Die Einsiedler vom schwarzen Berge.
Von Walter Kabel.
1. Kapitel.
Der Kriminalinspektor Islington hatte sich, nachdem er mit dem Schnellzuge von Dover in London eingetroffen war, sofort einen Wagen genommen und dem Kutscher hastig ‚Kriegsministerium Whitehall’ zugerufen. Wenige Minuten später hielt das Gefährt vor dem neuen, nach Plänen von Young errichteten Palast, dessen mit Werken der Bildhauerkunst überreich verzierte Fassade gegen den schlichten Bau des gegenüber liegenden Generalkommandos so seltsam absticht. Islington erstieg schnell die breite Freitreppe und übergab in dem Vorzimmer dem grauköpfigen Diener seine Karte, auf die er vorher noch einige Worte mit Bleistift geschrieben hatte.
„Der Herr Minister wird den Herrn Inspektor jetzt kaum empfangen können“, meinte der Diener, dessen verwittere Züge deutlich den altgedienten Seemann verrieten, etwas zögernd, indem er die Karte unschlüssig zwischen seinen grobknochigen Fingern hin und herdrehte. – „Seine Lordschaft hat gerade eine Besprechung mit dem Herrn Premierminister, und ich weiß nicht, ob ich da so ohne weiteres stören darf,“ setzte er erklärend hinzu.
Der Inspektor wurde ungeduldig.
„Tun Sie es auf meine Verantwortung hin!“ sagte er befehlend. „Lord Midland wird mich annehmen. Machen Sie ihn noch besonders auf die Bleistiftzeilen aufmerksam.“
Der frühere Bootsmaat des S.M. Panzerkreuzer ‚Waterloo’ verschwand.
Der Kriegsminister, der Lord Balfour gegenüber in einem der mit dem Wappen des Vereinigten Königreichs geschmückten Polsterstühle saß, schaute etwas unwillig auf, als der Diener eintrat und ihm auf silberner Platte die schmale Karte präsentierte. Doch kaum hatte er die wenigen Worte – ‚Gefahr im Verzug! Angelegenheit Morris!’ – überflogen, da befahl er auch schon den Beamten vorzulassen. Und nachdem der Diener verschwunden, wandte er sich erregt an Lord Balfour:
„Ein glücklicher Zufall, daß wir jetzt gleich den Fall Morris erledigen können. Ich hoffe, daß wir nach dem Bericht des Kriminalinspektors, der leider bei seinen weiteren Nachforschungen und Unterhandlungsversuchen wenig Erfolg gehabt zu haben scheint, sofort einen definitiven Entschluß fassen werden. Denn auf die eine oder die andere Art müssen wir diese Sache, die sich nur zu leicht zu einer ernsten Gefahr für die Regierung auswachsen kann, aus der Welt schaffen.“
Der Premierminister hatte etwas erstaunt zugehört.
„Wovon sprechen Sie eigentlich, Midland?“, fragte er jetzt, und man sah es seinem Gesicht an, daß er sich vergeblich bemühte, den Namen Morris mit irgend einem wichtigeren Ereignis in Verbindung zu bringen.
„Von keinem anderen als dem Erfinder jenes Drachenfliegers, – von O’Connor Morris, dem Irländer!“ entgegnete der Lord mit Nachdruck.
„Richtig, jetzt besinne ich mich. Wir wollten zunächst feststellen lassen, ob die Beobachtungen bei jenem Nachtmanöver unserer Kanalflotte vor Dover nicht eine bloße Täuschung gewesen sind und …“
Hier wurde er durch den Eintritt des Kriminalinspektors unterbrochen. Dieser nahm dann nach kurzer dienstlicher Meldung auf eine einladende Handbewegung des Kriegsministers hin auf einem der Stühle Platz.
„Nun, Islington“, begann Lord Midland mit sichtlicher Spannung, „was haben Sie ausgerichtet? – Nach der Bemerkung auf Ihrer Karte nicht viel! – Aber geben Sie uns jedenfalls eine detaillierte Übersicht, damit auch der Herr Premierminister, der die Angelegenheit nur in ihrem Anfangsstadium kennt, vollkommen orientiert ist.“
Der Inspektor, eines der tüchtigsten Mitglieder der geheimen politischen Polizei, hatte schon sein Notizbuch hervorgezogen und erstattete an der Hand seiner Aufzeichnungen folgenden Bericht:
„O’Connor Morris, der zur Zeit in einem einfachen Landhause fünf Meilen von Dover an der Küste wohnt, ist tatsächlich identisch mit jenem irländischen Agitator, der als Mitglied der Nationalisten-Partei seiner staatsgefährlichen Umtriebe wegen vor zwei Jahren verhaftet werden sollte und kurz vorher plötzlich aus Dublin verschwand, ohne daß wir seine Spur wieder zu entdecken vermochten. Wie jetzt festgestellt, hat er nach etwa einjährigem Aufenthalt in Frankreich den kleinen Landsitz Wellington-Castle bei Dover unter dem Namen Georg Haberton gepachtet und sich dort mit flugtechnischen Versuchen beschäftigt, wobei er von zwei Landsleuten, die ebenfalls Ingenieure sind und ihre Ausbildung auch auf deutschen Hochschulen genossen haben, unterstützt wird.“
„Eine Zwischenfrage …“, warf hier Lord Balfour interessiert ein. „Morris ist doch jener Agitator, der uns während des Burenkrieges durch sein aufreizendes Eintreten für den irischen Unabhängigkeitsgedanken zwang, in zahlreichen Grafschaften Irlands die Ausnahmegesetze wieder einzuführen und gegen verschiedene maßgebende Persönlichkeiten aufs schärfste vorzugehen …?“
„Mylord haben Recht“, bestätigte der Inspektor diese Angaben. „Derselbe Morris ist’s, der bereits die Hälfte seiner Millionen für Agitationszwecke geopfert hat und jetzt anscheinend das ihm verhaßte England noch weiter zu schädigen sucht. Wenigstens muß ich das aus seinem ganzen Verhalten schließen. – Doch ich will meinem Bericht nicht vorgreifen. – Mylord werden sich auch erinnern, daß vor etwa vier Wochen nach einer Nachtübung des in Dover stationierten Geschwaders ein Schreiben beim Marineministerium einlief, in dem Admiral Wilson auf einige nicht aufgeklärte Ereignisse hinwies, die sich während des Nachtmanövers abspielten.
Mehrere Offiziere der Flotte wollten nämlich an jenem Abend einen großen Flugapparat beobachtet haben, der in wechselnder Höhe stundenlang über den Schiffen schwebte, bald verschwand und wieder erschien, jedenfalls in seinen Bewegungen eine vollkommene Lenkbarkeit und beträchtliche Geschwindigkeit bewies. Obwohl man sofort die elektrischen Scheinwerfer auf ihn richtete und auch mit Nachtgläsern die Konstruktion des geheimnisvollen Fahrzeuges zu ergründen suchte, konnten doch nur seine ungefähren Umrisse erkannt werden. Und danach handelte es sich um einen Drachenflieger, keinen lenkbaren Ballon. –
Dies ungefähr war der Inhalt jenes Schreibens, das zur Erledigung an den Herrn Kriegsminister weiter gegeben wurde, zu dessen Ressort ja auch die Überwachung aller im Auslande auftauchenden und für das Kriegswesen wichtigen Erfindungen gehört. Da nun von keinem unserer Militärattaches eine Meldung eingelaufen war, die den Bau eines neuartigen Flugapparates irgendwie erwähnte, und weiter erwogen wurde, daß eine derartige bedeutungsvolle Neuerung wie die eines so vollkommenen Drachenfliegers auch der Beachtung der Presse und der technischen Zeitschriften kaum entgangen wäre, so blieb nur die eine Lösung übrig, daß es sich hier nur um ein von einem unbekannten Erfinder ganz im geheimen hergestelltes Luftschiff handeln könne. Um hierüber Aufklärung zu verschaffen, hat der Herr Kriegsminister mich vor drei Wochen nach Dover geschickt, wobei seine Lordschaft mir gegenüber hervorhob, wie es die Sicherheit Englands durchaus erfordere, die Fortschritte auf dem Gebiete der Eroberung des Luftmeeres sorgfältig zu überwachen und womöglich alle bedeutenderen Erfindungen selbst mit den größten Opfern zu erwerben.“
Lord Balfour nickte zustimmend.
„Sehr richtig!“ meinte er ernst. „Wir haben gerade jetzt, wo unser lenkbarer Ballon ‚Nulli Secundus’ sich als ein totaler Mißerfolg herausgestellt hat, und Deutschland mit dem Zeppelin’schen Luftschiff uns soweit voraus ist, mehr denn je Ursache, dafür zu sorgen, daß unser Inselreich nicht mit Hilfe des Luftweges etwaigen Eroberungsgelüsten zugänglich und die dominierende Stellung unserer Flotte dadurch illusorisch gemacht wird. –
Aber fahren Sie nur fort, Islington. Ich bin wirklich neugierig, was an dieser Geschichte, die unser alter Wilson uns da aufgetischt hat, Wahres ist.“
„Ich habe mich meinem Auftrage gemäß“, begann der Inspektor wieder, zunächst nach Dover begeben und dort schon nach wenigen Tagen, die ich meist in den Schifferkneipen am Hafen in der Verkleidung eines Matrosen zubrachte, aus verschiedenen Erzählungen entnommen, daß jener Flugapparat irgendwo in der Nähe verborgen gehalten wird und seine Aufstiege nur immer in dunklen Nächten unter Anwendung der größten Vorsichtsmaßregeln ausführte. Zweifellos um eine genaue Beobachtung jener Evolutionen zu verhüten. Doch wo ich den geheimnisvollen Konstrukteur zu suchen hatte, konnte ich trotz aller Bemühungen nicht herausbringen, da das Luftschiff bald an der West-, bald an der Ostküste von Dover gesehen worden war. Schließlich gab ich diese Nachforschungen auf und begann in anderer Weise vorzugehen. Ich besuchte alle Küstendörfer und einzelnen Gehöfte in der Nähe, bis ich so auch eines Tages nach dem dicht am Meer inmitten einer wüsten Einöde gelegenen halb verfallen Landsitz Wellington-Castle kam. Hier fiel mir sofort ein großes, niedriges Holzgebäude auf, das offenbar erst vor kurzer Zeit errichtet war und dessen nach der See hin führende Flügeltüren, die die ganze Breite des Baues einnahmen, auf einen besonderen Zweck schließen ließen. Als ich mir diese Halle noch betrachtete und gerade zusehen wollte, durch einen Spalt einen Einblick in das Innere zu gewinnen, wurde ich von einem älteren Herren angesprochenen, der mir kurzer Hand bedeutete, daß ich hier nichts zu suchen habe und mich schleunigst davonmachen solle. Da ich auf diesen Ausflügen vorsichtshalber immer Malgerät mit mir herumtrug, so stellte ich mich in aller Höflichkeit als reisender französischer Künstler vor, legte mir schnell den Namen Viktor Armand zu, sprach viel von der wunderbaren Stimmung dieses Heidebildes mit dem Hintergrunde des halb in Nebel gehüllten Kanals, und wußte so das Mißtrauen des Mannes, in dem ich trotz des mächtigen grauen Vollbarts längst den irländischen Flüchtling O’Connor Morris erkannt hatte, langsam zu zerstreuen. Doch auf meine Frage, ob er vielleicht der Besitzer dieser Ländereien sei und mir gestatten wolle, die romantische Ruine des Wohnhauses und ihre Umgebung auf meiner Leinwand festzuhalten, bekam ich eine so grobe Antwort, daß ich es vorzog, für diesen Tag meine Nachforschungen einzustellen.
Ich kehrte nach Dover zurück,“ nahm der Inspektor weiter das Wort, „war aber mit dem Resultat meines Streifzuges durchaus zufrieden. Da ich wußte, daß Morris seinerzeit Besitzer einer großen Maschinenfabrik in Dublin gewesen und auch selbst Ingenieur war, so lag der Verdacht nur zu nahe, daß der große Holzschuppen das Geheimnis des so oft nächtlicherweise in dieser Gegend beobachteten Flugapparates enthielt. –
Drei Nächte habe ich dann vergeblich dicht bei Wellington-Castle, verborgen unter niedrigem Gestrüpp, auf der Lauer gelegen, bis endlich in der vierten mein Ausharren von Erfolg gekrönt wurde. Ich sah das Luftfahrzeug, hörte das Rauschen seiner Flügelschrauben, konnte seine Manöver bewundern, die sich mit größter Sicherheit vollzogen – nur Einzelheiten vermochte ich nicht festzustellen, da ich zu weit entfernt war und mich wegen der bei den Gebäuden umher schweifenden Hunde – drei mächtige dänische Doggen – auch nicht näher heranwagen durfte. –
Am nächsten Morgen fuhr ich nach London und erstattete dem Herrn Kriegsminister Bericht, der mich dann abermals mit der Weisung nach Dover schickte, womöglich die Konstruktion des Luftschiffes herauszubekommen oder aber mit Morris in Unterhandlungen zu treten und ihm völlige Straflosigkeit für den Fall zuzusichern, daß er seinen Drachenflieger an die englische Regierung verkaufen wolle. Diese Mission ist nun, wie ich leider zugeben muß, vollkommen gescheitert. Der Irländer, den ich wieder in der Verkleidung als Viktor Armand aufsuchte, schien sein Mißtrauen gegen mich noch immer nicht völlig überwunden zu haben, und erst durch die Vermittlung seiner reizenden Tochter, die die Einsamkeit des Vaters auf Wellington-Castle teilt, und selbst eine eifrige Malerin ist, gelang es mir zunächst einen oberflächlichen Verkehr einzuleiten, der dann durch meine Aquarellstudien der Umgebung und meine damit zusammenhängenden häufigeren Besuche allmählich etwas zwangloser wurde.
Helene Morris besonders – ihre vor Jahren verstorbene Mutter war eine Deutsche; daher der für eine Irländerin so ungewöhnliche Vorname – schenkte mir bald volles Vertrauen und wurde meine Schülerin, der ich leider, um meinen argen Dilletantismus auf dem Gebiete der Malerei zu verbergen, eine von mir selbst erfundene Aquarellier-Methode beibringen mußte, die nur den einen Vorteil hat, selbst die elendeste Stümperei durch eine auf harmlose Gemüter sehr genial wirkende Linienführung und Farbenzusammenstellung als kleines Kunstwerk erscheinen zu lassen. Dieses junge Mädchen, dem ich mich als begeisterter Anhänger des deutsch-französischen Verbrüderungsgedankens zu erkennen gab, erklärte mir dann im Laufe einer von mir sehr vorsichtig geführten Unterhaltung, daß ihr Vater die zuversichtliche Hoffnung hege, in einigen Jahren Irland mit Hilfe einer europäischen Großmacht seine Selbständigkeit wiederzugeben, da er im Besitze des einzigen Mittels sei, das Vereinigte Königreich mit Aussicht auf Erfolg anzugreifen.“
Islington hatte die letzten Worte sehr langsam gesprochen, als wollte er deren Wichtigkeit besonders hervorheben. Lord Balfour und der Kriegsminister tauschten jetzt einen schnellen Blick, dessen Bedeutung der Kriminalinspektor aber, an schnelles Kombinieren gewöhnt, sofort verstand, was seine folgende Äußerung bewies.
„Daß mit dieser europäischen Macht … Deutschland gemeint war, daran zweifelte ich keinen Augenblick …“
„Nicht schwer zu erraten!“ warf Lord Midland nervös ein und machte sich einige Notizen auf ein Blatt Papier. „Ebenso ahnte ich, daß jenes Mittel zur Bekämpfung Englands nur der von Morris erfundene Flugapparat sein konnte,“ fuhr Islington schnell fort. „Und nach dieser Äußerung der Tochter mußte ich wohl einsehen, daß durch das Lockmittel der verheißenen Straflosigkeit und die Aussicht auf eine reiche Geldentschädigung bei Morris nichts zu erreichen war, da sein Haß gegen unsere Regierung in der Zwischenzeit eher noch gewachsen als geringer geworden zu sein scheint. So wollte ich mir denn auf andere Art wenigstens photographische Aufnahmen von dem Luftfahrzeug verschaffen, das ich in der Zwischenzeit trotz häufiger nächtlicher Ausflüge nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte und von dessen Existenz in Wellington-Castle niemals ein Wort erwähnt wurde. Ich beorderte mir zwei meiner bewährtesten Unterbeamten nach Dover und verabredete mit ihnen für die vergangene Nacht einen gewaltsamen Einbruch in das Holzgebäude.
Alle Vorbereitungen wurden auf das sorgfältigste getroffen, so für die überaus wachsamen Hunde vergiftetes Fleisch besorgt, weiter eine Kamera und eine Magnesiumlampe sowie einige scharfe Stichsägen, um von der Rückseite in den Schuppen eindringen zu können.“
Der Premierminister schüttelte plötzlich unzufrieden den Kopf.
„Aber wozu das alles, Islington?“ – meinte er scharfen Tones. „Ich begreifen Sie nicht …?! Es wäre doch viel einfacher gewesen, Morris und seine Genossen zu verhaften! Dann hätten Sie sich diese Umstände ersparen können …!“
„Mylord verzeihen“, entgegnete der Kriminalinspektor sehr ruhig, „dieser Schritt wäre zu gewagt gewesen und hätte alles verderben können. Auch der Herr Kriegsminister machte mir diesen Vorschlag, den ich jedoch ablehnen zu müssen glaubte, da ich annahm, daß Morris Vorkehrungen getroffen hatte, um bei den geringsten Anzeichen von Gefahr seine Halle mit dem kostbaren Flugapparat in die Luft zu sprengen und so völlig zu zerstören.
