen zu Gott wird in diesen Stunden, die mir noch bleiben, erhört werden. Deine Schuldlosigkeit wird an den Tag kommen! Ich segne Dich! – Deine Mutter.

Ich muß noch eine Nachschrift hinzufügen. –

Ich habe vor einiger Zeit der Tante, die Du stets als Deine Seelenfreundin bezeichnetes, einen Brief diktiert. –

Mein Brief an Heliante sollte eine Warnung sein. –

Heliantes Antwortbrief habe ich verbrannt. –

Du magst sie sehr geliebt haben. Deine Mutter sagt Dir, sie war nicht die Rechte für Dich! Zwischen den Zeilen Ihres Briefes war so manches zu lesen, was auf Eigenschaften hindeutete, die – kurz, sie war nicht die Rechte für Dich! –

Allan Dogmoore braucht ein Weib von starkem Charakter an seiner Seite. –

Ich segne Dich nochmals! –

Deine Mutter“

Nicht die Rechte –! – Ein Weib von starkem Charakter –!

Ich prüfe meine Empfindungen. War in meinem Herzen noch ein Rest von jenem fassungslosen Schmerz über den Verlust Heliantes?!

Nein! Das war alles längst verflogen –.

Merkwürdig, des Professors eiserner Wille hatte mich gesund gemacht! Und doch – das Ineinanderfließen der Gestalten der beiden Schwestern trat auch jetzt wieder ein, so daß ich mich geradezu zwingen mußte, mir darüber klar zu werden: Heliante ist tot! –

Zögernd reichte ich Beatrix nun auch der Mutter Zeilen –.

In einem offenen Umschlag, an der Seite jetzt aufgeschnitten, früher einmal versiegelte gewesen, lagen die Aufzeichnungen meines Vaters. –

Sie lauteten:

„Der erste Dogmoore, der in Chroniken erwähnt wird, starb durch Henkershand.

Bischof Norbert von Banff hat die Geschichte dieses ersten Dogmoore geschrieben. Er nennt ihn einen Bösewicht mit dem Herzen eines Kindes und dem Verstand eines Weisen. –

Die Gerichte der Grafschaft suchten seit langem einen frechen Räuber und Mörder. Das Weib eines Händlers, der in einem Hohlweg erschlagen und ausgeplündert worden war, bezeichnete dann den Grafen Dogmoore selbst als den Täter. Bald fanden sich weitere Zeugen gegen ihn. In der „Geschichte des Grafen Winnar Dogmoore“ heißt es „Der Graf kann nur vom Teufel besessen gewesen sein. Niemand hat ihm je etwas Schlechtes zugetraut. Er war – aber behaftet mit einigen Eigentümlichkeiten. So ließ er sich, wenn Regen und Sturm drohte, oft für Tage von einem alten Diener, der schon seines Vaters Vertrauter gewesen, in einem kleinen Gemach im Keller einschließen –.“ –

Winnard Dogmoores Tochter lebte glücklich und starb eines natürlichen Todes. Sein Sohn endete zwanzig Jahre nach ihm durch Selbstmord. –

Die Dogmoores, die seit den Zeiten des Sohnes jenes Winnard, des Straßenräubers, ein von Bischof Norbert entworfenes Wappen führten, darin einen Schwertträger mit zwei Gesichtern, unter denen zwei Herzen stehen, daß eine hell, nicht schraffiert, das andere dunkel, – diese Dogmoores sind zur Hälfte durch eigene Hand gestorben, einige auch spurlos verschwunden, andere in Irrenhäusern für immer untergetaucht –.

Ich war achtzehn Jahre alt, als mein Vater mir das düstere Geheimnis der Dogmoores mitteilte. Er hatte sich im Schloß einen Raum angelegt mit einer eisernen Tür, die, mit Kunstschlössern versehen, nur er zu öffnen wußte. Er führte mich dann in dieses langgestreckte Gemach, zeigte auf all die alten, wertvollen Bilder an den Wänden. – Er hatte sie sämtlich – gestohlen –!, Nein, nicht er, der andere –. Er sagte mir, daß man dem Bilderdieb, der selbst in London sein Unwesen trieb, auf der Spur sei. Am nächsten Morgen lag er tot in seinem Arbeitszimmer. – Schlagfluß, sagten die Ärzte.

Ich wußte es besser –.

