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Der Kobrakopf

Nemesis-Kriminal-Romane

 

Der Kobrakopf.

 

Von Walther Kabel.

 

 

1. Kapitel.

Die wenigen, die dem Sarge gefolgt waren, schlichen davon, bogen vorsichtig den Regenpfützen aus und drückten sich unter ihren Schirmen zusammen, entschwanden in den Schleiern der schnell fallenden Tropfen und hinterließen nur eins: Die in meinem müden Hirn aufspringende Frage, weshalb sie überhaupt diesem ärmlichen Begräbnis beigewohnt haben mochten.

Aus Neugier?! – Aus Teilnahme für mich oder Anhänglichkeit an die, die nun da unten ausruhte nach einem Leben voller Entbehrungen?! Kaum!

Nun drückte mir auch der Geistliche stumm die Hand und ging. Ich war allein mit den beiden Totengräbern, die mit den Schaufeln in der Hand fröstelnd dastanden und mich mahnend anschauten: Geh – wir wollen beginnen! –

Noch einen letzten Blick warf ich auf den schwarzen, billigen Sarg und die zwei Kränze oben auf dem Deckel, die ich selbst gekauft hatte …

Dann schritt ich hinweg, spannte den Schirm auf, dessen Risse sie noch letztens mit zitternden Händen geflickt hatte – sie, meine Mutter, meine Kameradin, mit der ich zehn, nein, fünfzehn Jahre Schulter an Schulter gegen das Leben mit seinen vielerlei Erfordernissen gekämpft hatte.

Fünfzehn Jahre! Mit dem dreizehnten hatte ich ja bereits mit verdienen helfen. Und ich bin jetzt achtundzwanzig – erst achtundzwanzig, und doch schon ein Greis, ein ermatteter Ringer, dem Jugend und Frohsein stets fremd geblieben sind. – –

Die breite Lindenallee des Kirchhofs, die auf die Gitterpforte zuführte, schüttelte die Tropfen ihrer frischen Blättchen auf meinen Schirm. Es war, als weinten die Linden, als wollten sie ihr Mitgefühl beweisen. Wenn’s auch nur Bäume waren, sie weinten!

Ich selbst fand keine Träne. In mir wogten ja seit jenem Morgen, als ich der Mutter die Augen zugedrückt, so widersprechende Gefühle.

Ich war ein Gefangener gewesen – seit fünf Jahren. Einer, der freiwillig in einem Kerker bleibt. Fünf Jahre hatte ihr Siechtum gedauert, war sie ans Bett gefesselt gewesen als lebender Leichnam fast.

Sie hatte den Tod nicht gefürchtet. Nur die Menschen. Außer dem Arzt, der hin und wieder kam, durfte nie jemand ihr Zimmer betreten. So einsam, so abgeschlossen gegen die Umwelt wie wir beide haben wohl kaum Mutter und Sohn je gelebt.

Nur Geheimnisse hausten noch in unseren zwei Mansardenstübchen. Geheimnisse, die nachts lebendig wurden und mir aus dunklen Winkeln tausend dunkle Fragen zuwisperten.

Wie – wie unendlich werde ich sie entbehren, die nun dort unter der Erde liegt und nicht mehr zu denken braucht. Ich habe ja nie jemanden außer ihr gehabt, der mir näher stand. Nicht einen einzigen Menschen! Doch – vielleicht den Winkelkonsulenten von nebenan, den Benno Strackler. Mit dem wechselte ich zuweilen ein paar Worte, die mehr waren als alltägliche Redensarten. Und – vielleicht auch noch den alten Blenski, unseren Mansardennachbar, der sich stets so teilnehmend gezeigt hat.

Ich schritt weiter. Auf einmal schrak ich zusammen. Hinter einem Baume trat ein Weib hervor, streckte mir bittend, bettelnd die Hand entgegen. Ein junges Weib!

Ich stand wie gebannt. Der leichte Schreck verwandelte sich in Staunen. Meine Augen schwelgten in Schönheit.

Unter dem löcherigen, großen, grauen Umschlagetuch schaute ein blasses, feines Gesicht hervor mit wundervollen, dunklen Augen, deren lange Wimpern den schmerzerfüllten, bangen Blick noch zu unterstreichen schienen. Aschblondes Haar, gescheitelt, rahmte eine Stirn von klassischer Linienführung ein. Nase, Mund, Ohren – jeder Bildhauer hätte sie für eine Statue der Juno zum Modell genommen.

