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Der aber werfe den ersten Stein …

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Der aber werfe den ersten Stein …

 

Roman von Walter Kabel.

[Auf dem Innentitel ist fälschlicherweise angegeben: Walter Rabel.]

 

1. Kapitel.

Als Hedwig Möwis die Flurtür hinter dem Arzte geschlossen hatte, blieb sie noch eine Weile in dem engen Korridor stehen und lehnte sich, halbbetäubt von diesem soeben gehörten, niederschmetternden Bescheide, an die Wand. Starren, verzweifelten Auges blickte sie vor sich hin, während ihr die vorsichtigen Worte des gütigen Sanitätsrats, den sie heute trotz des Widerspruchs ihrer Mutter zugezogen hatte, um endlich einmal über deren täglich zunehmende Hinfälligkeit Aufschluß zu erhalten, noch immer wie ein hartes Todesurteil in den Ohren nachklangen.

„Mein liebes Fräulein,“ hatte der alte Herr nach einer eingehenden Untersuchung heimlich zu ihr in der kleinen Küche gesagt, nachdem es ihm gelungen war, die Kranke selbst mit einigen heiteren Redensarten über ihren Zustand zu beruhigen, „Ihre Frau Mutter ist im höchsten Grade zuckerkrank, was bei ihrem schwachen, widerstandsunfähigen Körper nur zu leicht einen bösen Ausgang nehmen kann, wenn eben nicht schleunigst mit bester, allerbester Pflege unter Einhaltung strengster Diät eingesetzt und, sobald sich das Allgemeinbefinden soweit gehoben hat, mit einer längeren Brunnenkur in einem der für Diabetiker geeigneten Badeorte begonnen wird. Andernfalls stehe ich für nichts! – Ich muß ganz offen zu Ihnen sprechen, mein liebes Fräulein – muß, mag auch meine ernste Auffassung von dem Zustande der Patientin noch so betrübend für Sie sein. Aber hier tut Hilfe sofort not, sofort … Und versäumen Sie nichts, wenn Sie sich Ihre Frau Mutter erhalten wollen.“

Hedwig Möwis lächelte bitter … Wie leicht es doch für einen Arzt war, derartige Verhaltungsmaßregeln zu geben! Hatte denn der alte Sanitätsrat wirklich nicht schon dieser mit zusammengewürfelten Möbeln ausgestatteten Mansardenwohnung angesehen, in welchen Verhältnissen deren Bewohner lebten?! Oder glaubte er etwa, daß es Leute gab, die nur der freien Aussicht wegen fünf Treppen hoch unter das Dach zogen, wo die kleinen Räume im Winter kaum zu erheizen und im Sommer nicht auszukühlen waren! Ja, wenn er seine allerbeste Pflege und Brunnenkur unten in den tieferen Stockwerken verschrieben hätte, wo die Wohnungen das Sechs- und Siebenfache kosteten – dort würden die Mittel für eine so kostspielige Behandlung wohl vorhanden gewesen sein! Aber hier … hier! –

Und weiter dachte sie in die ihr jetzt so trostlos dünkende Zukunft hinein … Also das sollte nun der Abschluß für ihrer Mutter Leben werden, für dieses wechselvolle Leben voller Enttäuschungen, voller Sorgen und Entbehrungen: Ein einsames Dahinsiechen dort in dem halbdunklen Schlafraum mit dem schrägen Dach, der nichts anderes als eine bessere Dachkammer war, und dann schließlich das Verlöschen dieses ängstlich flackernden Flämmchens, der letzte Augenblick, unter solchen Daseinsbedingungen als Erlösung all der Unzulänglichkeiten sicherlich still herbeigesehnt, trotz der bangen Furcht vor der dunklen Macht des Todes.

Immer heißer quoll mitleidigstes Erbarmen mit der vom Geschick so hart heimgesuchten Mutter in ihrem Herzen empor, immer eifriger suchten jetzt ihre Gedanken nach einem Mittel, um dem grausamen Schicksal hindernd in den Weg treten zu können. Und dieses Mittel hieß leider … Geld und wieder Geld, und daran hatte in der kleinen Mansardenwohnung wahrhaftig niemals Überfluß geherrscht.

Hedwig Möwis schreckte plötzlich zusammen. Sie horchte genauer hin … Wirklich, die Mutter rief nach ihr. Und gewaltsam sich aufraffend eilte sie an das Bett der Kranken zurück, ein zuversichtliches Lächeln auf den Lippen und einige hoffnungsfrohe Worte in Bereitschaft.

Der Rest des Vormittags verging ihr trotz der verschiedenen häuslichen Arbeiten, die sie ganz allein zu verrichten hatte, in schleichender Langsamkeit. Immer wieder schaute sie nach der Uhr und sehnte den Augenblick herbei, wo ihr Bruder vom Dienst heimkehren und sie endlich Gelegenheit haben würde, ihm alles das mitzuteilen, was ihre Seele wie eine schwere Last bedrückte. Freilich – große Erleichterung würde ihr diese Aussprache kaum bringen. Darüber gab sie sich keinerlei Täuschung hin. Denn Egon Möwis gehörte leider nicht zu jenen Charakteren, die sich unter dem Druck eines Unglücks nur noch energischer und zielbewußter emporrichten. Im Gegenteil, damals, als vor zwei Jahren die große Getreidefirma Albert Möwis dem ersten Anschein nach infolge des plötzlichen, durch die immer aufdringlichere Konkurrenz Amerikas hervorgerufenen Preissturzes auf dem Weizenmarkt zusammenbrach, als der Geschäftsinhaber sich dann wenige Tage nach Anmeldung des Konkurses in seinem Kontor erschoß, und man sehr bald herausfand, daß er sich schon seit Monaten nur noch durch die gewissenlosesten Schiebungen, die besonders den kleinen Händlern in der Provinz enormen Schaden zufügten, über Wasser gehalten hatte, da war es nicht etwa der fast fünfundzwanzigjährige Sohn, sondern die um drei Jahre jüngere, bisher so viel umworbene, verwöhnte Tochter des reich geglaubten Getreidehändlers gewesen, die allein mit starker Hand in dieses durch den Tod ihres Vaters veranlaßte Wirrsal hineingriff und mit Unterstützung eines alten, fachkundigen Bekannten Ordnung und Übersicht schuf. Ihr gelang es auch, den willensschwachen, durch das bisherige Wohlleben zu jeder ernsthaften Tätigkeit fast unfähig gewordenen Bruder zur sofortigen Aufgabe seines juristischen Studiums und zum Übertritt in die Kriminalbeamtenkarriere zu bewegen, wo er wenigstens sofort Tagegelder bezog, und sie selbst scheute sich erst recht nicht, ihre Sprachkenntnisse, die sie sich einst scheinbar rein als Modesache erworben hatte, nunmehr praktisch zu verwerten, indem sie als Korrespondentin in einer großen Holzfirma eintrat. Und ihr allein gebührte ebenso das Verdienst, der kränklichen, verschüchterten Mutter und dem anspruchsvollen Bruder durch ihr Beispiel das Hineinfinden in die mit einem Male so gänzlich veränderte Lebenslage erleichtert zu haben.

Natürlich – in den Möwisschen Bekanntenkreisen war man damals zunächst über das so tatkräftige junge Mädchen des Lobes voll. Man führte bei den Diners und Soupers tiefgründige Gespräche über der schönen Hedwig plötzlich neu entdeckte Fähigkeiten, die ein einziger Schicksalsschlag geradezu hervorgezaubert hätte, bedauerte aber noch mehr die in so ärmlichen Verhältnissen zurückgebliebene Mutter und den eleganten, flotten Korpsstudenten, der nun in eine ihm kaum genehme Laufbahn gedrängt wäre - kurz, man nahm an dem Geschick der zurückbleibenden Mitglieder der Familie Möwis den lebhaftesten Anteil und … suchte sich trotzdem nach kaum einem Monat von den jetzt ‚dort oben unterm Dache‘ hausenden früheren lieben Freunden loszumachen, zumal aus den Konkursakten ‚Albert Möwis, Getreide en gros‘, doch manches in die Öffentlichkeit durchsickerte, was unangenehm dicht an Gefängnis und Zuchthaus vorbeistreifte. So wurden die Grüße von Tag zu Tag kühler und förmlicher, bald übersah man die armen Deklassierten gelegentlich, schließlich kannte man sie überhaupt nicht mehr. Für die Kreise der Geldaristokratie der großen Hafenstadt waren die Möwis für alle Zeiten erledigt.

Hedwig hatte unter diesem verletzenden Übersehenwerden anfänglich doch mehr gelitten, als sie es sich merken ließ. Aber ihre elastische Natur und ihr gesundes Urteilsvermögen halfen ihr, sich schnell in die neuen Daseinsbedingungen und das Ungewohnte ihres selbsterwählten Berufes zu schicken. Langsam rang sie sich so auch zu einer freieren Lebensauffassung durch, lernte das Hochgefühl der Selbständigkeit und des Selbstverdienens kennen und ebensosehr den dünkelhaften, durch nichts begründeten Hochmut ihrer früheren Freundinnen verachten, die nichts von dem harten Kampf ums Dasein mit all seinen kleinen Demütigungen, aber auch mit seiner stolzen Genugtuung freudigen Schaffens und Erwerbens ahnten. Und dasselbe Fräulein Möwis, das in der ersten Zeit noch scheu auf Umwegen durch wenig belebte Seitengassen die Stätte seiner Tätigkeit aufgesucht hatte, schritt nach einem halben Jahr schon frei erhobenen Hauptes, trotz der abgetragenen, billigen Garderobe, durch die verkehrsreichsten Straßen und hatte für all die teuren Bekannten von einst, die ihm wie einer Verfehmten aus dem Wege gingen, nur ein mitleidiges Lächeln.

Dabei tat die tägliche, anstrengende Arbeit in den Bureauräumen der Weltfirma der Schönheit des jungen Mädchens durchaus keinen Abbruch. Hedwig war vielmehr sichtlich aufgeblüht, der Ausdruck ihres feingeschnittenen Antlitzes hatte sich vertieft, und in ihrem ganzen Auftreten lag jetzt eine ruhige, abgemessene Bestimmtheit, die sie äußerst vorteilhaft kleidete. Und sie würde mit ihrem bescheidenen Lose völlig zufrieden gewesen sein, besonders da auch ihr Bruder über Erwarten schnell eifriges Interesse an seiner Ausbildung bei der Kriminalpolizei genommen hatte, wenn nicht der stets schwankende Gesundheitszustand der Mutter für sie immer wieder die Ursache zu neuen Sorgen und kaum erschwinglichen Geldausgaben gewesen wäre.

Was half es unter diesen Umständen, daß sie noch die halben Nächte aufsaß und durch Übersetzen englischer und französischer Novellen und Romane ins Deutsche sich einen Nebenverdienst zu schaffen suchte, was half all ihr Sparen und Zusammenhalten, wenn sie oft tagelang aus dem Geschäft, wie auch jetzt wieder, fortbleiben und eine teure Stellvertreterin bezahlen mußte, sobald die Kranke bettlägerig wurde, da die Einnahmen das Halten eines Dienstmädchens oder einer Pflegerin nicht gestatteten. Und nun noch zu alledem dieser neue Schlag, der Mutter schwere Erkrankung, an deren Gefährlichkeit sie bisher nie hatte glauben wollen.

Als Egon Möwis gegen einhalb zwei Uhr nachmittags heimkehrte, winkte ihn Hedwig sofort zu sich in die Küche und drückte vorsichtig die Tür hinter ihm ins Schloß.

„Was gedenkst du denn nun zu tun, Hedi …?“ fragte er ganz verzweifelt, nachdem sie ihm wörtlich den Bescheid des Arztes wiederholt hatte. Und mit dieser Frage konnte er sein Verhältnis zu seiner Schwester und seine eigene Charakterveranlagung, deren Grundzug ein stetes Anlehnungsbedürfnis bildete, gar nicht besser kennzeichnen.

„Ich werde noch heute zu Herrn Willers, unserem ersten Prokuristen, gehen und vorläufig um einen zweiwöchigen Urlaub nachsuchen. Natürlich bleibt mir nichts anderes übrig, als für meine Person einen Ersatz zu stellen und zu bezahlen. Sonst verliere ich die Stelle. Und das muß ich um jeden Preis vermeiden. Gewiß – ich könnte ja eine Krankenpflegerin annehmen, aber die ist unter drei Mark für den Tag nicht zu bekommen. Außerdem möchte ich Mamas Aufwartung auch lieber persönlich besorgen. Sie gewöhnt sich so schwer an fremde Menschen, und sicherlich würde es für sie eine große Beruhigung sein, wenn sie mich ständig um sich hätte. Und dann – hier zu Hause erobere ich mir immer einmal trotz der Arbeit in der Wirtschaft ein Stündchen, wo ich die Romanübersetzungen für den Neuen Verlag anfertigen und so wenigstens etwas verdienen kann.“

„Aber wo wirst du denn nur das Geld zur Bezahlung deiner Vertretung, für Mamas Pflege und die spätere Reise ins Bad hernehmen? – Ich selbst will ja gern von meinem Gehalt noch zehn – auch fünfzehn Mark mehr für den Monat in die gemeinsame Kasse beisteuern.“

„Wenn du sie entbehren kannst! Sie werden jedenfalls mit Dank angenommen. In unserer Lage hilft jedes Goldstück sehr, sehr mit.“ Und Hedwig streckte ihrem Bruder, dessen für einen Mann fast zu regelmäßiges, etwas weiches Gesicht so ehrlich betrübt und mitfühlend aus-sah, herzlich die Hand hin. Wußte sie doch, daß ihm von seinen monatlichen Tagegeldern von einhundertundfünfundzwanzig Mark dann nur noch ein sehr geringer Teil für seine eigenen Bedürfnisse übrig bliebe. – „Meine Kalkulation,“ fuhr sie jetzt etwas zögernd fort, „kann ich dir mit wenigen Worten klarlegen. Ich habe mir einhundertundfünfzig Mark gespart, die ich jetzt angreifen muß. Vom Neuen Verlag erhalte ich demnächst achtzig Mark Honorar für die Übersetzung der beiden letzten englischen Novellen. Ferner hoffe ich dort auch einen Vorschuß auf mir bereits zugesagte weitere Arbeiten in Höhe von mindestens einhundert Mark flüssig zu machen. Damit ist der Ausfall meines Gehalts und die Ausgabe für meine Vertreterin schon gedeckt. Um nun weitere Geldmittel herbeizuschaffen, sehe ich mich leider genötigt, das einzige wertvolle Stück unserer Einrichtung zu verkaufen. Ich sage ‚leider‘, da ich weiß, wie sehr du, lieber Egon, Musik liebst und wie schmerzlich du unser noch ganz gut erhaltenes Pianino vermissen wirst. Aber es geht nicht anders, Egon … Es muß sein …“

Eine Weile herrschte drückendes Schweigen in der engen Küche, auf deren weiß gescheuerten Fußboden die strahlende Maisonne durch das schmale Fenster ein längliches, leuchtendes Viereck zeichnete. –

Egon hielt den Kopf gesenkt und schaute mit zusammengepreßten Lippen vor sich hin. Dann meinte er mit bitterster Ironie:

„Ja, Hedi, wir Möwis sind einmal ganz besonders bevorzugte Pechvögel! Kaum haben wir uns in diesen zwei Jahren von den Aufregungen des … skandalösen Konkurses etwas erholt – da kommt schon wieder so ein Schicksalsschlag wie ein Blitzstrahl aus heiterem Himmel. Wer mir damals in Heidelberg, als ich noch das Korpsband trug und stets so pünktlich von Papa am Ersten jedes Monats meine drei blauen Lappen erhielt, prophezeit hätte, daß ich einmal fünf Treppen hoch auf einem Küchenstuhl sitzen und mit meiner Schwester mir den Kopf zerbrechen würde, wo man das Geld zur Kur für unser arme Mutter auftreiben könnte, den hätte ich glatt ausgelacht. Jetzt – jetzt ist wirklich unser einziger Gedanke, wie wir den schnöden Mammon in Markstücken zusammenkratzen sollen – in Markstücken! Die launige Göttin Fortuna verteilt für meinen Geschmack ihre Gaben denn doch ein bißchen zu ungleich. Neben ganz armen Schluckern laufen soundso viele über unsere geduldige Mutter Erde, die das Geld mit vollen Händen ausstreuen, wieder andere, die es gar nicht ahnen, daß der Zufall ihnen ein Vermögen in den Schoß geworfen hat, daß sie nur zuzugreifen brauchten, nichts weiter, nur zuzugreifen, um Tausende ihr eigen zu nennen. Ja, denk dir, Hedi – eben fällt’s mir ein – heute erzählte der Polizeirat Scheller bei uns im Bureau, daß der glückliche Gewinner des großen Loses der Wohlfahrtslotterie, deren Ziehung vor vier Wochen stattfand, trotz aller Zeitungsnotizen sich noch immer nicht gemeldet hat – dieses Loses mit der merkwürdigen Nummer 131326, die den alten Aberglauben, die Zahl 13 bedeute Unheil, glänzend widerlegt. Denn 13 plus 13 sind bekanntlich zwei sechs, und daher besteht die Nummer des Glücksloses eigentlich sogar aus vier Exemplaren dieser Unglückszahl! Und hat doch fünfzigtausend Mark in bar gewonnen!“

Hedwig Möwis, die prosaische Hedwig Möwis, die das Luftschlösserbauen sich schon längst abgewöhnt hatte, schaute jetzt sehnsüchtig durch das Fenster in das durchsichtige Blau des klaren Himmels hinaus und wiederholte unbewußt:

„131326 … Vier Unglückszahlen … und fünfzigtausend Mark … fünfzigtausend Mark?“

„Die wir leider nicht haben – leider,“ rief ihr Bruder sie fast grausam in die Wirklichkeit zurück. „Daher werden wir auch das Pianino verkaufen müssen, Hedi – ich sehe die Notwendigkeit nur zu sehr ein, obwohl unser gemeinsamer Freund Helmer dann bei seinem nächsten gemütlichen Abendbesuch, und das dürfte, falls Mamas Befinden es gestattet, morgen sein – heute muß er leider Kriminalkommissar vom Nachtdienst spielen – auf seine geliebte Tannhäuser Ouvertüre vergeblich warten wird. Aber was hilft’s! Die drei- bis vierhundert Mark, die das Instrument sicherlich noch bringt, können wir nicht missen. Und für Fritzchen Helmer gibt es hier unterm Dache ja noch einen anderen, stärkeren Magneten als die Musik – nicht wahr, Schwesterlein?“

Worauf Hedi glücklich lächelnd und ohne sich zu zieren mit einem vielsagenden ‚Ich hoffe‘ antwortete. –

Egon erhob sich jetzt von seinem harten Sitz.

„Nun teile mir noch schnell mit, wie du die Gelder für Mamas spätere Badereise aufzutreiben gedenkst. Es ist inzwischen zwei Uhr geworden, und ich möchte unser Muttchen endlich begrüßen gehen. Außerdem habe ich auch rechtschaffenen Hunger, und deine Fleischbrühe da riecht wirklich ganz verführerisch.“

 

2. Kapitel.

In einem der Verhörzimmer des Polizeipräsidiums saß am Abend desselben Maitages der Kriminalkommissar vom Nachtdienst hinter dem großen Mitteltisch und sah beim Schein einer elektrischen Stehlampe die in hohem Stapel neben ihm aufgeschichteten Abendzeitungen durch – eine Arbeit, die sich bei den meisten Blättern allerdings nur auf ein Überfliegen der Rubrik der Unfälle und Verbrechen beschränkte, die aber erledigt werden mußte, wenn man es mit seinem Beruf ernst nahm und sich hinsichtlich der neuesten Kriminalfälle auf dem laufenden halten wollte.