An jenem Tag, als ich ihn als Leiche fand – es herrschte gerade ein furchtbares Unwetter – schon damals muß auch mich das Verhängnis erteilt haben. Das zweite Ich hielt seinen Einzug, die zweite Seele erwachte. Nur so ist es zu erklären, daß ich nachts in aller Stille die Gemälde in ein anderes Geheimnisgelaß schaffte.

Ich heiratete. Ich war glücklich.

Wenige Jahre glücklich – in denen das zweite Ich in mir tot war. Aber es erwachte wieder. Und der andere in mir wurde – der gefürchtetste Wilddieb der ganzen Gegend, der dann sogar – seinen eigenen Förster erschoß. Ich kam dahinter, daß nur ich die tödliche Kugel abgefeuert haben könnte. In denselben Tagen hatte einer der Diener, dem wegen Unredlichkeiten von mir gekündigt worden war, das verborgene Gemach und die Bilder entdeckt und holte insgeheim die Polizei. –

Die Dogmoore waren in der Heimat unmöglich geworden. Ich wanderte aus – nach Deutschland.“

 

27. Kapitel.

Der berühmte Gunolt.

Beatrix war mit auf mein Zimmer gekommen. Wir warteten auf Gunolt. Endlich klopfte es. –

Es waren Merkel und Gunolt.

„Wo haben Sie denn den grauen Filzhut, Gunolt?“ fragte ich.

„Der Filzhut hat seine Schuldigkeit getan,“ sagte er ernst. „Auch ich –! Das Verbrechen ist jetzt aufgeklärt. Der erste Verdacht lenkte sich auf Egon Wallner, der zweite auf Blenheim. Scheinbar habe ich mich nicht weiter um den gekümmert, in Wahrheit tat ich es durch einen Kollegen. Blenheim war zu der Verlobungsfeier ebenfalls geladen und hatte zugesagt. Mein Kollege stellte nun folgendes fest. –

Blenheim war an jenem Tage nachmittags drei Uhr mit dem Vorortzug nach Berlin gefahren, in Uniform, in dem entsprechenden Anzug für das Fest. In Berlin hatte er einen Bekannten, den Rittmeister von Palza von den Gardedragonern, aufgesucht, den er jedoch nicht antraf. Trotzdem blieb er in Palzas Wohnung, schickte dessen Diener dann aber sofort nach der Leipziger Straße nach einer bekannten Parfümerien und ließ sich eine Flasche Parfüm holen. Als der Diener zurückkehrte, war die Wohnung leer. Auf der Spiegelkonsole im Flur lag ein Zettel von Blenheim: „Bringen Sie mir das Parfüm nach der Kurfürstenstraße 38 zu Jefferson, zwei Treppen links. Benutzen Sie ein Auto.“

Der Diener war gegen fünf Uhr in der Kurfürstenstraße, läutete aber umsonst bei Jefferson an. Dann erschien in der anderen Flurtür eine Dame, eine Frau Herrig, die die ganze Etage gemietet hatte und bei der Jefferson als Untermieter wohnte. Sie erklärte dem Diener, er solle ihr nur das Parfüm geben; sie wisse Bescheid. Graf Blenheim sei nur zum Friseur gegangen. – Blenheim hat denn auch zehn Minuten später das Parfüm sich von der Herrig geben lassen und ist wieder in Jeffersons Wohnung hinübergegangen, zu der er einen Schlüssel besaß. –

Wenn Sie, Herr Doktor, für den Pferdesport Interesse hätten, würde Ihnen der Name Jefferson nicht fremd sein. Jefferson, ein Engländer, aber seit acht Jahren in Berlin ansässig, hält zusammen mit drei Offizieren der Garde einen Rennstall – den bekannten Stall Sentaleika, ein Phantasiename, zusammengesetzt aus je einer Silbe des Namens der Teilhaber. – Blenheim war mit Jefferson engbefreundet und ritt oft die Pferde des Stalles bei kleineren Rennen in der Provinz. –

Jefferson war erst gegen neun Uhr abends aus Hoppegarten nach Hause gekommen, als Blenheim bereits wieder nach Potsdam zurückgekehrt war. –

Für die kritische Zeit zwischen halb sechs und halb acht Uhr war das Alibi des Grafen durch Zeugenaussagen zum Teil nicht näher nachzuprüfen, wenn man sich eben nicht an ihn persönlich um Aufschluß hierüber wenden wollte. Ich vermied das letztere. Mein Kollege war so instruiert, daß Blenheim nichts davon erfahren konnte, daß die Polizei sich mit ihm beschäftigte.

