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Seine Frau – sein Schicksal

Roman-Perlen

 

Seine Frau – sein Schicksal.

 

Ein Zeitroman von Walther Kabel.

 

 

1. Kapitel.

Freitag, der 21. Dezember …

Anni Stelter tat noch immer, als ob sie schliefe. Sie hörte, wie ihr Mann das Tischchen leise neben das Bett stellte und das Teebrett vorsichtig niedersetzte. Ein Löffel klirrte leise, und der Duft des frisch zubereiteten Kakaos stieg Anni in das eigenwillige, halb in die Kissen vergrabene Stupsnäschen.

Es war, wie immer, bevor Heinz Stelter in den Dienst ging. Nur daß Annis Laune sich seit gestern abend durchaus nicht gebessert hatte.

So hörte Heinz behutsam in dem langgestreckten Schlafzimmer hin und her wandern, mit den ungleichen Schritten, an denen seine Beinverkürzung schuld war.

‚Wenn ich nur erst allein wäre,‘ dachte sie gereizt. ‚Weshalb schleicht er so?! Er weiß ja doch, daß ich wach bin! Komödie – ekelhaft!‘

Ihre Gedanken sprangen rückwärts …

War das gestern wieder ein Nachmittag und ein Abend gewesen!! Was konnte sie dafür, daß er die Weihnachtsgratifikation von der Bank noch nicht erhalten hatte?! War sie dafür verantwortlich, daß sie nur wieder eine kraftlose Suppe auf den Tisch gebracht und nichts davon angerührt hatte, daß ihr dann die Galle überlief, als Heinz sich mit solchem Heißhunger über die Suppe hermachte und sie immer wieder als vortrefflich geraten lobte?! War sie nicht im Recht gewesen, als sie mit dem Fuße aufgestampft und ihm über den Tisch zugerufen hatte: ‚Dir schmeckt ja alles – alles! Ob ich verhungere, ist dir gleichgültig!‘ Und – hatte er da wirklich in seiner geduldeten Art erwidern müssen, daß die Gratifikation ihnen doch für die Feiertage leckere Dinge in Aussicht stellte, daß man sich eben einrichten müsse, wie so viele jetzt, und daß auch wieder bessere Zeiten kommen würden …?!

Bessere Zeiten?! Woher wohl?! – Diese zwei Jahre ihrer Ehe waren ja nichts anderes gewesen, als Sparen, Sparen, Darben, Verzichten! Und so würde es bleiben! Immer – immer! Wie sollte es Heinz bei der Bank zu einem größeren Einkommen bringen, wo er doch nur als Kriegsbeschädigter, als früherer Gutseleve, dort untergeschlüpft war?!

Ja – sie hatte mit dem Fuße nochmals aufgestampft. Sie wollte Heinz endlich einmal aus seiner Ruhe bringen. Nichts reizte sie so sehr, wie seine grundgütige, nachsichtige Art. Und gestern war’s ihr dann wirklich geglückt. Was noch nie geschehen, er hatte nach einem stillen Blick auf ihr erregtes Gesicht das Zimmer verlassen, hatte im Flur Mantel und Hut genommen und hatte sich aus der Wohnung entfernt, war erst um zehn Uhr zurückgekehrt, als sie längst zu Bett gegangen und einen traumlosen Schlummer durch ein Morphiumpulver herbeigezwungen hatte … Und leise hatte er sich dann selbst niedergelegt. Für Minuten war sie erwacht und hatte die Standuhr nebenan im Eßzimmer mit tiefem Gongton zehn schlagen hören …

Zehn … zehn..!! – Das bohrte sich jetzt in ihr Hirn hinein! Erst um zehn war er heimgekehrt! Wo war er all die Stunden gewesen …?!

Ihre Eifersucht erwachte jäh …

Sie richtete sich mit einem Ruck im Bett auf.

Auf dem Tischchen brannte wie immer die kleine elektrische Stehlampe mit dem gelben Seidenschirm, warf ihr gedämpftes Licht über den Raum mit den hellen Eichenmöbeln und über Heinz Stelters schlanke Gestalt, der gerade drüben am Fenster seine Frühstücksbrote in Papier einschlug.

„Wo warst du gestern?“ fragte die zierliche Frau Anni in herrischem Tone.

Er drehte sich langsam um.

„Bei Luckners,“ erwiderte er kühl. – Es fiel ihm schwer, den Gleichgültigen zu spielen. Aber Gerd Luckners eindringliche Worte hatte er noch nicht vergessen: ‚Beweise ihr, daß du hart sein kannst, sonst geht eure Ehe zum Teufel!‘

Anni lachte schrill …

„Natürlich – bei Luckners! Und natürlich hat er dich wieder aufgehetzt! Ich merkte das! Ich weiß seit langem, daß er dir seine sogenannte Lebensweisheit aufdrängt, – der – der Schieber!!“

„Anni …!!“

„Laß mich in Ruhe!“

Sie warf sich in die Kissen zurück …

„Nimm den Kakao weg! Der Geruch ist mir widerwärtig! Jeden Morgen Kakao und Margarinestullen!“

„Ich bringe dir nachmittags aus dem Dienst Brötchen und ein halbes Pfund Butter mit, Anni …“

Das war schon wieder der bittende, fast demütige Ton. – Heinz Stelter ärgerte sich über sich selbst. Aber sollte er denn wirklich so in Unfrieden von ihr gehen, sollte sie ihn nachmittags wieder übellaunig empfangen?!

Er näherte sich zaghaft ihrem Bett.

Sie hatte die Augen zugekniffen, dachte: ‚Zum zweiten Male soll er es nicht wagen, mich ein ganzen Abend allein zu lassen!‘

„Anni!“ bat er leise und strich ihr mit der Hand sanft über das Haar …

„Geh’!“ fauchte sie. „Geh’! Dir gefällt es ja bei Luckners besser!“ Sie redete sich schnell wieder in eine ziellose Wut hinein. „Luckners hatte natürlich den Abendbrottisch reichhaltiger gedeckt, als wir! Daß ich hungrig zu Bett gehen mußte, hat dich vielleicht noch gefreut, während du bei Luckners …“

„Anni..!!“ Er beugte sich noch tiefer über sie. Er fühlte sich schuldbewußt. Es war ja Tatsache, daß es ihm in der behaglichen Häuslichkeit des Kollegen sehr gut geschmeckt, daß er dort zeitweise Anni ganz vergessen hatte.

„Anni, du hast dir doch so lange schon die Lackschuhe aus dem Schaufenster von Wolffsdorf gewünscht … Wenn ich heute die Gratifikation bekomme, und die muß ja heute ausgezahlt werden, gehen wir nachmittags hin und holen die Schuhe …“ –

Er log – er log mit jener Kaltblütigkeit, die er sich in dem letzten Jahr seiner Ehe angewöhnt hatte. Er mußte so oft lügen. Sonst hätte er es daheim überhaupt nicht mehr ausgehalten. Er wußte, daß die Bank, genau wie alle anderen Großbanken, in diesem Jahre 1923 zum ersten Male seit langer Zeit die Angestellten ohne Geld in die Weihnachtsfeiertage schicken würde. Er wußte es seit gestern schon … Nicht einmal der Gehaltsrest für Dezember sollte zur Auszahlung gelangen.

„Geh’!“ rief Anni schrill und stieß seine Hand weg.

Die Standuhr nebenan schlug halb acht.

Heinz Stelter horchte auf und trat zurück. Er ballte die Hände zu Fäusten …

Da war sie wieder, diese haßerfüllte Feindseligkeit, die ihn auch gestern Nachmittag aus dem Hause getrieben hatte. Aber sie schwand ebenso schnell dahin, wie gestern, wie stets. Warnend tauchte vor seinem inneren Auge dann eine Szene auf, die sich schon dem Kinderhirn unauslöschlich eingeprägt hatte: der jähzornige Vater, der in Gegenwart der Kinder die Mutter ins Gesicht geschlagen hatte …! –

Er hinkte hinaus, zog im Flur den abgetragenen Ulster an und setzte den Hut auf …

Verließ die Wohnung, schritt die Treppe hinab, trat auf den großen Hof hinaus.

Über Nacht hatte es wieder geschneit. Der Hauswart Lemke fegte den Schnee beiseite.

„Morjen, Herr Stelter …“ Lemke klopfte mit dem Besen auf die Fliesen. „Wat ick noch sagen wollte, Herr Stelter …“

Heinz blieb stehen …

„Ihre Frau hat da jestern nachmittag wieder so laut jeschrien, daß der Rentjee Haberland sich beschwert hat. Det jeht doch so nich weiter, Herr Stelter …“

Heinz schoß das Blut ins Gesicht.

Der Hauswart schaute an ihm vorbei …

„Ne, det jeht wirklich nich …! Seh’n Sie, Herr Stelter, Ihre Frau treibt det wirklich ‘nen bißken doll. Na, mir sollte det nich passieren. Der Mann is doch in drei Deibels Namen der Herr im Hause!!“ Wütend stieß er mit dem Besen in einen Schneehaufen. „Ihnen, Herr Stelter, haben wir hier ja alle jern. Aber …“

„Entschuldigen Sie … Ich muß zum Dienst,“ stammelte Heinz Stelter und eilte weiter, so rasch er es bei seinem Gebrechen vermochte.

Und abermals krallten sich da in den Ulstertaschen seine Hände zu Fäusten …

„Schlapper Kerl – – schlapper Kerl!“

So hatte Gerhard Luckner ihn gestern genannt, als er ihn um halb zehn noch eine Strecke heimbegleitet hatte.

„Schlapper Kerl …!!“

Und – nichts anderes hatte Hauswart Lemke soeben ausgesprochen, wenn auch in rücksichtsvoller Umschreibung.

Heinz Stelter rannte plötzlich, wie gehetzt, davon. Als ob er vor dem besinnungslosen Haß flüchtete, der jetzt gegen Anni in ihm aufgeflammt war.

Sein sonst so frisches Gesicht war bleich. Er fühlte, wie ihm die Wangenmuskeln zuckten. So fest preßte er die Zähne zusammen …

Was – was hatte diese Zierpuppe in diesen zwei Jahren aus ihm gemacht!! Einen Lügner, fast einen Betrüger!! Einen Menschen, den die Hausbewohner bemitleideten, der sich schämen mußte, den Leuten zu begegnen, die seine Ehe mit der erheuchelten Teilnahme der Glücklicheren durchhechelten!

So rannte er hinkend an den Anlagen des Matthäikirchplatzes vorrüber …

Sah nicht das friedliche Winterbild des schneegekrönten Gotteshauses, nicht die schlanke Mädchengestalt, die an der Ecke der Magaretenstraße im Dämmerlicht des Wintermorgens gestanden hatte und erst weiterging, als sie Heinz Stelter erkannt – sicher erkannt hatte.

Er überholte sie …

Er wollte vorüber. Er hatte heute für nichts Augen, nicht einmal für Helene Brenken, seine Pultnachbarin aus der großen Galeere, der Bank …

„Herr Stelter …!!“

Da erst erwachte er …

Und schämte sich dessen, was soeben wie ein Heer von Furien um ihn gewesen.

Er suchte sich zusammenzunehmen. Wandte sich um und lächelte gequält …

„Guten Morgen, Fräulein Brenken …“ Er keuchte noch. „Ich … ich glaubte, es wäre schon sehr spät …“

So suchte er dieses wilde Dahinjagen kläglich zu begründen.

Helene Brenken reichte ihm die Hand, schwieg. Nur ihre großen, klaren Augen ruhten ein paar Sekunden forschend auf seinem Gesicht.

Sie schritten auch stumm eine ganze Weile nebeneinander weiter. Sie trafen sich oft auf dem Wege zur Bank. Helene wohnte in der Matthäikirchstraße.

„Nun habe ich noch mein Frühstück daheim vergessen,“ sagte Heinz Stelter dann plötzlich.

„Ihre Gattin wird es Ihnen ja bringen,“ meinte Helene tröstend. Kaum hatte sie den Satz beendet, als sie ihn auch schon bereute.

Heinz hatte seltsam hart aufgelacht. – Anni – Anni, die nie vor zwölf Uhr aufstand …!! Da hätte er lange warten können!!

Aber dieses Lachen kam ihm auch sofort wie eine Bloßstellung Annis vor. Und hastig sagte er: „Meine Frau ist sehr schwächlich, Fräulein Brenken. Sie soll recht lange schlafen, hat der Arzt gesagt.“

Schon wieder log er. Wie widerwärtig das war! Und stets Annis wegen – stets! –

Helene Brenken begann von anderen Dingen zu sprechen. Sie wußte genau, wie es um Heinz Stelters Ehe stand. Stelter verriet sich ja so oft, ohne es zu ahnen. Er traute Helene weit weniger Menschenkenntnis zu, als sie in Wahrheit besaß. Wenn er in der großen Galeere an seinem Pult über die mit Firmennamen und Zahlen gefüllten Bogen hinweg ins Leere starrte, wenn seine Nachbarin ihn dann still beobachtete, so empfand sie stets inniges Mitleid mit diesem herzensguten, von Natur so fröhlichen Menschen, dessen Wesensart Gerd Luckner ihr gegenüber einst mit seinem ungewaschenen Mundwerk durch die Worte gekennzeichnet hatte: ‚Ein Kerl, mit dem man Pferde stehlen gehen kann, aber ein Waschlappen, den jedes schlaue Weib vollständig umkrempelt!‘

 

2. Kapitel.

Die Galeere.