Die Turmuhr einer nahen Kirche begann gerade mit dröhnenden Schlägen die neunte Stunde zu verkünden, als Fritz Helmer die letzte der Zeitungen wieder zusammenfaltete, beiseite schob und sich dann horchend in den eichenen Schreibsessel zurücklehnte. Denn in den nachhallenden Klang des letzten Schlages der Uhr hatte sich ein anderer Ton eingemischt – der ferne grollende Donner eines aufziehenden Gewitters, des zweiten in diesem Jahre, wie er nach kurzem Besinnen feststellte. Das erste war vor etwa zwei Wochen gleichfalls gegen Abend über die Stadt hinweggegangen, eingeleitet von einem derartigen Wirbelsturm und verbunden mit einem so heftigen Wolkenbruch, wie man diese Naturerscheinungen sonst nur in den Tropen erleben kann. Und dieses erste Gewitter mit seiner die Sinne fast betäubenden, dämonischen Schönheit durfte Fritz Helmer von einem Fenster der Möwisschen Mansardenwohnung wie von einem hohen Turme aus betrachten, während Hedwig Möwis dicht neben ihm stand, so dicht, daß er am liebsten schon damals unter dem Schutz der Dunkelheit, die nur zuweilen für Sekunden von der grellen Lichtflut der aufflammenden Blitze zerrissen wurde, den Arm um sie gelegt und sie leise an sich gezogen hätte – als wortloses Geständnis seiner tiefen, aufrichtigen Herzensneigung.

Ja, warum hatte er eigentlich jene Gelegenheit auch wieder unbenutzt vorübergehen lassen wie bereits so viele andere vorher, ohne den Mut zu finden, sie endlich nach diesem langen stillen Werben für immer an sich zu fesseln … Ja, warum? –

Fritz Helmer hatte den Kopf in die Hand gestützt und schaute grübelnd vor sich hin. Nichts störte ihn in seinen Gedanken, die das dumpfe Murren des nahenden Gewitters unwillkürlich auf die Person der Geliebten übergeleitet hatte. In dem weiten Polizeipalast herrschte um diese Stunde eine bedrückende Stille. Nur selten hallten ferne Schritte durch die gewölbten, steinbelegten Korridore. Und auch auf der Straße unten war der Lärm der Großstadt langsam verstummt.

Helmer war in die Schicksale der Familie Möwis bereits völlig eingeweiht, noch bevor er durch den ihm für einige Zeit zur Ausbildung überwiesenen Egon dessen Schwester kennen gelernt hatte. Für ihn, den scharfen Beobachter und Menschenkenner, war es anfänglich direkt ein geistiger Genuß gewesen, den Charakter dieser jungen Dame, über deren zielbewußte Entschlossenheit und seltene Anpassungsfähigkeit vor Jahren die ganze Stadt aus Anlaß des Riesenkonkurses der Firma Albert Möwis gesprochen hatte, im näheren Verkehr zu studieren, bis es ihm eines Tages zum Bewußtsein kam, daß er, der bis dahin an den Frauen achtlos vorübergegangen war, nur um ganz ungestört seinem von ihm wie eine höhere Kunst gepflegten Beruf leben zu können, sich rettungslos in Hedwig verliebt hatte.

Von da an begann er sie mit anderen Blicken zu betrachten, begann er zu prüfen, ob sie auch in allem dem idealen Bilde entsprach, das er sich in seiner Phantasie von seiner einstigen Lebensgefährtin auf Grund seiner Anschauungen über die Ehe entworfen hatte. Und hierbei mußte er nun leider eine Entdeckung machen, die ihm zu vorsichtigstem Abwägen seiner Zukunftspläne veranlaßte. Gewiß – die äußere Erscheinung der Geliebten hätte sicherlich den höchsten Ansprüchen genügt. Aber jene fast männliche Energie und kühl abwägende Weltklugheit, die auch ihn zunächst so sehr für sie eingenommen hatte, störten ihn jetzt, da er ihre Persönlichkeit mit den Augen des Freiers kritisierte, als geradezu unweibliche Attribute. Was er bei einem Weibe verlangte, war frauenhaft weiches Empfinden, gepaart mit jener schutz- und hilfesuchenden Unselbständigkeit, die in dem Manne freudig und vertrauensvoll das überlegene, stützende Wesen anerkennt und ersehnt. Außerdem wollte es ihm auch scheinen, als ob Hedwig Möwis in ihrem ganzen Sichgeben ihm gegenüber mehr ihrem Verstande als irgendwelchen heißeren Gefühlen folgte, ja, er fürchtete sogar, daß sie bei ihrer Charakterveranlagung leidenschaftlicher Empfindungen überhaupt nicht fähig sei. –

All diese Zweifel verdichteten sich bei ihm schließlich zu der Angst vor dem Schrecken einer Vernunftehe, in der sein Weib kühl wie eine gute Freundin mit einer ständigen Leere im Herzen und vielleicht mit der unbestimmten Sehnsucht nach etwas Größerem neben ihm hergehen könnte.

Diese, nur diese Angst war es, die immer wieder jedes wärmere Wort bei ihm zurückdrängte – das hatte sich Fritz Helmer soeben durch die wohldurchdachten, aus den verschiedensten kleinen Beobachtungen abgeleiteten Kombinationen in jener etwas einseitigen Sachlichkeit klargemacht, die ihm als Kriminalbeamten leider auch für außerberufliche Vorfälle schon zu sehr in Fleisch und Blut übergegangen war.

Ein von einem wolkenbruchartigen Regenguß begleiteter Donnerschlag, der die Scheiben der Fenster laut erklirren machte, schreckte ihn jetzt aus seinem Sinnen auf. In demselben Augenblick hörte er auch draußen auf dem Korridor näherkommende Schritte. Die Tür des Zimmers wurde geöffnet, und ein Beamter in Uniform überreichte ihm, militärisch die Hacken zusammennehmend, ein Schriftstück.

„Bericht vom 14. Polizeirevier über einen vor einer Stunde verübten Raubüberfall auf eine Dame in der Werterstraße. Der Täter ist bereits zur einstweiligen Vernehmung eingeliefert,“ meldete der Schutzmann kurz und fügte dann hinzu:

„Soll ich den Mann sofort vorführen?“

Helmer kam diese Ablenkung sehr erwünscht. Er ließ von dem Beamten die elektrische Deckenbeleuchtung andrehen und legte sich das notwendige Schreibmaterial zurecht.

Das Verhör nahm nicht viel Zeit in Anspruch. Der Verhaftete versuchte gar nicht, seine Tat irgendwie zu beschönigen. Er hatte der nach Geschäftsschluß heimkehrenden Direktrice eines großen Modebasars das schwarze Ledertäschchen in der stillen Werterstraße aus der Hand gerissen, war aber schon nach kurzer Verfolgung durch Passanten ergriffen worden. Nur aus Hunger wollte er sich so weit vergessen haben, nur aus Hunger, wie er mit einer wahren Jammermiene immer wieder betonte.

Der Kommissar schrieb geduldig auch diese faule Ausrede mit ins Protokoll. Dann aber sprang er plötzlich auf ein anderes Thema über.

„Also Sie heißen Herbert Wilke, sind Gelegenheitsarbeiter und seit einer Woche ohne Obdach, nicht wahr?“ fragte er harmlos.

Der Mann bejahte eifrig.

„So – und wo haben Sie denn zuletzt gewohnt, Wilke?“

„Ja, Herr Oberkommissar, das war bei eine alte Frau in … in … nu hab’ ich den Namen von die Straße wirklich vergessen! Ich bin nämlich erst Dienstag vor acht Tagen nach hier verzogen und war …“

„Schenken Sie sich nur alle weiteren Einzelheiten,“ unterbrach Helmer den phantasiereichen Straßenräuber gemütlich. Er kannte diese Ausflüchte zur Genüge. Dieser ‚Wilke‘ hoffte eben durch seine treuherzige Berufung auf sein kurzes Gedächtnis der Polizei seinen wahren Namen verheimlichen zu können, brachte sich aber gerade dadurch in den Verdacht, zu dieser Verschleierung seiner Personalien recht schwerwiegende Gründe zu haben. Und da der Kriminalkommissar als alter Praktiker wußte, daß hier alles Zureden nichts helfen würde, ließ er den für einen hungernden Gelegenheitsarbeiter merkwürdig elegant gekleideten Menschen, ohne ein weiteres Wort an ihn zu verschwenden, in die Arrestantenzelle zurückführen. Morgen würde ja das Verbrecheralbum, das Bertillonsche Meßsystem und die Steckbriefsammlung sehr bald den nötigen Aufschluß über Herrn ‚Wilkes‘ Person geben.

Fritz Helmer war wieder allein. Nachdem er das Protokoll mit einigen Schlußbemerkungen versehen hatte, legte er es beiseite, klappte das Tintenfaß zu und zündete sich umständlich eine Zigarre an. Dann sah er nach der Uhr – halb Zehn erst. Und bis sechs Uhr morgens dauerte sein Dienst hier … Nun, langweilen würde er sich ja wohl kaum. Dafür sorgte schon das lichtscheue Gesindel der Großstadt, das mit Einbruch der Dunkelheit den listigen Krieg gegen fremdes Eigentum besonders eifrig betrieb und dem Kriminalkommissar vom Nachtdienst oft in einigen Dutzenden von Exemplaren gezwungenermaßen seine Aufwartung machte.

Helmer war nach mehrmaliger Promenade durch das Zimmer an das Fenster getreten, hatte den Vorhang zurückgeschlagen und schaute nach dem Wetter aus. Das Gewitter schien sich mit dem einen so überaus heftigen Donnerschlag, dem allerdings noch mehrere andere, aber bedeutend schwächere gefolgt waren, völlig ausgetobt zu haben. Nur dichter Regen rauschte auch jetzt noch in schweren Tropfen herab, so daß sich das Licht der Laternen in den Steinen der Straße in schillernden Reflexen widerspiegelte.

Doch der Kriminalkommissar sollte sich des ungestörten Genusses seiner Abendzigarre und des Gefühls, es bei dem Wetter hier oben im Trocknen ganz behaglich zu haben, nicht lange erfreuen. Das auf dem Tische stehende Telephon spielte den Störenfried. Und anscheinend hatte es der das Polizeipräsidium Anrufende sehr eilig. Denn das Schrillen der Glocke wollte gar kein Ende nehmen. –

Helmer griff schnell nach dem Hörer und lehnte sich in Erwartung eines längeren Gesprächs leicht gegen den Tisch.

„Hier Kriminalkommissar Helmer.“ Das klang hart und scharf wie ein ärgerlicher Vorwurf wegen des unnötig langen Anläutens.

„‘n Abend Helmer … Hier Polizeikommissar Irmstädt, Wache des 22. Reviers. – Ich möchte Sie mal in einer ebenso unangenehmen wie rätselhaften Geschichte um Rat fragen. Vor einer halben Stunde etwa verhaftete der auf der Speicherinsel diensthabende Schutzmann Ullstein eine weibliche Person – besser, eine junge Dame, die die Schaufensterscheibe des dicht an der Speicherbrücke gelegenen Kloßschen Zigarettengeschäfts mit einem großen flachen Stein zertrümmert hatte, anscheinend in der Absicht, von den ausgestellten Waren etwas zu stehlen. Wenigstens behauptet der Schutzmann Ullstein, der den ganzen Vorfall von der anderen Straßenseite hinter einer Anschlagsäule verborgen beobachtet hat, daß das junge Mädchen sich nachher noch in auffälliger Weise an dem Schaufenster zu schaffen gemacht habe. Die in vorläufige Haft Genommene, die selbstverständlich alles leugnet und mir einen wenig glaubwürdigen kleinen Roman zur Aufklärung des Vorfalls erzählte, ist nun, wie sie selbst angibt und ich auch einwandfrei aus mehreren in ihrem Portemonnaie vorgefundenen Zetteln feststellen konnte, die Schwester unseres Kriminalanwärters Möwis, wohnhaft in der Gitschiner …“ –

Die folgenden Worte wurden ganz zwecklos drüben auf der 22. Polizeiwache in den Apparat gesprochen. Denn Fritz Helmer war vor Schreck über diese geradezu unglaubliche Nachricht der das Hörrohr haltende Arm schlaff herabgesunken.

Hedwig Möwis verhaftet unter falschem Verdacht! Das war ja lächerlich, mehr als lächerlich! Sie sollte, um zu stehlen, die angegebene Sachbeschädigung verübt, sie, wie ein Obdachloser, der nur seine Sistierung bezweckt, ein Schaufenster eingeworfen haben! Undenkbar – undenkbar! Da mußte fraglos ein sehr, sehr zu bedauernder Irrtum vorliegen – ganz fraglos! Nur gut, daß es in seiner Macht stand, den Fehler, den der betreffende Beamte mit dieser übereilten Festnahme sicherlich gemacht hatte, sehr bald auszugleichen. Und dieses Bewußt-sein gab Fritz Helmer sofort seine kühle Überlegung zurück.

„Irmstädt, sind Sie noch da?“ rief er das 22. Revier wieder an. „So – schön – nein, danke Irmstädt – keinen langen Bericht bitte! Am besten, Sie lassen den Ullstein sofort ablösen und schicken ihn mir im geschlossenen Taxameter zusammen mit Fräulein Möwis her. Ich werde die Sache schon aufklären. Und bitte – behandeln Sie die junge Dame, die mir persönlich bekannt ist, mit der größtmöglichen Rücksicht. – Also Sie werden alles nach Wunsch erledigen, besten Dank! Schluß!“

 

3. Kapitel.

Eine knappe Viertelstunde später stand Hedwig Möwis zwar totenblaß, aber sonst völlig ruhig, in vor Nässe triefenden Kleidern Fritz Helmer gegenüber. Dieser hatte, noch bevor er sie begrüßte, dem begleitenden Beamten bedeutet, vorläufig draußen auf dem Korridor zu warten. Jetzt, nachdem sie allein waren, streckte er ihr herzlich die Hand hin und meinte mit einem Versuch, dieser unangenehmen Begegnung einen scherzhaften Anstrich zu geben:

„Aber liebes Fräulein Hedi, was machen Sie mir nur für Geschichten! So gern ich Sie sonst auch sehe, diese Überraschung kam doch etwas zu unerwartet! – Hier, bitte, nehmen Sie zunächst einmal Platz. Und nun erzählen Sie mir in aller Gemütlichkeit als altem Freunde, wie Sie denn eigentlich in diese fatale Patsche geraten sind – in aller Gemütlichkeit und ohne sich weiter aufzuregen! Denn das eine kann ich Ihnen schon versprechen: Nach kurzer Zeit werden Sie in einem schnell besorgten Wagen unter gutem Schutz Ihrer Wohnung zueilen und hoffentlich dieses scheußliche Erlebnis dann bald ganz vergessen haben … Damit ich aber meine Pflicht als Beamter nicht verletzte, müssen Sie mir schon gestatten, Ihre Aussage zu Protokoll zu nehmen. So, ich bin bereit und – ehrlich gesagt – unglaublich neugierig.“

Hedwig Möwis Rechte hatte vorhin bei der Begrüßung wie leblos in Fritz Helmers Hand gelegen. Und ihre Augen waren den seinen, die mit so warmer Teilnahme ihr bleiches Gesichtchen tröstend zu streicheln schienen, ängstlich ausgewichen. Gesenkten Hauptes, wortlos hatte sie sich auch auf dem angebotenen Stuhle niedergelassen. Jetzt erst hob sie langsam zögernd den Kopf … Aber als ihre Blicke den seinen nunmehr begegneten, da bemerkte er sofort, daß in ihnen ein ganz ungewöhnlicher Ausdruck lag, etwas Scheues, heimlich Forschendes und Lauerndes – derselbe Ausdruck, wie er ihn von soundso viel Vernehmungen her bei schon halb überführten, von der Sorge um Freiheit und Leben gefolterten Verbrechern nur zu gut kannte.

Ein dumpfes Angstgefühl überkam ihn da, das er vergeblich wieder von sich abzuschütteln suchte. Und unter dem beklemmenden Druck dieser Empfindung, die nichts anderes war als ein leiser, ganz leiser Argwohn, wenn er sich das auch nicht eingestehen wollte, nahm er nun Hedwig Möwis merkwürdigerweise mit größter Übersichtlichkeit abgegebene Aussage entgegen.

„Nach dem Abendessen, etwa gegen halb neun Uhr, fuhr ich mit der Ringlinie der Straßenbahn nach dem Joseph-Platz Nr. 14, wo der Chef unserer Firma wohnt, um mir den Bescheid auf ein am Nachmittag eingereichtes Urlaubsgesuch einzuholen. Auf dem Rückwege nun – ich mußte leider zu Fuß gehen, da ich eine Elektrische nicht antraf, merkte ich bald, daß ich von einem anscheinend den besseren Handwerkerkreisen angehörigen Menschen hartnäckig verfolgt wurde. Als ich dann die Speicherinsel passierte, wagte es der Unbekannte sogar, mir in unverschämtester Weise seine Begleitung anzutragen. Obwohl ich mir jede Aufdringlichkeit auf das energischste verbat, blieb er nichtsdestoweniger an meiner Seite und sprach dauernd auf mich ein, bis ich ihm drohte, ich würde mich an den nächsten Schutzmann wenden, falls er mich noch weiter belästigen sollte. Da erst verschwand er, indem er mir noch einige drohende Worte zurief, die ich jedoch nicht verstand. Wie gehetzt eilte ich nun vorwärts, beschleunigte meine Schritte um so mehr, als ich bereits die ersten Tropfen des beginnenden Gewitterregens verspürte und einen Schirm leider nicht mit hatte.

Besonders das letzte Stück Weges vor der Speicherbrücke bin ich in wahnsinniger Hast gelaufen, weil ich meinen Verfolger wieder hinter mir zu hören glaubte und mich auch in der einsamen Gegend zwischen den turmhohen, düsteren Lagerspeichern eine entsetzliche Angst packte.

Ganz außer Atem stürzte ich über die Brücke. Dann war es aber auch mit meiner Kraft zu Ende. Mit jagenden Pulsen, einer Ohnmacht nahe, bog ich, um mich erst etwas zu erholen, gleich hinter der Brücke in den halbdunklen Winkel ein, der von dem etwas zurückliegenden Gebäude gebildet wird, in dessen Erdgeschoß sich ein Zigarrengeschäft befindet. Hier lehnte ich mich gegen die Hauswand, stand sekundenlang mit vor Erschöpfung halbgeschlossenen Augen bewegungslos da, achtete nicht des strömenden Regens, der meine Kleider durchnäßte, nicht der Blitze, die den nachtschwarzen Himmel wie strahlende Bänder durchzuckten.