Der Diener des Grafen, der des Rittmeisters von Palza, die Herrig und Jefferson waren befragt und zu strengstem Stillschweigen verpflichtet worden, das sie auch gehalten haben. –

Nun wollte ich mich über den Charakter, die Lebensführung und die Gewohnheiten Blenheims unterrichten. – Das Äußere Blenheims ist bestechend. Er ist ein Mann von großer Energie, vielseitigen Interessen, hohem persönlichen Mut und großem Ehrgeiz, aber auch andererseits sehr adelsstolz, empfindlich, verschwenderisch, brutal gegen Untergebenen, berechnend und ein leidenschaftlicher Spieler. Bei den Kameraden ziemlich unbeliebt, hat er keinen wahren Freund. Er verkehrte viel mit Jefferson, bei diesem „hängt“ der Graf mit großen Summen. Überhaupt sind seine pekuniären Verhältnisse schlecht.

In Ostende lernte er die Familie Bark kennen, genauer ausgedrückt, er suchte ihre Bekanntschaft, wobei er sich der Vermittlung einer adligen Heiratsagentin bediente.“

Hier machte Gunolt eine kurze Pause.

„Hatte ich nun Ursache, mich auf Grund dieses Charakterbildes noch eingehender mit Blenheim zu beschäftigen? – Nein! Ich verfolgte ja eine andere Spur, die mir wichtiger und vielversprechender erschien. Trotzdem schied der Graf nie völlig für mich aus. Ich will erklären, aus welchem Grunde. Mir kam es verdächtig vor, daß er in Jeffersons leerer Wohnung sich offenbar bis gegen ein halb neun Uhr abends aufgehalten hatte, nachdem er inzwischen anscheinend nur einmal bei dem Friseur und dann bei Barks gewesen war, wo der Pförtner ihm mitteilte, weshalb das Fest nicht stattfinde. – Ich möchte betonen, er war allein in Jeffersons Wohnung, der sich keinen Diener hält. – –

Kurz – es war nicht Blenheims Charakterbild, das mich ihn als Täter stets sozusagen in Reserve halten ließ, sondern dieser Aufenthalt in Jeffersons Wohnung. Blenheim hatte nämlich gewußt, daß der Engländer draußen in Hoppegarten war und vor neun Uhr nicht zurück sein konnte …! Ich erwähne dies jetzt erst, da ich die Tatsache ebenfalls erst später erfuhr, nämlich am Morgen des Begräbnistages Heliantes durch Jefferson persönlich, der mich auf meinem Bureau aufsuchte, um sich darüber zu beschweren, daß einer meiner Agenten ihn fortgesetzt belästige. Er wisse wirklich über den Grafen nichts weiter, als er bereits angegeben habe, sagte er. – Im Laufe der Unterhaltung drehte ich dann den Spieß um und holte aus Jefferson die bereits erwähnte Tatsache heraus. Als er gegangen war, überlegte ich mir das Verhalten des Grafen. Mein Mißtrauen galt dem Besuch bei Palza und dem dem Diener erteilten Auftrag. –

Ich begab mich zu der Herrig und fragte sie, ob Graf Blenheim damals, als er den Diener mit dem Parfüm erwartete, vielleicht schon parfümiert gewesen sei, worauf die Frauen mir erwiderte: „Allerdings war er parfümiert, und zwar sehr stark. Er liebt das. Ich weiß auch, daß er stets Safranor benutzt.“ – – Weshalb, fragte ich mich nun, hat Blenheim durchaus noch ein frisches Fläschchen Safranor haben wollen? Vielleicht, um es mit nach Potsdam zu nehmen, – wo er es doch aber ebenso gut erhalten konnte?! –

Der nächste Schritt war, daß einer meiner Beamten, der sich mit Blenheims Diener angefreundet hatte, sofort nach Potsdam hinaus mußte, um festzustellen, ob der Graf noch mit Safranor versehen war. –

Der Erfolg? – Blenheim besaß noch eine kaum angebrauchte Flasche davon! – – Sein Besuch bei Palza und weiter der Aufenthalt bei Jefferson wurde durch diese Kleinigkeit für mich in ein besonderes Licht gerückt. Und deshalb habe ich später, als die Hauptspur sich als falsch erwies, mich nur noch an Blenheim gehalten.