Bei meinen Besuchen in Wellington-Castle hatte ich bemerkt, daß eine mehrfache Leitung von besponnenen Drähten aus dem großen Schuppen nach dem Wohngebäude führte. Und da ich den verzweifelten Charakter des Irländers kenne, der eher sein Leben hingeben als seine Erfindung uns überlassen würde, so lag der Verdacht nahe, daß es sich bei dieser Leitung nicht nur um elektrische Alarmglocken, sondern um eine gefährlichere, eben die von mir angedeutete Einrichtung handle, die uns bei übereiltem Vorgehen vielleicht jede Aussicht auf Erfolg vereiteln konnte. Aus diesen Erwägungen heraus faßte ich den Plan, durch einen … Einbruch in die Halle mir einige genaue Bilder von dem Flugapparat zu besorgen, nach denen dann der Bau eines ähnlichen Fahrzeuges möglich gewesen wäre. Allerdings blieb dies immer nur ein etwas unsicherer Notbehelf, da auch die photographische Platte alle Feinheiten der Konstruktion kaum wiederzugeben vermag. –
Gewiß, ich habe auch daran gedacht, mich des Drachenfliegers beim Niederlassen nach einem Aufstieg mit Gewalt zu bemächtigen, verwarf aber die Idee, weil ich in jener Nacht, als ich den Aeroplan bei seinen Manövern beobachtete, sehr wohl bemerkte, daß zwischen dem Wohngebäude und den Insassen des Luftschiffes kurz vor der Landung mehrere Lichtsignale gewechselt wurden, die zweifellos nichts anderes als Vorsichtsmaßregeln waren. Danach schien also selbst eine Überrumpelung ausgeschlossen.
Trotz aller Vorsichtsmaßregeln“, fuhr der Inspektor etwas zögernd fort, „ist nun leider mein Plan in der gestrigen Nacht, die sehr dunkel und stürmisch und daher für unser Vorhaben durchaus geeignet war, vollkommen gescheitert. Die Doggen witterten uns schon auf weite Entfernung und vollführten einen Höllenlärm, verfolgten uns auch eine Strecke, ohne die von uns verstreuten vergifteten Brocken anzurühren, so daß wir das Unternehmen als aussichtslos aufgeben mußten. Danach habe ich meine beiden Beamten zur Beobachtung von Wellington-Castle zurückgelassen und bin hierher geeilt, um dem Herrn Kriegsminister einen anderen Vorschlag zu machen, von dem ich mir besseren Erfolg verspreche.“
Hier wurde Islington durch den Eintritt des Dieners unterbrochen, der Lord Midland eine chiffrierte Depesche nebst der daran gehefteten Entzifferung überreichte.
„Vor einer Viertelstunde aus Dover eingetroffen“, meldete der Bootsmannmaat in strammer Haltung und verschwand dann wieder. Der Kriegsminister hatte kaum die wenigen Zeilen überflogen, als er erregt aufsprang und dem Kriminalinspektor etwas gereizt zurief:
„Ihren neuen Plan können Sie jetzt für sich behalten, Islington! Hier – lesen Sie! Die Depesche ist von einem Ihrer Untergebenen aus Dover.“ –
Auf dem gelben Formular aber stand folgendes:
‚Maschinenhalle in Wellington-Castle bis auf den Grund niedergebrannt. Vier Personen auf Segeljacht unter Mitnahme verschiedener größerer Kisten geflohen. Bitte um Instruktionen. – Weiler.‘
Der Inspektor sank ganz niedergeschmettert in sich zusammen. – So waren denn seine ganzen Bemühungen, die vielen durchwachten Nächte und die rege Gedankenarbeit, die er auf den Fall Morris verwendet hatte, umsonst gewesen …! Und auch die erhoffte Beförderung zerfloß wieder wie eine trügerische Fata Morgana in ein Nichts …! Ein anderer würde Direktor der siebenten Abteilung des Ministeriums werden und er selbst wieder zurücktauchen in die Menge der Durchschnittsbeamten, deren Laufbahn längst abgeschlossen war und für die es keine weitere Sprosse auf der unsicheren Leiter, die man Karriere nennt, mehr zu erklimmen gab. –
Islington fühlte plötzlich, wie ihm vor Erregung feine Schweißperlen auf die Stirn traten. Und vorsichtig hob er den Blick seiner stets halb zugekniffenen Augen, die seinen frischen, energischen Zügen etwas unangenehm Lauerndes gaben, und schaute zu Lord Balfour hinüber, um aus dessen Mienen sein Schicksal herauszulesen. Dieser saß als einziger von den Dreien mit völlig gleichmütigem Ausdruck in dem glatt rasierten Gesicht in seinem Sessel, hatte die Arme auf die Seitenlehnen aufgestützt und ließ spielend ein dolchförmiges Papiermesser auf dem Zeigefinger seiner Rechten balancieren, während Lord Midland dagegen auf den großen Spiegelscheiben des hohen Balkonfensters einen Sturmmarsch trommelte. –
Der Premierminister hatte den Blick des Inspektors sehr wohl gefühlt und sagte jetzt ohne aufzusehen:
„Ja, ja, Islington, den Ausgang habe ich gleich befürchtet, als Sie von dem Mißtrauen und der übergroßen Vorsicht des Irländers sprachen. Zweifellos hat Morris gestern nachts, als seine Hunde so lebhaft wurden und er dann – das kann man wohl unterstellen – die vergifteten Fleischstücke fand, sofort das Richtige angenommen und sich bei Zeiten in Sicherheit gebracht – sich und die Pläne zu seinem Gleitflieger. Denn dieser selbst dürfte wohl in der Halle mit verbrannt sein.“
Da drehte sich Lord Midland am Fenster kurz um und fuhr ärgerlich auflachend fort:
„Ja, der Aeroplan ist verbrannt, wird aber natürlich anderswo wieder aufgebaut und verbessert werden und so für uns ein stetes Schreckgespenst bleiben, bis er vielleicht eines Tages als furchtbare Waffe gegen England in den deutschen Arsenalen wieder auftaucht …! Aber ich werde nicht eher ruhen, bis ich die Gewißheit habe, daß das staatsgefährliche Vorhaben dieses Iren auf irgend eine Weise vereitelt oder unsere Regierung im Besitze des Luftfahrzeuges ist. Und von Ihnen, Islington, erwarte ich, daß Sie die zuletzt gemachten Fehler durch doppelten Eifer wieder auszugleichen suchen. Ihre Mission bleibt dieselbe, nur lasse ich Ihnen hinsichtlich der Mittel zur Durchführung unserer Absichten nunmehr völlig freie Hand. Sie verstehen mich wohl …! Natürlich darf auch auf keinen Fall irgend etwas von der Angelegenheit in die Öffentlichkeit dringen, das ist ja wohl selbstverständlich!“ –
Der Kriegsminister wandte sich dann zu Lord Balfour hin, der jetzt mit seiner wohlgepflegten weißen Hand den Griff des Papiermessers wie kampfbereit umfaßt hatte und aus dessen Gesicht der Zug liebenswürdiger Heiterkeit plötzlich verschwunden war …
„Mylord sind mit meinen Anordnungen einverstanden?“ fragte Lord Midland mit leichter Verbeugung.
„Vollkommen, Midland, – vollkommen!“ Und dann meinte der Premierminister, indem er den Kriminalinspektor, dessen Tüchtigkeit er trotz dieses Mißerfolges sehr wohl zu schätzen wußte, wohlwollend ansah …
„Was gedenken Sie denn jetzt zunächst zu tun, Islington …? Haben Sie sich schon irgend einen Plan zurecht gelegt …?“
Ohne Zögern kam die Antwort. Und sie klang nicht mehr leise oder schüchtern wie im niederdrückenden Bewußtsein einer Schuld, sondern klar und scharf, als habe die neu erwachte Hoffnung dem Beamten auch seine volle geistige Spannkraft wiedergegeben.
„Ich werde mit dem nächsten Zuge nach Dover zurückkehren, eventuell auch diese Fahrt auf einer Lokomotive zurücklegen und die Verfolgung des Irländers sofort beginnen, wobei ich mich der Hilfe der in Dover stationierten Torpedoboote zu bedienen gedenke, die auf eine telegraphische Order hin sofort Dampf aufmachen und mir bei meiner Ankunft dann auslaufbereit zur Verfügung stehen würden.“
Islington schaute hierbei Lord Midland etwas fragend an. Dieser nickte eifrig …
„Die Depesche soll sofort abgehen – sofort!“ warf er kurz ein, um ungeduldig fortzufahren: „Und wenn die Jacht des Irländers inzwischen einen Hafen angelaufen hat, und die Insassen wieder verschwunden sind – was dann …!“
„Dann werde ich ihre Spur weiter verfolgen und im Notfalle eine geheime Zirkularnote an sämtliche englischen Konsuln versenden, daß jeder für seinen Bezirk die eingehendsten Erkundigungen einziehen soll, ob sich nicht irgendwo eine aus vier Personen bestehende Gesellschaft niedergelassen hat. Und dieses ‚irgendwo’ ist sehr leicht näher zu umgrenzen: eben in einer möglichst einsamen Gegend in einem Hause, neben dem sehr bald, wenn es wirklich die Gesuchten sind, ein großes Gebäude errichtet werden wird – die Halle für den Flugapparat!“
Lord Balfour schien befriedigt. „Allerdings, nach diesen Angaben könnten die Konsulate wohl Erfolg bei ihren Nachforschungen haben, falls Morris sich nicht gerade in das innere Afrikas oder sonstige unwirtliche Gegenden flüchtet, wohin selbst unser Arm nicht reicht“, sagte er schon wieder mit seinem liebenswürdigen Lächeln.
Der Kriminalinspektor erhob sich jetzt und wurde dann von dem Kriegsminister nach einigen kurzen Anweisungen, die ebenfalls noch den Fall Morris betrafen, entlassen.
Eine Viertelstunde später saß Islington allein in einem Abteil zweiter Klasse des Expreßzuges Liverpool-Dover, hatte den Kopf in die Polster gedrückt und träumte mit offenen Augen von einem blonden Mädchenkopf, der es ihm mit seinen blauen Rätselaugen und dem spitzbübischen Lächeln angetan hatte. Daß es aus diesem Grunde für ihn noch ein besonderes Interesse gab, O’Connor Morris und die Seinen wiederzufinden, brauchte Lord Midland ja nicht zu wissen …
2. Kapitel.
Der Forstassessor Fritz Helmer war keineswegs entzückt, als er eines Tags die Nachricht erhielt, daß er nach Hela versetzt sei – wahrscheinlich um seine Fähigkeiten dort durch die Aufforstung der Dünenanlagen zu beweisen, wie er sich ingrimmig sagte. Denn Potsdam und das kleine Fischerdörfchen Hela auf der Spitze der langgestreckten, öden Halbinsel gleichen Namens waren doch zu große Kontraste! – Vergeblich zergrübelte er sich den Kopf, was er wohl verbrochen haben könnte, daß die vorgesetzte Dienstbehörde gerade ihn in dieses Exil schickte …! Er fand aber keine Erklärung und mußte sich schließlich mit dem Gedanken trösten, daß auch diese ‚Deportation’ nicht ewig dauern würde. So ließ er sich denn eines Tages von einem Speditionsgeschäft einige Packer kommen und seine Möbel und die kostbare Geweih- und Waffensammlung nach … Hela befördern, nahm rührenden Abschied von seinen Freunden, die sämtlich versprachen, ihren Sommerurlaub bei ihm zu verleben, und dampfte mit recht gemischten Gefühlen seinem Bestimmungsorte zu. Als Lektüre hatte er sich das Girth’sche Büchlein ‚Die Halbinsel Hela’ mitgenommen und war daher über die Stätte seines zukünftigen Wirkens einigermaßen unterrichtet, als er am Vormittag des dreißigsten Juni auf dem Salondampfer ‚Drache’ der Schifffahrtsaktiengesellschaft ‚Weichsel’ an der Hafenmole landete.
Der alte Förster Jannitzki hatte den Vorgesetzten erwartet und führte ihn in das neue Heim, einen geschmacklosen Ziegelbau, der sich am Westausgang des Dorfes gegenüber der Schule unter zwei mächtigen, weitästigen Linden erhob. Die Parterreräume, bestehend aus vier großen Zimmern, waren für Helmer bestimmt, während der Förster mit seiner würdigen Gattin das erste Stockwerk bewohnte.
Nachdem der Assessor dann den Arbeitern gezeigt hatte, wie seine Möbel gestellt werden sollten, schlenderte er mit Jannitzky durch die einsame Dorfstraße, deren gleichförmig gebaute, niedrige Häuschen mit den blendend weißen Gardinen und blitzblanken Fenstern jedoch so traulich und behaglichen anmuten. Aber Fritz Helmer ging teilnahmslos mit einem beinahe wehmütigen Ausdruck in dem frischen Gesicht an alledem vorüber, schreckte stets aus seinen Gedanken auf, wenn eine der Frauen oder Kinder, die vor den Türen standen, mit einem ‚Guten Morgen, Herr Förster’ seinen Begleiter freundlich begrüßten. Dieser hatte schon öfters einen fragenden Blick auf den so wortkargen Vorgesetzten geworfen, der auf seinen dienstlichen Bericht immer nur mit einem Kopfnicken antwortete. –
‚Ob das einer von den ganz zugeknöpften Herren ist, mit denen man so schwer auskommt?’ – fragte sich der Grünrock etwas unruhig. – ‚Aber danach sah der neue Herr doch gar nicht aus!’, suchte er seine Bedenken dann wieder zu zerstreuen. Denn wie herzlich hatte er sich bei ihm für den Empfang und das bißchen Grün an der Haustür bedankt! – Nun, er wollte es einmal auf andere Weise versuche …
„Sie werden sich hier schon einleben, Herr Assessor!“ sagte er daher gutmütig, als sie jetzt in die sauber gepflegten Anlagen des Kurhauses einbogen. „Der Sommer bietet uns mancherlei Zerstreuung. Wir haben schon jetzt einige hundert Kurgäste, und täglich bringen die Tourdampfer von Danzig Fremde mit, die unsere ozonreichen Kiefernwälder und das Bad mit dem kräftigen Wellenschlag, wohl auch die nervenberuhigende Einsamkeit herbeilocken. – Man gewinnt dieses stille Fleckchen Erde und die wortkargen Menschen bald lieb“, setzte er treuherzig hinzu. „Wer Liebe zur Natur empfindet, kann sich hier gar nicht langweilen. Es gibt ja nichts abwechslungsreicheres als die See. Und die Jagd auf Seehunde und Möven hat auch ihre Reize!“
Fritz Helmer gehörte nicht zu denen, die für ihre Untergebenen stets nur Vorgesetzter bleiben wollen. Im Gegenteil, er hatte es bisher immer verstanden, durch ein freundliches Eingehen auf die Interessen seiner Beamten, das keine Spur von gönnerhaftem Stolz durchschimmern ließ, ihr volles Vertrauen zu erwerben und war so mit den Jahren zu einer Menschenkenntnis gekommen, die ihn nur selten täuschte. Und dieser alte knorrige Weidmann mit dem grauen wallenden Vollbart, dessen schlichte Worte ihm, wie er sehr wohl merkte, über den noch recht lebendigen Trennungsschmerz hinweghelfen sollten, hatte er sofort richtig eintaxiert und streckte ihm daher jetzt in aufrichtiger Herzlichkeit die Hand hin.
„Ich danke Ihnen für diesen wohlgemeinten Trost, lieber Jannitzki“, meinte er lächelnd. „Aber fürchten Sie nicht, daß ich mich hier unzufrieden fühlen werde, trotzdem ich mitten aus dem Trubel der Großstadt zu den Helenser Insulanern geschickt wurde. Ich bin ja Forstmann und bei uns gehört die Liebe zu Gottes freier Natur mit zum Beruf. Und da ich wohl auf Ihre erprobte Mitarbeiter rechnen kann, hoffe ich auch in der Ausübung des Dienstes meine volle Befriedigung zu finden. Ich denke, wir beide werden gut miteinander auskommen,“ setzte er dann mit seinem gewinnenden Lächeln hinzu, das dem Alten sofort alle Befürchtungen benahm. –
Und als sie nun weiter an dem Kurhause vorbei auf den in die See hinausgebauten Steg zuschritten, schien der Assessor wie ausgewechselt. Er hatte soeben die Potsdamer Erinnerungen vollständig begraben, darunter auch jene reizvollen Teestunden bei der koketten Frau Emmy Büchsel, die als junge Witwe den schönen Fredi mit seiner Million nur zu gern eingefangen und … es vielleicht auch erreicht hätte, wenn nicht gute Freunde ihn immer wieder gewarnt haben würden. Aber durch diese Episode war jetzt ein dicker Strich gezogen … Und Fritz Helmer plauderte nun mit seinem Begleiter ganz zwanglos, ließ sich den Herrn Pfarrer des Ortes schildern, mit dem er, als dem einzigen Vertreter des akademisch gebildeten Teiles der Einwohnerschaft, gute Kameradschaft halten wollte, erzählte auch selbst manches aus seinem früheren Wirkungskreise, in dem er nach einem Jahre gefahrvoller Jagd mit der unverschämten Wilderei gänzlich aufgeräumt und dafür als Belohnung … die Versetzung nach Hela erhalten hatte. –
Jannitzki lachte zu der letzten Bemerkung sein dröhnendes Lachen, welches so herzlich klang, daß der Assessor selbst mit einstimmen mußte, ob er wollte oder nicht. –
Dann standen sie eben auf dem Stegkopf, und der Förster zeigte ihm die bei dem klaren Wetter deutlich sichtbaren Strandhöhen der Danziger Bucht und den weiten Bogen der Halbinsel, deren weiße, im Sonnenschein leuchtende Dünen in der Ferne wie ein heller Streifen sich durch das Blau des Meeres hinzogen. Und als Helmer sich umwandte, sah er das freundliche Bild des Dorfes mit dem dunklen Hintergrunde des Kiefernwaldes und dem hochragenden Leuchtturm vor sich liegen und zur Linken den Hafen, in dem eine Unmenge von größeren und kleineren Fischerkuttern sich vor ihren Ankerketten schaukelten. Und je länger er so schaute und das Rauschen der See seine Gedanken so wohlig einschläferte, desto mehr wich das anfängliche Bedrücktsein von ihm. –
Der Förster hatte Recht – es mußte sich hier leben lassen auch ohne Club und Theater und … berauschende Nixenaugen.