Plötzlich schreckte mich ein furchtbarer Donnerschlag auf, dessen dröhnendes Echo jedoch ein dicht neben mir erklingendes krachendes Geräusch übertönte. Zunächst glaubte ich, ein Blitz hätte in meiner nächsten Nähe eingeschlagen. Dann aber sah ich keine zehn Schritte von mir entfernt undeutlich durch den Regenschleier eine Gestalt am Geländer der Brücke stehen, die mit der Faust zu mir herüber zu drohen schien. –

Was weiter geschah – darauf besinne ich mich nur noch undeutlich, da Angst, Scham und wildeste Empörung mir fast den Verstand raubten. Ebenfalls wurde ich von einem plötzlich vor mir auftauchenden Schutzmann – demselben, der mich auch hierhin brachte – nach kurzem Verhör trotz meiner Bitten und Unschuldsbeteuerungen unter dem Verdacht, einen Einbruch in das Zigarrengeschäft an der Speicherbrücke beabsichtigt zu haben, mit auf die nächste Polizeiwache genommen und dort auch festgehalten, obgleich ich mich über meine Person genügend ausweisen konnte.

Alles weitere ist Ihnen bekannt, da Sie ja selbst meine Überführung hierher nach dem Polizeipräsidium veranlaßt haben. Zu welchem Zweck ich allerdings noch immer wie eine Gefangene behandelt werde, begreife ich nicht. Denn der auf mir lastende Verdacht muß jedem nur einigermaßen einsichtsvollen Menschen doch auf den ersten Blick einfach als ein Unding erscheinen. Selbstverständlich werde ich mich über meine völlig grundlose Inhaftnahme höheren Orts beschweren.“

Hedwig Möwis war bei den letzten Worten aufgestanden und hatte, während sie die Schlußbemerkung nachdrücklich betonte, mit recht energischen Bewegungen die Druckknöpfe ihrer Handschuhe geschlossen. Ihre Haltung zeigte jetzt dasselbe ruhige, stolze Selbstbewußtsein, das auch in der Art, wie sie ihre Aussage gemacht hatte, schon nach den ersten noch etwas tastenden Sätzen immer stärker zutage getreten war. Und doch – für einen so scharfen Beobachter wie den eines Kriminalkommissars, dessen Beruf ja von ihm besonders das Erfassen und Bewerten jeder besonderen Einzelheit des menschlichen Mienenspiels verlangte, fehlte in dem ganzen Auftreten des jungen Mädchens gerade das eine, was auch die Kunst einer hervorragenden Tragödin erst zu einer in sich abgerundeten, wahrhaft vollkommenen Leistung stempelt: der mit dem Inhalt des Vortrags und den Gesten völlig harmonierende Ausdruck des Auges.

In Hedwig Möwis Blicken lag noch immer, trotz aller äußerlich so wahrheitsgetreu durch Wort und Haltung zur Schau getragenen gewissensruhigen Sicherheit eine heimlich prüfende Ängstlichkeit, die Fritz Helmer nicht übersehen und nicht anders als zu ihren Ungunsten deuten konnte. Daher drängte sich ihm mit einem Male die unangenehme Empfindung auf, daß ihm hier nichts als eine schlau überlegte Unschuldskomödie vorgeführt wurde, worauf ja auch besonders die letzte Äußerung, dieses gerade ihm als gutem wohlmeinenden Freunde gegenüber ganz unangebrachte Drohen mit einer Beschwerde, hindeutete. Aus demselben Grunde verlor sein Gesicht auch schnell das herzlich Entgegenkommende, und eine düstere Wolke ernster Besorgnis lagerte bereits darauf, als das junge Mädchen nach kurzer Pause hinzufügte:

„Nicht wahr, Herr Helmer, nun kann ich doch endlich nach Hau-se? – Mama und Egon werden sich meines langen Ausbleibens wegen sicher schon sehr beunruhigen.“

„Ich bedauere wirklich, aber ich muß meine dienstlichen Vorschriften bei Ihnen genau in derselben Weise erfüllen wie bei jeder mir fremden Person, doch hoffe ich, Sie sofort, nachdem ich den Bericht des Schutzmanns gehört, und verschiedene, mir nicht recht verständliche Momente des Vorfalls durch eine Gegenüberstellung aufgeklärt habe, entlassen zu können. Wollen Sie also bitte noch einen Augenblick Platz nehmen. – Bevor ich den Beamten hereinrufe nur noch eine Frage: Glauben Sie, daß jener Mensch, der Sie auf der Speicherinsel belästigte, nach Ihnen einen Stein geschleudert und durch den Fehlwurf die Schaufensterscheibe zertrümmert hat, als Sie ermattet an der Hauswand des Zigarettengeschäfts lehnten?“

„Ja, das glaube ich, obwohl ich den Mann erst erblickte, nachdem die Scheibe schon zersplittert war.“

Die nun folgende Vernehmung des Schutzmanns Ullstein, die in Gegenwart von Hedwig Möwis stattfand, sollte Helmer nicht so bald vergessen. Noch nach Jahren lebten alle Einzelheiten dieser an dramatischen Steigerungen so reichen Szene mit ungeschwächter Deutlichkeit in seiner Erinnerung fort.

„Herr Kriminalkommissar,“ begann der Beamte, nachdem er seinen Helm neben sich auf den Fußboden gestellt und sein Notizbuch hervorgeholt hatte, das er des öfteren zur Auffrischung seines Gedächtnisses zu Rate ziehen mußte, „was das Fräulein über die Schaufensterscheibe schon vorhin dem Herrn Kommissar Irmstädt gegenüber angegeben hat, stimmt in den meisten Punkten nicht. Ich will ganz eingehend erzählen, was ich davon mit meinen Augen gesehen habe. Und auf diese kann ich mich verlassen. Ich bin nicht umsonst noch vor drei Jahren Unteroffizier bei den 3. Jägern und bester Schütze im Bataillon gewesen! Außerdem – welches Interesse hätte ich auch wohl daran, die junge Dame, die ich gar nicht kenne, irgendwie grundlos zu verdächtigen!

Nun, jedenfalls habe ich heute Abend Punkt acht Uhr den Dienst in meinem Revier angetreten. Etwa um neun zog von Westen her ein von heftigen Regengüssen begleitetes Gewitter auf, wonach die stille Gegend an der Speicherinsel noch einsamer wurde. Um dieselbe Zeit hatte ich meinen ersten Rundgang beendet und mich dann zum Schutze gegen den von Sturm gepeitschten Regen hinter die Anschlagsäule gestellt, die genau gegenüber dem Kloßschen Zigarrenladen auf der anderen Straßenseite steht. Das genannte Geschäft, das trotz seiner einfachen Einrichtung eine weitausgedehnte Kundschaft hat, gehört einem alten Original, einem früheren Schauspieler, der es regelmäßig aus Bequemlichkeit unterläßt, nach Feierabend die Rolljalousie des Schaufensters zu schließen. Wahrscheinlich rechnet er darauf, daß wir Polizisten, die wir sämtlich gut bekannt mit ihm sind, besonders wachsam seine rauchbaren Schätze hüten werden. Bisher hat ihm diese Bequemlichkeit nichts geschadet – bis heute, wo die Schaufensterscheibe … Doch ich will nicht vorgreifen.

Nachdem ich einige Minuten hinter der Anschlagsäule gestanden hatte, bemerkte ich ganz deutlich – die Gaskandelaber auf der Mitte der Brücke verbreiteten trotz des Unwetters ein für meine Augen vollkommen genügendes Licht – eine weibliche Gestalt, die vorsichtig umherspähend langsam von der Speicherinsel aus über die Brücke kam. –

Ich betone – langsam! Denn das stieß mir deswegen so sehr auf, weil es gerade wie mit Eimern vom Himmel herunterschüttete, und die betreffende Person keinen Schirm trug. Für gewöhnlich sucht man dann doch einem derartigen Guß möglichst schnell zu entrinnen und irgendwo Unterschlupf zu finden! –

Also, wie gesagt, die junge Dame ging langsam, sogar sehr langsam, und schaute sich nach allen Seiten um, scheinbar um sich zu vergewissern, daß sie von niemandem beobachtet wurde.“

„Nein, nicht deshalb, sondern um nach meinem Verfolger auszuspähen,“ berichtigte Hedwig Möwis ihn sehr von oben herab.

Der Beamte ließ sich jedoch auf einen Meinungsaustausch mit ihr nicht weiter ein.

„Bei diesem auffälligen Benehmen dachte ich mir gleich: Na – die führt doch sicher irgend etwas im Schilde – gib nur gut acht auf sie, Ullstein! – Tat ich auch und betrachtete sie mir genau, recht genau. Wie ich schon erwähnte, einen Schirm hatte sie nicht, dafür aber ein ziemlich großes Paket im rechten Arm.“

„Dieses Paket existiert nur in Ihrer Phantasie,“ unterbrach sie ihn abermals. „Was Sie für ein Paket gehalten haben, ist wahrscheinlich meine rechte Hand gewesen, in der ich mein Taschentuch hielt und die ich gegen meine Brust preßte, weil ich von der schnellen Flucht Schmerzen in der Herzgegend verspüre.“

„Herr Kriminalkommissar,“ fuhr Ullstein erregt auf, „ich bin jederzeit bereit, das, was ich hier aussage, vor Gericht zu beschwören. Ich habe mich nicht geirrt, kann mich nicht geirrt haben, die Dame hatte ein Paket im rechten Arm, ein graues Paket, das sich von ihrem dunklen Kostüm scharf abhob.“

„Kommt es denn auf dieses Paket wirklich so sehr an?“ fragte Helmer etwas ungeduldig.

„Allerdings! Denn ich behaupte, daß Fräulein Möwis in dieser Umhüllung den flachen, gut zwanzig Pfund schweren Stein bei sich trug, mit dem sie nachher das Schaufenster zertrümmerte.“

Die also Verdächtigte lachte kurz auf.

„Und nur, um ganz zwecklos – vielleicht rein aus Übermut – eine Scheibe einzuwerfen, werde ich mich mit einem Steine von fast einem viertel Zentner Gewicht in der Welt herumtragen! Lächerlich!“

„Weshalb Sie den Stein mitgenommen haben, kann ich Ihnen ganz genau sagen,“ erwiderte der Schutzmann streng. „Weil Sie fürchteten, am Tatort selbst keinen passenden zu finden! Das ist der Witz!“

Hedwig Möwis Entgegnung auf diese wirklich scharfsinnige Begründung bestand nur in einem ironischen, stolzen Lächeln. Aber Helmer hatte den Eindruck, als ob ihre Kaltblütigkeit durch diesen letzten unvorbereiteten Angriff Ullsteins doch auf eine harte Probe gestellt worden war. Denn dieses ironisch sein sollende Lächeln sah merkwürdig verzerrt aus, und auch in ihren unstäten Blicken flimmerte es jetzt wie von vermehrter Angst. –

Es folgte eine Pause drückenden Schweigens. Das große Verhörzimmer schien jetzt geradezu von einer gewitterschwülen, mit einer Katastrophe drohenden Atmosphäre angefüllt zu sein. Doch vergebens wartete der Schutzmann darauf, daß das junge Mädchen ihm irgendwie widersprechen würde.

„Also die Dame mit dem grauen Paket im rechten Arm kam langsam über die Speicherbrücke und schwenkte schnell links nach dem Kloßschen Laden ab, wo sie dicht neben dem Schaufenster stehen blieb. Dort in dem finsteren, von dem Laternenlicht nicht mehr beschienenen Winkel konnte ich sie allerdings nur noch verschwommen als dunklen Schatten erkennen. –

Inzwischen hatte es neun geschlagen und das Gewitter war immer näher gezogen. Nach einer besonders heftigen Entladung hörte ich dann aus der Richtung des Zigarrengeschäfts einen Knall, als ob man eine große Glasscheibe eingeschlagen hatte. Da verließ ich natürlich sofort meinen Beobachtungsposten hinter der Anschlagsäule und überschritt die Straße, um festzustellen, was dort passiert war.

Ich möchte an dieser Stelle noch besonders hervorheben, Herr Kriminalkommissar, daß weit und breit kein Mensch zu erblicken war, auch nicht auf der Speicherbrücke – außer Fräulein Möwis, die jetzt aber nicht mehr wie vorher an der Hauswand, sondern in gebückter Haltung vor dem Schaufenster des Ladens stand, und zwar mit dem Rücken nach mir hin. Ich sah sie ganz deutlich, und ebenso deutlich bemerkte ich auch, daß sie die Arme bewegte. Was sie dort jedoch eigentlich vorhatte, konnte ich nicht unterscheiden.

Möglichst leise schlich ich näher, war aber noch gut acht Schritte entfernt, als die junge Dame sich wieder aufrichtete und zur Seite vor den dort an der Wand angebrachten Briefkasten trat. Nach wenigen Sekunden drehte sie sich wieder um und wollte in der Richtung nach der Gitschiner Straße davongehen. Als ich ihr nun ganz unerwartet den Weg verlegte, fuhr sie mit lautem Aufschrei entsetzt zusammen und stand eine ganze Weile zitternd da, bevor sie nur einen einzigen Laut herausbekam.

Inzwischen hatte ich auch das große, in der unteren Hälfte der Scheibe befindliche Loch sowie den unter dem Fenster auf dem Bürgersteig liegenden Stein wahrgenommen und fragte sie unter diesen Umständen wohl mit vollem Recht sehr nachdrücklich, ob sie die Scheibe eingeworfen hätte und zu welchem Zweck. Eine zusammenhängende Antwort hat sie jedoch erst auf der Wache dem Herrn Kommissar Irmstädt gegeben, leider eine Antwort, die keineswegs genügte, um jeden Verdacht zu zerstreuen. Denn die Geschichte von dem großen Unbekannten, der von der Brücke aus mit dem Stein nach ihr geschleudert haben soll, ist ein erfundenes Märchen! Ich habe keine Seele zu jener Zeit auf der hell erleuchteten Speicherbrücke bemerkt, keine Seele! Außerdem – auf dem Wege hierher im Taxameter ist mir etwas eingefallen, was auch Sie, Herr Kriminalkommissar, als ein für die junge Dame recht bedenkliches Moment werden anerkennen müssen.“

Der Schutzmann machte eine kurze Pause und fuhr dann, mehr zu Hedwig Möwis gewendet, mit erhobener Stimme fort:

„Vielleicht kann das Fräulein mir eine Erklärung dafür geben, wieso der schwere Stein, der aus gut zehn Meter Entfernung – also mit großer Kraft! – von dem Unbekannten gegen die Schaufensterscheibe geworfen sein soll, zwar diese Scheibe zertrümmern konnte, nachher aber nicht etwa innerhalb des Schaufensters, sondern vielmehr vor demselben auf dem Pflaster liegend gefunden wurde! Dieses letztere wäre doch nur möglich, wenn der Stein nicht etwa als Wurfgeschoß, sondern eben – was ich für meine Person bestimmt annehme – sozusagen als Hammer zum Einschlagen des dicken Glasfensters benutzt worden ist!“

Hedwig Möwis hatte mit ängstlicher Spannung, die sich deutlich in ihren Mienen und sogar in ihrer ganzen Körperhaltung ausdrückte, den letzten Sätzen des Beamten gelauscht. Jetzt, gegenüber diesem auffälligen, schwerbelastenden Umstande, den sie so schnell nicht zu entkräften wußte, verlor sie zum erstenmal ihre bisher so mühsam gewahrte Fassung. Der Kopf sank ihr langsam auf die Brust herab, und dann schlug sie unter wildem Schluchzen die Hände verzweifelt vor das tränenüberströmte Gesicht, weinte so herzzerreißend, daß Helmer, der in Gegenwart des Schutzmanns sein Verhalten sehr vorsichtig abwägen mußte, um jeden Verdacht einer allzu großen Anteilnahme für die Schwester des Freundes zu vermeiden, alle Mühe hatte, sie wieder zu beruhigen. Dann aber suchte er diesem peinvollen Verhör ein Ende zu machen.

„Sie sehen, Ullstein,“ wandte er sich an den Schutzmann, in dessen nichtssagendem, von Gesundheit strotzendem Gesicht nun doch so etwas wie eine mitleidige Regung zu erkennen war, „die Nerven der jungen Dame sind solchen spitzfindigen Angriffen nach all diesen Gemütserschütterungen nicht mehr gewachsen. Und da ich vollkommen davon überzeugt bin, daß sie an dieser ganzen, sich nur scheinbar als Einbruchsversuch darstellenden Schaufenstergeschichte gänzlich unschuldig ist – meine Gründe für diese meine Auffassung sollen Sie nachher noch in Kürze erfahren – will ich diesen verworrenen Knoten von Mißverständnissen kurzerhand durchhauen, damit Fräulein Möwis nicht noch länger hier unnötig gequält wird. –

Also – haben Sie noch irgend etwas anzuführen, Ullstein? – Nicht – nun dann möchte ich wissen, ob Sie bei der jungen Dame nach ihrer Verhaftung irgendwelche Sachen fanden oder sahen, die sie aus dem Zigarrengeschäft gestohlen hatte.“

„Nein, ich habe nichts bei ihr bemerkt. – Es müßte denn gerade sein, daß sie etwas in ihren Kleidern verborgen hat. Eine Leibesvisitation ist bei ihr bisher nicht vorgenommen worden.“

„Glauben Sie, daß Fräulein Möwis seit ihrer Verhaftung vielleicht Gelegenheit hatte, irgend etwas heimlich fortzuwerfen?“

„Das ist ganz ausgeschlossen. Ich habe sie keine Sekunde aus den Augen gelassen.“

„Fräulein Möwis,“ sagte Helmer jetzt zu der noch immer ganz gebrochen Dasitzenden. „Es gibt nur eine einzige Möglichkeit, mit einem Schlage jeden Verdacht von Ihnen zu nehmen: Sie müssen sich einer Visitation Ihrer Garderobe durch die hiermit betraute Portierfrau unseres Polizeipräsidiums unterwerfen! – Wird bei Ihnen nichts entdeckt, was Sie aus dem Fenster des Kloßschen Geschäfts entwendet haben könnten, so sind Sie frei, und ich stehe Ihnen auch dafür ein, daß Sie für die Zukunft durch nichts an dieses traurige Erlebnis weiter erinnert werden sollen. –

In ihrem eigensten Interesse bitte ich Sie also: Lassen Sie diese Durchsuchung, die mit aller Zartheit vorgenommen werden wird, über sich ergehen.“ –

Hedwig Möwis erhob sich langsam mit matten Bewegungen.

„Ich habe schon so viel Demütigungen ertragen, daß es auf eine mehr oder weniger nicht ankommt,“ entgegnete sie mit halberstickter Stimme. Und doch standen ihre Worte auch jetzt wieder durchaus nicht mit dem Ausdruck ihrer Augen in Einklang. Denn in diesen Augen schimmerte nichts als triumphierende Hoffnungsfreudigkeit und neuerwachte Energie …

Helmer drückte auf den in den Tisch eingelassenen Knopf der elektrischen Leitung. Nach wenigen Minuten erschien ein Kriminalbeamter in Zivil, der nach Empfang der nötigen Befehle mit dem jungen Mädchen das Zimmer verließ. Und keine zehn Minuten später war Hedwig Möwis von dem peinlichen Gange bereits wieder zurück. Man hatte auch nicht das geringste Belastende bei ihr gefunden.