Heinz Stelter schaute nach rechts durch das breite Fenster des Saales in den Park hinab, der hier nach Osten zu an die Rückfront des Bankpalastes grenzte. Es war der Park eines Schlosses, das einem fürstlichen Kohlenmagnaten gehörte, ein Stückchen poesievoller Natur inmitten des Häusermeeres der Weltstadt.

Stelter liebte diesen Park. Es war so schön, im Frühjahr das Knospen der Bäume zu beobachten und dann nach einem warmen Regen mitzuerleben, wie die Büsche und die Kastanienallee plötzlich das etwas düstere Schloß mit einem freundlichen grünen Rahmen umgaben. Dann wanderten seine Gedanken oft rückwärts nach jenem mecklenburgischen Gute hin, wo er seine kurzen, durch den Krieg so jäh unterbrochenen Lehrjahre als Landwirt zufrieden und glücklich trotz des anstrengenden Dienstes durchgemacht hatte, wo er noch mit gesunden Gliedern auf dem Rücken eines flinken Pferdes über kräftig duftende, soeben vom Pfluge aufgeworfene Erdschollen dahingesprengt war und abends mit der Pirschbüchse den Rehböcken nachgestellt hatte. –

Ja das war doch noch ein Leben gewesen, anders als diese geisttötende und nervenfressende tägliche Hetzarbeit unter der Aufsicht übellauniger Vorgesetzter, die nur darauf bedacht waren, ihrerseits aus den Angestellten ein Maximum von Arbeitsleistung durch verblümten Hinweis auf die bevorstehende Verminderung des Bankpersonals zu erpressen.

Galeere!! Galeere!!

Natürlich war es Gerd Luckner gewesen, der diese Bezeichnung zum ersten Male gebraucht hatte, als jede bezahlte Überstunde verboten und den Angestellten auf diese Weise nahegelegt wurde, das Arbeitspensum trotzdem ohne Belastung des Banksäckels nach wie vor zu leisten. –

Heinz Stelter schaute immer noch verträumt in den Park hinab, diesen winterlichen Park, der nun ganz wie ein Stück freien Waldes wirkte, da die Marmorfontänen, die Wege, die Steinfiguren und Taxushecken unter weißem, lockerem Schnee begraben waren. Hungrige Krähen, von der Kälte und durch Nahrungsmangel in die Stadt getrieben, saßen auch heute wieder auf den weißbepuderten Ästen und warteten auf die Brotstücke, die ihnen von den Angestellten zuweilen durch die Fenster zugeworfen wurden. Dann gab es unter dem gefiederten Völkchen stets einen wilden Kampf am schneebedeckten Boden. Dann hörte Heinz das Krächzen gekämpft an sein Ohr dringen und … sah andere Bilder, sah Krähenschwärme herabschießen auf das Gescheide eines Wildebers, den er durch Kugelschuß niedergestreckt hatte …

All’ das … war einmal! Der Krieg kam und jene Nacht, wo das Granatstück ihm den Unterschenkel zerschmettert hatte …

So wurde er … Krüppel, unfähig, noch ein Pferd zu besteigen, unfähig für die Anforderungen seines ursprünglichen Berufes.

Sechs Jahre Bankdienst lagen hinter ihm, Dienst in allen möglichen Abteilungen des Rieseninstituts, bis man ihn vor anderthalb Jahren, genau sechs Monate nach seiner bescheidenen Hochzeit, hier in die schon immer gefürchtete Buchhalterei überwiesen hatte, die Gerd Luckner jetzt ‚die Abbau- und Abwürgestelle‘ nannte, da hier jedem das Arbeitsquantum genau nachgewiesen und deshalb jeder den Durchschnittsanforderungen nicht Genügende leicht auf die schwarze Liste der bevorstehenden Kündigungen gesetzt werden konnte. –

Heinz Stelter sann und sann …

Er wußte nicht, woher er das für das Weihnachtsfest notwendige Geld auftreiben sollte. Und – es war doch undenkbar, daß er heute ohne Geld heimkehrte – – undenkbar!! –

Helene Brenken beugte sich hastig nach links …

„Herr Stelter, – – Achtung!!“

Heinz verstand die Warnung, griff verwirrt nach dem Tintenstift und beugte sich über seine Arbeit.

Zwischen den hohen Schemeln drängte sich Herr Prokurist Wedekind hindurch, stellte sich neben Heinz und sagte mit seiner gewohnten schleimigen Liebenswürdigkeit:

„‘n Morgen, Herr Stelter! Sie haben da leider hier ein paar Rechenfehler gemacht, mein lieber Stelter. An sich ja nicht schlimm. Nur – merkwürdig, daß die Endziffern der einzelnen Gruppen stimmen.“

Heinz wurde feuerrot. Sein scheuer Blick ruhte auf den Bogen, die der Prokurist vor ihm ausbreitete.

„Na – in einer Stunde können Sie den Schaden ja repariert haben,“ fügte der nur um wenige Jahre ältere Wedekind hinzu und koketierte, wie stets, mit den Brillantringen am linken kleinen Finger. „Also in einer Stunde bringen Sie mir dann das Zeugs, Herr Stelter. ‘n Morgen!“

Er verschwand, kehrte in den Glasverschlag zurück, wo er behaglich seine Zigarre weiterrauchte und zu seinem Kollegen Queißner achselzuckend sagte: „Ein unangenehmer Mensch, der Stelter! Hat immer so was Scheues, Gedrücktes an sich. Und diese Geschichte mit den Endziffern heute, – er hat eben seine Arbeit stimmend gemacht – künstlich …! Er ist reif!!“

Der alte Queißner erwiderte nichts, schrieb weiter.

Wedekind schaute ihn ironisch an.

Der – war ja auch reif! Sechzig Jahre! Und viel zu viel Langmut und Nachsicht! Der paßte so gar nicht in die heutige Zeit hinein! –

Helene Brenken stieg von ihrem Schemel und trat ganz nahe an Stelter heran. Sie hatte jedes Wort gehört. Beide Pultreihen hatten’s gehört, dieses etwas schärfer betonte ‚Merkwürdig!‘ des Herrn Wedekind.

Helene flüsterte: „Geben Sie mir die Bogen, Herr Stelter. Ich finde die Fehler leichter heraus …“

Heinz schämte sich. All’ die Augenpaare ringsum brannten auf seinem Gesicht. Er wußte, man bemitleidete ihn! Die Kollegen und Kolleginnen ahnten, daß er, um rechtzeitig die Arbeit abliefern zu können, gemogelt hatte!

Er wagte nicht aufzusehen und murmelte nur:

„Sie sind so gut, Fräulein Brenken. Sie helfen wir so oft und versäumen selbst Zeit dadurch …“

Helene nahm die Bogen ohne jedes weitere Wort an sich und setzte sich wieder an ihr Pult. –

Gerd Luckner, der im Bankfach seit zwölf Jahren tätig war, nachdem er ein paar Semester Jura studiert hatte, drehte sich auf seinem Schemel um. Er saß hinter Stelter.

Er tippte Heinz auf die Schulter und sagte ganz laut: „Der Galeerenaufseher hat heute seinen besonders liebenswürdigen Tag! Kinder, hütet Euch! Wenn der Tiger lächelt, ist er hungrig.“

Luckners hageres, bartloses Gesicht behielt den ihm eigenen, leicht blasierten Ausdruck unverändert bei, als er hinzufügte: „Ohrfeigen müßte man den Kerl! Aber wer beschmutzt sich gern die Hand?! Kriecher seiner Art sind stets schmierig!“

Einige der Kollegen lachten. Stelter hatte sich halb umgedreht.

„Na, Heinz, wie war denn der Empfang gestern abend?“ fragte Luckner leise. „Mensch, wenn du dir nur das Rotwerden abgewöhnen könntest!“ fuhr er ohne Übergang unwillig fort. „Das ist doch wie ein Schuldbekenntnis! Ich hätte dem Wedekind wenigstens irgendwas erwidert.“

„Du – ja, du!“ meinte Stelter bedrückt.

„Ich begreife dich nicht! Mensch, was ist nur aus dir geworden?! Du hattest doch früher Haare auf den Zähnen!“ stieß Luckner geradezu gereizt hervor.

Stelter lächelnde trübe: „Sorgen, Gerd, Sorgen!“

„Auch jetzt – wegen Weihnachten, nicht wahr? – Wieviel brauchst du?“

„Nein – laß das … laß das wirklich. Ich kann dich doch nicht schon wieder anpumpen. Ich bin dir noch vierzig …“

„Quatsch! Wie denkst du dir die Sache denn, wenn du ohne Geld heute nach Hause kommst?! So, wie ich dich kenne, hast du Anni doch fraglos wieder goldene Berge zugesichert, um sie bei Laune zu erhalten. Ich werde dir nachher fünfzig Mark geben.“

„Ich … ich danke dir, Gerd …“

„Überflüssig, mein Sohn! Kauf’ davon aber Anni kein unnützes Zeug!“

Dann gab er der Drehscheibe seines Schemels einen Ruck und wandte sich wieder seinen Büchern zu. Er hatte es bei der Bank noch nicht weiter gebracht. Leute seines Schlages liebte man nicht. Er sagte jedem seine Meinung, ob’s der Abteilungsdirektor oder die Prokuristen waren. Ihm imponierte keiner. Seine Arbeit schaffte er spielend. Er hatte die Zeiten des Marksturzes nicht ungenutzt vorübergehen lassen, hatte in keckem Wagen großzügige Spekulationen mit Glück durchgeführt und seine Gewinne so sicher angelegt, daß ihm selbst die Rentenmark nichts hatte anhaben können. Über diese sichere Anlage seines Vermögens sprach er mit niemand. Selbst mit Stelter nicht. Nur seine Frau wußte natürlich davon, seine Käthe. Vor der hatte er ja nie Geheimnisse, selbst die unwichtigsten nicht. Die war seit sechs Jahren sein treuer Lebenskamerad. Seine Kriegsehe war eine der wenigen, die beiden Teilen keine Enttäuschung gebracht hatte. –

Heinz Stelter buchte Billionenzahlen …

Und verschrieb sich dabei immer wieder. Ihm war jetzt leichter ums Herz. Er würde heute ja fünfzig Mark mit nach Hause bringen …

Gewiß – er schuldete dem Kollegen Neubert noch dreißig Mark, und dem Olwitz fünfzehn. Aber die beiden würden ihn nicht gerade jetzt mahnen. Die waren verheiratet, hatten Kinder und bekamen daher von der Personalverwaltung Vorschuß, waren vorhin ins Direktionsgebäude hinübergegangen, um sich den Vorschuß zu holen … –

Stelter radierte eine Zahl aus und berechnete dabei, wie man die fünfzig Mark einteilen müßte. Zunächst die Lackschuhe für Anni. Das ging nicht anders. Dann der Weihnachtsbaum, Kerzen, kleine Geschenke, auch für den Schwiegervater und Luckners. Oh – es würde schon zu alldem langen! Fünfzig Rentenmark, – der gute Gerd half doch immer aus! –

Der Bureaubursche brachte Stelter die beiden mit Schmalz bestrichenen Stullen, die nun bis nachmittags halb fünf vorhalten mußten. Das Geld hatte gerade noch für die beiden Brote gereicht.

Heinz begann zu essen. Sein Blick streifte Helene Brenken, die den Bleistift die Zahnreihen entlanggleiten ließ und die Fehler suchte – die Additionsfehler …

Heinz dachte wie so oft: ‚Sie wäre hübsch, wenn sie nicht immer diesen ernsten Zug um den Mund hätte. Sie preßt die Lippen zu fest zusammen. Das gibt Falten, die stören …‘

Das helle Licht des klaren Wintertages ließ Helene Brenkens volles Haar golden schimmern. Sie trug es ganz schlicht.

‚Nicht wie Anni, die jede Modefrisur mitmacht,‘ dachte Heinz …

Dann sah er die auf den Ästen so trübselig hockenden Krähen …

Und stand auf, drückte sich an Helene vorüber, öffnete das Fenster und meinte:

„Die Viecher sollen Weihnachten haben …!“

Er riß das Brot in Stücke und warf diese hinab in den Park.

 

3. Kapitel.

Zwei Frauen …

Frau Anni Stelter hatte nur darauf gewartet, bis Heinz die Flurtür ins Schloß gezogen hatte. Sie sprang aus dem Bett, holte schnell das Teebrett und schob es auf das Tischchen, holte aus der verschwiegenen Ecke des Kleiderschrankes die Tüte mit dem Rest der Keks und schlüpfte wieder ins Bett, begann zu frühstücken.

Ihr pikantes Bubengesicht mit den dunklen, lebhaften Augen klärte sich immer mehr in Gedanken an den Schuheinkauf am Nachmittag, der ja nun endlich Tatsache werden würde …

Ein paar hellgraue Seidenflorstrümpfe zu diesen Lackschuhen hatte sie schon in der vorigen Woche vom Wirtschaftsgelde abgespart. Heinz rechnete ja nie nach, wo das Geld blieb. Und ob sie neue oder alte Strümpfe anhatte, darauf achtete er nicht.