Als sie dann auf der schattigen Terrasse des Kurhauses hinter einer Flasche des gar nicht üblen Rauentalers saßen, zu der Helmer den biederderben, aber ebenso goldehrlichen Alten als Willkommenstrunk eingeladen hatte, faßte dieser bei einer Pause im Gespräch beinahe erschreckt nach der Brusttasche seiner graugrünen, leichten Leinwandjoppe und zog einen großen Dienstbrief hervor, den er jetzt behutsam dem Vorgesetzten hinreichte.
„Beinahe hätte ich das Schreiben vergessen!“, meinte er entschuldigend. „Es ist vom Ministerium des Innern aus Berlin und kam gestern abends an.“
Der Assessor las die Adresse, die auf seinen Namen lautete, erbrach dann das Siegel, zog einen großen Bogen hervor und überflog schnell den Inhalt. –
„Sonderbar!“ sagte er dann kopfschüttelnd. „Teilt mir hier der Minister mit, daß ein gewisser Herbert Schmidt vom Forstfiskus ein am Schwarzen Berge auf Hela gelegenes Gelände von dreihundert Quadratmetern auf zwei Jahre gepachtet hat mit der Berechtigung, darauf beliebige Baulichkeiten auszuführen. Weiter steht hier, daß wir besagtem Herrn Schmidt in jeder Weise entgegenkommen und – das ist das Merkwürdigste! – seinen Aufenthalt auf unserer Halbinsel nach Möglichkeit geheimhalten sollen! – Was meinen Sie dazu, Jannitzki?!“
Der Förster zuckte leicht die Achseln. –
„Was ist denn dabei so sehr verwunderlich, Herr Assessor? Es wird irgend ein Kranker sein, dem vielleicht Seeluft verordnet ist“, entgegnete er gleichgültig und trank behaglich sein Glas leer.
„Wie …?! – Und diese Schlußbemerkung des Schreibens fällt Ihnen gar nicht auf?!“ warf Helmer fast ungeduldig ein. „Hier heißt es doch … ‚geheimhalten!’ – Allein dieses eine Wort macht mich stutzig! Wozu sollte denn der Aufenthalt eines Kranken auf Hela verborgen bleiben?! – Dahinter steckt mehr …!“
Auch der alte Graubart wurde jetzt nachdenklich.
„Vielleicht ist’s irgend ein hoher Herr, der hier seine Gesundheit wieder herstellen will und den man vor Belästigungen durch neugieriges Publikum beschützen möchte,“ meinte er bedächtig.
Der Assessor überlegte einen Augenblick.
„Ja, das wird’s sein, Jannitzki! Anders läßt sich das Schreiben auch gar nicht erklären. – Nun, wir werden ja sehen, wer dieser Herr Schmidt ist. Denn er wird sich doch wahrscheinlich in nächster Zeit bei mir vor-stellen. Jedenfalls aber müssen wir der Weisung des Herrn Ministers gemäß die Sache für uns behalten. Falls wir später gefragt werden sollten, können wir ja einfach sagen, daß der betreffende krank ist und sich auf ärztlichen Rat hier niedergelassen hat.“ –
Helmer warf wieder einen Blick in das Schreiben und fuhr dann fort:
„Wohnen denn da am Schwarzen Berge noch mehr Menschen? Ich habe ja keine Ahnung, wo dieser Ort zu suchen ist!“
Der Förster lachte vor sich hin.
„Nein, Herr Assessor, Menschen wohnen dort nicht! Die sind überhaupt recht spärlich auf unserer sechsunddreißig Kilometer langen Halbinsel zu finden. Der Schwarze Berg ist nichts als eine dicht bewaldete etwa zwanzig Meter hohe Kuppe auf der Mitte Wegs zwischen unserem Dorfe und dem Putziger Heisternest, wie das nächste Fischerdörfchen sich nennt, das ungefähr achtzehn Kilometer von hier entfernt ist. Ich verstehe nicht, daß der Herr Schmidt sich gerade diese einsame Gegend, in der es nichts als Kiefern, Stranddisteln und Sand gibt und die von den nächsten Häusern kaum durch einen einstündigen Marsch zu erreichen ist, für sein Erholungsheim ausgesucht hat. Daß er da nicht von Ausflüglern belästigt wird, dafür kann ich garantieren. Die einzigen, die sich einmal dorthin verirren, sind wir und unsere Arbeiter, sonst niemand. Und ich bedaure nur unseren armen Briefträger, der jetzt dem Fremden die Postsachen zustellen muß! Denn ein Vergnügen ist dieser Gang durch die Einöde – die Straße besteht nur aus einer halb verwehten Wagenspur! – keineswegs.“
Helmer hatte inzwischen das Schreiben in den Umschlag geschoben und in die Tasche gesteckt. Er war wieder schweigsam geworden, da ihm der auffallende Inhalt des Dienstbriefes nicht aus dem Sinn kam. Und selbst als er nach zwei Stunden an der Table d’hote des Kurhauses in anregendem Gespräch zwischen zwei Offizieren der Schutztruppe saß, die auf Hela die letzten Nachwirkungen des anstrengenden Hererofeldzuges zu überwinden hofften, kehrten seine Gedanken immer aufs neue zu dem unbekannten Pächter zurück, der sich dort in der Einsamkeit am Schwarzen Berge eine Einsiedelei schaffen wollte.
Die Neugierde des Assessors wurde schneller befriedigt als er geahnt hatte. Schon am Nachmittag – er war gerade nach einem kurzen Verdauungsschläfchen von seinem fellbedeckten Divan aufgestanden, ließ sich Herr Herbert Schmidt durch die Frau Förster bei ihm melden. Als Helmer dann, nachdem er noch schnell seine bequeme Hausjoppe mit dem Rock vertauscht hatte, den noch recht ungemütlichen Salon betrat, erhob sich aus einem der modernen, mit lichtgrüner Seide überzogenen Sessel, eine hohe Gestalt, deren charakteristischer Kopf mit der mächtigen Stirn und dem bartlosen, scharfmarkierten Zügen auf den Assessor sofort einen besonderen Eindruck machte. Es lag in dem Gesicht dieses vielleicht fünfzigjährigen Mannes ein seltenes Gemisch von rücksichtsloser Entschlossenheit und schmerzlicher Verbitterung, und beides sprach für eine wildbewegte, an Enttäuschungen reiche Vergangenheit.
Nachdem die Herren Platz genommen, begann der Fremde sofort mit dem Zwecke seines Besuchs.
„Sie werden wohl bereits ein Schreiben des Herrn Ministers erhalten haben, das Ihnen das Nötige über meine beabsichtigte Niederlassung hier auf der Halbinsel mitteilt“, sagte er in etwas gebrochenem Deutsch und schaute Helmer dabei mit seinen scharfen, graublauen Augen so durchdringend an, als ob er ihm auf den Grund der Seele lesen wollte. – Dieser verneigte sich nur bejahend.
„Dann überreiche ich Ihnen hier einige Ausweispapiere über meine Person und den Vermessungsplan meines Pachtlandes am Schwarzen Berge,“ fuhr Herbert Schmidt fort und breitete mehrere Schriftstücke vor dem Assessor hin, die dieser nur flüchtig durchsah und dann wieder zurückgab.
„Außerdem habe ich eine Bitte,“ meinte der Fremde jetzt etwas zögern. „Würden Sie so liebenswürdig sein, schon heute mit mir den bei der Hitze allerdings wenig verlockenden Weg nach meinem zukünftigen Wohnort anzutreten und mir dort den genauen Platz nach dieser Katasterkarte anweisen, damit ich bereits morgen mit dem Aufstellen der Gebäude beginnen kann? – Die von mir gekauften auseinandernehmbaren Holzhäuser sind nämlich bereits mit meinen sonstigen Sachen auf einem Frachtdampfer verladen, und ich und meine Gefährten möchten mit der Einrichtung unseres neuen Hauses möglichst bald beginnen. – Selbstverständlich mute ich Ihnen nicht zu, den Weg zu Fuß zurückzulegen, Herr Assessor. Ich habe mich bereits erkundigt – uns steht, falls Sie meine Bitte erfüllen wollen, in einer Viertelstunde der Wagen des Besitzes des Gasthauses ‚Zur Löwengrube’ für diese Fahrt zur Verfügung.“
Obwohl Helmer sich eigentlich mit den beiden Offizieren für den Nachmittag verabredet hatte, so glaubte er doch den Vorschlag des Fremden nicht ablehnen zu dürfen, besonders, da ihm vom Ministerium die Weisung geworden war, Herrn Schmidt das größte Entgegenkommen zu bezeigen. –
So saßen sie denn kurze Zeit später auf dem harten Polster eines klapprigen, mit zwei mageren Pferden bespannten Wagens und rüttelten in einem ermüdenden Schritt durch den Sand dem Schwarzen Berge zu. Jannitzki hatte vorn neben dem Kutscher Platz genommen, rauchte seine kurze Pfeife und unterhielt sich in dem Helaer Platt, dessen singende Aussprache merkwürdig an das Englische erinnert, lebhaft mit seinem flachhaarigen Nachbarn über den letzten Oststurm, der mehrere Fischer wieder um ihre großen und teuren Treibnetze gebracht hatte. –
Desto stiller war es im Fond des Wagens. Nicht die unter den Kiefern lastende drückende Schwüle ließ die beiden Herren schweigen. Der Assessor wollte schon aus Höflichkeit ein oberflächliches Gespräch in Gang erhalten, hoffte auch von seinem Begleiter dabei näheres über dessen Herkunft und Absichten zu erfahren. Doch der Fremde wußte geschickt jeder direkten Antwort auszuweichen, zu der ihn Helmer durch unverfängliche Fragen hinzuleiten suchte. So hing denn schließlich jeder seinen Gedanken nach, und der Assessor hatte Zeit genug, seine Phantasie spielen zu lassen und sich durch Kombinieren das Wenige zu ergänzen, was er an Herbert Schmidt bisher beobachten konnte. Leider war dies nicht allzuviel. Daß der wortkarge Mann den besseren Ständen angehörte, merkte Helmer an der sicheren Art seines Auftretens und der gewählten Ausdrucksweise, bei der nur die gebrochene, scharf akzentuierte Sprache etwas störte. Aber gerade diese Aussprache des Deutschen ließ den Assessor wohl mit Recht einen Ausländer in dem Fremden vermuten. Außerdem besagten die beiden glatten Goldreifen, die Herbert Schmidt an dem Ringfinger der linken Hand trug, daß er verheiratet gewesen und seine Frau bereits durch den Tod verloren haben mußte. Damit war aber auch die Reihe der begründeten Mutmaßungen und dieser das Äußere ergänzende Steckbrief erschöpft.
Inzwischen quälte sich das Gefährt stets in demselben einschläfernden Schneckentempo durch den lockeren Seesand weiter, folgte meist den Dünentälern und gestattete den Insassen nur selten von einer Höhe aus einen Blick auf die weite Wasserfläche der Danziger Bucht. Plötzlich drehte sich der alte Förster nach den beiden um und sagte, indem er mit dem Mundstück seiner Pfeife nach vorwärts auf eine mit Kiefern dicht bestandene Anhöhe wies, die auf der Buchtseite der Halbinsel lag und sich wie ein kreisrunder, dunkler Fleck von den hellen Sandbergen abhob: „Das ist der Schwarze Berg, meine Herren.“
Und dann schaute er den Fremden beinahe mitleidig an und meinte mit einem Versuch zu scherzen: „Bißchen viel Gegend hier – eigentlich nichts als Gegend – Sand, Bäume, Wasser und Himmel! Aber reine Luft, das kann niemand bestreiten … reine Luft!“ Und er lachte knurrend im sich hinein. –
Dann hielt der Wagen und die drei kletterten, etwas steif von der schaukelnden Fahrt, herunter und schritten der Landmarke zu, die als hohes Holzgerüst auf der Spitze des Hügels über die Kiefern hinausragte. Jannitzki, der sich mit den Meßstangen und dem Bandmaß beladen hatte, mußte jetzt nach Anweisung des Assessors sofort die Arbeit beginnen. Schweigend schaute der Fremde zu. Und doch beobachtete er genau, ob die Pfähle an den richtigen Stellen in den Boden getrieben wurden. Auch zuckte bisweilen ein etwas spöttisches Lächeln um seinen Mund, als er bemerkte, wie wenig gewandt Helmer sich bei dieser Feldmessertätigkeit zeigte. Endlich waren die beiden Forstbeamten mit der Abgrenzung fertig.
Das Geländestück, welches durch die Pflöcke entsprechend der von Schmidt vorgezeigten Katasterkarte abgeteilt war, erstreckte sich von der Mitte des Schwarzen Berges gleichmäßig nach beiden Seiten und reichte bis dich an den Strand hinunter. –
Besser konnte sich dieser Sonderling den Platz für seine Eremitage gar nicht ausgewählt haben, das mußte der Assessor jetzt zugestehen. Von dem Hügel hatte man eine weite Fernsicht über die Bucht, der Wald bot Schutz gegen den Seewind und spendete zugleich genügend Schatten, und der kleine Wasserlauf, der sich zwischen den Dünen hindurch schlängelte und am Fuße der Anhöhe in die See mündete, ersparte die Anlage eines Brunnens.
Als Helmer jetzt zur Rückkehr mahnte, da der Förster die Vermessungsgeräte bereits auf den Wagen gelegt hatte und die beiden Herren ungeduldig auf- und abgehend erwartete, meinte der Fremde wieder in seiner bestimmten Art, die keinen Widerspruch zu dulden schien:
„Sie müssen schon ohne mich abfahren, Herr Assessor, da ich mir den Platz noch genauer ansehen und mir überlegen will, wo das Wohngebäude am besten aufzustellen ist. Ich kehre dann zu Fuß nach Hela zurück.“ –
Und obwohl Helmer sich erbot, noch zu warten, blieb Schmidt bei seinem Vorhaben. Der Abschied zwischen den beiden Herren war recht frostig, da dem Assessor das sonderbare Benehmen seines zukünftigen Nachbarn immer mehr mißfiel und er auch für dieses Zurückbleiben nur die eine Erklärung fand, daß der Fremde eben jedes überflüssige Zusammensein mit ihm vermeiden wollte. –
Als der Wagen dann langsam davonratterte, sagte Jannitzki, der jetzt neben seinem jungen Vorgesetzten saß, etwas enttäuscht:
„Ein komischer Kauz, dieser Herr Schmidt! Scheint seine Person ja nach Möglichkeit in ein mysteriöses Dunkel hüllen zu wollen und auch jeden Verkehr von vornherein abzulehnen! – Nun, Sie haben ja weiter nichts mit ihm zu tun, Herr Assessor – falls er nicht gerade unsere Kiefern als Brennholz verbraucht!“
„Von mir wird er jedenfalls nicht belästigt werden!“ gab Helmer dem Alten ärgerlich recht, holte seine Zigarrentasche hervor und suchte durch eine seiner starken Importen seine mißmutige Stimmung zu vertreiben. Denn daß es ganz anders kommen würde, und die Einsiedelei am Schwarzen Berge für ihn bald eine besondere Anziehungskraft haben sollte, konnte Fritz Helmer heute noch nicht ahnen.
Herbert Schmidt hatte sich inzwischen im Schatten eines Baumes auf das spärliche graue Moos gestreckt und beobachtete geduldig das Herannahen eines großen Dampfers, der direkt auf die weithin sichtbare Landmarke zusteuerte und schließlich ungefähr zweihundert Meter von der Küste entfernt Anker warf. Ein Boot wurde dann ausgesetzt und holte den Fremden an Bord. –
Bald darauf zeigte der bisher so einsame Strand unterhalb des Schwarzen Berges ein Bild rührigsten Lebens. Auf dem Dampfer kreischte die Dampfwinde und holte aus dem Schiffsraum ganze Stapel von Brettern und Balken hervor, lud sie in die Boote, die ihre Last dann an Land brachten, wo ein Dutzend Arbeiter die Ladung geschäftig den Hügel hinantrugen. Große Kisten folgten, ebenso lange Stücke verzinkten Wellbleches, Maschinenteile und Hausgerät. Als der Abend nahte, wurde ein hoher Mast, an dem eine Bogenlampe hing, aufgerichtet und darunter ein kleiner Petroleummotor und eine Dynamomaschine einstweilig montiert. Und bei eintretender Dunkelheit flammte plötzlich in den Dünen das blauweiße, elektrische Licht auf, beschien hin- und hereilende Gestalten, die willig den kurzen Befehlen Herbert Schmidts gehorchten, und ließ die aufgetürmten Berge der verschiedenartigsten Gegenstände erkennen, die wohlgeordnet nebeneinander in dem weichen Sande lagen, beleuchtete auch die feingeschnittenen Züge eines jungen, in ein einfaches graues Lodenkostüm gekleideten Mädchens, das neben dem Fremden stand und mit träumerischen Augen in den gleißenden Lichtstreifen blickte, den die Bogenlampe auf die leichtbewegte See zeichnete. –
Ein Käuzchen flatterte jetzt mit schwerem Flügelschlage um die strahlende Kugel, sodaß sein vergrößerter Schatten gespensterhaft über die Erde huschte, verschwand dann wieder zwischen den dunklen Kiefern und ließ nochmals sein klagendes Geschrei ertönen, als trauerte es über die Störung in seinem Jagdrevier.