 

4. Kapitel.

„Nach diesem Ergebnis,“ wandte Helmer sich jetzt an den Schutzmann in einem stark mit Ironie gewürzten Tone, „werden Sie wohl selbst einsehen, daß Sie sich bei der Bewertung Ihrer scheinbar gegen diese junge Dame sprechenden Beobachtungen geirrt haben müssen. Denn Sie erklärten hier vorhin ausdrücklich, Sie hätten Fräulein Möwis erst verhaftet, als sie sich bereits einige Schritte vom Tatort entfernt hatte – und zwar entfernt hatte, ohne durch Ihr Näherkommen bei ihrem Vorhaben gestört oder verscheucht worden zu sein. Demnach müßte die junge Dame ohne jede weitere Absicht – denn sie hat ja später auch nicht eine einzige Kleinigkeit entwendet – rein zu ihrem Privatvergnügen einen schweren Stein bis zum Kloßschen Geschäft geschleppt, dann mit diesem Stein die Scheibe eingeschlagen, den Stein hingeworfen und hierauf hochbefriedigt den Schauplatz ihrer Taten wieder verlassen haben! –

Und eine solche Handlungsweise, wie ich sie Ihnen eben nochmals kurz skizziert habe – dieses Zerstören einer Schaufensterscheibe, dem jedes Motiv fehlt – könnte nur ein Irrsinniger begehen, aber niemals eine Dame, an deren völliger Zurechnungsfähigkeit bisher noch niemand gezweifelt hat.

Wenn Sie sich das alles klar machen, Ullstein, so dürften Sie wohl schnell zu der Überzeugung gelangen, daß die Erklärung, die wir von der jungen Dame über die Ereignisse an der Speicherbrücke gehört haben, tatsächlich die einzig mögliche ist, wobei Sie eben bedenken müssen, daß Sie die Vorgänge nur auf größere Entfernung beobachteten, und zwar bei strömendem, alles verschleierndem Regen und mit Augen, deren gewöhnliche Sehschärfe fraglos von dem kurzaufflammenden, grellen Lichte der Blitze ganz bedeutend herabgesetzt war, d. h. unter Bedingungen, die eine Täuschung nur zu leicht machen – ja die einzig mögliche Erklärung, auch trotz der wenig glücklichen Art und Weise, wie Fräulein Möwis selbst sich hier zu verteidigen suchte, was darauf zurückzuführen sein dürfte, daß eine derartige Verhaftung mit all ihren Aufregungen bei einem den besseren Ständen angehörigen jungen Mädchen nicht nur das ganze Nervensystem, sondern mit diesem auch die Auffassungs- und Erinnerungsfähigkeit sehr nachteilig beeinflussen muß.

Ich selbst halte folgenden Tatbestand für vorliegend: Jener Mensch, der Fräulein Möwis auf der Speicherinsel seine Begleitung aufdrängen wollte – vielleicht befand er sich infolge überreichlichen Alkoholgenusses in besonders unternehmungslustiger Stimmung – war über die scharfe Abweisung, die seine Annäherungsversuche erfuhren, in Wut geraten und schlich der Dame dann in der dunklen Hoffnung, sich an ihr rächen zu können, nach, bis sich ihm eben an dem Kloßschen Laden Gelegenheit bot, mit dem Stein, den er auf dem Wege irgendwo aufgehoben haben muß, nach ihr zu werfen. Daß dieser Stein nachher unter dem Fenster auf dem Bürgersteig gefunden wurde, kann eine ganz zufällige Ursache haben, die weiter zu untersuchen keine Veranlassung vorliegt, weil eben nach der Körpervisitation jeder weitere Verdacht gegen Fräulein Möwis völlig unhaltbar geworden ist. Wahrscheinlich ist der Stein von irgendeinem elastischen Hindernis im Innern des Schaufensters abgeprallt und so wieder herausgeschleudert worden.

Und auf diese Weise ließen sich wohl auch all die anderen Widersprüche aufklären, die zwischen Ihrer Aussage und der der jungen Dame bestehen. Damit ist die Sache, soweit sie Fräulein Möwis angeht, für mich erledigt. Unsere einzige Aufgabe wäre nur noch die, Recherchen nach jenem rohen Burschen anzustellen, der dieses Attentat so frivol unternahm. –

Während Sie, Ullstein, für das Fräulein einen Wagen besorgen, werde ich mir den Menschen genau beschreiben lassen.“ –

Als der Schutzmann jetzt durch die unter dem Tritt seiner schweren Stiefel hallenden Korridore ging, dachte er kopfschüttelnd: ‚Dieser Helmer hat mich wirklich an mir selbst ganz irre gemacht! Denn das ist mir ja auch klar: So ohne jeden Grund wird doch ein Mensch, der seine fünf Sinne beisammen hat, nicht eine Fensterscheibe einschlagen, und besonders nicht eine feine junge Dame … Vielleicht haben mir meine Augen heute doch einen Streich gespielt.‘

Kaum hatte sich die Tür hinter Ullstein geschlossen, als der Krimi-nalkommissar schnell aufstand und dicht an Hedwig Möwis herantrat.

„Fräulein Hedi,“ bat er jetzt beschwörend, und nahm ihre Rechte wie in herzlicher Fürsorge zwischen seine beiden Hände – „Fräulein Hedi, wollen Sie nicht mir als Ihrem alten Freunde, der noch immer hofft, Ihnen einmal mehr als nur Freund sein zu dürfen, die Wahrheit geben – die volle Wahrheit ohne jede Beschönigung?“

In ihr Gesicht trat plötzlich ein ganz neuer Ausdruck – der furcht-barsten Seelenqual. Ein Kampf widerstreitendster Empfindungen schien sich in ihrem Herzen abzuspielen – ein Kampf, der ihre Lippen zucken und beben machte und ihren ganzen Körper wie im Krampf schüttelte.

Aber ihr Mund blieb stumm, Minuten verstrichen so. Und Fritz Helmer schaute immer noch hoffend zu ihr herab, forschte in ihrem bleichen Antlitz, das die kleine weiße Tellermütze ihm nicht verdeckte.

Dann stand sie hastig auf, entzog ihm ihre Hand mit heftiger Bewegung, wie getrieben von einem Gedanken, dessen letzte Konsequenzen sie nicht lange überlegen wollte. Und ebenso eilig überstürzten sich auch ihre Worte …

„Also auch Sie zweifeln an mir, auch Sie? Volle Wahrheit verlangen Sie von mir, volle Wahrheit ohne jede Beschönigung! – Was drückt denn eine solche Bitte wohl anderes aus als Ihre Überzeugung, ich hätte bisher gelogen, ich wäre eine Komödiantin, die hier die Unschuldige spielt! So antworten Sie mir doch, so sagen Sie mir doch, was Sie von mir halten – reden Sie, reden Sie …“

Da gab Fritz Helmer das Spiel verloren. Nein, in dem Labyrinth dieser Frauenseele fand er sich nicht mehr zurecht. – Langsam, mutlos kehrte er auf seinen Platz zurück, nahm mechanisch die Feder zur Hand, und indem er gedankenlos schnell verschwimmende Arabesken auf die Löschblattunterlage zeichnete, fragte er ganz geschäftsmäßig:

„Fräulein Möwis, können Sie mir den Menschen näher schildern, der den Stein nach Ihnen schleuderte?“

Er blickte sie auch jetzt, wo er auf eine Antwort wartete, nicht an. Und sie selbst stand mit entsetzten, von Tränen wieder halbverschleierten Augen da, mit gerungenen Händen, weit vornübergebeugt, als ob sie jeden Moment zu ihm hineilen und ihm irgend etwas offenbaren wollte …

Aber Fritz Helmer malte weiter verschlungene Linien auf das rote Löschblatt wie einer, für den Hedwig Möwis nichts mehr war als jedes andere weibliche Wesen, mit dem ihm sein Beruf in Berührung brachte.

Und dann erklang ihre Erwiderung so matt, so leise, so tonlos.

„Nein. Ich habe das Gesicht des Mannes nur einmal flüchtig mit meinen Blicken gestreift, so daß ich mich auf einzelne Züge nicht zu besinnen vermag.“

„Wollen Sie das Protokoll unterzeichnen. – Hier, bitte, mit Vor- und Zunamen,“ sagte er jetzt ebenso kühl sachlich, nachdem er ihre Aussage im ganzen nochmals vorgelesen hatte.

Sie streifte den rechten Handschuh ab und setzte dann mit ihrer steilen, ungewöhnlich großen und für ihre ganze Persönlichkeit so überaus charakteristisch Schrift, ohne irgendwie zu zögern, ihren Namen unter die Aussage.

Fritz Helmers Blicke aber hingen, während sie nur durch den Tisch getrennt vor ihm stand und schrieb, wie gebannt auf den zwei feinen, roten Kratzlinien, die als parallele Striche über ihren rechten Handrücken hinliefen, zwei offenbar ganz frische, ungefährliche und unscheinbare Verletzungen, von deren Vorhandensein sie vielleicht gar nichts wußte oder die sie längst vergessen hatte, und die für den scharfsinnigen Kriminalisten doch von größter Bedeutung waren, da er sich bei ihrem Anblick sofort sagte, daß sie sich dieselben nur an der zertrümmerten Scheibe beim hastigen Hineinlangen in das Schaufenster zugezogen haben konnte.

Für Fritz Helmer redeten diese blutverkrusteten Striche eine nur zu deutliche Sprache von ihrer Schuld, nahmen ihm die letzten Zweifel und zeigten ihm, daß er nicht fehlgegangen war, als er ihr ganzes Auftreten hier vor ihm als schlau berechnete Komödie und ihre Erzählung von dem gegen sie unternommenen Attentat als eine ebenso klug ersonnene Lüge eingeschätzt hatte. –

Trotzdem schwieg er, schwieg und verstieß so zum erstenmal während seiner Laufbahn als Beamter gegen seine Dienstpflicht, die von ihm verlangte, rücksichtslos ohne Ansehen der Person jeder, auch der geringsten Spur zur Aufdeckung einer verbrecherischen Handlung nachzugehen, gegen seine Dienstpflicht, die er auch schon vorhin verletzt hatte, indem er wider seine bessere Überzeugung dem Schutzmann Ullstein den Beweis für die Unhaltbarkeit des Verdachtes gegen Hedwig Möwis durch die scheinbar auf das beste ineinanderpassenden Gründe zu erbringen suchte. –

Der Abschied zwischen diesen beiden Menschen, die noch vor wenigen Stunden zum mindesten eine herzliche Freundschaft verbunden hatte, konnte gar nicht kälter und förmlicher sein. Dann brachte ein Taxameter das junge Mädchen in sicherer Begleitung eines Kriminalbeamten nach dem Hause mit der kleinen Mansardenwohnung in der Gitschiner Straße zurück.

 

5. Kapitel.

Um sechs Uhr morgens wurde Helmer von einem Kollegen abgelöst. Absichtlich machte er auf dem Gange nach seiner Privatwohnung einen Umweg über die Speicherinsel, um jene einspringenden Straßenwinkel an der Speicherbrücke, wo sich die rätselhaften Vorgänge abgespielt hatten, in Augenschein zu nehmen. Die Schaufensterjalousie des Kloßschen Geschäftes war jetzt herabgelassen, der Laden selbst aber noch geschlossen. So gab es für ihn an Ort und Stelle nicht viel zu beobachten. Daher schritt er langsam ein Stück auf die Brücke hinaus, blieb am Geländer stehen und überlegte, von welchem Punkte aus der Unbekannte wohl den Stein geworfen haben könnte, falls dieser Unbekannte eben überhaupt existiert hatte!

Das Haus, in dessen Erdgeschoß sich der Kloßsche Zigarrenladen befand, lag ganz dicht an der Ufermauer des Speicherinselkanals. Und dort auf dem Wasser, genau unterhalb der Seitenwand des zweistöckigen Gebäudes, war ein großes, offenes Leichterfahrzeug befestigt, das im Morgenwinde träge vor seinen dicken Tauen schaukelte. Fritz Helmers Augen waren daran gewöhnt, daß ihnen auch nicht die kleinste Kleinigkeit entging. Da, auf dem Boden des viereckigen plumpen Bootes bemerkten diese scharfen Augen jetzt ein graues, vom Regen aufgeweichtes, zusammengeknülltes Papierstück. Und all die Leute, die in dieser frühen Morgenstunde scharenweise über die Brücke zu ihrer Arbeitsstätte eilten, wunderten sich nicht wenig, daß der elegant gekleidete Herr plötzlich in das schmutzige Leichterfahrzeug hinabkletterte, vorsichtig jenes Papierstück aufhob, auseinanderfaltete und lange, lange daraufhinstarrte …

In der Mitte dieses grauen, regenfeuchten Papierbogens hing, von der Nässe bereits halb losgelöst, das weiße Adressenschild eines billigen Damenkonfektionshauses, auf dem trotz der verwaschenen Buchstaben noch deutlich die Worte zu entziffern waren: Fräulein Hedwig Möwis, Gitschiner Straße 11.

Den Kriminalkommissar kostete es keine große Mühe, sich zusammenzureimen, wie dieser Bogen Packpapier, in den vielleicht einst eine duftige Bluse eingeschlagen gewesen war, hier in das Leichterfahrzeug hineingeraten sein konnte. Keine Frage, der Schutzmann Ullstein hatte mit seiner Vermutung, Hedwig Möwis habe den eingewickelten Stein – eben jenes vielumstrittene graue Paket – mit zum Tatort gebracht, nur zu sehr recht gehabt. Und ebenso sicher war es, daß sie die Umhüllung des Steines nachher in den Kanal hinabgeworfen hatte, in der Hoffnung, den verräterischen Bogen so für alle Zeit zu beseitigen, ohne jedoch zu ahnen, daß unten auf dem dunklen Wasser das breite Boot lag, welches ihre Absicht so vollständig vereiteln sollte.

Fritz Helmer starrte noch immer gedankenverloren auf dieses geradezu vernichtende Beweisstück hin … Dann raffte er sich auf. Für ihn gab es hier, nachdem er sich schon so weit auf den Weg der Pflichtvergessenheit verirrt hatte, nur eines zu tun. Und kurz entschlossen schleuderte er das graue Papier mitten in den Kanal, das dabei in mehrere Fetzen zerflatterte, die gierig das Wasser aufsogen und dann ganz schnell versanken. – – –

Am Nachmittag suchte Helmer, dessen bedrückte Stimmung sich auch durch die inzwischen nachgeholte Nachtruhe nicht aufgebessert hatte, Hedwig Möwis’ Bruder im Polizeipräsidium in der Absicht auf, mit ihm über die Ereignisse des vorigen Abends Rücksprache zu nehmen, ohne daß er ihm jedoch seine wahre Meinung über das angebliche Attentat zu offenbaren gedachte. Egon Möwis faßte die unglückselige Verhaftung gar nicht so sehr tragisch auf, obwohl es sich dabei um seine eigene Schwester handelte, an deren Schuldlosigkeit er natürlich nicht im geringsten zweifelte. Nur eins schien ihm sehr nahe zu gehen, daß nämlich das bisherige gute Einvernehmen zwischen seinem Freunde und seinen Angehörigen durch diese ‚pechöse Affäre‘, wie er den peinlichen Vorfall etwas burschikos bezeichnete, gestört worden war.

„Hedi muß Sie fraglos vollständig mißverstanden haben, Helmer,“ meinte er ganz traurig „denn sie behauptet steif und fest, Sie hätten während ihrer Vernehmung zu ihr eine Äußerung getan, als ob Sie an ihre Harmlosigkeit doch nicht so ganz fest glaubten, was natürlich barer Unsinn ist! Hedi wird eben in ihrer Aufregung aus Ihren Worten ganz etwas anderes herausgehört haben, als Sie zu sagen beabsichtigten! Selbstverständlich habe ich ihr diese lächerliche Voreingenommenheit schon gestern abend und auch heute wieder gründlich auszureden gesucht! Aber – Sie wissen ja, wie die Weiber so sind! Setzen die sich erst einmal etwas in den Kopf, dann können sogar zehn prämierte Weise ihre ganze Beredsamkeit aufbieten – alles umsonst!“

Egon Möwis machte hier eine kleine Verlegenheitspause und fuhr dann etwas unsicher fort:

„Daher würde ich Ihnen auch raten, lieber Helmer: Kommen Sie fürs erste nicht zu uns! Lassen Sie zunächst so ein bißchen Gras über die Geschichte wachsen … Hedi wird ja mit der Zeit wieder vernünftig werden. Vorläufig ist sie nämlich noch völlig aus dem Häuschen über die ihr angeblich angetane Schmach. Und nur mit Mühe habe ich sie davon abgebracht, eine Beschwerde beim Minister wegen zu Unrecht erduldeter Verhaftung einzureichen.“

Doch Egon sollte in den folgenden Tagen noch des öfteren alle Ursache haben, über seine Schwester traurig erstaunt den Kopf zu schütteln. Ihr ganzes Wesen hatte sich seit jenem Abend geradezu auffällig zu ihrem Nachteil verwandelt, was hauptsächlich darin zum Ausdruck kam, daß sie in ihren Stimmungen ständig zwischen ironischer Gleichgültigkeit bis zu den wildesten, tränenreichsten Verzweiflungsausbrüchen hin und her schwankte und seine besorgten Fragen nach der Ursache dieser Veränderung mit beinahe feindseliger Schroffheit zurückwies.

Besonders schien sie plötzlich die heftigste Abneigung gegen Helmer zu empfinden, und sobald Egon auch noch so vorsichtig diesen Namen zu erwähnen wagte – nur in der Absicht, um zu sehen, ob sie inzwischen über den früheren Freund wieder anders denken gelernt hatte, verließ sie regelmäßig das Zimmer, ohne auf ein derartiges Gespräch irgendwie einzugehen. Fast gänzlich kam es aber zwischen den Geschwistern zum Bruch, als Hedwig ihrem Bruder dann mitteilte, sie würde so bald als möglich mit ihrer Mutter, obwohl sich deren Befinden in letzter Zeit wesentlich verschlechtert hatte, von hier nach Berlin ziehen. Als Grund für diesen Entschluß gab sie an, daß ihr die alte Heimat völlig verleidet sei, und daß sie sich nach der für sie so schmachvollen Verhaftung, wie sie des öfteren wörtlich wiederholte … ‚In der Millionenstadt vor den Augen der Leute verkriechen wolle,‘ und wo sie auch ihre Sprachkenntnisse besser verwerten zu können hoffe.

Vergebens gab Egon sich alle Mühe, ihr dies Vorhaben auszureden, indem er sie wieder darauf aufmerksam machte, daß von einer öffentlichen Bloßstellung ihrer Person doch keine Rede sei, da ja infolge von Helmers Einfluß keines der Tagesblätter in den Notizen über ‚den frechen Überfall auf eine junge Dame bei der Speicherbrücke‘ ihren Namen irgendwie erwähnt hatte. Und ebenso vergebens stellte er ihr vor, mit welchen Mehrkosten dieser Fortzug und der Wohnungswechsel ihre Kasse belasten und, die Hauptsache, wie leicht die kranke Mutter durch die Aufregungen und Unannehmlichkeiten der Vorbereitungen zu der Reise und durch diese selbst schweren Schaden an ihrer Gesundheit nehmen könne.