Und hastig trat ich näher, drückte in die schmale Kinderhand das große Geldstück.

Frühlingstraum! – Ich träume nur, dachte ich bereits zwanzig Schritte später, drehte mich um, suchte, prüfte jeden Baum – nichts – nichts konnte ich entdecken. Die junge Bettlerin war verschwunden.

Ein Herr und eine junge Dame kamen aus der Richtung des Kirchhofs. Ich erkannte ihn. Es war der alte Blenski, der Mansardennachbar …

Blenski rief mir denn auch mit seiner heiseren Stimme zu: „Aber Herr Rönning, Sie starren uns an, als seien wir nicht von dieser Welt! Gestatten Sie, daß ich Sie mit meiner Enkelin bekannt mache, die seit gestern bei mir wohnt, mit meiner kleinen Inderin Sidna Margut. – Sidna war mit mir auf dem Friedhof, verehrtester Nachbar …“

Ich starrte das junge Mädchen erstaunt an, denn ihr Gesicht, jede Linie, jede Einzelheit: Es war das der Bettlerin von vorhin. Ich hätte unter anderen Umständen jeden Eid darauf abgelegt, es war ein und dasselbe Weib! Ich bin ja Maler, Zeichner, Illustrator. Und wir Maler schauen uns Gesichter mit anderen Augen an, als dies gewöhnliche Sterbliche tun.

Sidna nahm den Schirm in die Rechte, hielt mir die offene Linke flach hin. Und darin lag ein Dreimarkstück, an dem noch etwas feuchte Erde haftete.

„Sie hatten Ihre Börse besichtigt, Herr Rönning,“ sagte das Mädchen. „Ich habe gute Augen, so gute, daß mir auch dieses Geldstück nicht entging, das dort hinter uns neben einem Baume lag. Haben Sie es verloren, Herr Rönning?“

„Nein … oder ja – ja, ich hab’ es verloren …“

Wir gingen gemeinsam weiter. „Ah,“ sagte Blenski ganz unvermittelt, „dort steht ja Ihr Freund Benno Strackler, der Winkelkonsulent!“

Strackler grüßte. Und ich entgegnete Blenski dann: „Mein Freund?! Ich habe leider keinen Freund. Strackler ist nichts als eine Zufallsbekanntschaft.“

„Desto besser,“ murmelte Blenski. „Hüten Sie sich vor ihm … Mehr sage ich nicht.“

Frühlingssonne lag über der alten Stadt Danzig, über dem massigen Turme von Sankt Marien.

Wir bogen in den Nonnenhof ein, eine Sackgasse, an der die Jahrhunderte spurlos vorbeigeglitten sind. Türklopfer gibt’s hier noch; und Treppen zu den oberen Stockwerken uralter, engbrüstiger Häuser, die von außen an den Wänden hochlaufen. Dann standen wir vor unserem Hause. Einst war’s ein Patrizierheim mit zwei Stockwerken, ein Dachgeschoß darüber, breit überfallend wie die Krempe eines Hutes. Dicke Balken stützen es, schräg herauswachsend aus dem Mauerwerk. – Die Fenster sind winzig und Mauern und Gebälk wie für die Ewigkeit berechnet. Der Eingang liegt vier Stufen hoch. Die Stufen sind Stücke von einstigen Mühlsteinen, die Treppen dunkel, ausgetreten; einzelne Stufen mit verbeultem Blech benagelt.

Nur oben bei uns in der Mansarde ist’s hell. Da hat vor Jahren der Wirt in die Dachluke ein großes Fenster einfügen lassen.

Unter diesem Fenster wollte ich mich von Blenski und Sidna Margut verabschieden. Doch sie nahmen mich mit in ihre Wohnung.

Blenski sprach über Indien. Er liebte dieses Märchenland. Und je länger er sprach, desto leiser wurde seine Stimme.

„Wir aufgeklärten Europäer, wir nüchternen Verstandesmenschen zucken die Achseln über die Rätsel, die die Völker Indiens umweben. Für alles suchen und finden wir eine natürliche, wissenschaftliche Deutungen. Wenigstens bilden wir uns dies ein. Wir modernen Kulturmenschen sind zu hochmütig, an Wunder zu glauben.“

„Sie auch?“ warf ich ein.