Das Mädchen überlief’s wie ein Schauer bei diesen krächzenden Lauten, denen der Volksmund eine so böse Vorbedeutung gegeben hat. Und wie schutzsuchend legte sie ihren Arm um die Schulter Herbert Schmidts und flüsterte bang:
„Hast du gehört, Papa …? – Der Schrei des Käuzchen war’s! Und dreimal ertönte er. Das soll den Tod eines Menschen vorhersagen …“
„Aber Kind – ein törichter Aberglaube ist’s, weiter nichts! Seit wann läßt sich denn mein tapferes Töchterlein durch eine kleine, harmlose Eule ängstigen?! Hast du nicht manche Nacht allein in dem halbverfallenen Gebäude in Wellington-Castle zugebracht, während wir mit dem ‚Befreier’ wie ein Riesengespenst über dem Häusermeer von Dover dahinschwebten?!“ –
Liebkosend strich er ihr dabei über das blonde Haar und lächelte ihr ermutigend zu. Und dieses zärtliche Lächeln schien sein düsteres Gesicht wunderbar zu verklären und zauberte einen Zug milder Güte um seinen harten Mund …
Und doch sollte des Käuzchens schwarze Prophezeiung nur zu bald eintreffen. –
*
Etwa vier Wochen später saßen sich an einem Vormittag in dem Amtszimmer des Assessors die beiden Forstbeamten gegenüber. Soeben hatte Jannitzki seinem Vorgesetzten die Lohnlisten vorgelegt und unterschreiben lassen, zugleich auch den Arbeitsplan für die nächsten Tage entworfen. Damit war das Geschäftliche erledigt, und Helmer griff jetzt nach einer Zigarrenkiste, hielt sie dem alten Grünrock hin und bediente sich dann auch selbst. Als die langen Havannas brannten, lehnte er sich gemütlich in seinen Schreibtischsessel zurück und schaute seine bewährte Hilfskraft übermütig mit den Augen zwinkernd an …
„Na, Jannitzki, irgend etwas haben Sie doch noch auf dem Herzen, das merke ich! – Also los denn …!“
Der Förster bließ erst nachdenklich in die glimmende Spitze seiner Zigarre, die er schlecht angezündet hatte und platzte dann heraus:
„Hohl mich dieser oder jeder, Herr Assessor – aber mit den Einsiedlern am Schwarzen Berge stimmt die Sache nicht!“
Helmer war auf eine ähnliche Äußerung vorbereitet und konnte daher ohne irgendwelche Überraschung mit einem gutmütigen Auflachen fragen:
„Na, – und was stimmt Ihre Meinung nach an der Sache nicht?“
„Hm – ja …“ – Der Alte rückte etwas unruhig auf seinem Stuhl hin und her und schien nicht recht zu wissen, wie er diese unangenehme Geschichte am besten vorbringen sollte. Dann aber mochte er eingesehen haben, daß hier nur die vollste Aufrichtigkeit helfen konnte und begann, indem er seinen grauen Bart verlegen durch die Finger zog:
„Herr Assessor, eigentlich habe ich mich recht … recht undankbar gezeigt. Sie haben mich vom ersten Tage an mit so großer Liebenswürdigkeit behandelt und mich alten Mann den Rangunterschied zwischen uns nie fühlen lassen. Da hätte ich doch alle Ursache gehabt, Ihnen ebenfalls das vollste Vertrauen entgegen zu bringen.“ –
Er machte eine kurze Pause und qualmte einige Züge in die Luft. –
„Aber – hm … das tat ich nicht, sondern behielt bis heute meine Beobachtungen für mich, weil … weil ich glaubte, daß Sie mir eine … Einmischung in Ihre privaten Angelegenheiten verübeln könnten. Doch nach den Ereignissen der gestrigen Nacht darf ich das nicht mehr, muß ich schon als Beamter sprechen, also sozusagen dienstlich, und so bitte ich auch das Folgende aufzufassen.“
In Fritz Helmers offenes Gesicht, das die Seeluft in der kurzen Zeit dunkel gebräunt hatte, stieg langsam eine feine Röte. Erst jetzt ahnte er, was kommen würde. Und wie eine unbestimmte bange Furcht, drückte es auf sein Herz, daß ihm fast das Atmen schwer wurde …
„Ja, Herr Assessor“, fuhr Jannitzki fort, indem er seinem dröhnenden Baß eine mildere Klangfärbung zu geben suchte, „schon seit einer Woche weiß ich, daß Sie sich täglich mit dem blonden Fräulein aus der Einsiedelei am Strande treffen …“ –
Der Alte hüstelte und malträtierte seinen Bart noch stärker. Und Helmer blickte schuldbewußt vor sich hin. Seine Wangen waren jetzt mit dunkler Glut übergossen. Doch er unterbrach seinen Untergebenen nicht.
„Dabei wäre es ja nun nichts besonderes. Denn das Fräulein ist wunderhübsch und Sie haben auf diese Weise eine kleine Zerstreuung“, meinte der Alte mit einer etwas wunderbaren Logik weiter. „Doch ich fürchte nur, daß die junge Dame bei diesen Zusammenkünften eine besondere Absicht verfolgt, die nur darauf hinausläuft, den einzigen Mann, der sie in ihrem geheimnisvollen Treiben auf Grund seiner amtlichen Autorität stören könnte, zu … umgarnen und blind zu machen …“
Helmer war bei den letzten Worten zusammengefahren und starrte Jannitzki wie einen bösen Geist an.
„Wie meinen Sie das – ich verstehe Sie nicht?!“ stotterte er mühsam hervor. – Sollten seine Befürchtungen denn doch übertroffen werden, sollte der Förster Belege für all die heimlichen Vermutungen haben, die sich ihm schon so oft aufgedrängt hatten und die er bisher stets so ängstlich von sich zu weisen suchte?
„Herr Assessors“, sagte der Alte dumpf, „dort am Schwarzen Berge geschehen Dinge, die das Licht des Tages scheuen müssen, glauben Sie mir. Bis gestern hatte ich keine Beweise. Daher schwieg ich. Aber in der verflossenen Nacht habe ich mit eigenen Augen gesehen – ich saß schon seit Einbruch der Dunkelheit auf einer Kiefer auf der Lauer – wie sich gegen Mitternacht die großen Türen des niedlichen Wellblechschuppens öffneten und ein mächtiger Apparat herausgeschoben wurde, der sich dann plötzlich mit surrendem Pfeifen in die Luft erhob und in der Richtung nach dem Neufahrwasser-Hafen davon flog …“
Der Assessor war ganz in sich zusammen gesunken. Dann raffte er sich mit aller Energie zusammen …
„Unmöglich, Jannitzki! Sie müssen sich getäuscht haben …!“ meinte er mit einem Versuch, ungläubig zu lächeln. Aber sein Gesicht verzerrte sich nur …
Der Alte schüttelte beinahe traurig den Kopf.
„Auf meine Augen kann ich mich verlassen!“ sagte er ernst. „Außerdem habe ich ja auch das Luftfahrzeug bei seiner Rückkehr, die keine zwei Stunden später erfolgte, beobachten können. Ich bemerkte ganz deutlich durch mein Fernglas, das ich auf einen Ast aufgelegt hatte, wie drei Männer aus dem Apparat herauskletterten, ihn dann wieder in den großen Schuppen einschlossen und darauf in dem Wohnhaus verschwanden. Nachdem ich dann noch eine gute Stunde gewartet hatte, machte ich mich auf den Heimweg. – Eine Täuschung ist ganz unmöglich …!“
Helmer hatte den Kopf in die Hand gestützt und suchte seine wirren Gedanken zu ordnen. Erst nach einer geraumen Weile fragte er unsicher …
„Wie sind Sie überhaupt auf die Idee gekommen, sich dort zur Nachtzeit auf den Anstand zu legen, Jannitzki? Hatten Sie schon vorher irgend einen Argwohn gefaßt …?“
„Die Geschichte mit der Einsiedelei kam mir, wie gesagt, vom ers-ten Tage an nicht ganz richtig vor!“ antwortete der Förster ehrlich. „Als ich – es war genau heute vor zwei Wochen – am Strande entlang ging, um das Ausladen der Maschinen zu überwachen, trieb mich die Neugierde noch ein Stückchen weiter, und so gelangte ich denn bis zum Schwarzen Berge. Die zwei Häuser und der hohe Wellblechzaun waren schon fix und fertig, und die Tafel mit den Aufschriften ‚Verbotener Eingang! Bissige Hunde!’ hing auch bereits an der Pforte. Ich umkreiste das Gehöft einige Male, ohne daß sich einen Seele blicken ließ …“
„Und dann läuteten Sie, worauf Herr Schmidt erschien und … Ihnen wenig höflich die Tür wieder vor der Nase zuschlug, weiß ich …!“ fügte der Assessor erregt hinzu.
Jannitzki schaute ihn etwas verblüfft an, da ihm nicht sogleich einfiel, woher Helmer dieses Erlebnis erfahren haben konnte. Dann begannen seine Schnurrbarthaare vor verhaltenem Lachen leise zu zittern, und nur mühsam unterdrückte er ein Schmunzeln, das in diesem ernsten Augenblick wenig angebracht gewesen wäre. –
Der Assessor hatte davon nichts bemerkt und trommelte jetzt ungeduldig mit den Fingern auf der Armlehne seines Sessels …
„Weiter – weiter, Jannitzki! Sie müssen doch noch mehr Verdachtsmomente haben!“
„Gewiß …! – So erzählten mir zum Beispiel verschiedene Fischer, die nachts in der Gegend des Schwarzen Berges zum Flunderfang auf See weilten, daß sie jedesmal die mitten auf dem Gehöft stehende Bogenlampe brennend gefunden und auch deutliches Hämmern und Klopfen wie von einer großen Schlosserwerkstatt gehört hätten. Als mir dann noch vorgestern der alte Johann Zegke auf Ehre und Gewissen versicherte, er habe von seinem Kutter aus gesehen, wie sich ein großer mächtiger Vogel langsam in den Hof der Einsiedelei herabließ, da wollte ich mich doch einmal selbst überzeugen, was von all diesem Gerede wahr sei. –
Und, um ganz ehrlich zu sein, Herr Assessor – ich hätte diesen nächtlichen Ausflug wohl auch ohne diese Zuflüsterungen unternommen, schon weil mir das ganze Anwesen mit dem hohen Zaun, der jeden Einblick in den Hofraum unmöglich macht, und dieser gefährlichen Bewachung durch die drei riesigen Doggen unheimlich vorkam – so, als ob dort Dinge geschehen müßten, die man ängstlich verbergen wollte. – Nun weiß ich ja, was der Herr Schmidt da treibt. Nur darüber bin ich mir noch nicht klar, zu welchen Spitzbübereien er den Flugapparat benützt. Denn wer ein ehrliches Spiel vorhat, braucht sich nicht in die Einsamkeit zu verkriechen und das Licht des Tages so zu scheuen wie diese … diese Einsiedler vom Schwarzen Berge.“
Die letzten Sätze hatte der Alte so ingrimmig hervorgestoßen, daß sie Helmer wie ein bitterer Vorwurf trafen. Denn – war es nicht auch wirklich eine grobe Nachlässigkeit von ihm gewesen, dem Treiben der Fremden so wenig Beachtung zu schenken, wo doch anscheinend schon das ganze Dorf über jenes einsame Gehöft und seine Bewohner sprach, und hatte er sich nicht durch ein paar blaue Augen und einen anscheinend so ehrlich plaudernden Mund so leicht betören und zu einer Pflichtverletzung verführen lassen …?! –
Die auf ihn einstürmenden Befürchtungen und … Enttäuschungen ließen den Assessor jetzt aufspringen und unruhig das Zimmer durchqueren. Schließlich blieb er vor dem alten Grünrock stehen, der seine längst erloschene Zigarre nur noch mechanisch zum Munde führte, und einen nicht vorhandenen Rauch ebenso nachdenklich von sich bließ, da auch seine Gedanken von diesen unangenehmen Vorfällen ganz in Anspruch genommen wurden.
„Jannitzki, so geht das nicht weiter!“ sagte Helmer ernst, und jeder Zug der sonstigen genußfrohen Heiterkeit war aus seinem Gesicht verschwunden. „Wir haben zweifellos die Pflicht, der vorgesetzten Behörde von Ihren Beobachtungen Meldung zu erstatten. Ich möchte Sie nur bitten, vorläufig mit niemandem über diese Angelegenheit zu sprechen, selbst wenn man Ihnen noch mehr Einzelheiten zutragen und von Ihnen eine Gegenäußerung verlangen sollte. Besonders aber erwähnen Sie nichts von … von meinen … Zusammenkünften mit Fräulein Schmidt! Sie können sich wohl denken, wie unangenehm mir es unter diesen Umständen ist, daß ich diesen … Verkehr überhaupt angebahnt habe. – Ihnen kann ich’s ja sagen – die junge Dame hat sich mir gegenüber so harmlos liebenswürdig gegeben, daß diese gemeinsamen Spaziergänge für mich einen wirklichen Genuß bedeuteten. Und das Mädchen hätte wohl auch jeden anderen an meiner Stelle ebenso leicht umgarnt.“
Man sah es Helmer an, wie schwer es ihm wurde, den Förster soweit ins Vertrauen zu ziehen. Aber der Alte merkte dies sehr wohl, und mit jener Feinfühligkeit, die man gerade bei einfachen Leuten oft so stark ausgebildet findet, sagte er jetzt wieder in seiner treuherzigen Art:
„Ich glaube, Sie kennen mich wohl zur Genüge, Herr Assessor! Niemals hätte ich auch nur ein Wort über Ihre Bekanntschaft mit dem Fräulein verloren! Außerdem – irgend ein Vorwurf kann Ihnen daraus nicht gemacht werden! Ich selbst habe bisher – und ich bin hier schließlich auch Aufsichtsbeamter! – nicht geahnt, welche Absichten der von so hoher Stelle protegierte Herr Schmidt im Geheimen verfolgt!“
Helmer hatte sich dem Alten gegenüber an den Schreibtisch gesetzt und gedankenverloren vor sich hingeblickt. Die letzte Äußerung Jannitzkis machte ihn aber stutzig.
„Merkwürdig – merkwürdig!“ meinte er kopfschüttelnd. „Wie soll man sich nur diese Bemerkung in dem an mich gerichteten Briefe des Ministers, die uns anwies, den Aufenthalt des Fremden auf Hela möglichst geheim zu halten und ihn in jeder Weise zu unterstützen, mit dem Verhalten des Mannes selbst zusammenreimen? – Ich jedenfalls kann mir daraus keinen Vers machen!“
Der Förster lachte ärgerlich auf. „Wer weiß, auf welche Art dieser geriebene Ha…“ – er wollte Halunke sagen, dachte aber an das blonde Fräulein und verbesserte sich schnell – „dieser geriebene Herr sich den Brief erschwindelt hat. Auffallend war’s doch schon, daß uns das Schreiben nicht durch Forstrat Willers, der unser nächster Vorgesetzter bei der Danziger Regierung ist, zugestellt wurde. Gerade durch diese direkte Einmischung des Ministeriums, die ich trotz meiner zwanzigjährigen Dienstzeit noch nie erlebt habe, erschien der Fremde über jeden Verdacht erhaben.“
Der Assessor nickte nur zerstreut und schien schon wieder irgend einen anderen Gedanken zu verfolgen.
„Jannitzki,“ sagte er jetzt merklich zögernd - „haben Sie denn wirklich eine Vermutung über die Absichten jenes Herbert Schmidt und seiner Gefährten? – Sie deuteten wenigstens vorhin etwas ähnliches an.“
Der Alte schaute seinem Gegenüber offen ins Gesicht.
„Ja, die habe ich, Herr Assessor! Und wenn’s schließlich auch nur eine Mutmaßung bleibt, jedenfalls gibt sie eine ganz einleuchtende Erklärung für die nächtlichen Luftfahrten der Fremden. – Daß es zwischen England und Deutschland schon lange wetterleuchtet, weiß jeder. Und daß es bei dem drohenden Kriegsgewitter viel auf die genaue Kenntnis der gegnerischen Kriegshäfen ankommt, ist ebenso klar. Wenn nun auch der nahe Hafen von Neufahrwasser nur durch einige Küstenbefestigungen gedeckt ist und als eigentlicher Kriegshafen nicht gelten kann, so schützt er doch immerhin die dahinter liegende Kaiserliche und die Schichau-Werft, die im Ernstfalle für die Operationen unserer Ostseeflotte von großer Bedeutung wären. Sollte nun dieser Herr Schmidt, dem man ja an seiner Aussprache des Deutschen sofort den Ausländer anmerkt, nicht vielleicht – ein Spion Englands sein, der in der Nacht von seinem Flugapparat aus in aller Ruhe Pläne des Weichselmünder Forts, der Brösener Strandbatterien und der Werftanlagen aufnimmt, vielleicht auch Entfernungen für eine spätere Beschießung festlegt …?“
Helmers Gesicht war plötzlich ganz fahl geworden. Und seine zitternden Hände stützten sich schwer auf die Kante des Schreibtisches. In seinem Kopfe brauste es, und das Herz krampfte sich ihm zusammen vor wildem Schmerz. Es war ihm, als hörte er aus der Ferne ein übermütiges, klingendes Lachen herüber tönen … wie zum Hohn …! – Und ohne auf die Gegenwart des Alten zu achten, zischte er zwischen den Zähnen hervor …
„Schlange … Schlange! Also deswegen deine Freundlichkeit! Deswegen die warmen, lieben Augen für mich …!“ –
Dann schien er wie aus wüstem Traum zu erwachen, richtete sich straff auf und sagte mit einer Miene, die nichts Gutes verriet:
„Sie werden Recht haben, Jannitzki! Spione sind’s, käufliche Kreaturen, die sich hier eingeschlichen haben! Aber … ihr Spiel ist zu Ende …! Morgen vormittag fahre ich mit dem ersten Dampfer nach Danzig und werde der Gesellschaft das Handwerk legen lassen. Vielleicht sitzen sie dann schon abends hinter Schloß und Riegel – dieser sauber Herr ‚Schmidt’ und sein … harmloses Töchterlein …!“
Die von Helmer angedrohte Katastrophe sollte auch wirklich hereinbrechen – nur in ganz anderer Weise, als er vorausgesagt hatte.