Das letztere hauptsächlich betonte Egon stets aufs neue. Es kam dieserhalb sogar zu recht erregten Szenen zwischen den Geschwistern. Schließlich verbat sich Hedwig sehr energisch jede weitere Einmischung, konnte dies auch um so eher, als die Mutter, die seit langem dem Willen ihrer Tochter in allem blindlings zu folgen gewöhnt war, sich mit ihren Plänen völlig einverstanden erklärte. Und bereits drei Wochen nach jenem verhängnisvollen Maiabend reisten die beiden Möwisschen Damen, nachdem die Möbel der kleinen Mansardenwohnung verkauft worden waren, nach Berlin ab, und zwar Frau Möwis in einem so hinfälligen Zustande, daß man das Schlimmste befürchten mußte.

Egon konnte seine Angehörigen nicht begleiten, da seine dienstliche Stellung ihn am Ort festhielt. Kriminalkommissar Helmer aber verabschiedete sich von den beiden Damen nur schriftlich, und zwar in auffallend knapper Form. Er hatte Hedwig Möwis seit ihrer letzten Begegnung in dem Verhörzimmer des Präsidiums nicht wiedergesehen, war vielmehr so geflissentlich ausgewichen, daß er sogar die Straßen zu passieren vermied, in denen er sie möglicherweise treffen konnte.

Was hätte er ihr wohl noch zu sagen gehabt nach all diesen Rätseln, die er mit seinem geschulten Verstande vergeblich zu lösen versucht, und die das Schicksal als unüberwindliche Scheidewand nunmehr zwischen ihnen aufgebaut hatte! Tagelang war ja sein ganzes Sinnen und Trachten nur darauf gerichtet gewesen, hinter dieses Geheimnis zu kommen, das die Vorgänge an der Speicherbrücke enthielt – ein Geheimnis, dessen Aufdeckung sicherlich für Hedwig Möwis recht bedenkliche Gefahren in sich bergen mußte, da sie sonst doch niemals mit solcher Hartnäckigkeit und solch raffinierter Schlauheit die Wahrheit zu verschleiern sich bemüht haben würde.

Tagelang hatte Fritz Helmer diesem schwierigen Problem alle seine Geisteskräfte gewidmet, hatte noch mehrere Male den Schutzmann Ullstein eingehend über jene Ereignisse ausgeforscht, angeblich um dem rohen Burschen, der mit seinem Fehlwurf die Schaufensterscheibe des Kloßschen Ladens zertrümmert haben sollte, auf die Spur zu kommen, war auch bei dem Besitzer des Zigarrengeschäftes gewesen und hatte sich erkundigt, ob auch wirklich nichts aus dem Schaufenster verschwunden sei. Aber alles umsonst, alles! Nirgends fand er eine Antwort auf die Frage, die ihn wie ein Schreckgespenst ständig verfolgte: Zu welchem Zwecke konnte nur Hedwig Möwis jene Schaufensterscheibe eingeschlagen haben, woran er keinen Augenblick mehr zweifelte, wozu wohl, wozu? Eine Erklärung hierfür vermochte selbst sein Scharfsinn nicht auszuklügeln! Und doch lag es so klar auf der Hand: Ohne eine bestimmte Absicht hätte sie diese von ihr fraglos sorgsam vorbereitete Tat nie gewagt, nie!

Kein Wunder, daß Fritz Helmer jetzt mit aller Energie ihr Bild aus seinem Herzen zu reißen versuchte. Die Rückschlüsse, die er aus ihrem Verhalten an jenem so folgenschweren Gewitterabend auf ihren Charakter notwendig ziehen mußte, konnten nur die denkbar schlechtesten sein. Was er damals an ihr zu beobachten Gelegenheit gehabt hatte, war Heuchelei, schlaueste Berechnung, gepaart mit einer seltenen Erfindungsgabe, und gröbste Undankbarkeit gewesen. Dieser Hedwig Möwis, wie er sie jetzt durchschaut zu haben glaubte, wollte er nicht mehr begegnen, nur um nicht in die Versuchung zu kommen, ihr dann Auge in Auge das ins Gesicht zu schleudern, was er jetzt für sie zu empfinden wähnte – tiefste Verachtung! –

Doch Helmer sollte nur zu bald an seiner eigenen Person erfahren, welch wunderliches unzuverlässiges Gebilde so ein Menschenherz ist. Seit der Abreise der beiden Möwis, Mutter und Tochter, waren noch keine vier Wochen vergangen, als sich eine seltsame Wandlung in seinem Innern vollzog, die sich zunächst durch eine stete Unrast und nervöse Gereiztheit ankündigte. Immer häufiger ertappte er sich dann bei Erinnerungen an allerhand Geschehnisse aus den letzten Jahren, bei denen Hedwig eine Rolle gespielt hatte, immer häufiger suchte er die Gesellschaft Egons auf und dies, wie er sich ehrlich selbst eingestand, nur in der Hoffnung, von ihm etwas über das Ergehen seiner Schwester zu hören.

So sehr er auch gegen diese Schwäche ankämpfte, so sehr er sich ständig wiederholte, daß dieses rätselvolle Weib keines einzigen sehnsüchtigen Gedankens mehr wert sei – jetzt, da sie für ihn unwiederbringlich verloren war, fühlte er erst, wie nahe sie ihm eigentlich gestanden, welchen bevorzugten Platz sie in seinem Dasein eingenommen und welch furchtbare Enttäuschung sie ihm bereitet hatte – eine Enttäuschung, deren ganze folgenreiche Schwere ihm immer klarer zum Bewußtsein kam, je mehr er die traulichen Stunden in der kleinen Mansardenwohnung und die anregende Unterhaltung mit Hedwig als etwas vermißte, das früher in sein arbeitsreiches Leben eine stets freudig herbeigewünschte Abwechslung hineingebracht hatte.

Dazu kamen noch die fortwährenden Gewissensbisse wegen seiner in dem Falle Möwis gezeigten Pflichtvergessenheit, die ihm auch seine dienstliche Tätigkeit fast verleideten. Und schließlich fühlte er sich durch alle diese Seelenkämpfe derart zermürbt, daß er sich eines Tages bei dem ihm sehr wohlgesinnten Polizeipräsidenten melden ließ und um seine Versetzung auf einen gerade in einer großen westdeutschen Industriestadt freigewordenen Posten bat, angeblich, weil er sich dort in einem neuen Wirkungskreise in seinem Berufe noch weiter fortzubilden hoffte. In Wirklichkeit war’s ja aber nichts anderes als eine Flucht vor alldem, was ihn in der alten Heimat notwendigerweise fast auf Schritt und Tritt an die Geliebte gemahnen mußte. Und mit dem Gefühl einer gewissen Erleichterung reiste er dann, als seine Versetzung verfügt war, nach herzlichem Abschied von Egon seinem neuen Bestimmungsort entgegen.

Von Hedwig hatte er inzwischen nur wenig zu hören bekommen, da ihr Bruder nach seinen so völlig mißglückten Versöhnungsversuchen es in richtigem Taktgefühl offensichtlich vermied, ihrer irgendwie Erwähnung zu tun, obwohl er sehr wohl merkte, daß der Freund gar zu gern Näheres über sie erfahren hätte.

 

6. Kapitel.

Kriminalkommissar Helmer, der noch immer in der rheinischen Industriestadt lebt, ist soeben von einer mehrtägigen Dienstreise mit dem Nachtzuge zurückgekehrt nun wieder in seiner kleinen Privatwohnung eingetroffen. Nachdem er den Reisekoffer in seinem Schlafzimmer mit der etwas pedantischen Ordnungsliebe des Junggesellen an der gewohnten Stelle neben dem Kleiderschrank untergebracht und Paletot und Hut fortgehängt hat, öffnet er überall Fenster und Türen, um die erquickende Luft der Juninacht in die inzwischen etwas dumpfig gewordenen Räume einzulassen. Dann zündet er die Lampe auf seinem Schreibtisch an, holt sich das Licht aus dem Schlafzimmer und geht in den Korridor hinaus, um aus dem an der Innenseite der Flurtür angebrachten Briefkasten die inzwischen eingelaufene Post herauszunehmen. Zumeist sind’s Drucksachen – einige Fachzeitschriften und Offerten. Und nur ein einziger, ungewöhnlich schwerer Brief befindet sich darunter.

Neugierig – denn er weiß niemanden, der ihn mit einem so umfangreichen Schreiben bedenken könnte – läßt Helmer den Schein der unruhig flackernden Kerze auf die Adresse fallen. Doch schon beim ersten Blick auf diese steilen, selbstbewußt großen und deutlichen Buchstaben zuckt er ungläubig erstaunt zusammen. Diese Schrift kennt er nur zu gut, und bis an sein Lebensende hätte er sie in ihrer so charakteristischen Einfachheit nicht vergessen, obwohl er sie seit Jahren, ja, seit mehr als drei Jahren, nicht mehr zu Gesicht bekommen hat – zum letztenmal eben an jenem verhängnisvollen Maiabend, als Hedwig Möwis vor ihm das Protokoll über ihre Aussage in der noch immer nicht aufgeklärten Attentatssache an der Speicherbrücke unterzeichnete.

Noch näher hält er jetzt den Brief an das Licht, wendet ihn um. Auf der Rückseite steht wirklich als Absender: Hedwig Möwis, Berlin-Grunewald, Roonstraße 2.

Hastig schließt Helmer den Briefkasten wieder ab, geht in sein Arbeitszimmer zurück und legt die übrigen Postsachen achtlos auf einen Bücherschrank, den einen Brief aber mit fast zärtlicher Sorgfalt wie ein Wertstück mitten auf den breiten, rotbezogenen Diplomatenschreibtisch gerade unter den hellen Lichtschein der Lampe. Doch so sehr es ihn auch treibt, ihn zu öffnen und den Inhalt zu durchfliegen, noch immer zögert er.

Wie mit einem Zauberschlage ist in sein einsames Herz ein warmer Hoffnungsschimmer eingedrungen, die unbestimmte Erwartung, als müßten die von dem weißen Umschlag verhüllten Bogen ihm frohe Nachricht, irgendein großes Glück bringen, ein Glück, von dem er selbst sich nicht zu sagen vermag, worin es wohl bestehen sollte. Nur zu gern überläßt er sich diesem heißen, wallenden Gefühl freudiger Spannung, das er wie eine seltene Wohltat empfindet.

Aber in diese Stimmung drängt sich leider ebenso schnell die Angst vor einer Enttäuschung störend ein, die Angst, daß das Schreiben vielleicht nur ganz gleichgültige Dinge enthalten könnte. Und je mehr seine erste Erregung nachläßt, je kühler und kritischer er die Berechtigung solcher im Grunde durch nichts begründeten Hoffnungen prüft, desto dunkler wird’s wieder in seinem Innern, desto mehr ebbt der schnelle Schlag seines Herzens wieder ab.

Der Fritz Helmer, der sich jetzt müde in den ledergepolsterten Schreibtischsessel niederläßt, ist nicht mehr derselbe, bei dem noch vor wenigen Minuten der Anblick der einen Handschrift halb verklärte Augen und so seltsam angeregte, frische Bewegungen hervorgezaubert hat. Grübelnd schaut er vor sich hin, immer auf denselben Punkt … Seine Gedanken wandern zurück in die Vergangenheit. Und wenn er an diese Vergangenheit denkt – daran, wie Hedwig Möwis und er einst voneinander geschieden sind, und welche Ursache dieses fast feindselige Auseinandergehen hatte, dann muß er sich selbst eingestehen, daß sie ihm kaum noch etwas zu sagen haben dürfte, was über irgendeine konventionelle, durch besondere Umstände veranlaßte, Benachrichtigung hinausgehen könnte.

Fritz Helmer sinnt und sinnt … Ja, wenn sie wüßte, welche vollständige Wandlung nun doch in seinen Ansichten über sie, die er einst verachten zu müssen glaubte, eingetreten ist, eine Wandlung, die er nie für möglich gehalten hätte, nie!

Vor drei Jahren hoffte er sein schwaches Herz dadurch zur Vernunft zwingen zu können, daß er die Heimat, in der überall Hedwig Möwis wie ein Gespenst umzugehen schien, fluchtartig verließ, sich mit Feuereifer in seinen neuen Wirkungskreis einzuarbeiten suchte und absichtlich die Korrespondenz mit ihrem Bruder möglichst einschränkte, die dann allerdings sehr bald von selbst völlig einschlief, als Egon mit Ernennung zum Kriminalkommissar nach Kiel versetzt wurde, sich dort verlobte und bald darauf auch heiratete.

So kam es, daß Helmer fast zwei und ein halbes Jahr ohne jede Nachricht von ihrem Ergehen blieb, daß er durch nichts mehr an sie gemahnt wurde, durch nichts als durch seine eigenen Gedanken, die nur zu oft ihre Person in sorgender Neugier umflatterten, so sehr er sie auch mit aller Energie von diesen zwecklosen Irrwegen in die nüchterne Wirklichkeit abzulenken sich bemühte.

Und dann stieß er eines Tages zufällig in einer vielgelesenen Zeitschrift auf eine Novelle, deren Verfasserin sich Hedwig Möwis nannte. Zunächst wollte er gar nicht glauben, daß diese Schriftstellerin und die frühere Freundin ein und dieselbe Person sein könnten. Doch schon nach den ersten Sätzen, die er begierig überflog und die deutlich mit allen Einzelheiten als Ort der Handlung die kleine, ihm nur zu gut bekannte Mansardenwohnung von einst zeichnete, schwand jeder Zweifel.

Jetzt, da er erst einmal aufmerksam geworden war, durchstöberte er, wo er nur immer in Cafés, Weinlokalen und Restaurants Gelegenheit dazu hatte, eifrig die neuesten Journale und Zeitungen, um vielleicht weitere Arbeiten aus ihrer Feder zu entdecken. Und er suchte nicht vergebens. Bald in diesem, bald in jenem Blatte fand er Skizzen, Novellen und schließlich auch in einigen der angesehensten deutschen Wochenschriften groß angelegte Romane von ihr. Aus all diesen Arbeiten aber leuchtete ein selten tiefes Gemüt hervor, gepaart mit einer Menschen- und Weltkenntnis, die die handelnden Personen ihrer geistigen Schöpfung vollkommen lebenswahr zu gestalten und besonders in den Schwächen und Schattenseiten menschlicher Charaktere stets das versöhnende Moment mit feinfühligem Verstehen herauszuarbeiten wußte.

Und wieder eines Tages las er dann in einer jener Berliner Zeitungen eine Besprechung ihres allerneuesten Romans, aus der besonders die folgenden Sätze den nachhaltigsten Eindruck auf ihn machten: ‚Ein solches Buch, in dem jeder etwas für sich Wertvolles finden dürfte, kann nur ein wahrhaft guter Mensch geschrieben haben, der, soviel Niedriges er auch auf seinem Lebenswege beobachtete, lächelnde Falschheit, Feigheit und Egoismus, und mit soviel Schwerem das Dasein selbst an ihn herangetreten sein und ihm vielleicht grausam die widerstreitendsten Herzensnöte aufgezwungen haben mag, sich doch zu wahrhafter Größe, zu mildem alles Verstehen und alles Entschuldigen nach eigener unnachsichtlicher Läuterung durchgerungen hat.‘

Dieses so überaus anerkennende Urteil, das ein Berufener in voller Unparteilichkeit über den Menschen Hedwig Möwis gefällt hatte, brannte sich in seine Seele, wie ein nicht mehr abzuschüttelnder Vorwurf ein, rührte sein ganzes Innere auf, bis er sich nach vielen Stunden strenger Einkehr selbst fragte, ob denn damals, als die Geliebte sich als Angeschuldigte mit so offener Herzensangst und nur äußerlich zur Schau getragener Ruhe vor ihm verantwortete, vielleicht nicht irgendwelche Umstände vorlagen, die ihr eine ihr selbst verhaßte und ihrer wahren Natur ganz fremde Rolle aufgedrängt haben konnten.

Und je mehr er die Hedwig Möwis, die jetzt aus all ihren schriftstellerischen Werken zu ihm sprach, mit der verglich, wie er sie nach jenem unseligen Verhör eingeschätzt hatte, eben als einen minderwertigen, verlogenen und heuchlerischen Charakter, desto verurteilenswerter erschien ihm sein damaliges Verhalten, seine schnellen Zweifel und sein geringes Bemühen, sie nicht durch geduldigstes, gütigstes Zureden zu einer offenen Beichte veranlaßt zu haben, und desto mehr festigte sich in ihm die Überzeugung, sie müsse an jenem Tage das Opfer besonderer Verhältnisse geworden sein.

Seitdem er zu dieser Erkenntnis gelangt war, lebte sie in seinen sehnsüchtigen Gedanken nur noch als verklärtes Bild fort, kamen ihm die Vorgänge an dem verhängnisvollen Gewitterabend nur noch wie ein böser Traum vor.

Unten auf der Straße fährt knatternd ein Automobil vorüber. Fritz Helmer schrickt bei dem Geräusch zusammen, schaut verwirrt erst nach dem offenen Fenster hin und findet sich dann langsam in die Gegenwart zurück. Noch immer liegt der weiße Brief da vor ihm auf der Schreibtischplatte, noch immer scheut er sich, ihn zu öffnen. –

Weswegen eigentlich? Ist denn dieses Schreiben überhaupt noch imstande, ihm etwas zu nehmen, nachdem er die Hoffnung, es könnte einen beglückenden Inhalt bergen, aufgegeben hat? Kann denn die Entfremdung zwischen Hedwig Möwis und ihm noch größer werden, als sie es schon seit Jahren ist?

Und kurz entschlossen schneidet er den Umschlag auf, nimmt die engbeschriebenen Blätter heraus und beginnt zu lesen, während sein Herz nun doch so erregt hämmert und seine Hände leise zittern.

 

7. Kapitel.

Berlin-Grunewald, Roonstraße 2.

den 19. Juni 1909

Die Höflichkeit verlangt für einen Brief eine Anrede. Und doch vermeide ich sie. Ehrlich gestanden – weil ich nicht weiß, wie ich in meiner Lage, die mich bei der Wahl der Worte nur zu sehr zur Vorsicht mahnt, diese Anrede prägen soll. Diese Zurückhaltung werden Sie verstehen, wenn Sie den letzten dieser Bogen aus der Hand legen …

Es hat einst eine Zeit gegeben, da waren wir gute Freunde, da fühlten wir im Austausch unserer Gedanken manche gleiche Saite in unserem Innern erklingen und freuten uns dieses feinen Tönens, ja, wir freuten uns beide darüber, das behaupte ich, ohne zu fürchten, für eingebildet gehalten zu werden. Dann kam ein Abend, der diese Harmonie zerstörte – vollkommen. Unergründliche Rätsel türmte ich zwischen uns auf. Und Sie haben damals trotzdem meine Hand so warm in die Ihre genommen und mich gebeten, Ihnen die Wahrheit zu gestehen. Die Wahrheit aber sollte die Lösung all jener Rätsel sein. Ich schwieg. Und das war das Ende zwischen uns.