 

28. Kapitel.

Doch Eifersucht!

„Unterdes schaffte ich Sie, gnädiges Fräulein, und unsern Doktor zunächst einmal hierher zu Professor Merkel. Hierauf begann die Arbeit gegen Blenheim. Ich habe Jefferson in seiner Wohnung besucht. Ich kam wieder auf jenen Tag zu sprechen, an dem Blenheim stundenlang allein in des Engländers elegantem Junggesellenheim gewesen war.

Jefferson ist nicht auf den Kopf gefallen.

„Was wollen Sie nur immer wieder mit dem Grafen?“ meinte er sehr bald. –

Ich schenkte ihm also reinen Wein ein. – Er war ganz entsetzt:

„Herr im Himmel – wenn Sie recht hätten, – wenn Blenheim wirklich …!!“

Dann erhob er sich schnell und sagte: „Ich hole Ihnen mal meinen Ulster und Hut.“

Was er mir brachte, war ein sehr weiter, dunkelbrauner Ulster und ein grauer, breitbandiger Filzhut …!! – –

Der Mörder war gefunden. Es handelte sich nur noch um das Motiv. Vielleicht konnte mir Jefferson hierüber Aufschluß geben. – – Es war nicht viel, was ich von ihm erfuhr. Er sprach von einer erhöhten Reizbarkeit Blenheims in der letzten Zeit. Dann besann er sich darauf, daß der Graf an dem Tag, an dem er die Verlobungsanzeige Heliantes erhielt, seit unbedenklicher Zeit sich wieder einmal schwer betrunken hatte.

Weiter hatte Jefferson einmal auf Blenheims Schreibtisch einen Zettel mit einem Gedicht gefunden, mit Bleistift geschrieben und vielfach verbessert, ein sehr überschwängliches Gedicht, in dem auch von einem „Zauberduft“ die Rede gewesen war, den ein Liebender der Geliebten gespendet hatte und durch den dann ein bald begünstigter Nebenbuhler angelockt worden war. Der Zauberduft erinnerte mich sofort an das Asra-Parfüm Heliantes. Und nun kam durch Jefferson heraus, daß Heliante das Geheimnis der Zusammensetzung des Asra sehr wahrscheinlich durch Blenheim erfahren hatte.

Für mich stand es fest, daß der Mord jetzt seine volle Aufklärung gefunden hatte. Aber die Tat mußte dem Mörder auch bewiesen werden.

Ich ließ nun bei sämtlichen Chauffeuren nachfragen, ob einer von ihnen an jenem Tag nachmittags zwischen ein halb sechs und sieben Uhr etwa in der Gegend der Kurfürstenstraße einen Fahrgast bekommen hätte, der einen Ulster und einen grauen Filzhut oder – und dies ist wichtig – eine Mütze trug, eine Sportmütze oder dergleichen. –

Die Mütze kann deshalb in Betracht, weil Sie, lieber Doktor, doch bemerkt zu haben glaubten, daß der graue Filzhut kein Regenspuren gehabt hatte. Mithin konnte der Mörder den Filzhut erst nach der Tat aufgesetzt haben, um seine Verfolgung für alle Fälle durch diesen Wechsel der Kopfbedeckung zu erschweren.

Gleichzeitig ließ ich in sämtlichen Geschäften, die für einen solchen Einkauf in Betracht kamen, nachfragen, ob damals eine Larve mit einer Hakennase oder nur eine Pappnase am Nachmittag von einem Offizier oder einem Dienstmann verlangt worden sei. – Nach der Herkunft des neuen Dolches, mit dem der Mord verübt worden war, Ermittlungen anzustellen, hielt ich für überflüssig. –

Der betreffende Chauffeur wurde gefunden und ebenso das Geschäft, in dem ein Dienstmann für einen Offizier, der einen langen Umhang getragen, eine Pappnase gekauft hatte. Ich zeigte ihm Blenheims Photographie, die ich mir von Jefferson hatte geben lassen, und er meinte sofort: „Ja, das ist der Offizier!“