3. Kapitel.
Die beiden Offiziere von der Schutztruppe, mit denen der Assessor schnell Freundschaft geschlossen hatte, konnten sich heute bei der Mittagstafel im Kurhause nicht genug über die Schweigsamkeit und schlechte Laune ihres Tischnachbarn wundern, der kaum auf ihre Fragen antwortete und nur finster vor sich hin auf den Teller starrte, ohne einen Bissen anzurühren. Dafür trank er desto reichlicher, und seine gelegentlichen Bemerkungen über die Verderbtheit der Welt im allgemeinen und die Unzuverlässigkeit des schönen Geschlechts im besonderen gaben den Afrikanern schließlich einen kleinen Fingerzeig, wo sie die Ursache für Fritz Helmers Kratzbürstigkeit zu suchen hatten.
Als die drei Herren sich nach Tisch auf die Veranda zu dem üblichen Kaffeeskat niedersetzten, und der Assessor dann ununterbrochen geradezu unverschämt gute Karten bekam, meinte der lange Freiherr von Blodnitz, dessen Gesichtscouleur nach dem soeben überstanden Typhus eine wunderliche graubraune Färbung hatte, mit einem rechten Genießerlächeln – ohne zu ahnen, wie nahe er mit seiner Bemerkung der Wahrheit kam:
„Ja, ja, Assessorchen – Unglück in der Liebe, Glück im Spiel! – Alte Geschichte!“ – Und er schrieb Helmer aufseufzend einen Kuki-Grand mit vieren an, durch den die Partie zugunsten des ‚Assessorchens’ entschieden wurde.
„Noch eine …?“ fragte Blodnitz und begann schon wieder die Karten zu mischen.
„Nein – ich habe zu arbeiten!“ lehnte Helmer beinahe grob ab. – Die Äußerung des langen Oberleutnants war ihm auf die Nerven gefallen.
„Au jeh, au jeh, Assessorchen!“ lachte dieser gutmütig … „Wo haben Sie sich denn heute eine Portion Galle einfiltrieren lassen …?“ Und dann sang er leise vor sich hin: „Du bist doch sonst nicht so …! Du bist doch sonst nicht so …!“
Mit einem „Verschonen Sie mich doch gerade heute, Blodnitz!“ war Helmer aufgestanden und verabschiedete sich hastig, als ob er allen weiteren Fragen entgehen wollte. Als er nun um die Ecke des Kurhauses verschwunden war, schaute der Oberleutnant seinen Kameraden fragend an.
„Verstehst du das, Wienecken?“ meinte er achselzuckend.
„Verstehen …? … Nein! – Aber ich ahnen so verschiedenes!“
„Raus damit! Zwischen uns gibt’s doch keine Geheimnisse!“ sagte Blodnitz und klingelte nach dem Kellner.
„Das wohl nicht! – Wäre auch ein Unding unter Leuten, die wie wir zusammen monatelang Schlammwasser … getrunken und jeden Abend auf’s neue ihr Testament gemacht haben“, entgegnete Hauptmann Wienecken ernst. „Aber in diesem Falle weiß ich nicht, ob es von mir nicht ein Vertrauensbruch ist, wenn ich dir das wenige erzählte, was mir Helmer gestern Abend in einer mitteilsamen Stimmung so halb und halb … gebeichtet hat.“
„… gebeichtet hat …?! – Das klingt ja ganz geheimnisvoll!“ lachte der lange Oberleutnant mit der Pfeffer- und Salz-Couleur, bestellte bei dem eben auftauchenden Kellner eine neue Flasche ‚Sauerbrunnen’ – er hatte sich auf höhere Verordnung vorläufig notgedrungen den Abstinenzlern angeschlossen – und wandte sich dann wieder seinem Kriegsgefährten zu …
„Natürlich … Cherchez la femme! Wienecken nicht wahr?“
Der Hauptmann zögerte noch.
„Schließlich hat der Assessor von mir ja keine besondere Diskretion verlangt“, meinte er endlich, nachdem er seine Bedenken überwunden hatte. „Du wirst die Geschichte ja auch nicht gerade durch den Dorfboten ausklingeln lassen! Also – es steckt selbstredend ein Weib dahinter …“
„Wo hinter …?“ warf Blodnitz unverbesserlich ein.
„Helmer hat,“ fuhr der Hauptmann gleichmütig fort, „durch einen Zufall vor einiger Zeit die Tochter jenes Herrn kennen gelernt, der die Eremitage am Schwarzen Berge bewohnt …“
„Hübsch …?“ fragte der lange Oberleutnant dazwischen.
„Wer …? – Die Eremitage, etwa …? – Wir sind ja kürzlich vorübergekommen. Da gefiel sie dir nicht sonderlich!“ diente Wienecken jetzt dem Freunde mit gleicher Münze.
„Das Kalauern überlaß bitte mir, lieber Hans!“ lachte der so Angeführte und goß sich einen Trostschluck ‚Sauerbrunnen’ ein.
„Ja, durch einen Zufall kam ich dahinter!“ erzählte der andere weiter. „Denn als der Assessor an einem Vormittag dienstlich in der Nähe der Einsiedelei zu tun hatte – ich glaube er wollte die Sturmschäden an den Dünenbefestigungen auf der Seeseite der Halbinsel sich ansehen, wurde er plötzlich von einer mächtigen dänischen Dogge attackiert, die er kaum mit seinem Stock von sich abwehren konnte. Und zweifellos hätte das Hundevieh ihm noch übel mitgespielt, wenn nicht plötzlich zwischen den Sandhügeln eine junge Dame erschienen wäre, die …“
„Danke gehorsamst für die Schilderung der Lebensrettung!“, unterbrach Blodnitz ihn, mit der Hand abwinkend. „Kann ich mir selbst in der Phantasie ausmalen! Ist außerdem alter abgelagerter Novellenwitz, diese Art der Anbändelung! – Na und was passierte weiter …?“ fragte er trotz-dem mit offensichtlicher Neugier.
„Sie haben sich dann fast täglich getroffen, und unser Assessor ist jetzt anscheinend sterblich in die blonde Schönheit verliebt.“
Der unfreiwillige Abstinenzler schaute eine Weile stumm in sein Weinglas mit dem harmlosen Inhalt …
„Eigentlich doch eine Gemeinheit, bei dem zurzeit auf diesem gesegneten Eiland herrschenden Mangel an holder Weiblichkeit uns diesen Engel vorzuenthalten!“ brummte er dann entrüstet.
„Gestatte – die Bekanntschaft scheint doch auch ihre Schattenseiten zu haben! Denn ich gehe wohl nicht ganz fehl, wenn ich Helmers heutige Anwandlung von Selbstmordstimmung dem blonden Fräulein in die Schuhchen schiebe!“
„‚Schuhchen’ klingt ja überaus galant! Willst dich wohl so allgemach wieder an Europas übertünchte Höflichkeit gewöhnen, alter Sohn … was?!“ meinte der Oberleutnant ironisch, setzte dann aber ernster hinzu:
„Also mehr weißt du von diesem Liebesidyll nicht …? – Herzlich wenig! – Ich muß dir nämlich sagen, daß mir unser Assessor heute trotz meines Festhaltens an meinem gewöhnlichen Ulktönchen gar nicht gefallen hat. Der Mensch sah mitunter direkt verzweifelt aus! Ob der vielleicht von der blonden Fee ein Körbchen erhalten hat, und dieses ihm jetzt das Herz so sehr belastet …?“
Der Hauptmann zuckte die Achseln.
„Möglich …! Bestimmtes weiß ich nicht. Nur eben das eine: er ist, bis über beide Ohren in sie verschossen und sprach gestern abends sogar schon andeutungsweise von … ‚eigene Häuslichkeit begründen’, ‚Glück lange gesucht, endlich gefunden’ usw., was einem so die Mondscheinstimmung bei rauschenden Wellen und übervollem Herzen eingibt.“
Der lange Blodnitz pfiff leise durch die Zähne.
„Armes Assessorchen!“ sagte er ehrlich bedauernd. „Muß er nun auch gerade das Pech haben an eine zu geraten, die ihn nicht mag! Und könnte bei seinem Mammon und seiner Stellung doch überall anklopfen. – Ja, ja, so geht’s! – Na, hoffentlich renkt sich die Sache noch irgendwie ein.“ –
Und dann stürzte er mit einer wahren Märtyrermiene den Rest aus seinem Glase hinunter, als ob er damit auch alle ernsteren Gedanken hinunterspülen wollte, griff wieder zu den Karten und fragte augenzwinkernd:
„Wie ist’s mit so’n bißchen ‚meine Tante, deine Tante’ …? Zur Erholung nach dem geistverkonsumierendem Skat sehr dienlich! Höchsteinsatz ein deutscher Reichsgroschen – nur um die Zeit bis zum Baden totzuschlagen!“
*
Inzwischen wanderte Fritz Helmer durch den Wald der Stelle zu, wo er bisher stets um dieselbe Nachmittagsstunde seine blonde Freundin getroffen hatte, ohne daß zwischen ihnen jemals eine Verabredung getroffen war. Er hatte lange mit sich gekämpft, ob er nach den Vorfällen am Morgen auch heute noch eine Zusammenkunft herbeiführen sollte, die für ihn doch nur eine Qual bedeuten konnte. Aber andere Erwägungen trieben ihn dann aus seiner einsamen Wohnung hinaus unter die leise rauschenden Kiefern. –
Denn, war’s nicht vielleicht möglich, daß die, die er in dieser kurzen Zeit so lieb gewonnen hatte, ahnungslos dem Treiben des Vaters gegenüberstand, nichts wußte von dem, was in der Nacht mit dem Drachenflieger unternommen wurde? –
Und während der Assessor langsam über den mit spärlichen, farblosen Gräsern bedeckten Waldboden dahinging, trieben bald Hoffnung, bald tiefste Niedergeschlagenheit ihr Spiel mit ihm. Ganz unbewußt beschleunigte er seine Schritte immer mehr. Er sehnte die Entscheidung herbei, wollte sich Gewißheit verschaffen, ob sie ihn denn wirklich auf so raffinierte Weise hintergangen hatte und nichts anderes war als … ein Werkzeug ihres Vaters, um seine Wachsamkeit einzuschläfern.
Endlich hatte er jene bewaldete Anhöhe erreicht, die auf der See-seite der Halbinsel liegt und im Volksmund nach dem ihre Spitze krönenden Baume ‚Bei der Gabelfichte’ genannt wird. Unter dem alte, knorrigen Stamm, dessen seltsam verkrümmte Äste fast bis auf die Erde herabreichen und so eine natürliche Laube bilden, sah er von weitem ein helles Kleid schimmern. Sein Herz begann schneller zu klopfen und am liebsten wäre er umgekehrt. Denn er fürchtete diese Entscheidung … Aber schon war er von der mächtigen graublauen Dogge, die bisher ruhig zu den Füßen ihrer Herrin geruht hatte, bemerkt worden. Langsam, gravitätisch kam ihm das Tier entgegen und rieb seinen schönen Kopf zur Begrüßung vertraulich an Helmers Arm. Und dann streckte ihm das blonde Mädchen so herzlich, mit so ehrlich erfreuten Augen die Hand entgegen, daß es in ihm aufjubeln wollte. ‚Nein, die betrügt dich nicht –! So hinterlistig kann ja kein Weib handeln!’ –
Aber ebenso schnell kam wieder der Rückschlag. Des alten Försters warnende Worte fielen ihn ein, und beinahe scheu setzte er sich neben sie in den Sand, streichelte verlegen das weiche Fell des Hundes und wußte nicht, wie er dieses … Verhör beginnen sollte.
Sie hatte inzwischen ihr Buch – Sudermanns ‚Frau Sorge’ war’s – zugeklappt und wandte ihm nun ihr zartes, feines Gesichtchen zu. Und prüfend ruhten ihre großen, blauen Augen eine Weile auf seinen jetzt von dunkler Röte übergossenen, heute so seltsam ernsten Zügen. Und dann flog ein schalkhaftes Lächeln um ihren schöngezeichneten Mund.
„Wer hat Ihnen denn die Laune verdorben, Herr Assessor?“ fragte sie unbefangen. „Etwa Ihr alter Jannitzki mit dienstlichen Sorgen?! – Das finde ich nicht hübsch von ihm!“ – Und sie zog ein allerliebstes Schmollmäulchen …
Warum mußte sie auch gerade den Namen erwähnen, bei dessen Klang es Fritz Helmer wie ein Argwohn durchzuckte. – Wollte sie ihn in etwa aushorchen, hatte sie Kenntnis von dem nächtlichen Ausflug des Försters und suchte sie jetzt von ihm zu erfahren, ob dieser ihm seine Beobachtungen mitgeteilt hatte? –
‚Vorsicht, Vorsicht!’ raunte ihm eine innere Stimme zu. ‚Verrate dich nicht, laß sie bei dem Glauben, daß du ihr nicht mißtraust!’
Und so zwang er sich denn zu einem harmlosen Plauderton und antwortete hastig, wobei er aber ihre forschenden Blicke mied:
„Nicht dienstliche Sorgen sind’s, die mich beunruhigen, gnädiges Fräulein!“ – Gestern war sie noch Fräulein ‚Leni’ für ihn! – „Ich habe mir nur überlegt, ob es nicht richtiger wäre, wenn ich Ihrem Herrn Vater meinen Besuch machen würde, obwohl Sie mir davon abgeraten haben. Es widerstrebt mir, unsere Bekanntschaft fortzusetzen, ohne daß ich jemals die Räume Ihrer Eremitage betreten soll.“
Wie ein Erschrecken ging’s bei seinen Worten über ihr Gesicht. Eine helle Glut schloß ihr plötzlich in die Wangen und verwirrt senkte sie den Kopf. Eine ganze Weile schien sie mit sich zu kämpfen. Dann erhob sie wieder den Blick und schaute ihn offen an.
„Ich habe Sie damals gebeten, nicht zu uns zu kommen, Herr Assessor,“ begann sie leise, „weil der Papa hier, wie ich Ihnen sagte, jeden Verkehr zu vermeiden wünscht. Gründe für diese scheinbare Menschenscheu gab ich nicht an. Jetzt, wo Sie abermals die Absicht aus-sprechen, halte ich mich für verpflichtet, Ihnen zur Aufklärung einiges aus meinem Leben zu erzählen. Sie werden dann vieles begreifen, was Ihnen heute noch unklar ist. Ich bitte Sie nur, mir das Versprechen zu geben, gegen niemanden die heutige Aussprache zu erwähnen.“
„Ich werde schweigen, Fräulein Leni! – Das ist ja doch eigentlich selbstverständlich!“ entgegnete Helmer mit vibrierender Stimme. Denn wieder war die Hoffnung, die törichte Hoffnung in ihm aufgezuckt …! Vielleicht gab sie ihm jetzt die Lösung all dieser Rätsel, vielleicht hatte Jannitzki mit seinen Vermutungen doch unrecht gehabt!
Der Hund lag zu des Mädchens Füßen und seine Herrin stemmte jetzt ihre gelben Stiefelchen gegen sein blaugraues, glänzendes Fell und strich nachdenklich die Falten ihres weißen Kleides glatt. Dann begann sie wieder:
„Sie haben nie zu erfahren gesucht, ob ich eine Deutsche oder eine Ausländerin bin, Herr Assessor. Wahrscheinlich merkten Sie, daß ich jeder Frage nach meinen näheren Verhältnissen ängstlich auswich. Und ich bin Ihnen dankbar für diese feinfühlige Rücksichtnahme. Denn ich hätte Ihnen, so lange wir uns nur oberflächlich kannten, die Wahrheit nicht sagen dürfen, darf mich auch heute Ihnen noch nicht rückhaltlos anvertrauen, da ich sonst ein Versprechen brechen würde, das ich meinem Vater schon vor Jahren geben mußte. Aber haben Sie Geduld, es kann nicht mehr lange dauern, bis auch die letzten Schleier, mit denen ich meine Lebensgeschichte zu verhüllen gezwungen bin, fallen werden. Dann werden Sie alles verstehen, was Ihnen an mir rätselhaft vorgekommen sein mag.“
Während sie sprach, waren ihre Augen starr geradeaus gerichtet – auf irgend einen fernen Punkt des blauen Meeres, das zwischen den rotbraunen Kiefernstämmen hindurch schimmerte. Sie hatte sich halb von ihm weggewandt, und doch hörte er das feine Zittern in ihrer Stimme, die heute so ganz anders, so schmerzlich bewegt klang. Dann fuhr sie nach kurzem Stocken fort:
„Mein Leben ist nicht so ruhig dahingeflossen wie das anderer junger Mädchen, obwohl ich als einziges Kind von meinen Eltern zu sehr verhätschelt wurde. Ich zählte dreizehn Jahre, als meine Mutter starb. Sie war eine Deutsche, und von ihr lernte ich mit ihrer Muttersprache zugleich die Liebe zu ihrer Heimat. Von den Tagen meiner Jugend ist nicht viel zu berichten. Sie waren sorglos und heiter, machten mich zu einem verwöhnten, eigenwilligen Geschöpf. Doch mit dem Tode meiner Mutter änderte sich mein Leben wie mit einem Schlage. Meinen Vater, der Irländer ist und seine grüne Insel über alles liebt, hatte bisher nur die Rücksicht auf seine abgöttisch verehrte Frau von der Verwirklichung seiner Ideen ferngehalten, die ihn nur zu leicht mit den Gesetzen in Konflikt bringen konnten. Als niemand mehr da war, der bat und flehte, ließ er sich auf Unternehmungen ein, von denen ich nichts ahnte und deren Bedeutung ich erst später, vor kaum einem Jahr, erfahren sollte. Er führte ein unstetes Dasein, reiste mit mir von Kontinent zu Kontinent, von einer Stadt zur andern. So lernte ich die Welt kennen, freute mich in jugendlicher Gedankenlosigkeit – nur über die stets wechselnden, neuen Eindrücke. Gewiß, ich habe auch bisweilen den Vater gefragt, warum wir nicht wieder in unser prächtiges Haus in Dublin zurückkehrten. Er blieb mir aber stets die Antwort schuldig, strich mir nur liebkosend über das Haar und küßte mich mit seiner stillen, tiefen Zärtlichkeit.“
Dem Manne, der neben ihr saß, war das freudige Hoffnungsgefühl schon wieder verloren gegangen. – Bestätigten nicht diese vorsichtigen Andeutungen seinen Verdacht nur zu sehr, paßte nicht diese ganze Schilderung nur zu genau zu dem Bilde, das er sich von Herbert Schmidts Abenteuerdasein gemacht hatte? –
Kein Zweifel mehr – sein Liebestraum war ausgeträumt; sie, der seine große Zuneigung vom ersten Augenblick an gehörte, war für ihn verloren … für immer! Die Pflicht zwang ihn, das eigene Glück zu zertrümmern … Und keinen Ausweg gab’s mehr, keinen …!