Was ich Ihnen vor nunmehr drei Jahren nicht geben konnte, sollen Sie heute freiwillig erhalten. Und freudig mache ich jetzt mein Herz frei von einer Schuld, in der Hoffnung, daß Sie dann besser über mich denken werden als bisher, wo Ihnen mein Charakter aus den seltsamsten Widersprüchen zusammengesetzt erscheinen mußte. –

In dieser meiner Beicht- und Verteidigungsschrift werde ich bis auf meine Kindheit zurückgreifen, werde Ihnen in kurzen Strichen ein Bild meiner seelischen Entwicklung und unserer traurigen Familienverhältnisse entwerfen müssen, da Sie sonst niemals übersehen würden, durch welches Zusammenwirken von Einflüssen ich zu dem herabsinken konnte, was ich nach den starren Worten jedes Strafgesetzbuches bin: eine Diebin. –

Mein Vater, ein ebenso genialer wie rücksichtsloser Geschäftsmann, hatte seinerzeit meine Mutter, die als einziges Kind ihrer Eltern überaus verwöhnt und nebenbei noch eine sehr feinfühlige, weiche Natur war, sicherlich nur ihres Geldes wegen geheiratet. Diese Ehe, in der zwei grundverschiedene Charaktere den langen, pflichtenreichen Lebensweg gemeinsam gehen wollten, sollte leider eine traurige Ausnahme von dem sogenannten Erfahrungssatz bilden, daß Kontraste sich anziehen und im engsten Verkehr sich schließlich auch ausgleichen. Schon als Kind war ich Zeugin mancher Szenen, die mein junges Herz vor Angst schneller schlagen ließen, damals allerdings nur aus einem Gefühl der Furcht vor meinem Vater, dessen harte, dröhnende Stimme ebenso wie meiner Mutter wildes Weinen bis in unser Kinderzimmer drang. Das Mitleid mit der, die mich zur Welt gebracht, sollte erst später mein Gemüt mit heißen Regungen erfüllen, erst seit dem Tage, als eine einsame, betrogene Frau, die ihr Elend bisher vor jedem fremden Auge so ängstlich verborgen hatte, mit ihrer Seelennot zu der kaum fünfzehnjährigen Tochter flüchtete und bei dieser Trost suchte. An jenem Abend, in meinem zierlichen, luxuriös eingerichteten Mädchenstübchen, öffnete meine Mutter mir über den die Augen, der sich nach außen hin als vollkommen tadelloser Ehemann und zärtlicher, fürsorglicher Familienvater aufspielte und in Wirklichkeit seine Gattin bereits im ersten Ehejahre hintergangen hatte, in leichtsinniger Gesellschaft von Spielern und Künstlerinnen dritter Sorte seine freie Zeit durchtollte, sein Weib tyrannisierte, vernachlässigte und bei den leisesten Vorwürfen, Bitten und Vorstellungen wie ein Rasender tobte, trotzdem er nur mit dem Gelde derselben Frau sich selbstständig gemacht und seine Firma zu einem Geschäft von Weltruf hatte ausgestalten können.

In jener Abendstunde, als meine arme Mutter, die bereits damals von all den durchwachten und durchweinten Nächten sich nur noch wie ein bleicher Schatten herumschleppte, in meinen Armen mir schluchzend gestand, daß sie nur aus Rücksicht auf Egon und mich, um uns das Elternhaus zu erhalten und unsere jungen Seelen vor den häßlichen Eindrücken einer Scheidung zu bewahren, weiter bei dem ausharrte, der ihr Herz in seiner wilden Genußsucht erbarmungslos zertreten hatte – in jener Stunde erstarb in mir alles, was ich für meinen Vater an scheuer Dankbarkeit für seine reichlichen Geschenke und Geldgaben, die uns ein Leben ganz nach unseren Wünschen und Neigungen gestattete, bisher empfand. An scheuer Dankbarkeit …! Denn Liebe, echte vertrauensvolle Kindesliebe, die sich anschmiegt und schmeichelt und sonniges Lächeln auf Kindergesichter zaubert, die war schon im ersten Aufkeimen erstickt worden durch jene Auftritte, bei denen sein Schreien und Wüten in fernen Zimmern mir Angst und Schrecken einflößten.

Selten wohl hat es zwischen Mutter und Tochter ein so inniges, von gegenseitigem vollstem Vertrauen getragenes Verhältnis treusorgendster Freundschaft gegeben wie das, welches sich jetzt zwischen uns beiden Frauen entwickelte, die wir uns das feste Versprechen gegeben hatten, unser Leid vor jedermann zu verbergen, auch vor Egon, der bisher von der völligen Zerrüttung der Ehe unserer Eltern nichts bemerkt zu haben schien – selten ist aber auch wohl ein noch halb im Kindesalter stehendes junges Mädchen Mitwisserin so vieler trauriger Geheimnisse und dadurch so frühreif und so mißtrauisch besonders der Männerwelt gegenüber gewesen wie ich. Ein eiskalter Hauch war auf meine junge Seele gefallen und hatte alles erstarrt und vernichtet, was an harmloser Heiterkeit, an blinder Zuversicht auf das Gute im Menschen bisher darin wohnte.

Jahre gingen hin. Aber sie besserten nichts an meiner Gemütsverfassung, da der Lebenswandel meines Vaters eher noch wüster geworden war, und er nun auch mich, seine inzwischen erwachsene Tochter, deren vorwurfsvolle, prüfende Blicke ihm immer unbequemer wurden, mit fast kalter Feindseligkeit behandelte. –

In den Kreisen der Großkaufleute, die damals unseren Verkehr bildeten, galt ich, sehr bald nachdem ich in die Gesellschaft eingeführt war, als stolz, unnahbar, kühl und blasiert. Niemand ahnte, daß meine frühzeitig geöffneten Augen all die Oberflächlichkeit, lächelnde Gleichgültigkeit und heuchlerische Liebenswürdigkeit nur zu schnell durchschauten, auf denen zum Teil unsere gesellschaftlichen Beziehungen aufgebaut sind. Nie habe ich daher die Freuden und Vergnügungen junger Mädchen begehrt und stets nur Widerwillen gegen das seichte Geschwätz empfunden, das sich um Flirt, Garderobe und Verlobungsaussichten drehte. Und wenn ich trotzdem immer wieder die üblichen Bälle, Basare, Soireen besuchte, so geschah es nur, damit die Welt sich mehr wie nötig mit mir als einem Mitgliede der im Grunde so unglücklichen Familie Möwis beschäftigte, damit niemand auch nur eine Ahnung von den trostlosen Zuständen auffing, die in meinem Elternhause herrschten.

Die Leere in meinem Innern, das stete Unbefriedigtsein suchte ich durch Lektüre auszufüllen. Ich las philosophische Schriften, trieb auch Sprachstudien. Bald beherrschte ich das Englische und Französische vollkommen. Dies sollte mir sehr bald zustattenkommen, eben nach dem Zusammenbruch unserer Firma, der ein so vollständiger war, daß wir uns plötzlich dem Nichts gegenübersahen. Mein Vater war den Unannehmlichkeiten dieses Bankerotts auf die einfachste Art ausgewichen. Er hatte sich erschossen.

Das weitere ist Ihnen wohl nicht unbekannt. Auf meinen Schultern allein lastete jetzt die Aufgabe, uns eine neue Existenzmöglichkeit zu schaffen. Und das Schwere gelang mir. Gewiß – ich will ehrlich eingestehen, ganz leicht ist es mir in der ersten Zeit nicht geworden, mir mein Brot selbst zu verdienen, besonders deswegen nicht, weil ich mit meinen ganzen Ansichten doch stärker als ich glaubte in den Gesellschaftssphären wurzelte, zu denen ich bisher gehört hatte, und die sich jetzt von mir, der bezahlten Korrespondentin, sehr bald lossagten. Aber dieses letzte Unreife in meinem Charakter überwand ich schnell. Und als Sie in mein Leben traten, hatte ich bereits die stolze Freude der Selbständigkeit als befreiendes Hochgefühl vollauf schätzen gelernt.

Über das, was Sie der Familie Möwis mit Ihrer stillen, klugen Art, mit Ihrer ratenden und helfenden Freundschaft geschenkt haben, lassen Sie mich schweigen. Sie wissen ja selbst am besten, ein wie gern gesehener Gast Sie stets bei uns gewesen sind. Jedenfalls wäre meine Zufriedenheit mit den neuen Lebensbedingungen eine vollständige gewesen, wenn nicht eben der Gesundheitszustand meiner Mutter mich ständig beunruhigt hätte.

Und jetzt komme ich zu dem Tage, in dessen später Abendstunde ein ihrer Sinne nicht mehr mächtiges Weib vor Ihnen stand, zu dem Tage, der einen völligen Umschwung in mein Dasein brachte. Am Vormittag hatte mir der Arzt, der mir endlich über den Zustand der Mutter Gewißheit geben sollte, eröffnet, daß sie nur noch durch allerbeste Pflege und einen längeren Aufenthalt in einem der für Zuckerkranke vorgeschriebenen Badeort gerettet werden konnte. Sie werden begreifen, wie mich dieser Bescheid niederschmetterte, da ich ja nicht wußte, wo ich die Geldmittel für eine derartige, kostspielige Kur hernehmen sollte. Mein armes Mütterlein, das mit wahrhaft heroischer Tapferkeit über zwanzig Jahre lang die Schmach und das Elend einer mehr als unglücklichen Ehe getragen und in ihr Gesundheit und Seelenfrieden doch nur aus Rücksicht auf ihre Kinder geopfert hatte, das dann plötzlich in die ärmlichsten Verhältnisse hineingestoßen wurde, wo es eigentlich nur Entbehren und Darben kennen lernte – diese vergrämte, bemitleidenswerte Frau sollte nun an einem tückischen Leiden langsam absterben nach einem Dasein, das zu leben sich für sie kaum gelohnt hatte, sollte nie mehr erfahren, daß die Welt ihren Kindern auch noch erquickende Freuden und stille Genüsse zu bieten hat, sollte in begreiflicher Verbitterung mit dem Gedanken die Augen für immer schließen, eine vom Schicksal Gezeichnete gewesen zu sein … Tiefstes Erbarmen preßte mir da in wildem Weh das Herz zusammen. Nein, das durfte der Ausgang ihres Lebens nicht werden, durfte nicht …! Ich mußte diese Brunnenkur möglich zu machen suchen, mußte das nötige Geld irgendwie herbei-schaffen …!

Bekannte, die es mir hätten leihen oder Verwandte, die ich mit Hintansetzung meines Stolzes hätte anbetteln können, besaß ich nicht. Trotzdem hoffte ich nach langem sorgfältigem Rechnen einen Ausweg gefunden zu haben. –

Als mein Bruder dann zum Mittagessen aus dem Bureau heimkehrte, sprach ich mit ihm alles durch, wobei meine Vorschläge, wie ich die Geldmittel für die Wiederherstellung unserer Mutter aufzubringen gedachte, seine volle Billigung fanden. Und im Verlaufe dieses Gesprächs erwähnte Egon nun mit bitterer Ironie über die Launen der Schicksalsgöttin die merkwürdige Tatsache, daß der glückliche Gewinner des großen Loses der Wohlfahrtslotterie sich noch immer nicht gemeldet hätte, obwohl bereits vier Wochen seit der Ziehung verstrichen wären – des großen Loses mit der auffallenden Nr. 131326, in der nicht weniger als vier Exemplare der als Unglückszahl verschrienen 13 enthalten waren. –

Welche Rolle die Zahl 13 dann noch in meinem Leben spielen sollte, werden Sie bald sehen. –

 

8. Kapitel.

Am Nachmittag, mein Bruder war bereits wieder zum Dienst gegangen, ließ ich unsere Patientin unter der Obhut der Portierfrau des Hauses zurück und machte mich auf, um zunächst bei dem ersten Prokuristen der Firma, bei der ich als Korrespondentin seit zwei Jahren beschäftigt war, einen vierzehntägigen Urlaub zu erbitten, da ich die Pflege meiner Mutter unbedingt persönlich übernehmen mußte. Leider traf ich den allmächtigen Herrn Millers, dessen Gunst ich mir durch meine kühle Sachlichkeit und stete Unnahbarkeit längst verscherzt hatte, weder in seiner Privatwohnung noch im Kontor an, wo man mir jedoch nahelegte, nach zwei Stunden etwa wieder zu kommen.

Die Zwischenzeit benutzte ich zur Erledigung meiner anderen Besorgungen. In den Geschäftsräumen des Neuen Verlages hatte ich noch achtzig Mark Honorar für die Übersetzung zweier englischer Novellen abzuheben. Aber hier erlebte ich sofort eine schwere Enttäuschung. Ich erhielt den Bescheid, die Novellen müßten, da zu flüchtig bearbeitet, von mir erst nochmals genau durchgesehen werden, bevor mir das Honorar angewiesen werden könnte. Außerdem teilte mir der leitende Redakteur mit, daß man vorläufig für mich keine weiteren Aufträge hätte, wobei er die Bemerkung einflocht, man fände für derartige Übersetzungen ausländischer Autoren geeignete Kräfte zu bedeutend billigeren Preisen, als ich sie zu fordern pflegte. Ganz bescheiden erwiderte ich, ich würde ja auch gern mit einem geringeren Honorar zufrieden sein. Aber der Herr Chefredakteur zuckte nur bedauernd die Achseln und brummte ungeduldig so etwas wie ‚nach zwei Monaten mal wieder nachfragen‘ … vor sich hin.

Dieser Mißerfolg, an den ich auch nicht im entferntesten gedacht, versetzte meiner hoffnungsfrohen Stimmung schon einen recht empfindlichen Stoß. Ich hatte ja diese achtzig Mark Honorar als ganz sicheren Posten in meine Kalkulation eingeplant und in meinem Optimismus sogar noch auf einen Vorschuß von weiteren hundert Mark gehofft, den ich unter diesen Umständen natürlich gar nicht zu erbitten wagte. Mutlos und den Kopf voller Gedanken, wie ich diesen Ausfall in meiner Berechnung wieder decken könnte, schlich ich von dannen.

Aber diese Enttäuschung blieb nicht die einzige. Ich hatte mit Egon verabredet, daß wir einen Teil der für die Badereise unseres Mütterleins notwendigen Summe durch den Verkauf unseres Pianinos aufbringen wollten. Daher begab ich mich nun ohne Säumen zu einem Auktionator, der das Instrument bei nächster Gelegenheit versteigern sollte. Der Mann erklärte sich sofort bereit, mich nach unserer Wohnung zu begleiten, um das Klavier erst einmal in Augenschein zu nehmen.

‚Einhundertundfünfzig bis einhundertundachtzig Mark kann’s wohl bringen,‘ meinte er nach der Besichtigung etwas geringschätzig, indem er auf einige Beschädigungen der Nußbaumpolitur zeigte.

Ich war entsetzt. Hatte ich doch das Pianino, das wir erst acht Jahre besaßen und das von einer ersten Firma stammte, auf mindestens vierhundert Mark veranschlagt, da es neu nicht weniger als eintausend Mark gekostet hatte. – Als ich mich in diesem Sinne äußerte, sagte der Mann, der nebenbei noch gerichtlich vereidigter Taxator war, achselzuckend:

‚Wer kauft heute denn noch Nußbaum, Fräulein? Und für vierhundert Mark bekommt man jetzt ja schon ein neues Instrument!‘ –

Und nach einer Pause fügte er hinzu. ‚Von dem Auktionserlös wären außerdem immer noch zwanzig Mark Kosten für den Transport nach meinem Geschäftslokal und für meine Spesen und Auslagen abzuziehen. Im günstigsten Falle also werden – na sagen wir einhundertundsiebzig Mark übrigbleiben.‘

Bei dieser meine ganze Kalkulation über den Haufen werfenden Auskunft fiel es mir wirklich schwer, meine Fassung zu bewahren. Halb verstört bedeutete ich dem Manne, ich würde mir die Sache noch einmal überlegen, da ich ihm nach Rücksprache mit meinem Bruder wahrscheinlich auch noch andere entbehrliche Einrichtungsstücke zur Versteigerung übergeben müßte.

Als ich dann in unserem kleinen Wohnzimmer wieder allein war, sank ich völlig verzweifelt in den nächsten Stuhl. Ich sah unser so enges und doch so gemütliches Heim von allen Möbeln entblößt, sah schon unseren Hauswirt vor mir, der sicher durch das Fortschaffen so vieler und gerade der wertvollsten Gegenstände argwöhnisch gemacht, für seine Miete fürchten und mich mit verletzenden Redensarten belästigen würde, fühlte auch schon die mitleidigen Blicke der übrigen Hausbewohner, denen wir, die verarmte Familie Möwis, stets so überaus interessant gewesen waren. Und in diesem Zustande tiefster seelischer Depression mußte ich dann noch die Fragen meiner Mutter, die die ihr fremde Stimme des Auktionators trotz der geschlossenen Tür gehört hatte, mit allerlei schnell erfundenen Ausflüchten beantworten, mußte die Zuversichtliche und Heitere spielen, wo sich mein Herz immer aufs neue bei den nicht abzuschüttelnden Gedanken an das, was nun werden sollte, in banger Furcht schmerzhaft zusammenzog.

Inzwischen war es Zeit geworden, den ersten Prokuristen meines Urlaubs wegen in dem Kontor, das damals die zweite Etage eines der Riesengeschäftshäuser der Speicherinsel einnahm, wieder aufzusuchen. Bei der Speicherbrücke angelangt, die ich bekanntlich auf meinem Wege passieren mußte, fand ich deren Flügel hochgezogen, um einem großen Dampfer die Durchfahrt zu ermöglichen, ein Schauspiel, das auch damals eine große Menge Neugieriger vor der Brücke versammelt hatte. Für eine einzelne Dame ist es nie ratsam, sich in einem solchen Volksauflauf, in dem arbeitsscheue, zu frechen Bemerkungen nur zu leicht geneigte Individuen zumeist am stärksten vertreten sind, hineinzuwagen. Daher hielt ich mich auch möglichst abseits und stellte mich, nur um mein trübes Denken durch irgend etwas abzulenken, vor das Schaufenster des nahen Kloßschen Zigarrenladens und besichtigte mit krampfhaftem Interesse die dort ausgelegten Waren, Zigarren- und Zigarettenkistchen, Tabakspfeifen Streichholzbehälter, Ansichtskarten und all den anderen Kleinkram, der die Kauflust der Vorübergehen reizen sollte. Auch Lotterielose hingen, mit Stecknadeln zu langen Reihen aneinandergeheftet, von den Armen der in dem Fenster befindlichen Gaslampe herab. Daneben farbenprächtige Zettel mit dem verlockenden Aufdruck: ‚Morgen Ziehung‘ – ‚Ziehung nächste Woche‘, die zeigen sollten, nach wie kurzer Zeit bereits man hier durch einen Glücksfall für wenig Geld Reichtümer erwerben könnte.

Noch ein anderes Plakat war dort zu sehen, und dieses, ein großes weißes, mit blauem Stift beschriebenes Pappstück, nahm meine Aufmerksamkeit mehr als alles andere in Anspruch. Denn darauf stand als beste Reklame für den von Fortuna danach doch offenbar begünstigten Loshandel des Geschäftsinhabers:

‚Hier wurde das große Los Nr. 131326 der Wohlfahrtslotterie von dem unbekannten glücklichen Gewinner gekauft, der leider bisher seinen Riesengewinn von 50000 Mark in bar noch nicht abgehoben hat. – Daher, wer das Glück versuchen will, der kaufe nur hier ein Los!‘

Wieder ward ich so an diesem Tage zum zweitenmal, an die in diesem Falle zu Unrecht verschmähte Zahl 13 erinnert. Und unwillkürlich – jedem in meiner Lage wäre es wohl ebenso ergangen – träumte ich jetzt weltvergessen einen wunderbaren Traum, ich wäre die Besitzerin jenes Loses 131326, hätte daher plötzlich Geld in Hülle und Fülle, könnte meinem armen Mütterlein Gesundheit und Lebensfreudigkeit wiedergeben und wäre für immer aller Sorgen ledig, die meine Seele bisher bedrückt und eingeengt hatten. Mit offenen Augen träumte ich so, blickte weltvergessen vor mich hin und überließ mich nur zu gern diesem holden Wahn, der mir für Minuten wenigstens über die jammervolle Gegenwart und die sicherlich ebenso trostlose Zukunft hinweghalf.