Blenski stand plötzlich auf, holte aus einem Schrank ein schwarzes Ebenholzkästchen und reichte es mir.

Auf trockenem, graubraunem Moose lag ein Schlangenkopf – der Kopf einer Kobra, einer Brillenschlange, das Maul halb geöffnet, daß man die nach hinten gebogenen Giftzähne sehen konnte. Die Augen glitzerten, schienen aus Brillanten zu bestehen.

Der alte, weißbärtige Mann erklärte: „Ich glaube an geheimnisvolle Kräfte, deren Ursprung kein menschlicher Verstand ergründen kann. Dieser Schlangenkopf ist echt, ist auf besondere Art präpariert. Nur die Augen sind durch Brillanten ersetzt, und das Hirn ist herausgenommen. Was an Stelle dieses eingefügt ist, weiß ich nicht. Aber eins weiß ich, daß dieser Kopf, ein Geschenk meines langjährigen Herrn, des Radschas von Birkassar, Wünsche erfüllt, wenn sie frei von schnöder Selbstsucht sind.“

„Wünsche erfüllt?! Wünsche?! Ich hätte schon einen!“

Plötzlich rief Blenski überlaut: „Hüten Sie sich, hüten Sie sich! Sie haben soeben an einen Wunsch gedacht! Hüten Sie sich!“ Er riß mir das Kästchen aus der Hand und schlug den Deckel zu. Seine Hände zitterten.

Vorsichtig stellte er das Kästchen in den Schrank zurück, seine Finger spielten nervös mit seiner Uhrkette, deren Glieder aus lauter kleinen Schlangenköpfen bestanden.

„Haben Sie denn mit diesem Kobrakopf etwas Besonderes erlebt?“ fragte ich schließlich.

„Mein bester Freund starb,“ entgegnete Blenski nach einer Pause.

„Er starb, weil er es sich wünschte … – Auch er kam nach einem Begräbnis zu mir, nach dem Begräbnis seiner jungen Frau, die er über alles geliebt hatte. Auch er sah den Kopf zum ersten Male. Seine Augen hafteten fest auf denen der Kobra, und er zuckte überlegen die Achseln. Erst sagte er zu mir: ‚Ich habe mir soeben gewünscht, noch heute zu sterben, denn ohne die geliebte Frau ist mein Leben ein Nichts. Nur schade, daß Zyankali weit zuverlässiger sein dürfte als dein Wunderkopf. Aber einen Selbstmord scheue ich!‘ So etwa sprach er. Und abends … war er tot. Er wurde vom Blitz erschlagen.“

Mir schwebte das Wort ‚Zufall!‘ auf der Zunge. Ich unterdrückte es. Gleich darauf verabschiedete ich mich, weil – ich allein sein mußte …

Ich ging in meine einsame Wohnung hinüber. – Ein altes, blitzsauberes Weiblein aus dem Hinterhause besorgte mir jetzt die Wirtschaft. Aus dem Hinterhause, denn Nonnenhof Nr. 12a hat ein solches. Es ist der frühere, zu dem Patrizierhause gehörige Getreidespeicher, vor langer Zeit zur Wohnung umgebaut, ein richtiger Fuchsbau, in dem sich nur ein Eingeweihter zurechtfindet.

Frau Merten hatte mit dem Mittagessen auf mich gewartet. Ich wollte sie nicht kränken. So aß ich nochmals.

Dann war ich allein und saß, in Gedanken versunken, am Fenster in dem Großvatersessel mit den kreischenden Sprungfedern.

Die Bettlerin?! Ein lebendes Wesen – oder nur ein Trugbild? Ich vermochte mir keine sichere Antwort zu geben. Ich schloß die Augen. Ihr Bild erschien ganz deutlich vor mir, ein zweites daneben: Sidna Margut! Linie um Linie dasselbe Gesicht. Trotzdem fühlte ich, daß das Sehnen nach Liebe doch nicht Sidna hervorrief.

Draußen ertönte die Flurglocke. Strackler, der Winkelkonsulent, trat ein. Er nahm Platz und begann: „Herr Rönning, mich führt eine bestimmte Absicht zu Ihnen. Ich will Sie vorbereiten. Ein Bekannter von mir auf dem Meldeamt weiß, daß wir uns kennen. Er erkundigte sich nach Ihren Verhältnissen, weil sich jetzt herausgestellt hat, daß Ihre Mutter – erschrecken Sie nicht, lieber Herr Rönning – bei ihrem Umzuge nach Danzig vor zweiundzwanzig Jahren unrichtige Angaben über Namen, Geburtsort und so weiter gemacht hat.“ Strackler schwieg einen Augenblick.