Jedenfalls – sie würde nun doch am ersten Weihnachtsfeiertage bei Luckners in den neuen Lackschuhen erscheinen können. Und wenn Heinz ihr heute von der Weihnachtsgratifikation Geld zu Einkäufen gab, konnte sie davon ein zweites Paar Seidenflorstrümpfe erübrigen.

Nach zehn Minuten schlief Frau Anni wieder ganz fest und erwachte erst gegen zehn Uhr, als die Flurglocke anhaltend schrillte.

Sie warf den Morgenrock über und eilte ganz leise an die Flurtür, schaute durch das Guckloch und erkannte den Kassierer der Gasanstalt.

Empört kehrte sie in ihr warmes Bett zurück. Mochte der Mann nur klingen!

Immerhin – sie war jetzt wach und überlegte, wie sie die Zeit bis zum Nachmittag hinbringen sollte.

Um elf Uhr stand sie vor dem Schaufenster eines Modesalons am Lützowplatz und beschaute die Auslagen, liebäugelte mit einer schicken Bluse und schritt dann seufzend weiter.

Bald blieb sie wieder stehen. An der Glastür eines Papiergeschäfts hingen die Postkartenbilder der Kinosterne.

Anni suchte, sie fand das eine Gesicht schnell heraus.

Hilmar Wenk! Hilmar Wenk!

Und wieder seufzte sie.

Der war nun in Kopenhagen. Eine Filmfabrik hatte ihn von Berlin weggeholt – – Damals – damals …

Und dann war Heinz ihr vorgestellt worden – damals, bei ihrer verheirateten Kusine, deren Mann Prokurist einer mittleren Bank war.

Damals! Das lag alles schon so weit, weit zurück in der Vergangenheit, als ob ein Jahrzehnt seitdem verstrichen … –

Wieder schlenderte Anni von Schaufenster zu Schaufenster, bis die Kälte dieses Wintertages sich immer unangenehmer bemerkbar machte.

Ob sie nicht Käthe Luckner besuchte? Luckners hatte stets eine Auswahl süßer Liköre vorrätig.

Anni ging zu Luckners, die in einem Gartenhause der Lützowstraße wohnten, – drei Zimmer, sehr geschmackvoll, sehr behaglich eingerichtet.

„Das ist aber nett, Kleines,“ begrüßte Frau Käthe die zierliche, üppige Anni in ihrer herzlichen, etwas mütterlichen Art. „Komm’, lege ab, du kannst mir Gesellschaft leisten. Ich schneidere mal wieder.“

Die Nähmaschine stand im Schlafzimmer am Fenster.

Anni setzte sich, streichelte Luckners kleinen Rehpinscher, der freudig an ihr hochsprang. Sie liebte Tiere – auf ihre Art, als Spielzeug. Luckners hatten wie Stelters keine Kinder. Frau Käthe betonte stets sehr ehrlich: ‚Was sollten Gerd und ich wohl mit einem Baby?! Wir beide sind uns genug.‘ Es konnte auch kaum ein glücklicheres Ehepaar geben, als diese beiden Menschen, die sich Gerds ganzer Verwandtschaft zum Trotz geheiratet hatten. Diese Verwandtschaft hatte erst vor kurzem das arme Kirchenmäuschen Käthe als ebenbürtig anerkannt, eben seitdem man erfahren, daß Gerd reich sein sollte – sehr reich. –

Frau Käthe brachte flink für den Gast ein Tellerchen mit Näschereien und einen Likör, nahm dann wieder an der Nähmaschine Platz und besserte Gerds Oberhemden aus.

Die beiden so grundverschiedenen Frauen sprachen über dieses und jenes. Frau Käthe wußte schon, was Anni mitteilsam machte. Nach einer Weile gab sie der Unterhaltung jedoch eine ernstere Wendung, erwähnte Heinz’ gestrigen Besuch und begann schließlich in ihrer zarten Art der um sechs Jahre jüngeren Freundin ins Gewissen zu reden.

„Heinz kam gestern ganz verstört zu uns. Sieh’ mal, Kleines, wenn es zwischen euch schon nach zweijähriger Ehe solche Szenen gibt, wie soll das dann später werden?!“

„Heinz hat sich wohl über mich beklagt?“ fuhr Anni auf. „Natürlich, natürlich! Ich bin ja stets an allem schuld!“

„Ruhe, Anni! Ich bitte dich, wie soll Heinz sich in seiner Häuslichkeit wohlfühlen, wenn Unzufriedenheit und üble Laune stets um ihn sind?! Anni, wir meinen es doch nur gut mit euch! Kind, du mußt es lernen, mit dem Wirtschaftsgeld auszukommen. Das ist der wunde Punkt bei euch!“

Anni weinte plötzlich, schluchzte: „Mit hundertdreißig Mark monatlich, – wie soll man damit reichen?!“

„Das kann man, Kleines. Das müssen jetzt viele, sehr viele!“ Frau Käthe streichelte Annis Hand. „Eure Zweizimmerwohnung kostet doch so wenig, und die Lebensmittel werden täglich billiger. Kinder, wie oft rieten wir euch, daß ihr euch Kassen einrichten sollt, für Miete, für Gas und Licht, für die Wirtschaft, für Anschaffungen und für Extraausgaben. Wir machen’s genau so.“

„Ihr?!“

„Oh bitte, Kleines, glaubst du, daß wir nicht rechnen müssen? Wir wollen doch etwas für das Alter zurücklegen! Du weißt genau, wie bescheiden wir unsere Ehe einst begonnen haben. Das habe ich dir schon wiederholt erzählt. Ich bin von Kindheit an zur Sparsamkeit angehalten worden. Du leider nicht. Entschuldige schon, Kleines, wenn ich deinen Eltern hier den Vorwurf mache, dich vollständig falsch erzogen zu haben. Dein Vater war ein wohlhabender Mann, und da wurdest du, das einzige Kind, über Gebühr verwöhnt. Du gibst das ja selbst zu.“

Frau Käthe hatte die Stimme immer mehr sinken lassen und schwieg jetzt. Sie hatte gemerkt, daß Anni gar nicht mehr hinhörte.

Annis Augen ruhten unverwandt auf etwas Duftigem, Zartem, das da auf einem Bügel am Kleiderschrank hing.

„Du hast dir eine Crepe de Chine Bluse gekauft,“ sagte sie hastig und stand auf, trat an den Schrank heran und beschaute das weiße Wunderwerk mit leuchtenden Augen.

Aber diese Augen änderten dann ebenso schnell wieder ihren Ausdruck. Das ganze Gesicht wurde mürrisch und finster.

Frau Käthe entging diese Wandlung nicht.

‚Neid!‘ dachte sie traurig. Und Heinz Stelter, der gute Junge, war ausgerechnet an diese Frau geraten! Schicksal – Schicksal!!

Käthe Luckner wies diese Gedanken von sich. Sie wollte nicht aufhören zu hoffen. Sie wollte immer wieder versuchen, Annis Pflichtgefühl zu wecken, Annis Oberflächlichkeit allmählich zu besiegen. Gewiß, es war das eine schwere Aufgabe, zumal jetzt immer mehr Schwächen und Fehler des kleinen eitlen Persönchens an den Tag kamen. Gestern hatte Heinz in seiner inneren Zerrissenheit, in seinem Wunsch, sich einmal das Herz freizureden, unter anderem auch erzählt, daß er schon wiederholt in allerlei Verstecken die Blechbüchsen von eingelegten Früchten, von Sardinien und ähnlichen Leckereien gefunden hätte. –

Und doch, Anni tat der gutherzigen Frau Käthe auch wieder leid. Mit einem Gehalt von hundertdreißig Mark ließen sich keine Sprünge machen. Da mußte mit dem Pfennig gerechnet werden. Und Anni war noch jung, hatte noch Wünsche, war nicht die Natur, die neidlos an dem Luxus der Damen und Dämchen von Berlin W. vorübergehen konnte …

„Kleines, vielleicht beschert der Weihnachtsmann dir etwas Ähnliches,“ sagte Frau Käthe jetzt laut und herzlich. „Du hast doch Blusennummer zweiundvierzig, nicht wahr?“

Anni wandte sich um. Einen Augenblick schien sie an dieses Glück gar nicht glauben zu können. Dann flog sie der Älteren um den Hals, küßte sie, weinte ein paar Tränchen …

„Du Gute, du Gute!!“

Frau Käthe lenkte ab. „Heinz fehlen doch Oberhemden, Anni-Maus, Kragenweite einundvierzig? Stimmt’s?“

„Ja – ich glaube. Wo hast du die Bluse gekauft? Denk’ dir, Heinz will mir heute von der Weihnachtsgratifikation ein Paar Lackschuhe …“

Da sah sie den erstaunten Ausdruck im Gesicht der Freundin. Deutete ihn falsch. Verteidigte diese Neuanschaffung.

„Mir fehlen wirklich ein Paar Lackschuhe – wirklich. Schon letztens war es mir so peinlich, daß Frau Glaß mich hier bei euch in den alten …“

„Aber Kind, Kind,“ fiel Frau Luckner ihr ins Wort. „Bedenke doch, Lackschuhe bekommt ihr kaum unter zwanzig Mark!“ Sie war ganz entsetzt über diese Leichtfertigkeit, war aber auch empört, weil Heinz doch Anni die Tatsache verschwiegen hatte, daß die Bank diesmal kein Weihnachtsgeld zahle.

Anni fand diese Bevormundung durch Luckners schon längst als unleidlich und nach ihren Begriffen taktlos. Sie war jedoch viel zu raffiniert, um sich die jähe Änderung ihrer Stimmung anmerken zu lassen, und meinte nur:

„Im Ausverkauf bei Wolffsdorf gibt es die kleinen Nummern ganz billig!“ Dann sah sie wie erschreckt auf ihre goldene Armbanduhr und rief:

„Schon zwei, Käthe, ich will ja noch zu Papa. Entschuldige, ich muß fort.“

Als Käthe Luckner wieder allein an der Nähmaschine saß, ruhten ihre fleißigen Hände noch eine ganze Weile im Schoß …

Dann streichelte sie geistesabwesend den kleinen Pinscher, der sich an ihrem Rocke aufgerichtet hatte.

‚Das … das endet nie gut – nie!‘ drängten sich ihre fragenden Gedanken zu einem ernsten Schlußsatz zusammen.

Seufzend nahm sie ihre Arbeit wieder auf.

 

4. Kapitel.

Schicksal …

Halb fünf war’s …

Im Saale der Buchhalterei klappten Pultdeckel, wurden die Lampen darüber ausgeschaltet, bildeten die Angestellten an den Tischen, wo die Meldebücher lagen, endlose Reihen, um sich ‚auszutragen‘, wie das Einschreiben des Dienstschlusses bezeichnet wurde.

Sträflingsliste nannte Luckner diese Meldebücher.

Heinz Stelter saß noch als einziger an seinem Pult. Er hatte soeben Helene Brenken in den Mantel geholfen, wie stets, hatte dabei leise gesagt: „Ich bleibe noch eine halbe Stunde.“

Helene hatte ihm die Hand gereicht. Ihr mitleidiger Blick ruhte forschend auf dem Gesicht des blonden, stattlichen Kollegen.

„Sie schaffen heute ja doch nichts mehr,“ meinte sie.

Er errötete. Er fühlte, daß ihr Blick die Schleier von all’ seinen Sorgen riß. Helene hatte ja fraglos beobachtet, wie er Neubert und Olwitz, die jeder nur fünfzehn Mark Vorschuß erhalten hatten, Geldscheine in die Hand gedrückt hatte, nachdem sie ein wenig erregt geworden waren.

„Auf Wiedersehen,“ hatte Helene sich dann verabschiedet und war gegangen.

Luckner kam, schon im Sportpelz, den Hut in der Hand.

„Schmeiß’ den Kram beiseite,“ meinte er. „Anni wartet doch!“ Er ahnte nicht, daß seine fünfzig Mark bis auf einen kläglichen Rest bereits von Heinz zur Tilgung von Schulden benutzt worden waren.

„Ich muß bleiben, Gerd. Guten Abend!“ Heinz hatte kaum aufgeschaut.

„Vielleicht tust du ganz klug,“ nickte Luckner. „Hier kommt alles darauf an, daß man Eindruck schindet. – Also denn guten Abend!“ –

Heinz war allein. Nur drüben an der dritten Pultreihe saß noch das rotblonde Fräulein Grün, die mit flackernden Augen, unnatürliche Röte im Gesicht, einen Additionsfehler suchte. Sie hatte ihre kranke Mutter mit zu unterhalten. Das Schreckgespenst der Kündigung saß ihr im Nacken. Sie leistete den Durchschnitt nur dann, wenn sie täglich zwei Überstunden machte.

Heinz starrte die Kollegin drüben gedankenverloren an. Seine Augen suchten nur irgendeinen Ruhepunkt. In seinem Hirn wirbelten die Gedanken …

Fünf Mark … Mit fünf Mark sollte er nun heimkehren!!

Er malte sich die Szene aus, wenn er Anni dann die Wahrheit sagen mußte. Ihn fröstelte. Er hatte Angst vor seinem Heim, Angst vor sich selbst, vor der Sekunde, wo seine Selbstbeherrschung ihn verlassen würde. Und doch, wozu hockte er hier auf dem Schemel und grübelte zwecklos, wozu?! Änderte er dadurch etwas?!