Und während ich so ohne Bewußtsein meiner wirklichen Umgebung auf die zu Pyramiden und effektvollen Gruppen aufgebauten Zigarrenkisten und Tabakpaketchen hinstarrte, erstand vor meinen Blicken immer klarer ein Zahlenbild – 131326 – immer klarer, bis ich mir plötzlich einbilde, diese Zahl wirklich auf einem Stückchen Papier, das von einem dritten Turme farbenprächtiger Zigarettenschachteln fast völlig verdeckt wird, in Druckschrift zu lesen. Ich schaue genauer hin, beuge mich weit vor, reibe mir die Augen, weiß jetzt, daß ich meinen Sinnen trauen kann, – und sehe doch dort durch einen schmalen, kaum zwei Finger breiten und nicht viel längeren Spalt in der Schutzwand der Zigarettenschachteln noch immer die Zahl 131326 und darunter auf demselben dunkelgrünen Papierblatt die großen Buchstaben FAHRTS-LOT. Mehr war von dem Aufdruck des bunten, bei einer flüchtigen Besichtigung der Schaufensterschätze in seinem Versteck kaum zu bemerkenden Zettels nicht zu erkennen.

Aber für mich genügte das wenige, genügten besonders die Buchstaben, die man so mühelos zu dem Wort ‚Wohlfahrtslotterie‘ zu ergänzen vermochte und die im Verein mit der darüber befindlichen Zahl nur eine Kombination zuließen, daß jenes dunkelgrüne, derart bedruckte Papierstück, welches dort verborgen, unbeachtet hinter den Zigarettenschachteln lag, nichts anderes war als das Los Nr. 131326 der Wohlfahrtslotterie, das sich sicherlich vor Monaten, eben damals, als die Wohlfahrtslose noch in allen Schaufenstern zu finden waren, durch einen Zufall von der langen, zusammengesteckten Reihe der übrigen Lose, in der es den Umständen nach nur als unterstes gehangen haben konnte, losgelöst hatte und dann in sein Versteck hinabgeflattert war, wo es zwischen den hohen Pyramiden der ausgestellten Verkaufsgegenstände vom Innern des Ladens, wie ich durch einen prüfenden Blick leicht feststellte, überhaupt nicht, und von der Straße auch nur bei genauestem Hinsehen zu entdecken war. –

Wahrscheinlich hatte der Geschäftsinhaber den Verlust dieses einen Loses erst bei der Schlußabrechnung mit dem Lotteriekollekteur, der ihm die Lose in Vertrieb gegeben, bemerkt und nach vergeblichem Suchen schließlich angenommen, es gleichfalls verkauft, den Verkauf aber nicht notiert und das Geld dafür ebenso aus Unachtsamkeit nicht in die besondere Kasse für die Lose abgeführt zu haben. Und hierfür sprach auch der Inhalt des mit Blaustift geschriebenen Plakats, das ja einen ‚unbekannten‘ Gewinner erwähnte.

Wie sich die Sache in Wirklichkeit verhielt und ob meine Vermutungen zutreffend waren, hoffte ich auf dem Rückwege von dem Ladenbesitzer, dem ich meine Entdeckung natürlich mitzuteilen gedachte, zu erfahren. Denn da der Dampfer inzwischen die Speicherbrücke passiert hatte, konnte ich jetzt beschleunigten Schrittes, um die verlorene Zeit wieder einzubringen, meinen Weg fortsetzen. Aber meine Gedanken blieben doch bei dem unscheinbaren, dunkelgrünen Zettel zurück, der ein Vermögen wert war und von dessen Vorhandensein in dem Schaufenster zweifellos nur ich allein Kenntnis hatte.

Trotzdem tauchte damals auf dem Gange nach dem Kontor meiner Firma auch nicht die leiseste Spur des verbrecherischen Wunsches, mich auf irgendeine Weise in den Besitz des vergessenen Loses zu setzen, in mir auf. Diese Idee kam mir erst später. Und daß sie überhaupt in mir wach werden und sich zu einem raffinierten Plan ausgestalten konnte, daran war das Schicksal allein schuld, das grausame Schicksal, das an diesem Tage zuviel Trübes, zuviel zerstörte Hoffnungen auf eine Frauenseele gewälzt hatte.

Bedenken Sie, wie dieser Tag schon für mich begann! Am Vormittag die Diagnose des Arztes über die Krankheit meiner Mutter, die fast einem Todesurteil glich. Dann mein Grübeln, Überlegen, Rechnen, wo ich das Geld für die Wiederherstellung unserer geliebten Patientin hernehmen sollte. Am Nachmittag brechen all meine optimistischen Kalkulationen wie ein Kartenhaus zusammen. Verzweifelt irre ich durch die Straßen. Nur ein Gedanke ist’s, den mein abgehetztes Hirn immer wieder hervorbringt: Die Mutter darf dir nicht so in Elend und Verbitterung hinsiechen, du mußt sie retten, mußt …! –

Und dieser Gedanke läßt sich durch nichts verdrängen, kehrt immer wieder, treibt mich ruhelos vorwärts, dem Verbrechen in die Arme … – Denn das Schlimmste hatte das Geschick noch für mich aufgespart.

 

9. Kapitel.

Herr Millers, der erste Prokurist, der ebensosehr als tüchtiger Kaufmann wie als gefährlicher Don Juan bekannt war, und dessen freche Blicke ich stets mit kalter Verachtung übersehen hatte, beantwortete meine Bitte um Urlaub mit einer Kündigung zum nächsten Ersten. Ich hätte zu oft gefehlt, und eine derartig unregelmäßige Arbeiterin könnte er im Interesse des Geschäfts unter dem Personal schon des schlechten Beispiels wegen nicht länger dulden.

Vergebens bat ich ihn mit Tränen in den Augen um Nachsicht, indem ich auf die schwere Erkrankung meiner Mutter hinwies, demütigte mich geradezu vor ihm – ich erreichte nichts. Er nahm die Kündigung nicht zurück, und so hatte ich denn zu allem übrigen Unheil noch meine gut bezahlte Stellung, mein sicheres Brot verloren. Und dabei wußte ich nur zu gut, wie schwer es bei der Überfüllung in allen kaufmännischen Berufszweigen sein würde, anderswo wieder als Korrespondentin unterzukommen.

So stand ich plötzlich dem Nichts gegenüber. Denn von den zweihundert Mark etwa, die meinen ganzen Geldvorrat ausmachten, mußte ich nicht nur meine Vertreterin bis zum Ersten bezahlen, sondern auch unseren Lebensunterhalt bestreiten; davon sollte ja auch noch die Kranke zunächst aufs beste gepflegt werden, damit sie schnell soweit gekräftigt würde, um ins Bad reisen zu können.

Ins Bad reisen! Ich werde damals sicherlich bitter aufgelacht, vielleicht auch laute Selbstgespräche geführt haben, obwohl ich mich auf der Straße befand. Wenigstens entsinne ich mich, daß die Blicke der Vorübergehenden mich so häufig verwundert streiften.

Oder ob ich so verstört ausgesehen haben mag! Ob die trostlose Verzweiflung so deutlich in meinen starren Zügen zu lesen war? Ich weiß es nicht. Mir war ja meine Umgebung, alles, alles so gleichgültig. Wie im Schlaf schleppte ich mich vorwärts, ohne darauf zu achten, wohin ich meine Schritte lenkte.

Plötzlich – wie ich dahin gelangt, vermag ich nicht zu sagen – befand ich mich wieder vor dem Schaufenster des Kloßschen Ladens an der Speicherbrücke. Und schaute fortwährend nur auf einen Punkt – auf jene Nr. des nur zum kleinsten Teil in seinem Versteck sichtbaren Loses, das meine Blicke geradezu mit magnetischer Gewalt anzog und gefesselt hielt. Völlig regungslos stand ich da, stierte nur immer auf jene sechs Zahlen hin.

Und da, wie unter dem Einfluß eines fremden Willens, der mir all das eingab, entrollte sich jetzt mit einem Male vor meinem geistigen Auge in einer völlig logisch ineinandergreifenden Reihe von Bildern der Plan zu einem überaus raffinierten Einbruchsdiebstahl, der mit seinen feinausgeklügelten Details jedem alten, praktisch erfahrenen und sehr gewitzten Gauner alle Ehre gemacht haben würde. Und wenn Sie erst all die Einzelheiten der Ausführung dieses Planes kennen, werden auch Sie wohl zugegen müssen, daß eine solche Idee unmöglich dem normalen Hirn einer Frau entsprungen sein kann, die auf dem Gebiete des Verbrechens gänzlich unbewandert war und die sich auch niemals durch eine besonders auffällige, ihren Geschlechtsgenossinnen so oft nachgerühmte listige Verschlagenheit ausgezeichnet hat.

Ich betone: dem normalen Hirn! Daß bestimmte Einflüsse, darunter starke Gemütsbewegungen, die Geistestätigkeit des Menschen zu oft ganz unerklärlichen Leistungen anzuregen imstande sind, zu Leistungen, die der betreffenden Person dann gewöhnlich gar nicht klar zum Bewußtsein kommen, wird gerade Ihnen bei Ihrem Berufe als Kriminalist nicht unbekannt sein.

Nur auf diese Weise – das behaupte ich aus vollster Überzeugung – läßt es sich erklären, daß ein derartiges Vorhaben in mir überhaupt ausreifen konnte.

Und weiter behaupte ich auch, daß ich mich ebenfalls für den Rest jenes Tages in einem Dämmerzustande, besser in einer Art Selbsthypnose, befunden habe, welche durch dieselben seelischen Erschütterungen und mein ständiges Grübeln über die Geldsorgen hervorgerufen war, die freie Willensbestimmung bei mir vollständig aufgehoben hatte und mich so ohne Rücksicht auf die Folgen widerstandslos allen Eingebungen nachgeben ließ.

Sie werden ja bald überschauen, welche Ungeheuerlichkeiten ich begangen, wie ich vor Ihnen gelogen, geheuchelt, geschauspielert habe – ich, die die Lüge sonst als Feigheit so sehr haßte und die ihren Weg stets so aufrechten Ganges ohne Scheu zu gehen gewohnt war, und dann werden Sie vielleicht auch selbst zu der Ansicht gelangen, Hedwig Möwis muß damals unbedingt das Opfer von Einflüssen geworden sein, die nur ein Psychologe oder ein Psychiater in ihren Wirkungen auf die Funktionen des menschlichen Organismus richtig zu würdigen vermag. – Nur von diesem Gesichtspunkte aus bitte ich Sie daher, auch mein damaliges Tun und Lassen beurteilen zu wollen.

Als ich meinen Platz vor dem Kloßschen Geschäft verließ – ich kann dort nur einige Minuten gestanden haben, jedenfalls nicht so lange, daß mein Aufenthalt vor dem Schaufenster irgendwie auffallen konnte – und mich auf den Heimweg machte, schien, wie gesagt, mein eigener Wille völlig ausgeschaltet zu sein. In allem, was nun folgte, wurde ich vielmehr, genau wie ein Automat von seinem Mechanismus, nur von dem Plane vorwärts getrieben, den meine krankhaft gesteigerte Geistestätigkeit mir vorher in einer blitzschnellen Kette wechselnder Szenen vorgeführt hatte.

Etwas nach sieben Uhr langte ich zu Hause an. Auf meines Bruders Frage, was ich bei meinen Gängen am Nachmittag ausgerichtet hätte, antwortete ich ausweichend, tat auch sehr erschöpft und erreichte so, daß er nicht zu viel Einzelheiten von mir verlangte. Jedenfalls erzählte ich ihm von meinen Enttäuschungen keine Silbe, ließ vielmehr durchblicken, daß sich alles nach unseren Wünschen abwickeln würde.

Nach dem Abendessen gegen halb neun Uhr machte ich mich dann wieder zum Ausgehen fertig, angeblich um aus besonderen Gründen den Chef meiner Firma, einen verheirateten, älteren Herrn, in seiner Privatwohnung aufzusuchen und ihm persönlich meine Bitte um einen längeren Urlaub vorzutragen. Mit mir aber nahm ich heimlich einen leeren Briefumschlag, den ich mit folgender Adresse versehen hatte: H. M., 1909, hier hauptpostlagernd – und einen großen grauen Papierbogen.

Bis zum Eintritt der Dunkelheit irrte ich darauf ziellos, nur um die Zeit hinzubringen, durch die Straßen. Erst als ich dann das ferne Grollen des nahenden Gewitters hörte, beeilte ich mich, auf dem kürzesten Wege nach der Speicherbrücke zu kommen, wo ich mir in einer der völlig verödeten Gassen nach vorsichtiger Umschau aus dem vor einem Neubau liegenden Schutthaufen einen großen Stein heraussuchte, den ich in den grauen Bogen hüllte und mitnahm.

Inzwischen hatte sich der Himmel mit dichtem, schwarzem Gewölk überzogen, und plötzlich setzte auch ein starker Regen ein, der die bereits herrschende Finsternis noch undurchdringlicher machte.

Was dann geschah, brauche ich Ihnen kaum im einzelnen zu berichten. Es genügt, wenn ich die durchaus mit den Tatsachen übereinstimmenden Beobachtungen des Schutzmannes, der mich später arretierte, in einigen Punkten ergänze beziehungsweise als richtig zugebe. So hat die Person meines Verfolgers, vor dem ich angeblich über die Brücke in den dunklen Winkel an dem Kloßschen Geschäft flüchtete und der dann nach mir den Stein geschleudert haben sollte, in Wirklichkeit nie existiert. Und dieses schlaue Märchen, das die einzige mögliche, den Umständen am besten angepaßte Ausrede zur Verschleierung des wahren Sachverhalts bildete, war nicht etwa ein Produkt reiflicher, alle Chancen abwägender Überlegung, sondern bereits am Nachmittag vor dem Schaufenster des Zigarrenladens in meinem Geiste mit derselben blitzartigen Schnelle nur als ein Teil des ganzen, so überaus raffiniert angelegten Planes aufgetaucht.

Der Beamte hat sich auch nicht getäuscht, als er gesehen haben wollte, ich wäre sofort, nachdem ich mich aufgerichtet hätte, vor den dicht dabei angebrachten Briefkasten getreten. Denn nachdem ich die Scheibe an der geeigneten Stelle mit der flachen Seite des schweren Steines zertrümmert hatte, langte ich mit der rechten Hand, von der ich, um den Stein fester fassen zu können, den Handschuh vorher abziehen mußte, durch das so entstandene Loch hindurch, holte das Lotterielos aus seinem Versteck hervor und schob es schnell in den bereitgehaltenen Umschlag, den ich ebenso hastig zuklebte und dann in den Briefkasten warf. So entledigte ich mich am einfachsten meines Raubes und war doch in der Lage, ihn jederzeit als harmlosen Brief unter der Chiffre H. M. 1909 vom Hauptpostamt wieder zurückzufordern.

Daher brauchte ich auch damals die Leibesvisitation in keiner Weise zu fürchten. Ich trug ja nichts bei mir, was meine Entlarvung hätte herbeiführen können, denn der graue Papierbogen, der mir zur Umhüllung des Steines gedient, war von mir ebenfalls sofort, nachdem er seinen Zweck erfüllt hatte, dadurch beseitigt worden, daß ich ihn unten in den Speicherkanal schleuderte.

Über den weiteren Verlauf jenes Unglücksabends lassen Sie mich schweigen. Ich möchte mich nicht zu sehr in Erinnerungen versenken, die zu den peinvollsten meines Lebens gehören. Jedenfalls wurde ich mir dessen, was ich unter dem Einfluß eines mir noch heute unerklärlichen Zwanges gewagt, erst richtig bewußt, als ich in Begleitung des Kriminalbeamten im geschlossenen Taxameter nach Hause fuhr. Da, unter dem gleichmäßigen Geräusch der über den regenfeuchten Asphalt hingleitenden Räder, bei dem leisen Rütteln des Wagens und in der mich umgebenden Dunkelheit, die nur durch das Licht der vorbeihuschenden Laternen in gleichen Zwischenräumen unterbrochen wurde, kam mein gepeinigtes Nervensystem endlich zur Ruhe, erwachte ich plötzlich wie aus einem furchtbaren Traum. Und ich entsinne mich genau, daß ich längere Zeit brauchte, bis ich meine Gedanken soweit geordnet hatte, um mir darüber klar zu werden, ob das eben Erlebte denn tatsächlich Wirklichkeit sein könne. Mit dieser Erkenntnis brach ich aber auch vollkommen zusammen.

Wollte ich Ihnen meinen Seelenzustand in den folgenden Tagen schildern, ein Buch ließe sich darüber schreiben, die Geschichte eines armen Weibes, das ratlos, verzweifelt zwischen allerlei guten Vorsätzen hin und her taumelte und sich zu nichts aufzuraffen vermochte.

Vielleicht hat mein Bruder Ihnen als seinem Vertrauten manches über meine damalige Gemütsverfassung berichtet, wenn er auch von der wahren Ursache meiner stets wechselnden Stimmungen nichts ahnte.

In langen, schlaflosen Nächten kämpfte ich einen schweren Kampf mit mir. Soundso oft hatte ich schon den Entschluß gefaßt, in einem Schreiben an die Polizeibehörde meine Tat offen einzugestehen. Aber die Rücksicht auf meine kranke Mutter, der dann vielleicht durch irgendeinen Zufall etwas von dieser Verfehlung ihres Kindes zu Ohren gekommen wäre, was sicherlich ihrem Gesundheitszustand unberechenbaren Schaden zugefügt haben würde, ganz besonders aber die Furcht, Egon könnte durch mich in seinem dienstlichen Fortkommen geschädigt werden, brachten mich immer wieder davon ab.

Dann wollte ich das Los, welches noch immer auf dem Hauptpostamt lagerte, dem Verein für Lungenheilstätten, zu dessen Gunsten die Wohlfahrtslotterie veranstaltet war, anonym zusenden mit der Bitte, den auf das Los entfallenden Gewinn für die Zwecke des Vereins zu verwenden und dem ungenannten Spender nicht weiter nachzuforschen. Auch hiervon mußte ich Abstand nehmen, da mir die damit verbundene Gefahr einer Aufdeckung meines Vergehens doch zu groß erschien. Und mit dieser Möglichkeit mußte ich um so eher rechnen als ich bei jenem Verhör an Ihrem Verhalten mir gegenüber sehr wohl gemerkt hatte, wie unglaubwürdig Ihnen meine Aussage vorgekommen und wie rege Ihr Argwohn war. Hätten Sie nun z. B. bald darauf in einer Zeitung eine Notiz etwa folgenden Inhalts gelesen: ‚Das große Los der Wohlfahrtslotterie, welches ein Unbekannter seinerzeit in dem Kloßschen Zigarrengeschäft an der Speicherbrücke gekauft hat, ohne den Gewinn bisher abzuheben, ist nunmehr plötzlich zum Vorschein gekommen. Auffallenderweise wurde es nämlich vor einigen Tagen von einem großmütigen Spender, der seine Person in mystisches Dunkel zu hüllen sucht, dem Verein für Lungenheilstätten mit der Bestimmung zugestellt, die Gewinnsumme von fünfzigtausend Mark als Schenkung anzunehmen‘. –

Hätten Sie also diese Notiz gelesen, so würden Sie bei Ihrem geschulten Scharfsinn, der gewöhnt ist, selbst die verschiedenartigsten, nur in einigen ganz nebensächlichen Momenten übereinstimmenden Vorgänge zueinander in Beziehung zu bringen, dies höchstwahrscheinlich auch mit dem ‚Attentat an der Speicherbrücke‘ und der ‚großmütigen Schenkung‘ getan und dann bei näheren Nachforschungen sicherlich den wirklichen Sachverhalt herausbekommen haben.