„Weiter – weiter!“ stieß ich mühsam hervor.

„Ihre Mutter hat sich hier des Namens einer anderen Witwe bedient, die gleichfalls nur ein Kind hatte, einen Sohn, und die vor zweiundzwanzig Jahren von Berlin nach Hamburg verzog. Erst jetzt ist das herausgekommen. Jene Witwe lebt noch, auch ihr Sohn. Telegraphische Anfragen brachten alles ans Licht. Das Meldeamt wird nun von Ihnen die Einreichung von Papieren verlangen, damit Sie den Namen fortan führen, der Ihnen gebührt.“

„Ich besitze keine Papiere,“ sagte ich gequält. „Nur die, die ich vor vier Tagen dem Beamten vorlegte. Ich habe hier inzwischen alles durchsucht … Nichts ist vorhanden, kein Brief, kein Dokument. In jedem Haushalt finden sich doch Dokumente, die mit der Familie zusammenhängen. Hier – auch nicht ein Buch aus früheren Jahren, das unseren Namen als den des Besitzers trägt.“

Strackler glättete sein Haar. „Was wissen Sie von Ihrem Vater?“ meinte er nachdenklich.

„Wenig. Er ist Kaufmann gewesen, besaß in Berlin einen Laden: Orientwaren, Teppiche, Waffen, vielerlei.“

Strackler schüttelte den Kopf. „Das ist nicht Ihr Vater. Das ist Gustav Rönning, der verstorbene Mann der jetzt in Hamburg lebenden Witwe.“

„Die Mutter sprach so selten von meinem Vater, so widerstrebend. Als ich dies merkte, fragte ich nicht mehr. Kein Bild von ihm ist vorhanden – nichts …! In meinen Gedanken nahm er nicht mehr Raum ein als jemand, der vor Jahrhunderten gelebt hat.“

Strackler erhob sich, drückte mir fest die Hand. Unsere Augen ruhten ineinander. „Wenn Sie einmal nicht aus noch ein wissen, kommen Sie zu mir,“ sagte er warm. „Ich habe schon manchem geholfen. Aber kommen Sie nicht zu spät … und seien Sie wachsam!“ Er betonte das letzte Wort.

Es schwebte noch im Zimmer, als er längst fort war.

Wachsam!! – Und – – wer bin ich nun eigentlich?! – –

Um vier Uhr nachmittags erschien ein Beamter, blieb sehr lange und forschte mich aus. Wir suchten gemeinsam nach Papieren. Nichts war zu finden, nichts!

„Nun – jedenfalls muß Ihre Mutter jene Frau Anna Rönning gekannt haben, deren Namen sie hier angab, und von der sie auch die notwendigsten Papiere besaß, meinte der Beamte. Wir werden die Sache schon aufklären, Herr … Herr Rönning, vorläufig heißen Sie nun mal so …“

Ich war wieder allein …

Was – was wird aufgeklärt werden?! Mein Herzschlag stockte … – Wie oft hatte ich mir schon gesagt: Euer Name muß verfehmt sein! – Jetzt – jetzt glaubte ich bestimmt zu wissen, weshalb die Mutter meinen Vater fast nie erwähnt hatte.

Mein Vater wird ein Verbrecher gewesen sein! Und damit ich diesen schmachbeladenen Namen nicht als ewige Last mit mir herumzuschleppen brauche, damit ich aufwachse als Sohn ehrlicher Eltern – scheinbar! –, darum hatte sie die Behörden getäuscht, sich falscher Papiere bedient, darum … kannte ich meinen wahren Namen nicht und sollte ihn auch nie kennenlernen.

 

2. Kapitel.

Ich war wieder allein und grübelte lange.

Es war acht Uhr geworden, als ich halb taumelnd den alten Sessel verließ.

Ich wollte Menschen um mich sehen. Hier oben schlich etwas auf mich zu wie ein Gespenst mit Würgerhänden: Lebensüberdruß! Schnell schlüpfte ich in den schäbigen Überrock. Nur Menschen … Menschen. In der alten Kneipe ‚Zum eisernen Nagel‘ setzte ich mich in die dunkelste Ecke. Der Wirt brachte mir die Suppe, darin frische Wurst.