Waschlappen – Waschlappen!! – Ja, Luckner hatte recht. Die Liebe zu Anni hatte ihn vollständig umgekrempelt – vollständig! Er begriff jetzt den Sinn des Ausdrucks ‚Liebeshörigkeit‘. Es gab ein Sklaventum der Sinne, das den mit unsichtbaren Ketten hielt, der nicht Manns genug war, rechtzeitig diese Ketten abzustreifen.

Wozu hockte er hier?! Wozu?! – Seine rechte Hand krallte sich plötzlich um den langen Bleistift, der wie ein Streichholz zerbrach …

Die Rotblonde, Abgehetzte schaute auf, sie sah Stelters verzerrtes Gesicht.

Da stand er rasch auf, warf die Bogen in das Pult.

Haß, Wut benahmen ihm den Atem.

Waschlappen … Waschlappen!! Oh, es sollte anders werden … Heu-te … heute!!

Er schritt eilends dem Saalausgang zu, in den Flur, wo die kleinen, schmalen Schränke aufgereiht waren, schloß den seinen auf … Die Kälte hier legte sich wie ein Eisreifen um seine glühende Stirn.

Und hinter ihm ertönte noch Herrn Wedekinds Stimme: „Fräulein Brenken arbeitet sehr zuverlässig. Jetzt stimmen die Endsummen, Herr Stelter. – ‘n Abend!“

Der Prokurist ging weiter, trat in den Kasten des Fahrstuhls und verschwand in der Tiefe.

Heinz zog den Ulster an. Müde – kraftlos. Er schlich davon, wartete auf den Fahrstuhl und dachte: ‚Nichts – nichts wird anders werden! Anni und die Galeere haben mir das Mark aus den Knochen gesogen.‘

Der Fahrstuhl senkte sich. Heinz’ Augen stierten zur Seite. Da war ein Plakat an die Fahrstuhlwand angeheftet:

Warnung! Die Diebstähle an Messingteilen, Handtüchern und Bureaumaterial haben derart zugenommen, daß wir jede Entwendung unnachsichtlich sofort zur Anzeige bringen werden.

Die Direktion

Heinz Stelter lächelte mit einem Male so schmerzlich. Er hatte sich da soeben bei einem Gedanken ertappt, der ihm bisher nie gekommen – bei einer Frage: Ob er wohl standhaft bleiben würde, wenn sich ihm die Gelegenheit böte, sich an fremdem Eigentum zu vergreifen, und wenn dabei die Gefahr einer Entdeckung so gut wie ausgeschlossen schiene?

Das schmerzliche Lächeln wurde immer bitterer. ‚Weit ist’s mit mir gekommen! Wer mit solchen Gedanken auch nur spielt, ist schon ein Verbrecher.‘

Ihn fröstelte wieder.

Der Fahrstuhl hielt. Mit einem Gruß schritt Heinz an dem Pförtner vorüber, hinaus in die Dämmerung der winterlichen Straßen.

Er sah sich dann in der Untergrundbahn eingekeilt zwischen fremden Menschen, die nichts von dem Leide anderer wußten. So fest eingekeilt, daß er die Hände flach gegen die Hüften legte und die Ellenbogen andrückte.

Weihnachtsgespräche ringsum. Einer wußte, daß die Tannenbaumzufuhr sehr spärlich sei. Ein anderer behauptete das Gegenteil.

Heinz’ Denken eilte dem dahingleitenden Zuge voraus – in sein Heim.

Anni … Lackschuhe!

Er unterdrückte mit Mühe ein Aufstöhnen.

Vor ihm, mit ihm Leib an Leib, stand ein dürrer älterer Herr mit Brille und leicht ergrautem, ungepflegtem Vollbart.

Der Mann roch widerlich nach Fusel. – Heinz besann sich flüchtig, dieses unangenehme Gesicht schon mehrfach irgendwo bemerkt zu haben.

Der Mann hielt eine Ledertasche, wie sie Stadtreisende tragen, etwas angehoben vor dem Leibe. –

Station Gleisdreieck …

Rücksichtslos drängten noch mehr Fahrgäste in den Wagen. Aber niemand wurde ungemütlich.

Der Mann vor Stelter meinte halblaut: „Je enger, je gemüt…“

Mitten im Worte brach er ab. Heinz sah, wie eine schreckliche Veränderung blitzschnell mit den abstoßenden Gesichtszügen des halb Trunkenen vor sich ging. Der Unterkiefer sank herab, die Pupillen drehten sich nach oben … Das Gesicht bekam etwas Leichenhaftes.

Der Mann wäre umgesunken, wenn sein Körper in der Menschenmenge nicht vorläufig noch halt gefunden hätte.

Heinz starrte entsetzt den Unbekannten an. Hier handelte es sich unmöglich um eine bloße Ohnmacht.

Er wollte die Umstehenden auf den Mann aufmerksam machen, hatte schon halb den Mund geöffnet …

Da schleuderte der Wagen in einer Kurve. Die Menschenmauer schwankte …

Und ohne daß Heinz, der unwillkürlich die rechte Hand jetzt gegen den Fremden vorgestreckt hatte, um ihn zu stützen, etwas dazu getan hätte, glitt ihm plötzlich der Handgriff der Ledertasche seines Gegenübers in die Finger. Ebenso unwillkürlich krümmten sich diese Finger um den Griff. Wie eine Vision trat ihm das Bild des Pappschildes im Fahrstuhl vor Augen. Und ein blitzartiges Erinnern an die gedachte Frage: ‚Wenn sich Gelegenheit böte und wenn dabei …‘

Das – das entschied Heinz Stelters neuen Weg.

Der Zug hielt Bülowstraße. Heinz arbeitete sich rasch der Tür zu durch. Er hörte hinter sich noch ein paar Ausrufe, die – nicht ihm galten. Ohne Hast ging er über den Bahnsteig, die Treppe hinab.

Die Ledertasche war nicht allzu schwer. In der dunklen, menschenleeren Winterfeldstraße öffnete Heinz sie und fühlte hinein. Er schob das Bündel Banknoten in die Ulstertasche, stopfte die drei Päckchen ebenfalls dazu und war wenige Minuten später auf dem Nollendorfplatz. Hier schlug er die Richtung nach Hause ein und wanderte weiter wie im Traum – wie im Traum. Bis er plötzlich stehen blieb, seinen Ulster betastete und dann vor sich hinmurmelte: „Jetzt bin ich ein Dieb – ein Dieb …!“

Eine zitternde Hand reckte sich ihm entgegen. Ein altes Weiblein, die das Betteln noch als Schmach empfand. Heinz lachte schrill, zog das Bündel Papiergeld hervor und drückte der Alten einen Fünfzigmarkschein in den löchrigen Wollhandschuh. –

Frau Anni lauerte schon an der Flurtür.

„Heinz, hast du …“

„Und ob!“ sagte er rauh. „Nun – nun kaufen wir die Lackschuhe, Anni.“

Sie wich etwas zurück.

„Wie siehst du aus? So … so bleich … Und –“

„Abgespannt bin ich. Aber Geld habe ich, hundert Mark.“

Er wich ihrem Blick aus.

„Armes Häschen – so abgespannt! Armes Häschen!“ Sie umschlang ihn, küßte ihn. „Häschen, denk’ dir, Käthe Luckner schenkt mir eine Crepe de Chine-Bluse.“ Sie half ihm aus dem Ulster.

„Geh’ nur, Anni,“ wies er sie zurück. „Ich habe da in den Taschen eine Überraschung für dich.“

Sie eilte lachend in die Küche.

Und er – er öffnete im Badezimmer hastig die drei Päckchen. Heinz mußte sich auf den Rand der Wanne setzen. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Er verstand etwas von Brillanten …

 

5. Kapitel.

Helene.

Helene Brinkens Stiefvater, seines Zeichens Uhrmacher und Goldarbeiter, hatte in der Matthäikirchstraße einen kleinen Laden, an den sich nach dem Hofe der Mietskaserne zu eine Dreizimmerwohnung anschloß.

Etwa um dieselbe Zeit, als Heinz mit Anni die Lackschuhe auswählte und Anni sich für ein paar spitze, ohne Spangen, sogenannte Pumpsform, entschied, saß Helene ihrer Mutter in dem bescheiden eingerichteten Wohnzimmer am Mitteltisch gegenüber und löffelte einsilbig und zerstreut ihren Teller Suppe aus.

Mutter und Kind hatten bis jetzt auf die Rückkehr des Vaters gewartet, der geschäftlich im Nordosten der Stadt zu tun gehabt hatte und schon mittags ausgegangen war.

Frau Anna Müller, verwitwete Brenken, schaute hin und wieder scheu zu Helene hinüber und sagte schließlich beklommen: „Schmeckt es dir nicht, Kind?“

„Doch, ich bin nur müde. Mir geht auch so mancherlei durch den Kopf.“

Frau Müller, überschlank, von krankhafter Blässe und mit einem scharf ausgeprägten Leidenszug um den Mund, meinte zögernd: „Was denn, Leni? Was geht dir durch den Kopf?“

Helene hob den Blick. „Wovon wir leben, Mutter. Das ist’s!“ sagte sie leise.

Frau Müller schoß unter den klaren, forschenden Augen ihres einzigen Kindes die brennende Röte ins Gesicht. „Wie – wie soll ich das verstehen, Leni?“ Sie mußte die Worte mühsam zusammensuchen.

Helene legte den Löffel in den Teller. „Das Geschäft ist doch vollständig tot, Mutter. Was der Vater durch die Goldankaufstelle verdient und in Aktien angelegt hatte, ist durch die Rentenmark wertlos geworden. – Trotzdem leben wir genau so weiter wie früher. Von meinem Gehalt kannst du doch nicht jeden Tag zu Mittag drei Gänge auf den Tisch bringen?!“

„Oh – du unterschätzt Vaters Einnahmen.“

Helene lächelte bitter.

„Einnahmen – woher?!“ flüsterte sie. „Woher?! Mutter, mir ist so angst um uns!“

Frau Müller raffte all ihre Energie zusammen, all ihre Fähigkeit, dunkle Dinge zu verheimlichen. Ihr Gesicht entfärbte sich. Mit einem Kopfschütteln erwiderte sie harmlos: „Ich begreife dich nicht, Leni! Was kümmern dich Vaters Geschäfte? Hast du es nicht gut hier?“

Helene beugte sich vor. „Zu gut – zu gut!!“ Die Worte klangen heiser, die Stimme schien ganz fremd. „Glaubst du, Mutter, ich wäre blind und taub?! Die Besucher, die sich hier bei uns spät abends und manchmal nachts einfinden und die alle einen Hausschlüssel haben …“

Sie schwieg. Frau Müllers Gesicht hatte den Ausdruck unerhörter Qual angenommen.

Helene sprang auf, eilte um den Tisch, umschlang die in sich zusammengesunkene Gestalt.

All der heimliche Groll gegen diese willensschwache Frau, die sich von dem brutalen, dem Trunk ergebenen Wüstling nicht losmachen konnte, schwand vor der in Lenis Herzen jäh aufflackernden Kindesliebe.

„Mutter … Mutter, weshalb erträgst du dieses Dasein immer noch, weshalb trennst du dich nicht von diesem Menschen, der …“ Sie zauderte. Sie wollte nicht unkindlich erscheinen. Und doch – einmal mußte all die seit Jahren in ihrer Seele aufgespeicherte Kenntnis der schmachvollen Demütigungen dieser Frau, die ihr das Leben gegeben, offenbart werden. Vielleicht – vielleicht war es möglich, auf diese Weise endlich hier Wandel zu schaffen …

„Mutter, ich bin kein Kind mehr. Mit zweiundzwanzig Jahren geht man mit sehenden Augen umher,“ fügte sie mit noch stärker betonter Innigkeit hinzu. „Vater belügt dich, Vater schlägt dich; ich weiß es. Und doch, du hältst an ihm fest! Du bettelst um ein freundliches Wort von ihm, du …“

„Das verstehst du nicht, Leni.“

„Vielleicht doch, Mutter.“ Die Stimme war härter geworden. Etwas wie Widerwillen und Ekel schwang in der Klangfärbung mit.

„Deinen Vater heiratete ich, um versorgt zu sein,“ flüsterte Frau Anna. „Und als nach zweijähriger Ehe und kurzer Witwenschaft der andere kam, da wußte ich erst, was Liebe und Leidenschaft ist.“

Helene nahm ihren Arm von der Schulter der Mutter und kehrte langsam auf ihren Platz zurück.

Alles hätte Frau Anna in dieser Minute zu ihrer Verteidigung anführen können, nur dies nicht! Für Helene waren diese Worte wie ein Schlag ins Gesicht gewesen.

Frau Annas Wangen bekamen plötzlich Farbe, die matten Augen leuchteten auf.

„Er hat mich geliebt, Kind. Viele Jahre war ich unendlich glücklich. Bis er sich das Trinken angewöhnte.“ Sie geriet immer mehr in Eifer. „Im Grunde seines Herzens ist er gut. Ich kenne ihn, ich –“

„Sprechen wir von anderen Dingen,“ unterbrach Helene sie etwas schroff. „Ich werde zum ersten Januar zu Grüns ziehen. Else Grün hat es mir längst angeboten. Hier bleibe ich nicht. Ich kann es nicht. Ich ersticke hier. Ich heiße Helene Brenken und will nicht, daß mein Name …“

Die Flurglocke hatte geschrillt. Frau Anna erhob sich. „Es wird der Vater sein.“

Sie ging hinaus, schloß die Flurtür auf, ließ die Sperrkette vorgelegt und fragte durch die Spalte den draußenstehenden, mit unfeiner Aufdringlichkeit übermodern gekleideten blassen Menschen nach seinen Wünschen.