Zwar fürchtete ich hierbei nicht, daß Sie mich aus Pflichtbewußtsein durch eine dienstliche Meldung über eine solche Entdeckung dem Strafrichter überliefern würden, da Sie mich ja schon bei dem Verhör, wofür ich Ihnen gar nicht genug danken kann, möglichst geschont und für ein ‚nichtschuldig‘, wahrscheinlich gegen Ihre bessere Überzeugung, plädiert hatten. Aber hätte nicht der Schutzmann Ullstein, fraglos ein heller Kopf, ebensogut wie Sie durch eine derartige Zeitungsnachricht zu ähnlichen Kombinationen angeregt werden und Ihnen als dem am besten Eingeweihten davon Mitteilung machen können …! Dann wären Sie doch einfach gezwungen gewesen, die angedeutete Spur selbst gegen Ihren Willen weiter zu verfolgen …!

Sie sehen, wie ich mir den Kopf vergeblich nach einem Ausweg zermartert habe, um das, was ich willenlos im Banne einer Zwangsvorstellung getan, wieder gutzumachen.

Und dabei bildeten diese grüblerischen Gedanken nur einen kleinen Teil meiner Sorgen! Das Bewußtsein, gerade von Ihnen, auf dessen Urteil ich stets so viel gegeben hatte, nunmehr verkannt und, wie ich mir selbst sagen mußte, sogar verdammt zu werden, ließ mir keine Ruhe. Und anvertrauen durfte ich mich Ihnen nicht, wenn ich nicht Ihr Gewissen als Beamter, der das rätselhafte Attentat bearbeitete, mit Ihren gewisse Rücksichten immerhin erheischenden freundschaftlichen Gefühlen für die Familie Möwis in schwere Konflikte bringen wollte. Außerdem – ich hoffte ja noch immer ganz im stillen, daß auch Sie nach sorgfältiger Prüfung aller Für und Wider doch zu der Überzeugung von meiner Schuldlosigkeit und von der Wahrheit meiner von Ihnen zunächst angezweifelten Aussage gelangen würden. Diese Hoffnung war’s auch allein, die mich bewog, ein Wiedersehen, bei dem ich fraglos unter Ihren prüfenden Blicken meine Fassung gänzlich verloren und mich so verraten haben würde, um jeden Preis zu vermeiden.

 

10. Kapitel.

So verging eine Woche. Aber diese eine Woche, in der ich ein dunkles Geheimnis wie eine schwere, schwere Bürde mit mir herumtrug, hatte meine Wangen bleich und hohl gemacht. Dann … rüstete sich das Schicksal zum letzten Streiche. Im dem Befinden meiner Mutter trat urplötzlich eine solche Verschlimmerung ein, daß ich abermals den Arzt kommen ließ, nächtelang am Lager der Kranken wachen mußte und mein kleiner Geldvorrat durch all die jetzt unumgänglich notwendigen Ausgaben für Medikamente, kräftige Suppen und stärkenden Wein geradezu zusehends schmolz.

Und in einer dieser Nächte, als meine arme Mutter, der gegenüber sich das Leben nur als ein erbitterter Feind gezeigt hatte, von Magenkrämpfen, dieser furchtbaren Begleiterscheinung der Zuckerkrankheit, gepeinigt, sich stöhnend auf ihrem Lager hin und her warf, als ich an die Zukunft dachte, die so düster mit ihren Schrecken – Armut, Siechtum und kläglicher Tod – auf die lauerte, die mir unter Schmerzen das Leben gegeben, in jener Nacht lernte ich all die Unglücklichen verstehen und entschuldigen, denen nach vergeblichem Kampfe gegen ein grausames Geschick schließlich beinahe jedes Mittel recht ist, um diesem tückischen Gegner trotzen zu können.

Nein, ich lernte sie nicht nur verstehen, ich wurde selbst eine jener Unglücklichen. Denn damals habe ich mir mit kalter Besonnenheit einen Plan erdacht, wie ich mir das notwendige Geld zur Wiederherstellung derjenigen beschaffen wollte, an der ich mit so unsagbarer Liebe hing.

Von da an beginnt auch meine Schuld. Denn was ich jetzt tat, geschah mit kühlster Überlegung. Und daß reinste Kindesliebe allein mich dazu trieb, wird an der Tatsache nichts ändern können, daß ich mit vollem Bewußtsein von dem geraden Pfade der Ehrlichkeit abwich – allerdings von vornherein mit der Absicht, später einmal die veruntreuten Summen durch harte Arbeit langsam wieder zu ersetzen. –

Lassen Sie mich das Folgende nur kurz andeuten. Sonst komme ich mit diesem Briefe nie zu Ende. –

Trotz Egons heftigem Widerspruch betrieb ich nun mit allem Eifer unseren Umzug nach Berlin und brachte auch durch den Verkauf unserer gesamten Wohnungseinrichtung eine größere Summe zusammen, von der ich die ersten notwendigen Unkosten bestreiten wollte. In der Hauptstadt stiegen wir in einem billigen Pensionat ab.

Am nächsten Vormittag ging ich dann, meiner Mutter sagte ich, ich wollte mich nach einer kleinen Wohnung für uns umsehen, in das Bankhaus, wo die Gewinne der Wohlfahrtslotterie ausgezahlt wurden. Dort zeigte ich ängstlich klopfenden Herzens das Los 131326 vor, das ich mir kurz vor unserer Abreise als unter der Chiffre H. M. 1909 postlagernden Brief abgeholt hatte, die Post bewahrt solche Sendungen ja einen Monat lang auf, und erzählte dazu, ich, die Volksschullehrerin Else Müller aus Berlin SO, Primkenauer Straße 81 – Namen und Adresse hatte ich wieder vorher aus dem Adressbuch herausgesucht, da ich meinen eigenen vorsichtshalber ja nicht angeben durfte – hätte das Glückslos bei einem Besuche von Verwandten in der alten Hafenstadt vor einigen Monaten in einem Zigarrengeschäft gekauft, wäre aber erst gestern durch eine Zeitungsnotiz, die den bisher noch immer nicht aufgefundenen glücklichen Besitzer der Nr. 131326 erwähnte, daran erinnert worden.

Und anstandslos wurde mir der Gewinn ausgezahlt, da ja kein Grund vorlag, meine Angaben irgendwie anzuzweifeln und außerdem auch mein aufgeregtes Wesen sehr gut auf die Freude über meinen plötzlichen Reichtum zurückgeführt werden konnte. Im Gegenteil, man beglückwünschte mich sogar mit großer Liebenswürdigkeit und fragte mich noch sehr zuvorkommend, ob es mir unangenehm wäre, wenn mein Name als der der Gewinnerin des nun endlich entdeckten großen Loses der Presse mitgeteilt würde, worauf ich bat, meinen Namen und meine Adresse möglichst zu verschweigen und nur meinen Stand anzugeben, da ich fürchtete, allzusehr, wie dies in ähnlichen Fällen stets geschehe, mit Bettelbriefen überschüttet zu werden. Bereitwilligst versprachen die Herren auf der Bank diesem meinem Wunsche nachzukommen. Tatsächlich war dann ja damals in den Zeitungen ohne alle näheren Einzelheiten nur zu lesen, daß eine Volksschullehrerin aus Berlin die 50000 Mark der Wohlfahrtslotterie gewonnen hätte.

Das Geld deponierte ich, nachdem ich mir tausend Mark zurückbehalten hatte, unter meinem richtigen Namen bei einer Bank. Und bereits eine Woche später befand ich mich mit meiner Mutter in Karlsbad, wo ich sie zu einem der ersten Kurärzte in Behandlung gab.

Dort in dem landschaftlich so wunderbar schön gelegenen böhmischen Badeorte versuchte ich zuerst, angeregt durch die wechselnden Szenerien der mich umgebenen Natur und das bunte, mich umflutende Leben und Treiben, meine Gedanken niederzuschreiben. Es waren Aufschreie meiner Seele, Stimmungsbilder oder Ausschnitte aus dem Alltagsleben, über denen aber stets ein herber, weltschmerzlicher Hauch lag. Und eines Tages, einer flüchtigen Eingebung folgend, schickte ich dann einige dieser Skizzen an die Redaktion einer größeren Zeitschrift ein, ohne viel Hoffnung, daß ich damit Erfolg haben würde. Als nach etwa vierzehn Tagen der Bescheid auf meine Einsendung kam – ein äußerst höflicher Brief, daß meine Skizzen angenommen seien und ich bei Gelegenheit auch größere Arbeiten zur Prüfung vorlegen möchte, – und als ich mit freudigem Staunen bemerkte, daß ich mit den wenigen beschriebenen Bogen weit mehr an Honorar verdient, als ich sonst für einen ganzen Monat an Gehalt bezogen hatte, da sah ich plötzlich eine neue Lebensaufgabe vor mir liegen, die mir vielleicht die Möglichkeit gab, baldigst das zurückerstatten zu können, was ich mir unrechtmäßigerweise aneignen mußte, um ein mir teures Leben zu retten.

Dieser unerwartete Verdienst kam mir um so gelegener, als meine Mutter, die ich bisher stets in dem Glauben gehalten hatte, daß ich unsere Ausgaben noch immer von dem Erlös unseres Mobiliarverkaufs deckte, sich jetzt nicht länger Sorgen um die Zukunft zu machen brauchte, vielmehr ebenso wie ich selbst auf eine ständige Einnahmequelle aus meiner schriftstellerischen Tätigkeit hoffen konnte.

Jener erste Erfolg auf literarischem Gebiet war der Wendepunkt in meinem Leben, der Wendepunkt zum Besseren. Die Zeit rastloser Tätigkeit, heißen Ringens um den Erfolg begann. Und, hatte das Glück mir bisher stets den Rücken gekehrt, jetzt zeigte es mir plötzlich sein freundlich lächelndes Antlitz.

Gewiß, auch mir blieben Enttäuschungen wie jedem um Anerkennung kämpfenden Talent nicht erspart. Auch meine Phantasie schuf bisweilen Sachen, die ich nirgends unterbringen konnte. Aber das blieben vereinzelte Ausnahmen. Heute hat der Name Hedwig Möwis in den Redaktionen unserer vornehmsten Zeitschriften und ersten Verlagsanstalten einen so guten Klang, daß meine literarischen Erzeugnisse meist schon vor ihrer endgültigen Fertigstellung verkauft sind.

Allerdings, ich gehöre nicht zu jenen begnadeten Naturen, deren Schaffen von ihren persönlichen Stimmungen völlig unabhängig ist. Oft kamen Tage, in denen ich auch nicht einen einzigen Satz zu meiner Zufriedenheit zu entwerfen vermochte, in denen die Gedanken so träge, so unlustig flossen. Das waren die Zeiten, wo mein Gewissen mich schreckte, wo die Vergangenheit und damit meine Schuld riesengroß vor mir emporwuchs und mich an das gemahnte, was meines Lebens Endziel sein mußte: mein Vergehen zu sühnen – dasselbe Vergehen, durch das ich meiner Mutter Gesundheit und Zufriedenheit zurückgegeben hatte. –

Doch auch die Stunde war endlich da. Nach drei Jahren unermüdlicher Arbeit, in denen ich mir nur die notwendigste Erholung gegönnt, nur für meine Kunst und mein Mütterlein gelebt, in denen ich nach Möglichkeit gespart und jeden erübrigten Pfennig froh beiseite gelegt hatte, belief sich mein eigenes Guthaben bei der Bank endlich auf eine Summe, die hinreichte, um den seinerzeit von dem 50000-Mark-Gewinn – wollte ich mich selbst schonen, so würde ich sagen – ‚entliehenen‘ Betrag zurückzuerstatten. Und dies habe ich auch vor einer Woche getan. Ich sandte dem Vorsitzenden des Vereins für Lungenheilstätten einen ähnlichen Brief wie diesen, den Sie jetzt gerade lesen, schilderte darin ebenso ausführlich, auf welche Weise ich in den Besitz des Loses gelangt war und weshalb ich dann die fünfzigtausend Mark angegriffen hatte.

Allerdings vermied ich den mir gänzlich unbekannten Herren gegenüber auf meine traurigen Jugenderfahrungen, besonders auf das Verhältnis meiner Eltern zueinander, näher einzugehen, beschränkte mich vielmehr nur auf das, was sie notwendig wissen mußten, um meine Handlungsweise begreifen zu können. Dem Briefe fügte ich eine Anweisung auf die Deutsche Bank über sechsundfünfzigtausend Mark bei, die Gewinnsumme nebst vier Prozent Zinsen für drei Jahre.

Bereits nach wenigen Tagen traf Antwort ein. Sie konnte kaum höflicher, liebenswürdiger und … mitfühlender abgefaßt sein und enthielt zum Schluß die feste Zusicherung, daß niemals auch nur ein Sterbenswörtchen von den merkwürdigen Schicksalen des Loses 131326 in die Öffentlichkeit dringen sollte. Jedenfalls befreite sie meine Seele von jahrelangem, schwerem Druck, der bisher niemals eine ungetrübte Freude an meinen Erfolgen und am Dasein überhaupt zugelassen und daher in mir ein bitteres Empfinden des Ausgestoßenseins wachgerufen hatte und gab mir ebenso den Mut, mich nun auch Ihnen, mit der Bitte um ein mildes Urteil zu nahen.

Hedwig Möwis

Von meinem Mütterlein, das Sie kaum wiedererkennen würden, so frisch und blühend schaut es wieder in die Welt, die besten Grüße. –

*

Draußen graut bereits der Morgen, als Fritz Helmer den letzten Bogen aus der Hand legt. Dann steht er auf, tritt an das offene Fenster und schaut sinnend in die fahle, gespenstische Dämmerung hinaus, die den Kampf zwischen der weichenden Nacht und dem heraufziehenden Tage begleitet … In Gedanken geht er nochmals den Inhalt dieses Briefes durch, aus dem trotz der vorsichtigen und zurückhaltenden Fassung für ihn so deutlich Hedwig Möwis’ Wunsch hervorleuchtet, jenen unseligen Abend und seine Folgen ungeschehen zu machen …

Um einen milden Richterspruch bittet sie. Ja, kann dieser Spruch denn überhaupt anders ausfallen …? Nur ein völlig verknöchertes, weltfremdes Juristenherz würde bei diesem mitleiderweckenden Tatbestand ein hartes ‚Schuldig‘ aussprechen! War die Ärmste nicht vielmehr aus tiefstem Herzen zu bedauern, und wurde nicht ihre dunkle Verfehlung von dem strahlenden Lichte der Kindesliebe, das ihrem ganzen Tun und Lassen vorangeleuchtet hatte, völlig gemildert …?

Fast freudig blickt Franz Helmer hinaus in das graue Zwielicht. Für ihn haben die Rätsel jenes Maiabends jetzt eine Lösung gefunden, wie sie beglückender gar nicht sein kann. Denn in demselben Brief, der alle Verantwortung von der Geliebten nimmt, liest er ja noch weit mehr zwischen den Zeilen.

Da zeigt ihm eine seltene Frauenseele, wieviel er ihr einst bedeutet hat, da fleht eine nie erstorbene Liebe scheu und zaghaft um Vergebung …

Wie falsch er doch damals die Geliebte beurteilte, als er an ihr so manches auszusetzen fand und sich dadurch bestimmen ließ, die entscheidende Aussprache immer wieder hinauszuschieben, damals, wo er noch nichts von ihrer freudlosen Jugend und der unglücklichen Ehe ihrer Eltern wußte, aus der sie so traurige Erfahrungen geschöpft, Erfahrungen, die in ihr Herz nur zu viel einsammachendes Mißtrauen und überlegene Frühreife eingepflanzt hatten. Jetzt hat sie ihm ja für all das, was ihn einst an ihrem Charakterbilde störte, für ihre kühle Weltklugheit, ihre starke Selbstständigkeit und vorsichtige Zurückhaltung – die einleuchtendste Erklärung gegeben …!

Ein unendliches, berauschendes Glücksgefühl überkommt ihn plötzlich, will ihm schier die Brust zersprengen. Und, schnell einer sehnsüchtigen Eingebung folgend, setzt er sich jetzt wieder an seinen Schreibtisch, greift zur Feder und schreibt, ohne die Worte prüfend abzuwägen, der Geliebten Antwort, schildert ihr, wie er bei den erdrückenden Beweisen für ihre Schuld, wozu hauptsächlich die verräterischen Kratzlinien auf ihrer rechten Hand und der von ihm in dem Leichterfahrzeug aufgefundene graue Papierbogen gehört hätten, zunächst zu der traurigen Überzeugung gekommen sei, seine Zuneigung einer Unwürdigen geschenkt zu haben, spricht dann von seinen Seelenkämpfen, von der Flucht aus der alten Heimat, die nur ihretwegen geschah, und schließlich auch von dem völligen, durch die Lektüre ihrer Werke veranlaßten Umschwung in seinen Ansichten und Gefühlen, von seiner steten Sehnsucht und seiner durch die dreijährige Trennung geläuterten und erstarkten Liebe …

Als Fritz Helmer die Feder beiseite legt, da ist draußen die Sonne längst aufgegangen.

Und mit der hellen Lichtflut ihrer Strahlen, die sich durch die offenen Fenster ins Zimmer stehlen, umspielt sie jetzt so verheißungsvoll die letzten Sätze des auf der Schreibtischplatte liegenden Briefes …

 

‚Weisen Sie mich nicht zurück, Hedi! Ich habe ja nur einen Wunsch:

Ihnen die Zukunft zu einer Kette von Tagen restlosen Glückes gestalten und damit die letzten Spuren all der trüben, schmerzlichen Eindrücke gänzlich aus Ihrer Seele tilgen zu dürfen.

In aufrichtiger Liebe

hr treu ergebener

Fritz Helmer‘

*

Frau Hedwig Helmer schreibt noch immer unter ihrem Mädchennamen Hedwig Möwis. Aber durch ihre Arbeiten weht seit ihrer Verheiratung ein ganz, ganz anderer Geist. Waren es früher nur immer die Schattenseiten des Lebens und die trostlosen Schicksale armer Verfehmter, die sie mit packender Gewalt schilderte – jetzt leiht sie ihre Feder nur noch fein empfundenen und doch so leidenschaftlich bewegten Liebesromanen, aus deren Handlung stets die mit sonniger Heiterkeit umwobene Erkenntnis herausleuchtet, daß das wahre Glück für ein Weib in der Ehe mit einem geliebten Manne liegt.

Und wenn Hedwig Helmer dieses Glück mit glühenden oder fein abgetönten Farben malen will, so braucht sie nach einem Vorbild nicht lange zu suchen; sie findet das beste in ihrem eigenen Heim.