Er stützte sich auf meinen Tisch mit den fettgepolsterten Fäusten. „Nehmen Sie sich’s nicht zu sehr zu Herzen, Herr Rönning,“ meinte er mitleidig. „Wir alle müssen sterben. Und das Alter sitzt dem Sarge am nächsten.“

Er ging wieder. ‚Herr Rönning – – Herr Rönning‘, hatte er mich angeredet. Und ich war zusammengezuckt. Ich bin ja nicht Erwin Rönning. Ich schob den Teller beiseite, noch halbvoll. Nur das Bier stürzte ich hinunter, zahlte und eilte von dannen – in den Regen hinaus, irgendwohin.

Planlos irrte ich durch die Straßen und kam in die Langgasse, mitten in lebhaftesten Verkehr, mitten hinein in eine Menge, die trotz des schlechten Wetters nach des Tages Arbeit Vergnügen und Zerstreuung suchte.

Da rief eine Stimme, mit leichtem fremdländischem Akzent: „Auch noch unterwegs, Herr Rönning?“ Sidna Margut war es, mit einem großen Pappkarton in der linken Hand.

Sie reichte mir die Rechte und sprach weiter: „Zur Schneiderin will ich noch, sie ist so sehr beschäftigt. Bitte, begleiten Sie mich dorthin. Die Herren hier sind so zudringlich. Um zehn holt mich der Großvater ab.“

Wir bogen nach rechts ein und gelangten in die Hundegasse. Mir fiel der Kopf der Wünsche ganz plötzlich ein, und ich fragte unvermittelt: „Glauben Sie denn an die Wunderkraft des Kobrakopfes, Fräulein Sidna?“

Ein erstaunter Blick traf mich: „Kobrakopf?“ Sie erklärte dann, sie wisse nichts von einem solchen Kopf; nachher fügte sie hinzu: „Großvater ist sehr verschlossen. Aber jetzt muß er mir das Ebenholzkästchen einmal zeigen.“

Wir waren angelangt. Sie schlüpfte in das schmale, alte Haus. Ich sah noch den Laternenschein auf ihren Lackschuhen blinken, sie hatte so kleine Füßchen.

Ich überquerte den Langenmarkt. Vor mir schimmerten matt die hohen Fenster des Artushofs, plätscherte der Neptunbrunnen. Und plötzlich ein Gedanke:

‚Der Wunderkopf. Ob er trügen wird? Ob ich die Bettlerin wiedersehen werde?‘

Ich war jetzt dicht vor der Marienkirche, die ihre dicken Mauer-vorsprünge weit in die Gasse vorschiebt, die um das Gotteshaus herumlaufen. Diese Pfeiler warfen lange, schwarze Schatten auf den feuchten, schillernden Steinboden. Das Pflaster ist hier wohl genau so alt wie die Häuschen rings um die Kirche. Auf einmal sah ich eine weibliche Gestalt, eine bittend vorgestreckte Hand. Wie angewurzelt stand ich.

Die Bettlerin! Genau wie in der Großen Allee …

Ein seltsames Gefühl bemächtigte sich meiner; etwas wie Furcht vor einem neuen Rätsel; darein mischte sich, schnell aufflackernd, der Wunsch: ‚Klarheit – Klarheit.‘

Ich zögerte noch.

Eine warnende Stimme wurde in mir laut: ‚Fliehe – fliehe, spüre dem nicht nach, was deine Seele vielleicht noch mehr belasten wird!‘

Da wurde die Hand zurückgezogen, hastig, die bittende Hand … Und das Mädchen schlich davon, scheu zusammengeduckt; enger hüllte sie sich in das häßliche Tuch; ich erblickte ebenso häßliche Schuhe, schiefe Absätze …

Ich folgte ihr vorsichtig. Sie bog in die lange Straße ein, die die Dämme heißt. Vor einem Fleischgeschäft blieb sie stehen. Bald wendete sie sich ab, ging langsam weiter.

Hunger? – Hungerte es sie? Sogleich dachte ich an das Dreimarkstück, das sie weggeworfen hatte. Weshalb nur? Weshalb?!

Wir waren nun in der Altstadt. In den engsten Gassen; über eine uralte Holzbrücke, unter der ein träger Graben sein lehmiges Wasser entlangführte, kamen wir in eine Gegend, die ich ganz genau kannte. Ich bin ja Maler, Zeichner. Und Altdanzig hat so viele romantische Winkel.