„Fritz Panke,“ sagte der sehr leise und schob den Hut ins Genick.

Da erkannte sie ihn. „Sie?! Mein Mann ist nicht zu Hause.“ In ihrer Stimme flatterte Angst. „Aber meine Tochter ist …“

Panke trat noch dichter an die Tür heran und begann zu flüstern.

Frau Anna schrie auf, klammerte sich an den Türrand. – So fand Helene sie, die den Schrei gehört hatte. – Panke war verschwunden.

Frau Anna lag auf dem Sofa, sie weinte und schluchzte. Sie antwortete auf keine Frage ihres Kindes und wurde schließlich ungeduldig: „Geh’ – – geh’, ich muß allein sein. Du quälst mich!“

Helene setzte sich im Nebenzimmer an den Tisch und grübelte.

Ob etwa das Verhängnis schon da war?! Dem ganzen Benehmen der Mutter nach mußte sie es fast annehmen. Und wenn’s so war, dann war auch ihr Leben zerbrochen, dann war sie mit entehrt. – – –

Am folgenden Morgen traf Heinz Stelter auf dem Wege zur Bank nicht wie sonst mit Helene Brenken zusammen. Es war ihm nur lieb. Wie sollte er sich wohl harmlos geben, wo doch seine ganze Kläglichkeit ihm erst jetzt völlig zum Bewußtsein gekommen war?! Annis stürmische Zärtlichkeit gestern abend hatte ihn alles vergessen lassen – für Stunden! In diesen Stunden hatte er mit einem Gefühl höhnischen Triumphes seine Tat gefeiert.

Und – hatte dann noch viele Stunden wach gelegen und sich selbst beobachtet, was es heißt, wenn das Gewissen sich meldet. Hatte sehr bald an seinem Bett einen Chor von Gespenstern versammelt.

Morgens war Anni wieder die Liebe und Zärtlichkeit selbst. Hatte lachend ihrem Häschen in den neuen Pumps-Lackschuhe eine Art Can-Can vorgetanzt …

Nun kaufte Heinz Stelter vom ersten Zeitungshändler, den er traf, ein Morgenblatt.

Die Gespenster waren schon wieder um ihn, zogen neben ihm mit ein in den langen weißen Saal der Buchhalterei.

Noch im Ulster stand Heinz an seinem Pult, überflog die Tagesneuigkeiten. Seine Hände zitterten leicht. Es mußte ja etwas von dem Tode des Mannes und von dem Diebstahl der Ledertasche in der Zeitung stehen. Derartiges ließ sich doch kein Lokalredakteur entgehen, zumal man bei dieser Gelegenheit noch etwas von Berliner Verkehrsnöten einflechten konnte: ‚Lebensgefährliches Gedränge auf der Untergrundbahn, Begünstigung der Langfinger und so weiter‘. – Er fand nichts.

Ein Kollege borgte ihm ein anderes Morgenblatt. Auch da Diebstähle, Einbrüche, Hochstapeleien. Nur nicht die Ledertasche! Kein Wort davon. –

Helene Brenken fehlte heute. Gegen elf verbreitete sich im Saale die Nachricht, daß ihr Stiefvater schwer erkrankt sei. Sie hatte sich beim Abteilungsdirektor telephonisch entschuldigt.

Und um zwölf ließ der Direktor Heinz Stelter zu sich rufen. Als der Bureaubursche, ein Bengel von anmaßendem Auftreten, Heinz mitteilte, daß er zum Herrn Direktor kommen solle, verschwamm alles ringsum für Heinz wie in wallenden Nebeln.

Luckner sagte da: „Mein Sohn, das Blaßwerden spare dir für später auf. Die Kündigung kann es nicht sein. Die Oberwärter besitzen immerhin Takt genug, nicht ausgerechnet heute Sonnabend vor dem Fest die blauen Briefe zu verteilen.“

Stelter schritt durch den Saal, wie eine lebende Leiche. Er rechnete damit, daß im Zimmer des Direktors Kriminalbeamte ihn sofort verhaften und mitnehmen würden.

Der Direktor, ein Mann, der stets bewies, daß er es mit den Angestellten gut meinte, verwarnte Stelter lediglich wegen der merkwürdigen Unstimmigkeiten in den Kontoauszügen.

„Sie sehen schlecht aus, Herr Stelter,“ fügte er dann noch hinzu. „Erholen Sie sich während der Feiertage. Montag fällt der Dienst aus. Frohes Fest!“ –

Heinz kehrte in den Saal zurück. Eine wilde Freude erfüllte ihn.

Luckner fragte: „Na, du hast wohl eine Belobigung erhalten, mein Junge?“

Stelters Stimmung wandelte sich jetzt im Laufe von kaum fünf Minuten zum dritten Male. Was ihm soeben noch wie eine Erlösung von nervenzerfressenden Befürchtungen erschienen war, was seine Schritte leichter und seinen Blick freier gemacht hatte, die Erkenntnis, daß nur eine eingebildete Gefahr ihn geschreckt hatte, – diese Erkenntnis mit der unnatürlichen Folgeerscheinung eines in Wahrheit durch nichts begründeten Glücksgefühls kam ihm wie eine aus dem innersten Kern seines Wesens herauswachsende Billigung seiner Tat vor und entsetzte ihn noch mehr als die Angst vor einer Entdeckung dieses Diebstahls, den er in der schlimmsten Stunde seiner nächtlichen Gewissensqualen als Leichenfledderei bezeichnet hatte.

Die Röte seines Gesichts wurde unter Luckners forschenden Blicken zu einem ungesunden Kittgrau. Er stützte die Ellenbogen auf Luckners Pult und hielt sich die geballten Fäuste vor das Gesicht.

„Ich … bin abgetan!“ sagte er tonlos.

Luckner dachte an eine Kündigung.

„Unmöglich, Heinz! Was redest du da? Man hat dir gekündigt?!“ meinte er ingrimmig. „Das übersteigt denn doch …“

Heinz hatte leise aufgelacht. Es war ein Lachen, das Luckner ins Herz schnitt.

„Gekündigt?! Nein! Oder – wenn du willst – ich habe mir selbst gekündigt!“

Er drehte sich um und nahm an seinem Pulte Platz.

„Du bist übergeschnappt, Söhnchen!“ rief Gerd Luckner ihm über die Schulter zu.

Aber die Worte klangen nicht wie sonst. Etwas wie ungewisse Besorgnis schwang darin mit.

‚Was er nur haben mag?‘ fragte sich Luckner. ‚Diese Ehe – ein Elend!!‘

Er seufzte. Das kam bei ihm selten vor.

 

6. Kapitel.

Die Pelzjacke.

Frau Anni tat an diesem Morgen ebenfalls etwas, das seit Monaten nicht vorgekommen war. Sie stand bereits um sieben Uhr auf, obwohl der neue Roman aus der Leihbibliothek sie außerordentlich fesselte, da er in Kreisen spielte, die das Geld mit vollen Händen fortwarfen: besserer Typ Raffke und Konsorten! – Dieses Milieu liebte Anni. Sie schwelgte dann, wenn sie langweilige Seiten überschlug, in eigenen Phantasien, sah sich selbst als gefeierte Filmdiva, die einem Freunde mit drei Luxusautos und einem geheimen Bankkonto in der Schweiz nur einen Wunsch anzudeuten brauchte, und schon war er erfüllt.

Neugier trieb Frau Anni aus dem warmen Bett. Nichts als Neugier. Gewiß – vor Heinz hatte sie viel von dem Großreinemachen geredet, das sie heute vormittag in der kleinen Wohnung vornehmen würde. Sie wollte ja auch wirklich mal wieder in den Stuben Staub wischen und die Bilder, Bronzen und die anderen Kleinigkeiten auf Heinz’ Schreibtisch so umgruppieren, wie er es nicht liebte. Dann merkte er doch, sie war fleißig gewesen!

Und wenn sie jetzt um sieben Uhr sich schon erhob, konnte sie dies Heinz der Wahrheit gemäß mitteilen und ihn dabei ohne Scheu ansehen.

Daß sie nur der Geschenke wegen, die er gestern irgendwo versteckt hatte, auf das süße Faulenzen bis zehn oder elf Uhr verzichtet hatte, davon würde sie ihm natürlich nichts sagen.

Sie kleidete sich hastig an. Unfrisiert eilte sie in das Badezimmer. Dort mußte sie finden, was Heinz gestern mitgebracht hatte. Er war ja ins Badezimmer gegangen, als sie kaum in der Küche verschwunden.

Sie suchte. Es war eiskalt hier. Sie öffnete den Koffer auf dem Hängeboden, sie durchwühlte leere Kartons, bis schließlich nur noch der große Leinensack mit der schmutzigen Wäsche übrigblieb.

Sie betastete ihn von außen. Sie war zu bequem, all die Wäschestücke herauszuziehen. Sie mußte es schließlich doch tun. Und da entdeckte sie mitten zwischen all diesen seit Monaten aufgespeicherten unsauberen Zeugen ihre Trägheit ein in Zeitungspapier eingehülltes Etwas. Triumphierend trug sie es ins Schlafzimmer, setzte sich auf ihr Bett und entfernte die erste Hülle … Nochmals Zeitungspapier … Dann lagen in ihrem Schoße Brillantringe, goldene Uhren, Armbänder, eine Perlenkette, Brillantanhänger aus Platin, ein paar moderne Broschen und – ein Bündel Geldscheine, lauter Fünfzigrentenmarkscheine.

Anni saß eine Weile regungslos da.

Ihr erster Gedanke war: Oh, wenn dir das doch alles gehörte! Ihr zweiter: Wo hat Heinz diese Juwelen und das Geld her?!

Plötzlich wurde ihr etwas unbehaglich zumute. Eine Erinnerung kam ihr: Ein Roman, in dem ein Mann aus Liebe zu seiner genußsüchtigen Frau einen Mord begangen hatte!

Dann lächelte sie, ein wenig geringschätzig.

Heinz – Heinz und ein Verbrechen –! Niemals! Dazu war ihr Heinz doch zu feige.

Natürlich, gefunden hatte er all das! Ganz fraglos – gefunden! Vielleicht hatte ein Juwelier in der Untergrundbahn ein Paket liegen lassen, … einer, der den Verlust leicht tragen konnte.

Mit dieser letzten Überlegung beschwichtigte Frau Anni auch den nur noch leise in ihrem Innern sich regenden Zweifel, ob durch diesen Verlust nicht etwa ein Fremder zum Bettler geworden.

Nichts wie eine unsinnige Freude über den Besitz der Juwelen und des vielen, vielen Geldes erfüllte sie.

Sie warf die Sachen auf das Bett, begann sich zu frisieren, zog das Kleid an, das aus ihrem aufgearbeitetem Brautkleid gearbeitet war, und streifte die Ringe über, befestigte die Perlenkette um ihren Hals, behängte sich mit all dem eitlen Tand, versuchte, ob ein Brillantanhänger oder die Perlenkette besser zu ihrem kecken Bubengesicht paßte …

Dann zählte sie die Scheine …

Auf dem Papierstreifen, der das Banknotenbündel umgab, war mit Blaustift geschrieben: ‚3000 Goldmark.‘

Sie zählte nochmals. Es wurden abermals nur siebenundvierzig Scheine. Es fehlten hundertfünfzig …. –

Da wurde sie nachdenklich. Heinz hatte ihr schon fünfundsiebzig Mark gegeben, hatte ihr noch Konfekt und allerlei zum Abendbrot mitgebracht.

Ein Verdacht stieg in ihr auf. Heinz log. Heinz war nie ehrlich. Ob er etwa von der Bank keine Gratifikation erhalten hatte? Ob die fünfundsiebzig Mark von diesem Gelde herrührten?

Minutenlang störten diese Gedanken ihre Glückseligkeit. Dann schob sie all das beiseite.

Geld – Geld!! Sie hatte Geld! Und Schmuck! Wie damals, als ihre Mutter vor Jahren gestorben und sie als Achtzehnjährige drei Brillantringe und anderes tragen durfte. Bis dieses Erbteil dorthin wanderte, wo sie es nie wieder hatte abholen können: zum Pfandleiher! Als sie sich mit Heinz verlobte, besaß sie nichts mehr von den ererbten Kostbarkeiten.

*

Heinz Stelter verließ heute zusammen mit Gerd Luckner um halb drei nachmittags das Bankgebäude.

Als sie auf die Straße hinaustraten, die von Scharen eiligst fortstrebender Angestellter gefüllt war, als sie kaum ein paar Schritte gegangen waren, tauchte vor ihnen Anni auf.

Heinz stutzte.

Anni in einer schicken Pelzjacke, mit einem neuen Hütchen aus Brokatstoff, mit hellgrauseidenen Strümpfen und Lackschuhen …

Eine Anni, wie er sie noch nie gesehen …

„‘n Tag!“ rief sie den beiden zu und lächelte stolz.

„Donnerwetter!“ entfuhr es Luckner. „Annichen, bei euch war wohl schon gestern Bescherung?“

Heinz stierte seine Frau an.