Der Chauffeur wieder gab folgendes an. –

Kurz vor ein halb sechs Uhr nachmittags habe ihn vor dem Haupteingang des Zoologischen Gartens ein Herr in Ulster und Reisemütze angerufen und sich nach der Villenkolonie Grunewald, Ecke Delbrückstraße und Bismarckallee, fahren lassen. Dort habe der Herr ihm zehn Mark gegeben und ihn beauftragt, ihm fünf leichte Zigarren einzukaufen und dann an derselben Ecke auf ihn zu warten. Er sei denn auch nach dem Kurfürstendamm gefahren, habe dort die Zigarren erstanden und sei sofort wieder zurückgekehrt. Wenige Minuten darauf sei der Herr, der unter den weiten Ulster irgendeinen Gegenstand trug – natürlich den grauen Filzhut! –, ebenfalls erschienen und habe sich nach dem Kaufhaus des Westens bringen lassen. – –

Jetzt blieb nur noch eins unklar. Woher hatte Blenheim gewußt, daß er sein Opfer in dem Pavillon um diese Zeit vorfinden würde –? Doch darüber will ich nachher sprechen. – – Nun zu dem heutigen Tage. Ich wollte Ihnen, um ganz sicher zu gehen, Ulster und Hut ganz unerwartet vorführen lassen, wozu ich Jeffersons Hilfe brauchte. –

Die Herren im Jagdwagen nahmen mich nachher mit nach der Stadt. Ich suchte sofort Blenheim auf, der soeben vom Dienst heimgekehrt war.

Ich ging ohne Umschweife auf mein Ziel los:

„Ich muß Sie ersuchen, mir einige Fragen zu beantworten, Herr Graf. Ich komme in amtlicher Eigenschaft. Zu welchem Zweck ließen sie sich letztens die Pappnase durch einen Dienstmann kaufen?“ fragte ich.

„Weil ich sie brauchte!“

„Wozu?“

„Das ist meine Sache!“

„Geben Sie auch zu, Herr Graf, sich an demselben Nachmittag bei Herrn Jefferson dessen Kleider angezogen zu haben?!“ sagte ich weiter und gab mir alle Mühe, ebenso gleichgültig zu tun.

„Natürlich!“

Ich glaubte wahrhaftig, mich verhört zu haben.

„Räumen Sie denn auch ein, Heliante Bark ermordet zu haben?!“

„Halten Sie mich für einen Feigling, Herr Kommissar? – – Meine schriftliche Selbstbezichtigung wäre längst bei der Polizei eingegangen, wenn ich nicht noch einiges vorher zu ordnen gehabt hätte. Das ist nun erledigt. – – Hier ist mein schriftliches Geständnis.“

Während ich die Anschrift überflog, zog er den Revolver aus der Joppentasche …

Ich fing den Umsinkenden auf. Er war sofort tot.“ –

Gunolt schwieg eine Weile, dann zog er einen Brief aus der Tasche.

„Ich will das Geständnis vorlesen. Es ist ebenso merkwürdig der Form nach wie der ganze Mensch. – –

„Ich, Graf Axel Blenheim, erkläre hiermit, daß ich allein, ohne Beihilfe eines anderen, Heliante Bark ermordet habe. Über die Gründe, die mich zu diesem Verbrechen getrieben haben, werde ich schweigen. Während mein Diener mit diesem Schreiben unterwegs ist, erschieße ich mich.

Ich bin an jenem Nachmittag zuerst zu Rittmeister von Palza gefahren, um mich nicht sofort vom Bahnhof zu meinem Freund Jefferson zu begeben. Dies hätte auffallen können. Aus demselben Grund schickte ich auch Palzas Diener nach einer Flasche Safranor. Ein Mörder wird nicht, sollte die Polizei folgern, kurz vor der Tat noch Parfüm einkaufen. –

Ich wußte, daß Jefferson nicht daheim war. Ich habe einen Schlüssel zu seiner Wohnung. Ich ließ mir durch einen Dienstmann, der seinen Standplatz am Kaufhaus des Westens hat, eine Pappnase kaufen, kehrte dann in Jeffersons Wohnung zurück, zog seine Kleider an, setzte mir eine Reisemütze auf und verließ das Haus, indem ich unter dem Ulster einen hellgrauen Filzhut Jeffersons verbarg. Dann fuhr ich vom Haupteingang des Zoos nach dem Grunewald zu. –

Ich bin der Ansicht, daß diese Angaben genügen werden, um zu beweisen, daß Fräulein Beatrix Bark und Doktor Dogmoore unschuldig sind. Immerhin sei noch erwähnt, daß ich den Dolch zwei Tage vor dem Mord in Charlottenburg, Bismarckstraße, bei Rendel, gekauft habe. Ich war damals in Zivil. –

Ich gebe zu, daß ich anfänglich nicht die Absicht hatte, für mein Verbrechen durch Selbstmord zu büßen. Ich hoffte sogar bestimmt, Heliante Barks Tod würde nie aufgeklärt werden, aber auch kein Unschuldiger in Verdacht geraten. Ich habe mich geirrt. –

Ich bitte nur, die beiden sofort zu entlassen. –

Ich versichere auf mein Ehrenwort als Offizier, daß dieses mein Geständnis den Tatsachen entspricht.