In dumpfem Brüten schaute er vor sich hin auf die von der Sonne so hell beschienenen Dünen. Ganz leise klang das Rauschen der nahen Brandung zu ihnen herauf … –
Er hatte gar nicht bemerkt, daß der Geliebten Stimme plötzlich schwieg, daß sie sich jetzt beruhigend zu dem Hunde niederbeugte, der sich aufgerichtet hatte und mit seinen klugen Augen mißtrauisch einen Mann verfolgte, der kaum fünfzig Meter entfernt an ihnen vorüber dem Strande zuschritt. Erst als sie mit leisem Schreckensruf ihre Finger wie schutzsuchend auf Helmers Arm legte, sah dieser auf, sah ihr schreckensbleiches, ganz entstelltes Gesicht, aus dem alle Farbe gewichen war, ihre entsetzten Blicke, die dem Spaziergänger wie einer Erscheinung nachstarrten. Er wollte etwas fragen, aber beinahe herrisch bedeutete sie ihm, zu schweigen, erhob sich jetzt mühsam, stützte sich beinahe taumelnd an den Stamm der alten Fichte und schaute dem Manne nach, dessen Gestalt soeben hinter der Biegung der kleinen, hier in die Halbinsel einschneidenden Bucht verschwand. Eine ganze Weile blieb sie bewegungslos stehen, während ihre Arme schlaff am Körper herabhingen und langsam zwei große Tränen über ihre farblosen Wangen rollten.
Da sprang Fritz Helmer auf, faßte ihre Hand und flehte …
„Leni … Leni, was haben Sie nur …? Was konnte Sie so erschrecken …? – Sprechen Sie doch … sprechen Sie doch …!“ – Was machte es ihm in diesem Augenblick, daß er sie meiden, daß er diese Neigung abtöten, vergessen mußte …!
Ihre Stimme klang heiser, ganz tonlos, als sie jetzt fragte …
„Kennen Sie den, der hier eben vorüber ging …?“
„Ja, Leni, – vom Ansehen wenigstens!“, suchte er sie zu beruhigen. „Es ist ein Badegast, der seit einigen Tagen im Kurhaus wohnt – ein Franzose glaube ich. Ich traf ihn schon gestern hier in der Nähe … – Aber was geht Sie dieser Fremde an …?!“ – Eifersüchtig klang’s, ungeduldig, als ob er ein Recht hatte, so zu fragen.
Da schlug sie aufschluchzend die Hände vor ihr verstörtes Gesicht, weinte fassungslos in sich hinein. – Aber vergebens drang er in sie, bat immer wieder um ein einziges Wort. Sie hörte nicht auf ihn. Und dann schien sie ihre ganze Energie zusammenzunehmen, trocknete ihre Tränen und reichte ihm mit einem herzzerreißendem Lächeln die Hand …
„Leben Sie wohl, ich muß zu meinem Vater zurück …!“ Und ganz leise fügte sie hinzu … „Leben Sie wohl, Fritz …, ich fürchte, wir sehen uns nie wieder, nie …!“ –
Er wollte ihre Hand festhalten, sie nicht von sich lassen. Aber schon hatte sie das Halsband ihres Hundes ergriffen, eilte den Hügel hinab und entschwand schnell seinen Blicken … Aber da lag ja noch ihr Buch neben dem Stamm der Fichte, und unten am Strande sah er jetzt auch wieder die Gestalt des Fremden auftauchen, der wartend auf- und abzugehen schien. –
Noch halb betäubt, ganz mechanisch hob er das Buch auf. Dabei fiel der Deckel zurück und er bemerkte auf dem Titelblatt einen mit Tinte zierlich geschriebenen Namen. – ‚Helene Morris’ – stand da, … ‚Helene Morris’, nicht ‚Helene … Schmidt’. –
Erst wußte er nicht, wie er sich dies ‚Morris’ deuten sollte. Dann entwirrten sich langsam seine Gedanken. Der Rausch war verflogen, vergessen die Tränen und das leise, so innig geflüsterte eine Wort, das er bisher nie von ihr gehört und dessen Klang ihm vor wenigen Minuten eine Glutwelle zum Herzen getrieben hatte. Jetzt übersah er erst die Ereignisse dieser kurzen Stunde, dachte nur noch an ihr Geständnis, das ihm seine Befürchtungen zur Gewißheit gemacht hatte. Und hier war ihm ja auch durch einen Zufall der Beweis in die Hand gegeben, daß sie selbst heute nicht aufrichtig zu ihm gewesen sein konnte, da sie es nicht einmal wagte, ihren wirklichen Namen zu nennen …! –
Wie ein Aufstöhnen kams aus Fritz Helmers Brust. Jetzt, da er sie ganz verloren, fühlte er wieder, wie nahe sie seinem Herzen gestanden hatte …
„Vorbei – vorbei!“, sagte er vor sich hin, legte das Buch an den Fuß des Baumes und ging langsam, den Kopf tief gesenkt, den Hügel hinab – denselben Weg zurück, den er vorher mit so zwiespältigen Empfindungen gekommen war … Als er dann ein Dünental durchschritt, das sich bis zum Meere hinzog und einen Teil der offenen See überblicken ließ, sah er wohl, wie der Fremde, dessen Anblick Helene … Morris so sehr erschreckt hatte, in ein Boot stieg und einem unweit des Ufers ankernden, schlanken Dampfer mit zwei niedrigen Schornsteinen und grauem Anstrich, wie er bei den Torpedobooten der englischen Marine üblich ist, zufuhr. Doch was kümmerte ihn dieser Mann? Wer konnte wissen, in welchen Beziehungen der Unbekannte einst zu dem Abenteurer gestanden hatte, der jetzt die Einsiedelei am Schwarzen Berge bewohnte …! Und sprach nicht gerade diese sinnlose Angst vorhin beim Anblick des Fremden am klarsten für das schlechte Gewissen der Tochter, zeigte dieses Entsetzen nicht deutlich, daß sie Mitwisserin von gefährlichen Geheimnissen sein mußte, deren Entdeckung sie durch diesen Unbekannten vielleicht befürchtete …!
Fritz Helmer lachte bitter auf. So war er denn wirklich von einem Weibe betrogen worden, um das er mit aller Aufrichtigkeit geworben und dem er seinen Namen hatte geben wollen, seinen ehrlicher Namen …! –
Als Helene Morris endlich vor der Pforte des hohen Wellblechzaunes der Eremitage stand, war sie so erschöpft, daß sie beinahe zusammengebrochen wäre. Sie hatte fast den ganzen sandigen Weg in der drückenden Hitze laufend zurückgelegt, so sehr trieb die Angst sie vorwärts. Mit zitternden Fingern nahm sie jetzt den Schlüssel aus ihrer Kleidertasche, öffnete das Tor und ließ es hinter sich wieder ins Schloß fallen. Keuchend langte sie vor dem großen Schuppen an, dessen Flügeltüren nur angelehnt waren. Mit letzter Kraft riß sie sie auf, betrat den dämmrigen Raum, aus dem ihr das Knirschen einer Feile und leises Hämmern entgegen tönten. –
An der linken Wand war ein Arbeitstisch mit mehreren eisernen Schraubstöcken aufgestellt, über dem eine elektrische Glühbirne hing und das düstere Gesicht Herbert Schmidts – oder O’Connor Morris beschien, des irischen Agitators und erbittertsten Feindes des Vereinigten Königreichs. Als Morris jetzt die Tür in ihren Angeln kreischen hörte, drehte er sich argwöhnisch um. Und auch die beiden anderen Männer, die an dem fast das ganze Innere des Gebäudes einnehmenden Flugapparat arbeiteten, schaute nach dem Eingang hin, nahmen ihre Arbeit aber sofort wieder auf, da sie die Tochter ihres Gefährten erkannten …
Helene Morris schwankte bis zu einem Schemel, der dicht neben dem Arbeitstisch ihres Vaters stand, ließ sich schwer darauf fallen und wäre umgesunken, wenn dieser sie nicht in seinen Armen aufgefangen hätte. Doch mit übermenschlicher Energie raffte sie sich wieder zusammen, und seinen Arm angstvoll umklammernd, stieß sie hervor …
„Wir sind entdeckt … Ich habe soeben in den Dünen jenen Beamten der englischen Polizei gesehen, der uns im Frühjahr zur Flucht aus Wellington-Castle zwang.“
Morris fuhr zusammen. Aber nicht Schreck malte sich in seinen Zügen, sondern ein grausamer, drohender Wille. Und sein Kind liebevoll stützend, fragte er leise:
„Hast du dich auch nicht geirrt, Helene …? – Vielleicht täuschte dich eine Ähnlichkeit?“
„Nein – nein! Er ging ja keine siebzig Schritte an uns“ – sie verbesserte sich schnell – „an mir vorüber.“
„Nun, und wenn er’s ist …?!“ meinte der Ire scheinbar gleichgültig. „Wir befinden uns hier auf preußischem Gebiet. Was kann er uns anhaben …?! – Nichts – nichts!“ – Er lachte leise vor sich hin. – „Da hat sich mein tapferes Töchterlein wieder ganz unnötig aufgeregt … – Siehst du das ein, Kind?!“
Doch sie schüttelte fast unwillig den Kopf.
„Wozu willst du mir eine Gefahr verbergen, die du ebenso gut einzuschätzen weißt wie ich, Vater? – Gewiß, man wird dich als politischen Flüchtling nie ausliefern, wird dir sogar aus bestimmten Gründen allen möglichen Schutz angedeihen lassen. Aber – wir leben hier in der Einsamkeit, fern von jeder menschlichen Wohnung und sind einem Gewaltstreich gegenüber machtlos. Und den fürchte ich, da ich unsere Verfolger kenne.“
Sie hatte sich sanft aus ihres Vaters Armen losgemacht und war aufgestanden, lehnte jetzt an dem mit verschiedensten Handwerkszeug bedeckten, schweren Tisch …
„Was gedenkst du zu tun …?“, fragte sie dann schon wieder ganz gefaßt. „Wär’s nicht am besten, wenn du Weller einmal nach Hela schicktest, damit er sich im Dorfe umsieht, ob mehrere von den englischen … Spürhunden uns belauern …“
„Deine Angst ist wirklich überflüssig, Helene! Du mußt den hiesigen Schlupfwinkel nicht mit unserer Wohnung in Wellington-Castle vergleichen. Ich habe hier andere Vorkehrungen zu unserer Sicherheit getroffen als dort. Und – setzen wir schon den schlimmsten Fall, daß man Gewalt anwenden sollte – bleibt dann noch immer als letzter Ausweg die Flucht in den weiten Himmelsraum. Und dorthin werden unsere Feinde uns wohl nicht folgen können. – Außerdem – jetzt wo wir gewarnt sind, dürfte eine Überrumpelung kaum mehr möglich sein. Und die wenigen Tage, die ich noch brauche, um die notwendigen Verbesserungen an dem Aeroplan anzubringen, bevor ich ihn der Regierungskommission in Berlin vorführe, werden wir uns hier schon zu schützen wissen. Nachher mögen andere dafür sorgen, daß das Geheimnis der Konstruktion des ‚Befreiers’ bewahrt bleibt.“
Morris lächelte seiner Tochter ermutigend zu und begleitete sie dann aus der Halle hinaus auf den sonnenbeschienenen Hof. Hier erst bemerkte er, wie angegriffen sie aussah …
„Aber Helene!“, meinte er zärtlich, „so sehr hast du dich um mich gesorgt …?!“
Da warf sie sich aufschluchzend an seine Brust. Und indem sie ihr erglühtes Gesicht ängstlich zu verbergen suchte, flüsterte sie unter Tränen:
„Ich fürchte, daß der Assessor auch irgend einen Argwohn geschöpft hat, Papa. Er war heute so sonderbar, bat mich wieder, ob er dir nicht seinen Besuch machen könne … Und ich mußte es ihm doch abschlagen …!“
Morris bog ihren Kopf lachend zurück und küßte sie innig auf den Mund.
„Also daher deine Angst, Spitzbube kleiner, daher … Du fürchtest Fritz Helmer zu verlieren …! – Nun, sei ohne Sorge, er soll dir erhalten bleiben! Wenn ich auch bisher den weltfremden Sonderling spielen mußte, um unbelästigt in der Verborgenheit leben zu können – jetzt, nachdem der englische Geheimpolizist unsere Fährte gefunden hat und unser Aufenthalt hier nur noch nach Tagen zählt, mag sich ihm die bisher verschlossene Pforte unserer Eremitage öffnen. Der Assessor wird mir willkommen sein. Ich versprach es dir ja schon an dem Tage, als du mir von dieser Bekanntschaft erzähltest, sagte dir auch, daß ich gegen ihn selbst nichts einzuwenden habe und daß mich nur die Umstände zwingen, vorläufig jeden Verkehr mit ihm zu vermeiden.“
Helene war überglücklich. Der Gedanke, daß sie endlich ihr zurückgezogenes Leben aufgeben würde und daß dann kein Hindernis mehr zwischen ihr und dem Geliebten stehe, ließ sie die Schrecken der letzten Stunden schnell vergessen. Mit leuchtenden Augen schritt sie jetzt dem Wohnhause zu, nachdem sie den Vater noch einmal umarmt und geküßt hatte. –
Morris aber kehrte nachdenklich in die Halle zurück – froh, daß die Befürchtungen seines Kindes so bald zerstreut waren. Er selbst dachte nicht so leicht über das Auftauchen des englischen Kriminalbeamten. Doch auch ihn beruhigte die Aussicht, schon nach kurzer Zeit die Einsiedelei am Schwarzen Berge für immer verlassen zu können. Und an Wachsamkeit wollte er es schon nicht fehlen lassen …
Er war jetzt an den Flugapparat herangetreten und schaute eine Weile der Arbeit seiner Gefährten zu, die soeben ein leichtes und doch haltbares Aluminiumrohr als Stütze für das vorher zu schwache Steuer vernieteten. –
Der ‚Befreier’ erinnerte in seinen äußeren Formen etwas an den Gleitflieger des Franzosen Henry Farman, nur daß seine Abmessungen vielleicht doppelt so groß waren und zwei, vorn und hinten angebrachte Propeller zur Fortbewegung des mit seinen großen Leinwandsteigflächen einem Riesenvogel gleichenden Aeroplans dienten. Der Benzinmotor, dessen Leistung siebzig Pferdekräfte betrug, war auf dem für drei Personen eingerichteten Führerstande montiert und zog die Maschine mit einer Schnelligkeit von siebzig Kilometern in der Stunde durch die Luft. An der Vorderseite des Führerstandes war zwischen zwei weißen Rettungsringen eine große Messingplatte befestigt, auf der der Name des Flugapparates – ‚Befreier’ eingraviert stand.
Ein stolzes Lächeln umspielte den Mund des Iren bei dem Anblick seines Werkes. Hunderte hatten sich bisher vergeblich bemüht, einen brauchbaren Drachenflieger mit größerer Tragkraft und Flugdauer zu konstruieren. Ihm allein war es nach jahrelangen Versuchen geglückt. Und wenn die kleine Umänderung an der Steuervorrichtung fertig war, so konnte er sich mit Recht rühmen, das Luftmeer erobert zu haben. Denn sein Aeroplan war nicht abhängig von Wind und Wetter oder einer straffgespannten Gashülle. Frei und ungehindert konnte er sich zu jeder Zeit wie ein leichtbeschwingter Vogel in die Lüfte erheben … –
Morris wandte sich jetzt an seine Gehilfen und fragte, wann sie mit ihrer Arbeit fertig sein könnten …
„Morgen vormittags spätestens“, antwortete Weller bestimmt.
„Dann werden wir also morgen um Mitternacht den letzten Probeflug unternehmen“, meinte der Ire sehr zufrieden mit dieser Auskunft. „Hoffentlich den letzten …!“ fügte er hinzu und begab sich zurück an seinen Arbeitstisch. – –
*
Der Kriminalinspektor Islington, den Helene Morris so leicht wiedererkannt hatte, ging zu derselben Zeit, als das Mädchen noch wie ein gehetztes Reh über die Dünen der Einsiedelei zustürmte, auf der Kommandobrücke des grau gestrichenen Dampfers in eifrigem Gespräch mit einem Herrn auf und ab, dessen blaue Interimsjacke die Abzeichen eines Kapitänleutnants der englischen Marine zeigte. Das Fahrzeug mit den zwei niedrigen Schornsteinen und dem scharfen Bug war ein Torpedobootzerstörer und lag jetzt einige Meilen von Hela mit abgestoppten Maschinen in See vor Anker.
„Wir haben uns also verstanden, Master Tompkins!“ sagte Islington jetzt eben. „In der ersten nebligen Nacht umfahren Sie mit abgeblendeten Lichtern die Halbinsel, nähern sich vorsichtig von der Buchtseite den Gebäuden am Schwarzen Berge und landen ungefähr zwanzig Mann, die zur Umstellung der Eremitage genügen werden. Das übrige überlassen Sie nur mir. Ich werde zur Zeit an Ort und Stelle sein. Eine vorzeitige Entdeckung ist bei der dicken nebligen Luft kaum anzunehmen, und ebenso kommen wir dann auch mit Ihrem Torpedojäger ungesehen davon. Ich selbst bleibe jetzt vorläufig noch in Hela. Sollte ich andere Nachrichten für Sie haben, so werde ich wieder an dem höchsten Aste der großen Fichte am Nordstrande ein rotes Tuch befestigen, und Sie lassen mich auf dieses Signal an der alten Stelle abholen.“
„Sehr wohl! – Doch wenn der Irländer nun trotz der beabsichtigten Überrumpelung Zeit findet, seinen Aeroplan zu besteigen und uns einfach davonfliegt?“ meinte Tompkins bedenklich.