Pelzjacke, Hut und auch die Handschuhe – alles neu!!

Wie ein Blitz schlug da plötzlich Luckners Nachsatz in sein Hirn ein: „Kinder, das muß ja ein Heidengeld gekostet haben! Ihr habt wohl in der Lotterie gewonnen?!“

Heinz fühlte, daß er erbleichte. Er biß die Zähne in die Unterlippe, um nicht laut herauszubrüllen: ‚Du hast gestohlen, was ich schon stahl!‘

Luckner wurde aufmerksam. Er war ein guter Beobachter, ein guter Menschenkenner. Ihm machte niemand etwas vor – niemand! Hier stimmte irgend etwas nicht. Hier hieß es Augen und Ohren doppelt aufsperren, damit der gute Heinz nicht Schaden litte. Um den sorgten Luckners sich ja stets. Das war ihr Schmerzenskind.

Heinz Stelter, der sonst etwas gedankenträge war, hatte jetzt das Gefährliche dieser Szene ebenso blitzschnell richtig erfaßt. Mit einer Stimme, die nur leicht vorwurfsvoll klingen sollte und doch scharf und drohend war, sagte er zu seiner jetzt etwas verlegenen Frau:

„Anni, so bist du mir also doch an mein Versteck gekommen!! Das ist nicht nett von dir!“

Anni zwitscherte harmlos: „Ach, Häschen, es war so kalt! Solltet ich da wieder in meinem dünnen Mantel ins Freie und mich womöglich erkälten?! – Nicht wahr, Gerd,“ wandte sie sich an Luckner, um Heinz’ starrem Blick zu entgehen, „nicht wahr, du würdest Käthe doch auch schon vor dem heiligen Abend die Pelzjacke gegeben haben?! Ich friere ja so leicht.“

Luckner schüttelte den Kopf. „Bedauere, Anni, ich mische mich in diese Angelegenheit nicht ein. Das macht nur unter euch ab. – Wiedersehen, Kinder! Also am ersten Feiertag sechs Uhr bei uns. Frohes Fest im übrigen. Grüßt euren Papa von uns!“

Er nickte den beiden zu und ging schnell weiter.

Anni und Heinz folgten ihm schweigend.

Sie schwiegen, bis sie den Tiergarten erreicht hatten, und Heinz hier in einen frisch vom Schnee gesäuberten Seitenweg einbog.

Annis anfängliche Angst vor der Szene, die ihr bevorstand, war längst geschwunden. Hätte Heinz sofort, nachdem Luckner sich verabschiedet hatte, seinem Herzen Luft machen können, dann wäre Anni vielleicht für kurze Zeit im Nachteil gewesen.

Heinz blieb stehen. Seine Züge waren verzerrt.

„Du … du hast das Paket gefunden?“ stieß er hervor.

„Genau wie du gestern in der Untergrundbahn, Häschen,“ erwiderte sie spitzbübisch. „Ach, Häschen, weshalb nur dieses Gesicht?! Du hast …“

Er war etwas zurückgewichen.

„Steht etwas davon in der Zeitung, Anni?“ unterbrach er sie schrill.

„Nein, Häschen. Wenigstens habe ich nichts davon gelesen. Ich dachte mir nur, daß du die Sachen in der Untergrundbahn …“

Er konnte nicht anders. Er packte ihr rechtes Handgelenk. Ihre grenzenlose Gleichgültigkeit gegenüber dieser Schuld, die er in einer Sekunde halber Unzurechnungsfähigkeit auf sich geladen und die durch Anni jetzt noch vervielfacht worden war, da er jetzt keine Möglichkeit mehr sah, das fremde Eigentum zurückzugeben und das verbrauchte Geld zu erstatten, – diese unbegreifliche Abgebrühtheit ließ die Wut in ihm auflohen, ließ ihn Annis Hand schütteln und pressen.

„Du eitle Puppe! Du hast es gewagt, dich von dem Gelde, das …“

Sie hatte aufgeschrien … Zwischen den weißbestäubten Bäumen und Büschen tauchten Menschen auf.

„Komm’!“ sagte Heinz rauh.

Sie gingen weiter und kamen in das Häusermeer zurück, kamen in ihre Wohnung.

Heinz legte Ulster und Hut ab, folgte Anni ins Schlafzimmer. Aus Sparsamkeit heizten sie nur diesen Raum, hatten am Ofen ein behagliches Eckchen mit zwei Korbsesseln und einem runden Tische eingerichtet, wo sie auch aßen.

Anni legte gerade die Pelzjacke über einen Bügel.

Heinz sah das schwere, schillernde Seidenfutter der Jacke. Er griff zu, riß Anni die Pelzjacke aus der Hand, schleuderte sie auf den Boden. Er fühlte es, jetzt ein einziges aufreizendes Wort von ihrer Seite, und – er vergaß sich.

Aber dazu war Anni doch zu schlau. Demütig stand sie da, weinte plötzlich. Sie kam auf Heinz zu und wollte sich an ihn schmiegen.

Er stieß sie zurück – so kräftig, daß sie strauchelte und hintenüber auf das Bett fiel.

So blieb sie liegen, wühlte nur den Kopf in die mit blauem Satin unterlegte Spitzendecke und täuschte, wie schon so oft, einen Schreikrampf vor.

Diesmal versagte das Mittel. Diesmal wurde Heinz nicht gefügig. Im Gegenteil, er nahm sie bei den Armen, zog sie empor.

„Schweig – schweig, oder – ich schlage zu!“ Und er schüttelte sie, daß sie schließlich mit einem winselnden Laut auf dem Bettvorleger zusammensank und weinerlich flehte:

„Heinz, tu mir nichts. Lieber Heinz, tu mir nichts!“

Da gab er sie frei, schwankte zum Sessel.

Ekel – namenloser Ekel lag im dem Blick, mit dem er sie dann betrachtete.

Er beruhigte sich. Er preßte die Hand gegen die Stirn. Was nun?! Es mußte doch irgend etwas geschehen, um das von Anni angerichtete Unheil wieder aus der Welt zu schaffen!

„Du wirst den Pelz dem Kaufmann zurücktragen,“ begann er müde und trostlos. „Auch den Hut … Ich wollte die Sachen dem Eigentümer anonym zurücksenden, wollte das Geld, das ich mir angeeignet hatte, die hundertfünfzig Mark, ratenweise zurückzahlen.“

Anni hatte sich auf den Bettrand gesetzt.

„Und Luckner?!“ meinte sie schluchzend. „Er hat doch die Pelzjacke schon gesehen – und den Hut …“

Heinz’ Kopf sank tiefer. Das Zimmer kreiste um ihn. Er glaubte ersticken zu müssen.

„Luckner denkt doch, es wären Weihnachtsgeschenke,“ kam Annis verlegenes Stimmchen vom Bette her. „Ich werde sagen, Tante Meta hat uns aus Amerika wieder Dollars geschickt …“

Heinz sah die Szene vor sich, wie Gerd Luckner ihm im Flur der Bank die fünfzig Mark gegeben …

Dollars – Dollars!!

Er lachte. Er mußte lachen. Weshalb, wußte er selbst nicht.

„Ich habe mir gestern von Luckner fünfzig Mark geborgt,“ sagte er dann mit beißender Ironie. „Deine Spekulation ist verfehlt. Luckner wird …“

„Dann gib sie ihm zurück!“ Anni wurde wieder mutiger, eifriger. „Gib sie ihm zurück – morgen vormittag, und deute an, daß Meta …“

Wieder lachte Heinz.

„… daß Tante Meta uns in dem Briefe gebeten hat, über ihr Geschenk nicht zu sprechen, da sie dem Papa nichts geschickt hätte,“ fuhr Anni unbeirrt fort. „Sieh mal, Häschen, du regst dich wirklich ganz unnötig der Pelzjacke wegen auf, denn die Idee, deinen Fund anonym dem Verlierer wieder zurückzusenden, ist viel zu gefährlich.“

Heinz hob den Kopf.

„Ich habe die Sache nicht gefunden. Gestohlen habe ich sie! Ge … stohlen! So, nun weißt du es!“

Er hatte es mit unnatürlicher Ruhe gesagt. Er beobachtete Anni jetzt mit einer Art Schadenfreude.

„Einen Dieb hast du zum Mann!“ fügte er hinzu.

Sie glaubte den Augenblick gekommen, wo sie wieder über ihn triumphieren könnte. War mit einem Male neben ihm, umschlang ihn, wollte ihn küssen, flüsterte: „Häschen – Häschen, ich hab’ dich deshalb auch nicht ein bißchen weniger lieb! Häschen, ich …“

Er schob sie zurück.

Vor seinen Augen verstummte sie.

Wortlos ging er hinaus und nahm Mantel und Hut, verließ das Haus, flüchtete wieder in die weiße Einsamkeit des Tiergartens. Er schritt wie ein Kranker dahin. Er sann und sann und suchte einen Ausweg, seine Schuld zu verkleinern.

Plötzlich begann er zu laufen – bis zum nächsten Zeitungskiosk; er kaufte alles an Morgen- und Abendblättern, was vorrätig war.

 

7. Kapitel.

Kleinrentnermesse …

Als er mit diesem Zeitungspaket unter dem Arm dem Matthäikirchplatz wieder zuschritt, traf er Helene Brenken.

Beide waren tief in Gedanken gewesen. Beide schraken zusammen, als sie sich erkannten

Heinz reichte Helene die Hand. „Ich habe gehört, daß Ihr Herr Vater erkrankt ist, Fräulein Brenken. Hoffentlich nichts Schlimmes.“ Er sagte es mit ungekünstelter Herzlichkeit. Es tat ihm wohl, hier jemand so recht lieb behandeln zu können. „Ich fühle aufrichtig mit Ihnen mit, Fräulein Helene. Sie sind mir ja stets eine so treue Kameradin gewesen.“ Er hielt ihre Hand noch immer in der seinen. Und aus dieser Berührung ihrer Hände ward ein immer innigerer Druck. „Sie sehen so sehr blaß aus, Fräulein Helene. Steht es wirklich so …“

Sie entzog ihm die Hände mit hastiger Bewegung.

„Lassen Sie das. Ich will nicht heucheln! Und sprechen Sie mich nie mehr an, Herr Stelter …“ Sie redete überhastend, ohne viel zu überlegen. „Ich, ich bin nicht mehr die Helene Brenken von gestern, Herr Stelter!“ In ihre flackernden Stimme kam Festigkeit. „Es gibt Geschehnisse, die uns schuldlos aus der Bahn schleudern. Schuldlos sinken wir … Fragen Sie nichts!“ Ihre Stimme schwankte wieder. „Leben sie wohl! Sie werden schon aus den Zeitungen erfahren, weshalb ich mich vor jedem Menschen verkriechen muß.“ Sie wollte weitereilen.

Heinz hielt sie halb mit Gewalt zurück. Die Straße war leer. Windstöße stäubten den Schnee von den Dächern wie Nebelfetzen.

„Fräulein Helene,“ bat er weich, „wir sind doch Kameraden. Wir sollten doch keine Geheimnisse voreinander haben. Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“

Er hatte wieder nach ihrer Hand getastet.

Sie weinte leise und schwieg.

Heinz war ratlos. Er schaute sie an. Er sah da etwas so Rührendes, so Hilfloses.

„Helene,“ bat er wieder, und aus ihrer Hand ging’s in ihn über wie beseligender Frieden, „Helene, ich bin doch Ihr Freund, das bin ich wirklich. Kann ich nicht irgend etwas für Sie tun?“

„Sie?! – Sie?!“ Ihre Augen begegneten den seinen.

Mit einem Male ward Heinz Stelter das Geheimnis dieser Kameradschaft enthüllt. Und Helene Brenken, die mit dem Feingefühl des liebenden Weibes herausmerkte, daß sie sich verraten hatte, riß sich abermals los und flüchtete wie gehetzt in das dritte Haus.

Dort wohnte sie. Das wußte Heinz. Er folgte ihr, blieb vor dem Hause stehen. Der Laden ihres Stiefvaters war dunkel. –

Heinz ging heim. Er fand Anni im Flur vor. Sie putzte den Spiegel der Flurgarderobe.

Heinz beachtete sie nicht. Er setzte sich ins Schlafzimmer in den einen Korbsessel und begann die Zeitungen duchzublättern. Nach zweierlei suchte er, nach der eigenen Tat und danach, was Helene angedeutet hatte. Und – fand nichts – nichts.

Er wurde müde in der Nähe des warmen Ofens und nickte ein. Dann schlief er ganz fest.

Nach Stunden erwachte er und sah Anni sich gegenübersitzen, mit den Zeitungen im Schoße.

„Häschen, Häschen, die Sachen müssen einem Schieber gehört haben,“ sagte sie sofort. „Nicht ein Wort ist davon in den Zeitungen erwähnt! Ja – einem Schieber, Häschen, der sich scheut, Anzeige zu erstatten.“

Er blieb stumm. Was ging Anni ihn noch an?! Nichts – nichts!! Sie war ihm so fern gerückt, so fremd geworden …

Sein kalter Blick ließ sie verstummen. Sie zuckte die Achseln. „Gut, wie du willst!“ Sie stand auf. „Das wird ja ein reizendes Weihnachtsfest werden!“

Heinz schaute ihr nach, wie sie zur Tür schritt.

‚Puppe – seelenlose Puppe!‘ dachte er flüchtig.