Graf Axel Blenheim.“

„Ich habe Blenheim,“ erklärte Gunolt nunmehr recht zögernd, „insofern doch überrascht, als er nicht mehr Zeit fand, Heliantes Briefe, ihr Bild und die Gedichte, die er ihr gewidmet hatte, zu vernichten. – Der letzte Brief Heliantes an ihn ist offenbar die Antwort auf eine Bitte seinerseits, ihm noch eine allerletzte Aussprache unter vier Augen zu gewähren. In diesem Brief – hm – ja – in diesem Brief bestellt Heliante ihn nämlich auf pünktlich zwanzig Minuten vor sechs Uhr am Tage der Verlobungsfeier in den Pavillon …“

Ich saß da wie erstarrt …

Heliante hatte … –

Doch Gunolt ließ mir, wohl absichtlich, keine Zeit, solchen Gedanken nachzuhängen. Er meinte:

„Ich bin überzeugt, daß Blenheim Heliante angefleht haben wird, die Verlobung wieder zu lösen. Mit dem entschiedenen Nein, das man als Antwort annehmen muß, sprach sie sich selbst das Todesurteil.“

Diese kühlen, zum Teil scharfsinnigen Bemerkungen kamen mir fast brutal vor in Beatrix’ und meiner Gegenwart. Oder – war es bei mir nur der Wunsch, nicht mehr an Heliante erinnert zu werden …? –

Ich hoffte auf ein anderes Thema …

Aber Merkel begann nun die Frage zu beleuchten, ob Axel Blenheim bei der Begehung der Tat voll zurechnungsfähig gewesen sei.

Wieder wurde Heliante genannt, wieder wurden die Briefe erwähnt, die sie an den Grafen geschrieben hatte und von denen ich nichts wußte …

Ich habe absichtlich auf diese Ausführungen nicht geachtet.

Ich saß da und schaute durch das Fenster in den lachenden Sonnenschein hinaus …

Der Himmel war klar. Kein Wölkchen mehr zu sehen.

Klar war es auch in meinem Herzen geworden.

Meine Mutter hatte doch recht gehabt mit ihrer Ansicht über Heliante …!!

 

29. Kapitel.

Übers Jahr, mein Lieb …

Morgen bin ich frei, morgen werde ich aus dem Sanatorium entlassen …

Ich stehe am Fenster meines Zimmers …

Es regnet …

Ich lächle, – lächle so ruhig.

Die Tropfen rinnen am Glas entlang, hinterlassen feuchte Streifen …

Mag es regnen! Was tut es mir …?! – Nur nachmittags soll die Sonne leuchten – nachmittags, wenn Barks kommen … – –

Der Nachmittag hat den Sonnenschein und die Gäste gebracht. Wir haben im Park Kaffee getrunken.

Aber Trixa und ich fühlen uns am Kaffeetisch sehr überflüssig. Wir gehen denselben Weg nach dem Exerzierplatz wie damals – – das liegt für mich Jahre zurück – nicht erst zwei Wochen …

Wir stehen auf der Anhöhe unter den Buchen. Friedliche Stille ringsum – fast feierlich.

Wir stehen und schweigen …

Neben uns knackt ein Ästlein am Boden. Ein ärmliches, kleines Mädchen streckt mir einen großen Strauß Feldblumen hin …

„Kaufen Sie ‘n doch für Ihre Frau, Herr … Nur zwanzig Pfenn’je..!“

Wir sind beide rot geworden …

Das Kind springt vergnügt mit einem Goldstück davon … –

„Für meine Frau …“ sage ich leise und drücke das Gesicht in die schlichten Blumen …

Trixa schaut mich an. Unsere Blicke halten sich fest, reden ihre Sprache …

„– übers Jahr, mein Lieb, übers Jahr …!“