„Dann genügt eine einzige wohlgezielte Granate aus einem Ihrer Revolvergeschütze, um den Apparat zum Sinken zu bringen. Irgendwelche politische Verwicklungen brauchen wir dieser Gewaltmaßregeln wegen nicht zu befürchten. Denn erstens dürfte der Schuß bei nebligem Wetter kaum gehört werden – außerdem feuert ja die Nebelkanone bei dem Leuchtturm an der Spitze der Halbinsel ebenfalls alle drei Minuten, also wird jeder unsere Schießerei für den Widerhall der Nebelschüsse halten – und zweitens haben wir immer die Ausrede, daß wir den Irländer erst dreieinhalb Seemeilen von der Küste entfernt heruntergeholt haben, also gänzlich außerhalb des preußischen Machtbereichs. – Doch – wie gesagt, wir müßten schon ganz besonderes Pech haben, wenn sich der Verdacht auf uns lenken wollte. Wenn Morris eines Tages verschwunden ist, wird man eben annehmen, daß der Sonderling aus irgendwelchen Gründen seinen Wohnort gewechselt hat.
Die Hauptsache bleibt, daß wir den Flugapparat vernichten, falls wir ihn nicht in unsere Hände bekommen können. Und was ich tun kann, um meinen Zweck zu erreichen, soll geschehen. Denn ob wir nochmals das Glück haben, durch eines unserer Konsulate so schnell mit den erforderlichen Nachrichten über den neuen Aufenthaltsort des Irländers bedient zu werden, wie hier durch das Danziger, ist sehr fraglich.“
Erst bei völliger Dunkelheit ließ Islington sich dann wieder an Land rudern, da die Anwesenheit des englischen Torpedozerstörers in der Nähe Helas nach Möglichkeit geheimgehalten werden sollte.
4. Kapitel.
Am folgenden Vormittag fuhr Helmer mit dem ersten Dampfer nach Danzig, um seinem Vorgesetzten, dem Forstrat Willers, über die Vorfälle in der Einsiedelei am Schwarzen Berge Bericht zu erstatten und um Verhaltungsmaßregeln zu bitten. Er hatte eine schlaflose Nacht hinter sich, sah blaß und angegriffen aus und saß teilnahmslos oben auf dem Promenadendeck, ohne für das stimmungsvolle Bild dieses Sommermorgens auf See auch nur einen Blick zu haben. –
Es war gegen zwei Uhr nachmittags, als er das Regierungsgebäude in Danzig wieder verließ, nachdem er über eine Stunde auf den Vorgesetzten gewartet und die Erledigung der Angelegenheit selbst dann kaum zehn Minuten in Anspruch genommen hatte. Doch was gaben ihm diese zehn Minuten nicht alles wieder …! Er glaubte ja seinen Ohren nicht trauen zu dürfen, als der Forstrat nach dem etwas wirren Bericht über die Beobachtungen des alten Försters, wobei der Assessor allerdings seine Bekanntschaft mit der Tochter des Fremden nicht erwähnte, freundlich lächelnd sagte:
„Lieber Kollege. Da haben Sie aber kräftig vorbei geargwohnt! Herr Schmidt ein Spion?! – Keine Rede davon! – Ich bin leider nicht in der Lage, Ihnen den Inhalt der uns vom Ministerium übersandten Geheimakten über den Einsiedler am Schwarzen Berge mitzuteilen, kann Sie aber jedenfalls vollkommen beruhigen: wer Herr Schmidt eigentlich ist, wissen wir längst, auch daß er sich auf Hela nur – … im Interesse unserer Regierung aufhält. –
Weiter darf ich nichts verraten, da auch mir sehr strenge Instruktionen den Mund verschließen. Erwähnen Sie auch bitte selbst dem alten braven Jannitzki gegenüber nichts von dem, was ich Ihnen heute notgedrungen sagen mußte, und … lassen Sie den geheimnisvollen Herren in seiner Einsamkeit möglichst ungeschoren. Es hat mit ihm eine besondere Bewandtnis, lieber Kollege, das werden Sie wohl schon selbst erraten haben.“
Damit war Fritz Helmer entlassen. Und nur ein einziger Gedanke beherrschte ihn jetzt: zurück nach Hela, hin zu ihr, der er so viel abzubitten hatte. Und mochte der alte Sonderling ihn auch noch so mürrisch empfangen, er wollte ihn morgen vormittags aufsuchen und ohne Scheu um die Geliebte anhalten.
Doch des Assessors hoffnungsfreudige Stimmung wurde leider sofort getrübt, als er genau drei Minuten nach zwei Uhr an die Anlegestelle der langen Brücke kam und erfuhr, daß der letzte Dampfer nach Hela soeben abgefahren sei und der nächste erst am andern Morgen um neun Uhr abgehe. Enttäuscht machte er kehrt, um in irgend einem Restaurant sein Mittagessen einzunehmen. Als er dann das hohe Tor durchschritt, begegnete er zwei Herren, von denen der eine sofort auf ihn zukam und ihm erfreut die Hand entgegenstreckte …
„Helmer, gut, daß ich dich treffe …! Wir wollten dich gerade in deinem Exil besuchen und womöglich für die Nacht bei dir Quartiere beziehen. – Schade, das wird nun also nichts! – Hier – Herrn Referendar Müller kennst du ja bereits von unserem letzten Ausflug her … Doch wir haben nicht viel Zeit mehr, unser Dampfer nach Weichselmünde fährt sofort ab. – Wann gedenkst du denn heimzukehren …? – Vielleicht sehen wir uns morgen im Kurhaus wieder …?“
Dr. phil. Karlchen Mirkow, praktischer Zahnarzt in Danzig und alter Schulfreund des Assessors, besaß entsprechend seiner Körpergröße, die ihn den Genuß der Militärzeit erspart hatte, ein etwas dünnes Stimmchen, war daher von seinen Bekannten auf den poetischen Namen ‚Schwalbe’ getauft worden, wobei lediglich die zwitschernden Laute den Grund für diese Benennung gegeben hatten, und pflegte in seinen freien und unfreien Stunden den schönen Segelsport mit einer Hingabe, die seiner Praxis nicht gerade besonders dienlich war.
Helmer war sofort bei dem Anblick der beiden in dunkelblaue Segleranzüge gekleideten Herren eine Idee gekommen, wie er trotz des versäumten Dampfers noch heute nach Hela gelangen konnte. Und nichts kam ihm gelegener als Mirkows Begrüßungsworte, die in den eben aufgetauchten Plan ganz nach Wunsch hineinpaßten …
„Liebes Karlchen“, meinte er schon wieder in übermütiger Laune, „ich vermute, daß du nach meiner vorläufigen Heimat zu Segeln gedenkst. Und da ich arme Reisende selbst hinsichtlich eines erbetenen Nachtlagers nicht gerne im Stich lasse, so werde ich mich mit allseitiger gütiger Erlaubnis anschließen und meine Gebeine ebenfalls den Planken deines Schiffleins anvertrauen.“
Der kleine Zahnarzt mit dem sonnenverbrannten Gesicht schaute Helmer etwas zweifelnd an. Doch dieser hatte seinen Arm schon in den des Freundes geschoben und zog ihn mit sich fort … „Sonst fährt uns der Dampfer vor der Nase ab!“ sagte er lachend, da Mirkow ihn anschei-nend noch immer nicht ernst nahm. –
Eine Stunde später befanden sich die drei an Bord der dem Danziger Segelklub ‚Godewing’ gehörigen Jacht ‚Ziu’, die in dem geschützten Wallgraben der Festung ihren Liegeplatz hatte und eines der schnellsten Fahrzeuge der kleinen Flotille des Clubs war. Dem ungeduldigen Assessor, dessen sehnsüchtige Gedanken längst in die meerumrauschte Eremitage am Schwarzen Erde vorausgeeilt waren, dauerte es viel zu lange, bis endlich auch der erwartete vierte Teilnehmer an dem Ausflug, ein Leutnant des in Neufahrwasser stehenden Infanteriebataillons, in Begleitung seines Burschen, der einen vielversprechen-den Korb mit sich schleppte, eintraf. Leutnant Malzahn wurde besonders von dem Referendar – eigentlich war Miller Diplomingenieur und ‚nur’ Gewerbereferendar, ließ sich aber stets mit dem zweiten Titel vorstellen – mit freudigem „Halloh“ empfangen. Anzunehmen, daß dieser Jubelausbruch mehr den in dem Korbe verpackten Weinflaschen als der Person des Spenders galt, wäre vielleicht, trotz Millers leicht geröteter Nase, deren Couleur er stets – auch im Winter – mit Sonnenbrand entschuldigte, eine starke Verleumdung gewesen.
Inzwischen war der Zeiger der Turmuhr von Weichselmünde auf fünf Uhr gerückt. Nachdem man Mahlzahns feuchte Wegzehrung vorsichtig in einem der Schränke der sauberen Kajüte verstaut hatte, wurde die Jacht losgemacht und durch das von Miller geruderte Beiboot langsam in die Weichsel hinausgeschleppt. Hier schwellte sofort eine frische Ostbrise die Segel, die Jacht holte leicht nach Backbord über und das schäumende Kielwasser bewies, daß die ‚Ziu’ schon hier auf dem Flusse gute Fahrt machte. Das Beiboot wurde nun eingeholt und am Heck befestigt, die vordersten Segel, die Klüver, gesetzt, und vorbei ging’s dann an den am Neufahrwasser-Hafenkai ihre Ladung löschenden Seedampfern, vorüber an der Mole und dem weißen Leuchtturm, hinaus in die offene Danziger Bucht …
Mirkow, dem schon vor Jahren vor der Prüfungskommission des Clubs sein Schifferexamen bedeutend besser als seinerzeit die zahnärztliche Staatsprüfung geglückt war, hielt genauen Kurs auf die Spitze von Hela und kommandierte seine Besatzung mit seinem hellen, durchdringenden Stimmchen, daß es eine Art hatte. Auch Helmer, der schon in Potsdam ein eifriger Segler gewesen und daher kein Neuling in der Handhabung der Schooten und Falls war und sich für die Arbeit an Bord, die seinem eleganten hellen Anzug wenig dienlich gewesen wäre, in einen vorgefundenen Klubanzug zweiter Garnitur gesteckt hatte, half eifrig mit, bis man alles Zeug richtig gesetzt hatte, und die Jacht jetzt mit vollstehenden, prallen Segeln scharf vorm Winde lag. Damit war vorläufig alles für die Bedienung der ‚Ziu’ getan, und der Assessor, dem der Magen bereits stark knurrte, wagte jetzt einige zarte Andeutungen, die sich auf eine eingehende Musterung des Proviants bezogen und fand hierbei vonseiten des Referendars mit dem hartnäckigen Sonnenbrand die lebhafteste Unterstützung, obwohl dieser die Bordarbeit bisher durchaus nicht ‚trocken’ verrichtet hatte. Als Helmer dann noch erwähnte, daß er seit elf Uhr nichts mehr gegessen hatte, bewies der kleine Mirkow sein mitfühlendes Herz, überließ dem Leutnant die Ruderpinne und verschwand unter Deck, um sofort für den Freund einen Imbiß herzurichten. Da die Herren sich für eine zweitägige Fahrt vorgesehen hatten, so konnte der ausgehungerte Assessor sich bald über kaum erwartete Delikatessen – Hummer, Sardinen, frischen Aufschnitt usw. – hermachen, die ihm von ‚Schwalbe’ auf dem sauber gedeckten Klapptisch in der Kajüte appetitlich serviert wurden. Dazu entkorkte dieser jetzt auch die erste Flasche des Kasinoportweins, der sich weniger durch milden Geschmack als starken Alkoholgehalt auszeichnete. Als der Pfropfen leise knalte, erschien oben im Rahmen des Kajütenfensters Millers argwöhnisches Gesicht, das aber sofort einen Zug frohen Behagens annahm und schnell wieder verschwand. Dafür langte ein Arm hinab und wurde nicht eher zurückgezogen, bis er ein gefülltes Glas erhascht hatte.
Während der Assessor jetzt Mirkow gegenüber auf dem weichen Polstersitz der zugleich als Koje dienenden Kajütbank saß und das versäumte Mittagessen nachholte, tauschten die beiden Freunde alte Erinnerungen aus und vergaßen darüber ganz ihre Umgebung, schwärmten in den Remineszenzen der vergangenen sorglosen Penälerzeit. Bisweilen fanden sich auch abwechselnd der Leutnant oder Miller für kurze Zeit ein, um auch ihrerseits an den leiblichen Genüssen teilzunehmen. Und dann begann der musikalische Malzahn oben auf Deck zu den Klängen einer großen Mundharmonika, die Eigentum des Clubs war, lustig zu singen, versuchte sich auch in eigenen Reimen, bei denen Miller mit dem Verschen …
„Der Referendar Miller ist stets heiter
und hat a rote Nas’,
Drum trinkt er auch stets weiter,
damit sie nicht verblaß …!“
am schlechtesten wegkam.
So herrschte an Bord allgemein gute Laune und jener Humor, der vielleicht die beste Beigabe des Segelsports ist. Leider hielt das Wetter nicht, was es beim Verlassen des Neufahrwasser-Hafens versprach. Die steife Ostbrise, die die ‚Ziu’ bisher in schneller, ruhiger Fahrt durch die leichtbewegte See geführt hatte, flaute allmählich ab, die See ging hoch, und die Jacht begann unangenehm zu schlingern, so daß bisweilen die Gläser und Teller klirrend aneinander stießen und die über dem Tisch hängende Lampe immer größere Pendelbewegungen beschrieb.
Mirkow war aufgestanden und hatte sich an Deck begeben, um einmal wieder nach dem Rechten zu sehen. Helmer folgte ihm, stand jetzt auf der Kajütentreppe und schaute den Freund etwas fragend an, der bei dem Anblick des von grauen Dunstschleiern verhüllten Horizonts ein recht bedenkliches Gesicht machte.
Die Halbinsel war längst in einer dichten Nebelwand vollständig verschwunden, auch von der Sonne, die um diese Zeit hinter den Höhen untergehen mußte, war nichts mehr zu sehen. Ringsum nur eine jetzt düstere bleigraue Wasserfläche, die sich in träger, langer Dünung bewegte. Die Segel schlugen bisweilen schon schlaff hin und her, zeigten jenes unbeständige Zittern, das stets einer vollkommenen Windstille vorausgeht.
„Das kann ja gut werden,“ meinte Mirkow ärgerlich. „Auf diese Weise kommen wir vor Mitternacht sicherlich nicht nach Hela. Wir haben schon jetzt fast gar keine Fahrt – außerdem steht zu befürchten, daß wir in dem dichten Nebel, der uns sehr bald erreichen wird, vom Kurse abweichen – Malzahn“ – wandte er sich dann an den Leutnant, „holen Sie den Kompaß herauf. Wir müssen nach der Nadel steuern, sonst landen wir weiß Gott wo.“ –
Was ‚Schwalbe’ vorausgesagt hatte, traf auch nur zu bald ein. Erst wurde es kälter und kälter, dann wogten die ersten Nebelschleier wie tiefziehende Wolken heran, verdichteten sich immer mehr und hüllten die Jacht in eine undurchsichtige, hin- und herwallende Masse ein. Die Feuchtigkeit der Luft wurde schließlich so unangenehm, daß Miller durch die Luke ins Vorschiff hinabstieg und das Ölzeug heraufholte. Fröstelnd saßen die vier dann in den gelben, geölten Leinwandjacken im Cockpit, rauchten schweigend ihre Zigarren und ließen die Kognakflasche immer häufiger die Runde machen.
„Ob wir schon die Hälfte des Weges nach Hela hinter uns haben?“ fragte Helmer jetzt, der soeben vor sich hingeträumt hatte.
Der Referendar zog seine Uhr und hielt sie dicht an die trübbrennende Kompaßlampe, da die Dunkelheit inzwischen so stark geworden war, daß man kaum noch die Hand vor den Augen sehen konnte.
„Halb neun,“ meinte er nachdenklich und berechnete schnell nach der Fahrzeit die zurückgelegte Strecke. „Ja, wir werden wahrscheinlich sogar schon weiter sein. Allerdings läßt sich’s schlecht taxieren, da wir zu unregelmäßig vorwärts gekommen sind.“
In demselben Augenblick dröhnte über die Wasserfläche der ferne Knall eines Schusses hin.
„Die Nebelkanone von Hela“, sagte Mirkow erklärend. „Seid bitte einen Moment still. Ich möchte hören, woher der Schall kommt. Die Schüsse folgen im Zwischenraum von drei Minuten …“
Fast bewegungslos saßen die Männer da und starrten hinein in die graue Finsternis, die jeden Ausblick versperrte und kaum mehr den Wasserspiegel erblicken ließ. –
Über Helmer war bei diesem dumpfen grolligen Laut, der wie ein warnender Ruf aus dem Nichts zu ihnen drang, plötzlich ein unbestimmtes Angstgefühl von einem heranschleichenden, unbekannten Unheil gekommen. Er fühlte sein Herz schneller klopfen, seine Pupillen weiteten sich, seine Blicke bohrten sich ein in die dunkle Wand, die lauernde Schrecken zu verbergen schien, und erleichtert atmete er auf, als dann der zweite Kanonenschlag vernehmbar wurde und des Freundes etwas kreischende Stimme ausrief:
„Links vor uns! – Wir haben uns gänzlich versteuert. Mehr Backbord, Malzahn, noch mehr …! So wird’s stimmen …!“
Aber die Jacht gehorchte dem Steuer nicht. Nur langsam folgte sie der Ruderbewegung, als ein leiser Windstoß ihre schlaffen Segel für einen Augenblick füllte – fiel dann aber sofort wieder nach Steuerbord ab.