Ihm war das alles so gleichgültig – alles.

Die Tür klappte hart ins Schloß.

Vielleicht hatte Anni recht: ein Schieber! Jedenfalls, es ließ sich in der Sache vorläufig nichts unternehmen. Er mußte abwarten, bis er den Namen des Eigentümers der Ledertasche ermittelt hätte.

*

In Stelters Eßzimmer brannten die Lichter des Tannenbaums, den Anni durch einen Zufall noch aufgetrieben hatte.

Der alte Herr Grunwald, Annis Vater, saß in der Sofaecke und blickte versonnen in das Kerzengeflimmer, Heinz seitwärts von ihm im Korbsessel, Anni stand am Ofen.

Es herrschte eine Stimmung in dem kleinen Kreise, die kaum trostloser sein konnte. Heinz hatte sich durch Kopfschmerzen entschuldigt, als der Schwiegervater ihn vorhin bei der Begrüßung so prüfend angeschaut hatte.

Das Ehepaar kam mit dem alten Herrn, der mit seiner langjährigen Wirtschafterin von den Mietserträgen seiner Vierzimmerwohnung, von Kleinrentnerunterstützungen und Spenden früherer Bekannter ganz behaglich lebte und doch unendlich verbittert, unzufrieden und neidisch war, sehr selten zusammen.

Herr Grunwald erzählte von der Kleinrentnermesse, die vor Weihnachten in dem Saale eines Regierungsgebäudes stattgefunden hatte. Er sprach, weil er ein schlechtes Gewissen hatte …

„Luckner hat mir auch etwas abgekauft,“ sagte er nun und sog an seiner Zigarre. „Hat er mit dir darüber nicht gesprochen, Heinz?“

„Nein. Wohl aus Zartgefühl nicht. Er hat doch sicherlich mehr bezahlt, als du verlangtest, Papa?“

„Hm – etwas mehr. Die alte geschnitzte Truhe stand mir so im Wege, und ihr hattet doch auch keinen Platz für sie. Mir fehlten so nötig Briketts.“

Anni war einen Schritt vorgetreten. Ihre Hände ruhten auf einer Stuhllehne.

„Meine Truhe, Papa?“

„Ja, Kind. Luckner hat hundert Mark dafür gegeben. Ich will euch gern etwas davon …“

Er hatte Anni angesehen. Sie war mit einem Male unnatürlich bleich geworden.

Dann drehte sie sich hastig um und ging hinaus.

Der alte Herr streichelte verlegen die Tischdecke.

„Anni scheint mir’s zu verargen, daß ich …“

„Möglich, Papa. Sie wird schon wieder vernünftig werden.“

„Hm – habt ihr euch eigentlich gezankt, Heinz? Du hast Anni doch so überreich beschenkt. Da müßte sie …“

„Eine kleine Meinungsverschiedenheit. Ich bin etwas reizbar, Papa, – überarbeitet.“

Anni kehrte schon zurück. Sie erwähnte die Truhe nicht mehr.

Der Abend endete, wie er begonnen hatte – trostlos! Als der alte Herr Grunwald um halb zehn mit seinen Geschenken heimfuhr, war er froh, daß er den Kindern von dem Erlös der Truhe nichts hatte abgeben brauchen. Daheim sagte er zu seiner Wirtschafterin:

„Frau Binz, es war höchst ungemütlich dort. Und belogen haben sie mich auch. Ich wette, daß meine Schwägerin Meta ihnen wieder Dollars geschickt hat. Na – ich werde das schon noch herausbringen. So, nun wollen wir unseren Baum anzünden, Frau Binz.“

Anni und Heinz saßen zu derselben Zeit in verschiedenen Zimmern, Anni im Wohnzimmer, Heinz im Schlafzimmer. Anni naschte Süßigkeiten und las. Heinz suchte wieder die Abendzeitungen durch. Seine Tat war der Öffentlichkeit noch immer ein Geheimnis.

 

8. Kapitel.

Die Insel des Friedens.

Luckners standen Arm in Arm vor dem leuchtenden Tannenbaum, mit strahlenden Gesichtern …

Sie beobachteten, wie ihr vierbeiniges Ersatzkind, der Rehpintscher, gierig die in kleine Stückchen zerteilten Wiener Würstchen, sein Weihnachtsgeschenk, verschlang, die auf einer Fußbank auf weißem Papier ausgebreitet lagen.

Sie konnten sich ohne Bedenken über den Appetit ihres Mucki freuen, denn Gerd hatte für die Weihnachtsbescherung der Bezirksarmen hundert Mark gestiftet. Mucki war mit der Vertilgung der Leckerbissen sehr schnell fertig, wedelte Herrchen und Frauchen mit dem Stummelschwänzchen dankbar an und kehrte auf seinen Stammplatz, den einen Klubsessel am Ofen neben dem Rauchtischchen, zurück. Hier rollte er sich zusammen und zeigte für den Christabend vorläufig weiter keinerlei Teilnahme mehr.

Frau Käthe besichtigte nochmals ihre Geschenke. Dann drehte sie sich unvermittelt nach ihrem Manne um. „Gerd, du bist nicht recht bei der Sache, du bist etwas verstimmt.“

Er hatte die Hände in den Taschen seiner verschnürten Hausjoppe und blickte auf die alte Truhe hinab, die er seiner Käthe heute geschenkt hatte.

„Ich hätte sie dem alten Grunwald nicht abkaufen sollen,“ sagte er ernst. „Ich glaubte damit ein gutes Werk zu tun. Die Truhe scheint Anni gehört zu haben.“

„Wie kommst du darauf?“

„Na – einmal muß es ja doch gesagt werden, Liebling. Ich kam darauf, als ich gestern die Truhe säuberte, während du in die Stadt gegangen warst.“

„Das verstehe ich nicht ganz.“

„Es wäre besser, ich hätte es nie bemerkt.“ Er bückte sich und schlug den Deckel hoch. „Du siehst, hier ist auf die Innenseite des Deckels noch ein Brett aufgeschraubt aus anderem Holz, entsprechend der Fütterung des ganzen Inneren der Truhe, die außen aus Eiche, innen aus Birke besteht …“

„Nun ja … Und?!“

„Ich hörte beim Bewegen des Deckels, daß da zwischen den beiden Brettern etwas raschelte.“

„Ah?!“

„Ich schraubte das Birkenbrett los und fand verschiedenes: Pfandscheine, Briefe und ein Bild eines Kinoschauspielers mit der Unterschrift ‚Meinem süßen Fratz!‘ – Der süße Fratz ist Anni.“

„Herr Gott! Auch das noch!“

„Wenn das alles wäre!!“ Er klappte die Truhe zu. „Setzen wir uns, Liebling. Man sollte ja am Weihnachtsabend nicht gerade ein so wenig angenehmes Thema erörtern, wie Anni es darstellt. Immerhin, wir müssen uns darüber schlüssig werden, was nun geschehen soll.“

Hand in Hand saßen sie auf dem Klubsofa des Herrenzimmers, ganz dicht beieinander. Zwei Menschen, die nur für einander lebten, deren Heim eine Insel frohen Glückes und sonnigen Friedens inmitten der heuchlerischen, verderbten Unrast der Großstadt war, deren zähe, starke Liebe alle Hindernisse, alle Schwierigkeiten des Ausbaues dieser seltenen Ehe überwunden hatte …

Nur umstrahlt von dem milden Lichte des Weihnachtsbaumes, saßen sie Hand in Hand, in den Augen den heiteren, ruhigen Glanz der wahrhaft Zufriedenen, wie ein Bild aus Urgroßvaterszeiten, das Behaglichkeit, gegenseitiges Vertrauen und unendlichen Frieden atmet und das doch von der heutigen Generation zumeist mit einem überlegenen Achselzucken als ‚süßlicher Kram‘ abgetan wird.

Dann reckte Frau Käthes freie Hand sich nach dem Tischchen vor dem Sofa aus, nach dem großen Kristallteller, auf dem Nüsse, Datteln, Feigen, Pfefferkuchen, Traubenrosinen und Äpfel mit dunkelroten Wangen ein leckeres Stelldichein bildeten.

Nach kurzem Schweigen sagte Gerd Luckner sehr ernst: „Unsere heutige Zeit steht im Zeichen der Unzufriedenheit, und leider, leider sind an dieser Unzufriedenheit zum größten Teil die Frauen schuld …“

„Sehr liebenswürdig! Wir danken!“ neckte Frau Käthe und knabberte an einer Dattel.

„Dummchen!“ Seine Augen leuchteten auf. „Dummchen, – du?!“

„Ich fühle mich auch durchaus nicht getroffen.“

„Na also!“ Er wurde wieder ernst. „Ich sehe es ja bei uns in der Bank am allerbesten, was das sinnlose Herumwerfen mit dem sogenannten Gelde, den Papierfetzen, den Millionen und Milliarden, angerichtet hat. Verwöhnt sind die jungen Mädchen, verwöhnt die Ehefrauen. Gehälter wurden gezahlt, daß Leute, die früher auf normale Ansprüche eingestellt waren, ihre Wünsche lawinenartig steigerten. Die Erkenntnis, daß es sich hier nur um einen Scheinwohlstand unseres besiegten Volkes handeln könnte, wollte in die Spatzenhirne nicht hinein. Wenn ich den Kolleginnen, den Kollegen zuweilen warnend erklärte, daß man sich rechtzeitig an den Gedanken eines völligen Umschwungs gewöhnen sollte, lachten sie mich aus. Und – dann kam die Rentenmark, kamen die Gehälter, wie sie für ein verarmtes Volk, ein totes Wirtschaftsleben, passen. Da begann das Heulen und Zähneklappern. Da war’s vorbei mit Theaterbesuch, Putz und Tand. Da sollten die plötzlich sparen, denen ein verlogenes Gehaltssystem bisher seidene Strümpfchen, schicke Schuhchen, jede Woche eine Neuanschaffung gestattet hatte. Da sollten nun diese Mädchen und Ehefrauen mit einem Male Farbe bekennen: Seid Ihr wirklich was wert, dann wird euch euer Charakter das Hineinfinden in die neue Zeit, das Sparen an allen Ecken und Enden, erleichtern. – Ja, sie bekannte Farbe! Aber welche! Die jungen Mädels laufen wie gekränkte …“

„Sag’ bloß nicht … getränke Leberwürste, Gerd! Du liebst den Ausdruck. Hier aber paßt er in deine Kathederrede nicht hinein!“ Frau Käthe schob dem Verstummten eine Dattel in den Mund und fuhr ihrerseits fort:

„Ja, sie laufen zumeist herum, als ob ihnen weiß Gott was für ein Unrecht geschieht! Und noch schlimmer die Frauen, die daheim – vergleiche Anni, Frau Wend, Frau Lukas, Frau Maaß und so weiter – den Mann mürrisch empfangen, die nach wie vor bei Spaziergängen an jedem Schaufenster stehenbleiben und seufzen: ‚Ja, das konnte ich mir mal kaufen und das auch!‘. Sie sind in der Überzahl, diese Frauen ohne Pflichtgefühl! Und das ist der Quell, aus dem dann weiteres Unheil wie Gift ins Land sickert: Unzufriedenheit, zerstörte Ehen, arbeitsunlustige Männer!“

Gerd Luckner schaute gedankenvoll auf den glitzernden Christbaum und sagte leise: „Wie mag’s bei Stelters um diese Stunde aussehen?!“

„Doch wahrscheinlich wie stets, wenn Anni ihre Wünsche erfüllt sieht. Die Pelzjacke ist ja da!“

Gerd noch leiser: „Ich wiederhole die Frage, woher die Pelzjacke?! Heinz hat sich fünfzig Mark geben lassen. Dafür kriegt man keine Pelzjacke, keinen Goldbrokathut und keine Pumpsschuhe!“

„Vielleicht – auf Abzahlung …“

„Dann verdiente der Waschlappen Ohrfeigen!“

„Aber Gerd …!“

Er schwieg. Und nach einer Weile fuhr er fort: „Da stimmt irgend etwas nicht! Und die Drohung mit den Ohrfeigen erhalte ich aufrecht – für den Fall, daß du mit den Abzahlungskäufen recht haben solltest! Schulden – in der heutigen Zeit Schulden, und ausgerechnet Annis wegen!“

„Was ist’s denn nun eigentlich mit Anni, den Pfandscheinen, den Briefen und dem Kinostar?“

„Ein – Scheidungsgrund ist’s!“

„Wie?! – Wie meinst du das?“

„Einzelheiten erspare mir heute. Dazu ist mir dieser Abend doch zu weihevoll. In dieser Beziehung bin ich sehr altmodisch. Es fragt sich nur, ob man Anni nicht vielleicht jetzt durch sanften Zwang ummodeln könnte, durch die Angst vor einer Aufdeckung ihrer Vergangenheit. Gewiß, ich scheue mich, ein solches Mittel anzuwenden. Aber sollen wir Heinz zugrunde gehen lassen. Dieses entartete Weib wird ihn noch zu dummen Streichen treiben!“

Frau Käthe überlegte, sie seufzte mehrmals.