In der Seilmachergasse blieb sie abermals stehen. Vor einem Bäckerladen, der längst geschlossen war. Soeben schlug es vom Turme von Sankt Katharinen halb zehn.

Hunger? Und jetzt folgte ich der Eingebung des Augenblicks.

„Entschuldigen Sie, Fräulein, ich möchte nicht aufdringlich erscheinen.“ Ich stand vor ihr, zog den Hut, war verlegen, wie, eben nur ich verlegen sein kann – ich, der Weltfremde.

Todestraurige Augen blickten unsicher auf.

„Glauben Sie mir, ich meine es nur gut mit Ihnen. Darf ich Ihnen nicht irgendwie helfen?“

Sie nickte schwach; sie winkte kaum merklich mit der Rechten. Aber kein Wort sprach sie. Und so gingen wir die einsame Gasse hinauf bis zu einem zweistöckigen Hause mit spitzem Giebel. Über der Haustür – Steinstufen führten hinauf – waren in der Mauer Zahlen aus Schmiedeeisen eingefügt: 1599.

Sie schloß die Haustüre auf und ließ mich eintreten. Dann schloß sie wieder ab, zündete ein Kerzenstückchen an und ging – nicht besonders leise – die Treppen empor.

Im zweiten Stock stieß sie rechter Hand eine Tür auf. Eine armselige Stube nahm uns auf. Vor den Fenstern hingen Decken – bunte Pferdedecken. In der Mitte stand ein Tisch mit löchrigem, stellenweise verbranntem Glanzleinwandüberzug; darauf eine Küchenlampe; neben dieser lag ein zerfetztes Buch mit buntem Deckel.

Sie setzte sich an den Tisch. Eine Handbewegung folgte für mich nach dem zweiten Stuhl. All das war so unwirklich, so spukhaft. Die Küchenlampe schickte einen Qualmfaden hoch. Ich schraubte sie niedriger. Noch immer kein Wort. Sie saß zurückgelehnt, den Kopf gesenkt, die Hände im Schoß …

Dann ein leises: „Sie wollen mir helfen …?“

Endlich – endlich! Der lähmende Bann wich. Ich wurde wach.

„Sehr gern will ich Ihnen helfen. Aber auch ich bin arm. Trotzdem, hier sind zunächst zehn Mark.“ Ich schob ihr das Goldstück hin.

Und sie?! Sie reichte mir das zerfetzte Buch, erhob sich und sagte: „Warten Sie, bitte.“

Sie verschwand im Nebengemach.

Ich saß mit dem Rücken nach jener Stube.

Ich blätterte in dem Buche. Es war ein Bilderbuch für ganz kleine Kinder. Vorn stand auf dem ersten, weißen Blatt: Sigurd Balkar. Ich blätterte weiter. Gleich das erste Bild: ein Ziegenbock – der hinten ausschlägt und einen Hund trifft – erschien mir so seltsam bekannt wie der Name. Und so ging’s mir mit allen Bildern.

Meine Hände zitterten jetzt. Ich wußte bestimmt: dieses Bilderbuch hatte ich einst oft betrachtet oder, wenn’s nicht dasselbe Exemplar war, doch eins, das diesem völlig glich. Wenn’s nicht dasselbe war! – Aber der Name: Sigurd Balkar! – Er ist mir so geläufig! Ich begann zu grübeln und merkte gar nicht, daß die Küchenlampe am Erlöschen war, daß das letzte Flämmchen leise puffte, stille wurde, wieder puffte.

Nun herrschte Dunkelheit. Ich empfand sie sofort wie körperliche Berührung, stand schnell auf und suchte nach Zündhölzern in meinen Taschen. Richtig: ich gab die Zündholzschachtel vorhin dem Mädchen.

Ich fand nichts, womit ich die Lampe wieder hätte anstecken können; tastete mich bis zur Tür des Nebengemachs, klopfte leise, klopfte wieder, stärker – öffnete die Tür und starrte in die Finsternis hinein. Nichts als Schweigen, Schweigen!

Da packte mich urplötzlich die Angst, das Entsetzen. Ich stolperte die Treppen hinab; ich floh. Wovor – ich weiß es nicht. Die Haustür war nur eingeklingt, ich hastete die Stufen zur Straße hinunter und lief zehn Schritt; die kühle Regenluft, der Nachtwind, der mir um die Stirn wehte, tat mir wohl.