„Wir müssen die Laternen anzünden, Miller!“ meinte Mirkow dann seufzend. „Und stecke auch gleich in der Kajüte die Lampe an. Außerdem können wir ganz ruhig daran denken, unser Abendessen herzurichten. Denn wenn’s so weitergeht, brauchen wir noch drei Stunden, bis wir an der Mole sind. – Malzahn, Sie waren ja bislang immer unser Koch. Machen Sie sich an die Arbeit. Ich habe Appetit auf etwas Warmes. Es sind Erbsenkonserven da und Büchsenfleisch, auch Kartoffeln. Sie wissen ja Bescheid …“
Der Leutnant und Miller verschwanden unter Deck. Und bald warfen die beiden Laternen ihre roten und grünen Lichtstreifen nach vorwärts auf die dunkle Nebelwand.
„Keine zehn Schritt ist davon was zu sehen“, sagte Mirkow zu Helmer, der eben durch ein Glas Portwein das unerklärliche Unbehagen zu betäuben suchte. „Wenn wir jetzt einem Dampfer begegnen, der aus See kommt, oder irgend einem Fischerkutter, dann kann die Sache bös ablaufen.“
Und wie zur Antwort ertönte rechts von ihnen das schauerliche, langgezogene Tut – Tut eines Nebelhornes. Ja, für kurze Zeit hörten sie sogar das Arbeiten der Maschinen eines unsichtbaren Fahrzeuges. Doch bald trat wieder diese drückende, beängstigende Stille ein, die in dieser grauen Einsamkeit etwas seltsam Unheimliches hatte und nur durch den von ferne herüber hallenden Donner der Kanonen regelmäßig unterbrochen wurde … Sonst hörte man nichts als das kraftlose Klatschen der Segel, das leise Gurgeln und Plätschern des Wassers unter dem Bug und jetzt auch das herzliche Lachen des kleinen Leutnant, der sich mit Miller … beim Kartoffelschälen in der Kajüte unterhielt.
„Am besten wird es sein“, fuhr der kleine Doktor nach einer Weile fort, „wenn wir abwechselnd mit dem Beiboot schleppen. Dann kommen wir wenigstens etwas von der Stelle! Denn zurzeit liegen wir vollkommen still.“
Helmer, der sich nach irgend einer Tätigkeit sehnte, um die ihn immer wieder beschleichende Furcht niederzukämpfen, erbot sich sofort als erster Vorspann zu beginnen. Das Beiboot wurde herangezogen, der Assessor stieg ein und ruderte in der ihm von dem Freunde angegebenen Richtung davon, nachdem die Bootsleine am Bug wieder befestigt war. Schwerfällig drehte sich die ‚Ziu’, und tatkräftig tauchte Helmer die Ruder ein, zog kräftig durch, so daß die Jacht langsam wieder in Fahrt kam. –
So verging vielleicht eine Viertelstunde. Bisweilen rief Mirkow dem Assessor ein kurzes Kommando zu, wenn dieser vom Kurs abgewichen war.
Dann erschallte plötzlich wieder die Stimme des Doktors …
„Helmer, mir scheint, als ob die Nebelschüsse immer schwächer klingen. Paß doch mal auf …!“
Der Assessor lauschte. Ja, ihm kam’s auch so vor …
„Stimmt, Mirkow – stimmt“, antwortete er hinüber und ließ das Boot einen Augenblick treiben … „Ich glaube, wir sind zu sehr in die Bucht hinein geraten. Der Schall kommt ganz von links.“
„Dann ändere die Richtung“, rief’s zurück. –
Und wieder ruderte Helmer vorwärts, und die Minuten schlichen dahin. Er wurde müde, wollte gerade an Bord zurückkehren, um sich ablösen zu lassen, als er abermals das Stampfen von Schiffsmaschinen zu hören glaubte, das von der rechten Seite herübertönte. Und dann war ihm auch, als käme aus der Luft ein eigentümlich sausendes, sich schnell näherndes Geräusch. Aber er hatte keine Zeit, länger darauf zu achten. Denn plötzlich zuckte ein blendend weißer Lichtstreifen auf und zerteilte für einen Augenblick die Nebelmassen.
Helmer war von dem Rudersitz hochgefahren, so daß das kleine Boot beängstigend zu schwanken begann, stierte mit weit aufgerissenen Augen seitwärts in die Höhe und sah jetzt undeutlich, bestrahlt von dem leuchtenden Kegel, einen großen Flugapparat mit hell schimmernden Seitenflächen, der vielleicht dreißig Meter über der See dahin schwebte. Ebenso plötzlich erlosch das weiße Licht jedoch wieder, ein kurzer, scharfer Knall ertönte, kurz darauf ein zweiter schwächerer, dem ein Splittern und Krachen und eine dunkle Detonation folgten …
Helmer zitterten die Beine so stark, daß er sich auf die Bank zurückfallen ließ. Ein lähmendes Entsetzen hatte ihn gepackt. Er wollte noch etwas hinüber rufen, doch die Stimme versagte ihm. –
Und dann schien in der nächsten Nähe ein schwerer Gegenstand klatschend in das Meer zu fallen. Angstschreie ertönten, hallten gellend über die Wasserfläche, verstummten, erklangen von neuem … Und nichts war zu sehen, nichts. Nur die graue Wand ringsum, die diese Schreckensszenen mitleidig verhüllte. –
Doch – jetzt wieder das Stampfen von Maschinen – nahe, und immer deutlicher auch das leise Zischen mit dem ein scharfer Bug bei schneller Fahrt die Wasser durchschneidet … Ein dunkler Schiffsrumpf tauchte auf, wie ein Gespenst glitt ein schlanker Dampfer, der auffallenderweise nicht ein einziges Licht zeigte, keine fünf Meter an Helmer vorbei – der graue Nebelvorhang schloß sich wieder hinter dem unbekannten Fahrzeug und das Geräusch der arbeitenden Schraube nahm ab, verklang …
Der Assessor griff mit bebenden Händen zu den Rudern, wollte auf die Jacht zuhalten. Ihm war unheimlich, jetzt allein zu sein in diesem zerbrechlichen Nachen …
Da gallt’s aus der Finsternis heraus … „Hilfe … Hilfe..!“ – Rufe einer weiblichen Stimme, bei deren Klang dem Assessor das Herz stockte. –
Und nun des Doktors heller Diskant …
„Fritz – nach links – schnell, schnell! – Mach die Leine los!“
Helmer war mit einem Male wieder völlig Herr seiner Sinne. Der Knoten am Bootsring war nicht zu lösen; ein Schnitt mit seinem Taschenmesser, das Tau klatschte ins Wasser und das kleine Boot verschwand in dem wallenden Nichts …
Auf der ‚Ziu’ aber standen drei mit schreckensbleichen Gesichtern, suchten mit ihren Blicken die dichte Dunkelheit zu durchdringen, horchten atemlos auf jedes Geräusch, hörten nur nach einer Weile des Assessors Stimme: „Leni – ich komme – ich komme!“ –
Einen schwachen Schrei als Antwort, und alles war wieder still wie zuvor … Nur an der Bordwand das Glucksen und Plätschern der langen, kaum merklichen Wellen und von rechts herüberschallend das dumpfe Dröhnen der Nebelkanone. –
Minuten vergingen, die denen auf der ‚Ziu’ eine Ewigkeit dünkten … Da lösten sich aus der Finsternis endlich die Konturen des Bootes heraus, langsam kam es näher, legte sich längseits der Jacht, Miller hielt seine Laterne ganz tief, leuchtete hinunter …
Und dann lag Helene Morris, nachdem man ihr den Rettungsring abgestreift hatte, auf den Polstern der Kajütenbank – leblos, mit geschlossenen Augen, und aus ihren Kleidern, ihrem blonden Haar rann das Wasser herab in kleinen Bächen. Vor ihr stand Fritz Helmer, hob den bleichen Kopf jetzt behutsam an, und Mirkow flößte der Ohnmächtigen vorsichtig aus einem Gläschen Portwein ein …
In der Tür lehnten der Referendar und Malzahn, schauten stumm auf dieses Bild, noch immer sprachlos von all den Schrecken, die in dem kurzen Zeitraum von wenigen Minuten auf sie eingestürmt waren. Und aus der kleinen Kombüse drang jetzt der widerliche Geruch von angebranntem Fleisch herein. Das weckte den kleinen Leutnant aus seiner Erstarrung. Er eilte an Deck, öffnete die vorderste Luke und kroch halb gebückt in den niederen Raum zu dem großen Petroleumkocher hin, drehte die Flammen aus, ganz mechanisch. Dann schob sich auch Millers langer Körper in das enge Vorderschiff, suchte die wollenen Schlafdecken zusammen und sagte nur eilig zu Malzahn:
„Wir müssen gleich nachher in’s Beiboot und schleppen …Beeilen Sie sich …!“
Inzwischen hatte Helmer den Freund, der jetzt Helene Morris Schläfe mit Cognac rieb, leise gebeten:
„Karl, wenn sie erwacht, dann laß mich bitte mit ihr allein. Ich erkläre dir später alles …“
Der kleine Doktor nickte nur. Er ahnte schon so manches, fragte aber nichts, sondern drückte dem Freunde nur stumm die Hand.
Endlich schlug die Ohnmächtige die Augen auf. Ihr erster Blick traf den Geliebten, der neben ihrem Lager kniete und sie mit so unaussprechlicher Zärtlichkeit anschaute … Mirkow hatte sich sacht hinausgeschlichen, die Kajütentür leise geschlossen, setzte sich ins Cockpit und nahm das Steuer wieder zur Hand … Und in dem kleinen Beiboot ruderten Miller und der kleine Leutnant aus voller Kraft vorwärts – dorthin, woher jetzt immer deutlicher der scharfe Knall des Nebelgeschützes herüberklang. –
Eine Viertelstunde verging. Dann erschien der Assessor in dem hellen Rahmen der Tür, kam lautlos die Treppe empor, nahm neben dem kleinen Doktor Platz und flüsterte ihm zu:
„Sie schläft jetzt … Ich habe sie sorgfältig in die Decken gehüllt … hoffentlich erkältet sie sich nicht …“
„Sei unbesorgt“, sagte Mirkow ebenso leise. „Portwein ist das beste Mittel dagegen …!“
Eine Weile Schweigen. Dann sagte Helmer zögernd:
„Lieber Karl, du kannst mir gratulieren … Ich habe mich verlobt.“ – Karlchen Mirkows Glückwunsch klang etwas zurückhalten. Der Assessor fühlte das sehr wohl, glaubte auch den Grund dafür zu kennen. So begann er denn dem Freunde die Geschichte seiner Liebe mit allen Einzelheiten zu erzählen. Und der Doktor lauschte atemlos, schüttelte bisweilen fast ungläubig den Kopf …
„Du siehst wohl ein, zu welch’ großem Dank ich dir verpflichtet bin“, fuhr Helmer jetzt fort - „Dir und der ‚Ziu’ …! Ein gütiges Geschick hat uns bisher geführt, damit wir wenigstens Leni dem Wassergrabe entreißen konnten, in dem jetzt der durch den Granatschuß halbzerstörte Flugapparat und die drei Irländer ruhen.“
„Nur ein glücklicher Zufall war’s, der uns gerade an die Stelle verschlug, wo das … Unglück geschah,“ lehnte Mirkow des Assessors Dank mit Recht ab. – „Doch gestatte mir noch eine Frage … Hat dir deine … Braut vielleicht auch erzählt, was sich heute abends als Vorspiel zu diesem Drama in der Eremitage am Schwarzen Berge zutrug …?“
„Nur mit wenigen Worten … Ich wollte auch nicht weiter in sie dringen. Besser, daß sie diese Ereignisse möglichst schnell vergißt. Doch geht aus Lenis Andeutungen hervor, daß ihr Vater durch den wütenden Lärm der Hunde, die sich in der nebligen Nacht vorsichtshalber außerhalb des Gehöfts aufhalten mußten, zeitig genug gewarnt wurde und sofort den Aeroplan aus dem Schuppen herausbringen ließ, um jeden Augenblick fliehen zu können. Als er dann sah, daß die Einsiedelei völlig umstellt war, vernichtete er schnell die Konstruktionspläne des Drachenfliegers, die vier Personen bestiegen den Führerstand, der Motor wurde eingestellt und der ‚Befreier’ stieg in die Lüfte empor. Leider sollte es sich bald herausstellen, daß die dicke, feuchte Atmosphäre und die für den Flugapparat nicht berechnete Belastung von vier Menschen die Steigfähigkeit merklich hinderte, so daß es nicht gelang, eine größere Höhe zu erreichen und dadurch dem verfolgenden Schiffe, das wahrscheinlich dem surrenden Geräusch der großen Propeller nachsteuerte, zu entgehen. Und das Unglück wollte es, daß dann auch sofort der ersten Schuß den Benzinbehälter traf und die Sprengstücke nicht nur Morris und seine beiden Gefährten in Stücke zerrissen – Leni stand unter dem Motor und kam nur dadurch ohne Verletzung davon – sondern auch die Leinwandflächen und das Gerüst derart beschädigten, daß der ‚Befreier’ langsam in die See fiel. Hätte Helene nicht die Geistesgegenwart besessen, schnell einen der Rettungsringe überzuwerfen und sich von dem Gestänge des Aeroplans freizumachen, so wäre sie ebenso mit in die Tiefe gezogen worden, wie die Körper der drei Irländer.“
„Armes, armes Kind“, meinte mitfühlend der kleine Doktor, der ein weiches Herz besaß. „Auf eine solche Weise den Vater verlieren zu müssen! Und dabei ist es ganz aussichtslos, daß der Flugapparat und mit ihm die Leichen jemals gefunden werden. Denn wir haben ja keine Ahnung, wo das Unglück sich eigentlich zugetragen hat, ob’s wirklich mehr in der Bucht oder nach der offenen See zu geschah.“
„Das habe ich Leni auch schon gesagt,“ meinte Helmer aufseufzend. „Und da es dem Wunsche ihres Vaters entspricht, der ihr stets anbefohlen hatte, den ‚Befreier’ im Falle seines plötzlichen Todes zu zerstören, so werden wir auch keinerlei Versuche machen, den Aeroplan heben zu lassen. Überhaupt möchte ich dich bitten, Karl, mir auf Ehrenwort zu versprechen, daß du gegen niemanden ein Wort über die Ereignisse dieser Nacht verlierst. Dasselbe Ansinnen werde ich an den Referendar und den Leutnant stellen. Hoffentlich geht ihr darauf ein. Denn nur zu leicht könnte durch die Deutsche Presse diese Geschichte zu einer Hetzerei gegen England benutzt werden und es könnten daraus politische Verwicklungen entstehen, die Deutschland vielleicht im Augenblick sehr ungelegen kamen. Selbstverständlich werde ich meiner vorgesetzten Behörde einen eingehenden Bericht erstatten. Ich glaube aber bestimmt, daß unsere Regierung die Sache einfach totschweigen wird. Die Mächte suchen sich untereinander tagtäglich durch allerlei und oft nicht ganz einwandfreie Mittel ihre militärischen Geheimnisse abzulauschen, und es ist so stillschweigend Vereinbarung, einen mißglückten Streich auf dem Gebiet der Spionage nicht gleich an die große Glocke zu bringen, besonders wenn ein Fall derartig schwer zu beweisen ist wie der vorliegende. –
Daß es also für alle Teile das Beste ist, wenn auch Ihr schweigt, siehst du wohl jetzt selbst ein ..!“
Mirkow gab dem Freunde ohne Zaudern das gewünschte Versprechen und rief dann das Beiboot heran, um auch den beiden anderen des Assessors Bitte mitzuteilen. – Und für Helmer war es eine große Beruhigung, als er wußte, daß kein Unberufener je etwas über das wahre Schicksal der Einsiedler vom Schwarzen Berge erfahren würde.
Helene Morris fand bei der alten Frau Förster Jannitzki, auf deren Schweigsamkeit sich der Assessor verlassen konnte, eine ebenso herzliche wie fürsorgliche Pflege. Und Fritz Helmers innige Liebe half ihr auch über den schweren Verlust des Vaters hinweg und wandelte ihre erste wilde Verzweiflung bald in eine stille Trauer. Als die einzige Schwester von Helenes verstorbener Mutter auf ein Telegramm Helmers nach vier Tagen aus Dresden in Hela eintraf, fand sie ihre Nichte bereits mit blühenden Wangen und unter Tränen glückschimmernden Augen vor. Und an demselben Tage, an dem der Kriminalinspektor Islington sich auf einem Dampfer der Standard-Linie nach Südafrika einschiffte, da der Kriegsminister einen Beamten, der sich in der Wahl seiner Mittel in so gefährlicher Weise vergriffen, doch lieber in den Kolonien verwenden wollte, wurde in Dresden eine stille Hochzeit gefeiert, und aus Helene Morris wurde eine überglückliche Helene Helmer. –
Die Gebäude der Einsiedelei am Schwarzen Berge hat der Forstfiskus erworben und einem Anwärter als Wohnung angewiesen. Über das geheimnisvolle Verschwinden Herbert Schmidts und seiner Gefährten tauchten besonders in den Kreisen der Helenser Insulaner die wunderbarsten Gerüchte auf. Aber als einmal der tranduftende Fischer Gott-lieb Zegke bei dem alten Jannitzki vorsichtig auf den Busch klopfen wollte und meinte, der Herr Förster müsse doch etwas Bestimmtes darüber wissen, da sagte der Grünrock schlau lächelnd und fuhr sich dabei behaglich durch den grauen Bart:
„Wenn Sie mal nach der Mark Brandenburg kommen sollten, Zegke – da liegt unweit von Küstrin ein großes Gut, das dem früheren Forstassessor Helmer gehört. Und dessen Frau müssen Sie fragen … Die weiß sicher Bescheid …!“