„Anni führte zuletzt kein beneidenswertes Dasein bei ihrem so maßlos selbstsüchtigen Vater,“ suchte sie die Jüngere zu verteidigen. „Wenn sie sich da ein bißchen Sonnenschein nahm, wo sie ihn fand, – wer will’s ihr verargen?!“

„Ganz recht! Nur hätte sie nicht diesem Hilmar Wenk, wie aus dessen Antwortbriefen hervorgeht, schreiben sollen, daß sie da jetzt einen Krüppel als ernsthaften Verehrer hätte, der als Notnagel gerade einfältig genug …“

Frau Käthe hatte den Kopf mit einem Ruck gedreht. „Gerd, das ist ja nicht möglich!“

„Bitte, ich hab’s schriftlich in meinem Schreibtisch.“

„Armer Heinz!“

„Ja – und so ein guter Kerl! So ein Prachtmensch!“

Am Christbaum knisterte ein Zweiglein, es erlosch wieder und schickte würzigen Duft durch das Zimmer.

„Was tun wir?“ fragte Gerd wieder.

Frau Käthe schmiegte sich an ihn. „Verbrenne, was du gefunden hast. Anni ist zu bedauern. Erziehung und die muffige Umgebung ihres Elternhauses haben …“

Gerd hatte sehr energisch den Kopf geschüttelt.

„Du vergißt die Herzlosigkeit, die aus der höhnischen Kritik ihres ernsthaften, einfältigen Bewerbers – unseres Heinz – spricht. Doch nun Schluß damit, Liebling. Warten wir ab, was die Zukunft bringt. Ich gebe diese Waffe nicht aus der Hand. So, und jetzt in die Küche! Der Weihnachtskarpfen, Liebling! Ich helfe dir. Es ist mittlerweile acht Uhr geworden.“

Er löschte die Kerzen am Christbaum aus, nahm Mucki in den Arm und folgte Frau Käthe, die den Karpfen bereits aufs Feuer setzte.

Gerd Luckner mit einer bunten Schürze, auf dem Küchenstuhl Kartoffeln putzend, – das war eben Gerd Luckner!

 

9. Kapitel.

„Ich komme …!“

Am ersten Feiertag elf Uhr vormittags …

Luckners saßen noch im Eßzimmer am Kaffeetisch. Der große Napfkuchen zeigte eine bedeutende Bresche.

Da kam Anni. – Anni in der Pelzjacke, mit Goldbrokathütchen, Lackschuhen, hellgrauseidenen Strümpfen.

Gepudert wie immer. Parfümduftend, frisch, rosig, heiter, sorglos. Daß mit Heinz noch keine Aussöhnung erfolgte war, ging ihr nicht weiter nahe, obwohl sie nicht begriff, daß er gestern abend all ihrer raffinierten Koketterie gegenüber so völlig gleichgültig geblieben. Nein, das begriff sie nicht. Gerade er!!

Harmlos begrüßte sie Luckners. Ließ von Frau Käthe die Pelzjacke bewundern, flocht so nebenbei ein, daß die Tante Meta Geld geschickt habe, aber daß der Papa davon nichts wissen dürfe.

Sie legte ab und zog die neuen Handschuhe von der schmalen Kinderhand, deren Nägel wieder glänzend poliert waren und an deren linkem, kleinen Finger ein wundervoller Marquisring, die Platte achteckig und länglich, sprühte und funkelte.

Anni setzte sich, trank einen Likör und aß Kuchen. Sie erzählte: „Reizend war’s bei uns gestern abend.“

Und gab Einzelheiten, die ihrer Phantasie ohne Schwierigkeiten entsprangen.

Bis Gerd Luckner mit einem Male fragte: „Wo hast du denn den Brillantring her, Anni? Auch ein Geschenk?“

„Nein – nein! Bewahre! Das ist doch der Ring, den ich von Heinz’ Mutter geerbt habe. Ich trug ihn bisher nicht, da er mir zu weit war. Ich ließ ihn erst vor ein paar Tagen enger machen.“

Sie zog bereitwilligst den kostbaren Ring ab und reichte ihn Frau Käthe. Auch Luckner sah sich das auffallende Schmuckstück an – sehr lange. Stumm gab er ihn zurück.

Dann holte Anni einen Fünfzigmarkschein aus ihrem Ledertäschchen hervor.

„Hier, Gerd, – mit bestem Dank –“

„Gern geschehen. Tante Meta muß euch ja eine ganze Schiffsladung Dollars gesendet haben!“

„Oh – nur hundert. Freitag nachmittag kam der Brief.“

„So, so.“

Anni bewunderte noch die Geschenke, die im Herrenzimmer aufgebaut waren, und sah die Truhe.

Sie wurde nicht blaß, aber sehr nervös, sehr fahrig.

„Ich wußte bereits, daß du sie Papa abgekauft hast, Gerd. Ich – ich habe da seinerzeit für eine Freundin Briefe und anderes unter dem Deckel ver… versteckt.“

Sie schaute starr zu Boden.

„Ich möchte die Sachen wieder an mich nehmen, Gerd. Vielleicht schraubst du das Innenbrett einmal los.“

Also deshalb dieser Vormittagsbesuch – deshalb!!

Luckner erwiderte kühl: „Die Briefe und alles andere liegen bereits in meinem Schreibtisch.“

Anni senkte den Kopf noch tiefer. Sie war etwas zusammengezuckt und sagte nun scheu:

„Gib mir dann die Sachen, bitte. Mir ist es sehr peinlich, daß du womöglich über meine Freundin durch diese Briefe …“

Luckner hatte ärgerlich aufgelacht.

„Die Freundin bist du selbst,“ meinte er hart. „Du hättest diese belastenden Dinge wohl längst verbrannt, wenn sie nicht die Beweise enthielten, daß du Hilmar Wenk häufiger mit Geld ausgeholfen und zu dem Zweck die Brillanten deiner Mutter versetzt hast.“

Anni fuhr auf. „Das ist nicht wahr!“

Luckners eisige Miene schüchterte sie jedoch ein. Blaß, hilflos stand sie da.

„Etwas anderes,“ begann der unerbittliche Luckner wieder. „Es muß hier heute völlig reiner Tisch gemacht werden. Wahr ist nicht, daß du den Marquisring von deiner Schwiegermutter, der Geheimrätin, geerbt hast. Du hättest dieses Erbstück uns längst einmal gezeigt.“

Er trat schnell an den Bücherständer heran, suchte eine Zeitung hervor. „Hier steht unter der Überschrift ‚Einbruchsdiebstahl bei der Gräfin Warteck‘ folgendes: Unter den gestohlenen Juwelen befindet sich auch ein Marquisring mit achteckiger, länglicher Platte, besetzt mit zehn Brillanten – die einen länglichen, sehr klaren Smaragd einschließen.“

Er legte die Zeitung weg. „Anni, wie kommt ihr zu dem Ringe?“ fragte er jetzt eindringlich. „Sage die Wahrheit! Lüge nicht!“

Annis ganz entstelltes, fahles Gesicht mit den flackernden Augen verzog sich zu einem hochmütigen Lächeln. „Ich stehle nicht! Frage Heinz!“

Luckner atmete schwer. Mit einer Ruhe, wie nur er sie in solchen Augenblicken erzwang, fragte er befehlend: „Wo hat Heinz den Ring gestohlen? Sprich!“

Anni erwiderte leichthin: „In der Untergrundbahn.“ Sie antwortete nur, weil sie genau wußte, daß Luckner sie nicht eher gehen lassen würde, bis er vollständigen Aufschluß erhalten. „In der Untergrundbahn. Ein Mann wurde Freitag nachmittag in dem Gedränge ohnmächtig, und da nahm Heinz dessen Ledertasche mit.“

„Was befand sich noch in der Tasche?“

Anni zögerte. Sie sah ihren Traum von Geld, Brillanten, – sah all ihre Freude zerflattern. Luckner würde darauf dringen, daß alles der Eigentümerin wieder zugestellt werden sollte …

Ihre Enttäuschung ward im Moment zu sinnloser Wut. „Was – was geht dich das an!“ rief sie kreischend. Sie zitterte. So wie jetzt kannten Luckners sie nicht. Das war also die Anni, wie Heinz sie zuweilen in matteren Farben aus seiner inneren Zermürbtheit heraus den Freunden geschildert hatte!

Ekel packte Luckner. „Was mich das angeht?!“ meinte er verachtungsvoll. „Das geht meine Freundschaft mit Heinz etwas an! Ihretwegen ist Heinz zum Diebe geworden – nur Ihretwegen! Ich kenne ihn!! Ich kenne jetzt auch Sie!“ Er gebrauchte nicht mehr das vertraute Du. Das war diese Person da nicht mehr wert. „Bis auf den Grund Ihres kläglichen Seelchens kenne ich Sie jetzt! Sie – nur Sie sind Heinz’ Schicksal geworden. Aber Sie werden es nicht länger sein! Wagen Sie es nicht, nochmals in sein Heim zurückzukehren!“ Seine Stimme schwoll an. „Ich fahre von hier sofort zu Heinz mit den Pfandscheinen, den Briefen, dem Bilde!“

Anni lachte schrill: „Sehr vornehm, Denunziant!“

„Hinaus … sofort, Sie …“

„Gerd!“ warnte die blasse Frau Käthe vom Fenster her.

Da war Anni auch schon im Flur … legte den Ring auf die Spiegelkonsole. Die Flurtür knallte ins Schloß. Anni fuhr zu ihrem Vater.

*

Luckner stand neben Heinz Stelter, der weinend, das Gesicht in den Händen, im Schlafzimmer im Korbsessel saß.

„Mein lieber Junge, tu’ mir den Gefallen und hör’ zu flennen auf. Sei froh, daß du Anni los bist und daß die andere Sache so leicht einzurenken ist. Das fehlende Geld ersetze ich, und … den Besitzer der Ledertasche kenne ich. Helene Brenkens Stiefvater ist’s.“

Heinz ließ die Hände sinken.

„Ich weiß es vom alten Queißner, Heinz. Helene Brenken hat Sonnabend vormittag telephoniert, daß ihr Stiefvater kurz vor dem Hochbahnhof Bülowstraße im Zuge einen schweren Ohnmachtsanfall erlitten hat.“

Heinz war aufgesprungen. „Gerd – Gerd, dann … ist der Uhrmacher Müller ein Hehler! Gerd, ich traf Helene am Sonnabend gegen abend in der Matthäikirchstraße.“

„Ja – Helene, die dich heimlich liebt, mein Junge. Über solche Dinge rede ich nie. Aber ich merke alles. Jetzt sage ich’s dir: Sie liebt dich!“

„Das … das weiß ich.“

„So?! Endlich?! Woher denn …?“

„Durch ihr Benehmen am Sonnabend.“

Er erzählte und vergaß das eigene Leid über dem seiner Pultnachbarin.

„So, dann – zu Müllers!“ meinte Luckner, als Heinz nichts mehr hinzuzufügen wußte. „Laß mich nur machen. Die Polizei bleibt ganz aus dem Spiel.“

*

Helene öffnete den beiden die Flurtür. Sie prallte etwas zurück, als sie Luckner und Heinz erkannte.

„Wir möchten Ihren Vater gern sprechen, Fräulein Brenken,“ sagte Luckner herzlich und streckte ihr die Hand hin.

„Mein Stiefvater … ist schon wieder aufgestanden. Bitte!“ – Sie hatte Luckners Hand nicht beachtet. Ihr Gesicht war noch bleicher geworden.

Im Flur fragte Luckner leise: „Hat die Polizei sich mit dem … dem Ohnmachtsanfall Ihres Vaters beschäftigt, liebes Fräulein Brenken?“

„Nein! Gott sei Dank, nein!“ hauchte sie verstört.

„Dann wird es auch nicht mehr geschehen. Heinz hat die Ledertasche gefunden – mit dem gesamten Inhalt.“

Im Flur war’s halbdunkel. In der Decke brannte nur eine verstaubte Glühbirne. Helene schwankte plötzlich und trat auf Heinz zu.

„Sie haben uns vor der Schande bewahrt?“ Sie tastete nach seiner Hand. „Es sind gestohlene Sachen. Wenn sie gefunden worden wären, hätte mein Stiefvater …“

Ihre Worte gingen in fassungslosem Schluchzen unter. Heinz stützte die Wankende.

„Ich werde dann allein mit Ihrem Stiefvater sprechen,“ meinte Luckner gutgelaunt. „Sie sollen sich nicht weiter aufregen, Fräulein Helene.“

Heinz war mit Helene allein. Hand in Hand. Er suchte nach Worten. Er mußte ehrlich sein. Er verdiente Helenes rührende Dankbarkeit nicht. Und er begann zu flüstern. Er scheute sich nicht, gestand alles ein. Nun wurde er freier, wurde glücklich im Gedanke an die Zukunft.

„Denken Sie, Helene, Luckner hat für seine Papiere sich ein kleines Gut an der pommerschen Küste gekauft, das soll ich nun für ihn bewirtschaften. Ich möchte wieder raus aus der Galeere, zurück in die Natur! Wie wird das schön sein – wie schön!“

Mit einem Male packte ihn auch das andere – die Sehnsucht nach einem Weibe, das ihn die beiden letzten trostlosen Jahre vergessen ließ. Mut bekam er.

„Und wenn ich dann ganz frei bin, Helene, ganz frei, dann hole ich mir meine liebe Pultnachbarin nach Neuendorf. Würden Sie kommen, Helene?“

Sie hob den Kopf. Ihr Mund schwieg. Die glücklichen Augen jubelten: Ich komme …!