Ich hatte meinen Hut oben vergessen – oben in dem unheimlichen Hause. Keine Macht der Welt brächte mich dorthin zurück …! Barhäuptig eilte ich davon. Ein Schutzmann schaute mir prüfend nach. Ich ging langsamer. Und wie geborgen fühlte ich mich, als ich in den Nonnenhof einbog, als ich droben bei mir in den Lehnsessel sank. – –

Ich mußte dann eingeschlafen sein. Die Kälte weckte mich. Draußen herrschte das fahle Licht der Morgendämmerung. Ich zitterte. Meine Glieder waren wie abgestorben.

Dann – siedend heiß schoß es mir zu Kopf. Die Erinnerung war da: die Bettlerin, das alte Haus, das Bilderbuch. Träume nur! Nur Träume? – Ich dachte nach. Und ein befreiendes Lächeln glitt über mein Gesicht.

Natürlich, ich hatte all das ja nur geträumt.

Ich ging schnell zu Bett. Und als ich mich leidlich erwärmt hatte, drangen auch schon die Zweifel auf mich ein. Bis ich dann aufstand und meinen Hut suchte, den schwarzen, weichen Filzhut mit dem grünen Futter, in dem in Golddruck die Fabrik angebracht waren und ein Monogramm, aus Papier gestanzt: E R – – Erwin Rönning.

Der Hut war nicht da! Ich suchte nochmals – mit wilder Hast! Er mußte ja hier sein, mußte, aber ich fand ihn nicht. Ich kleidete mich wieder an, setzte einen anderen Hut auf und verließ das Haus. Ich eilte nach der Seilmachergasse und stand bald vor dem alten Gebäude mit der Jahreszahl 1599.

Zwei Arbeiten kamen vorbei. Sie lachten, denn sie hielten mich für einen Nachtschwärmer, für betrunken. Sie stiegen die Steinstufen zu jener Haustür hinan, in die mich das Mädchen gestern abend einließ. Ich sprach sie an, fragte allerlei.

„Bewohnt, nee, Herrchen, die alte Bude wird abgebrochen. Sie ist baufällig. Seit einem Jahr steht sie leer, ganz bestimmt!“

Ich durfte mit nach oben in den zweiten Stock gehen. Leere Stuben, kahle Wände, zerbrochene Fensterscheiben. Kein Tisch, kein Stuhl, keine Lampe, kein Bilderbuch mit dem Namen Sigurd Balkar. Die Arbeiten grinsten hinter mir drein.

 

3. Kapitel.

Langsam wanderte ich dem Flusse zu, der trüben Mottlau, die den Danziger Innenhafen bildet, als ich vor mir eine Gestalt bemerkte, die auf derselben Straßenseite in derselben Richtung dahinschritt wie ich.

Umschlagtuch, löchriger Rock, schiefe Absätze!

Wie ein Ruck ging es mir durch den Körper. Ach – meine Nerven waren ja bereits bis zum Reißen gespannt! Die Bettlerin! Sie war’s!

Ich schoß förmlich davon und begann zu laufen. Gewißheit – Gewißheit! Jetzt schien ja die Sonne, im hellen Tageslicht sieht man keine Gespenster!

Noch drei Schritt. Da – verschwand sie im Eingang eines Kellers. Ich hörte schrill eine Glocke anschlagen und stieß dieselbe Tür auf … Fast stolperte ich über einen Menschen, der vor einer Kiste kniete und Frühgemüse sortierte.

Er erhob sich. „Womit kann ich dienen?“

„Ein Mädchen ist hier soeben eingetreten,“ sagte ich unsicher, denn ich ahnte bereits, was folgen würde.

Der Händler schüttelte den Kopf. „Ein Mädchen?“ Er lächelte ein wenig. „Hier bei mir sind Sie heute der erste Käufer.“

„Geben Sie mir dann also zwei Bund Radieschen,“ forderte ich hastig. – Er wickelte sie in eine Zeitung.

Und wieder war ich draußen im Sonnenschein. Wieder wanderte ich schwerfällig dahin. Das Päckchen in meinem Arm wog Zentner. Die roten Wurzelgewächse bewiesen ja, daß ich einem Trugbilde nachgeeilt war.

Ich kam nach Hause. Die alte Merten hatte geheizt. Der Kaffee wartete. Ich machte mich dann über meine Arbeit her und zeichnete.

Es war elf Uhr geworden. Ich wollte hinüber zum alten Blenski, wollte ihm alles – alles mitteilen. Er, der an Wunder glaubte, könnte meiner Seele vielleicht das Gleichgewicht wiedergeben, die jetzt zwischen Zweifeln, Vermutungen, scheinbaren Tatsachen hin und her pendelte …

Ich stand vor Blenskis Tür, las das kleine Porzellanschild ‚Otto Blenski‘ und läutete.

Und Sidna Margut öffnete mir.

Sie trug ein Kleid, das kein Kleid war. Sie hatte sich in einen breiten grellbunten, seidenen Schal eingewickelt. Ganz eng umschloß er ihren Körper. Und sie sah fast … wie eine Schlange aus, denn der Schal hatte die Farben gelb und grün.

Sie reichte mir die Hand. „Guten Morgen, Herr Rönning! Oh, Sie müssen schlecht geschlafen haben. So hohläugig wie ein Kranker sehen Sie aus!“

Ich nickte nur. Blenski hatte die Tür seines Museums geöffnet, hatte ein Reagenzgläschen in der Hand und winkte mir …

„Ich freue mich, daß Sie so bald wieder den Weg zu uns gefunden haben,“ meinte er herzlich.

Wir saßen uns dann wie gestern gegenüber. Mit dem Mute der Verzweiflung begann ich zu erzählen, überhastet, ungenau, unübersichtlich. Blenski streute Fragen ein, so zum Beispiel: „Sie wünschten also angesichts des Kobrakopfes, jenes Mädchen wiederzusehen?“

Und ich verheimlichte nichts. Was ich zu erwähnen vergaß, klärte er durch Fragen. – Als alles erörtert war, sagte er bedächtig: „Nun soll ich entscheiden, wo die Wirklichkeit aufhört und die Hirngespinste beginnen? Lieber Herr Rönning, das ist ja nicht allzu schwer. Hören Sie mich ruhig an. Als wir, Sidna und ich, gestern vom Kirchhof kamen, hätten wir die Bettlerin sehen müssen, denn wir waren ja ziemlich dicht hinter Ihnen. Sie werden das Geldstück, das wir fanden, lose in der Manteltasche gehabt, in Gedanken damit gespielt und es verloren haben. Es entglitt Ihren Fingern. Dann wird Ihnen dieser Verlust unklar zum Bewußtsein gekommen sein … Und vielleicht schuf nun erst Ihre rege Phantasie die Szene mit der Bettlerin.“

„Aber der gestrige Abend, das Haus 1599,“ sagte ich tastend. „Und heute morgen in der Hökergasse,“ fügte ich ebenso unsicher hinzu.

„Ja – wie weit hier Wirklichkeit und Einbildung sich vermengen, könnte nur Ihr Hut klären. Vielleicht finden Sie ihn noch. Heute früh hat Ihre Phantasie Ihnen natürlich wieder einen Streich gespielt.“

Ich dachte nach und sagte dann sehr eindringlich: „Herr Blenski, wenn Sie an die Wunderkraft des Kobrakopfes glauben, so … zeigen Sie ihn mir, bitte! Ich werde keinen Wunsch hegen, der irgendwie selbstsüchtige Regungen birgt, werde wünschen: Ich möchte den Hut finden – irgendwo!“

Er schaute mich lange an. In seinen Augen glaubte ich Mitleid zu bemerken. Nun stand er auf, holte das Kästchen und öffnete es.

Die Augen des Schlangenhauptes glitzerten, der Leib des Reptils fehlte. Und – seltsam! – ich denke, daß Sidna Margut, die Sidna im bunten Schal diesen Kopf tragen müßte, diesen Kopf der giftigen Brillenschlange.

Jäh kam dieser Gedanke, erlosch schnell. Und ich zwang mein Denken, mit aller Kraft den Wunsch zu formen:

Ich möchte den Hut finden – irgendwo!

Ich starrte in die schillernden Augen – ganz fest. Und sie wuchsen, formten sich zu glühenden Kugeln, aus denen Blitze sprühten, rückten mir immer näher, daß etwas wie eine Hitzewelle mich zu ersticken drohte.

Als ich wieder zu mir kam, hatte der Alte mich auf das Sofa im Nebenzimmer gebettet.

Sidna Margut, in einem einfachen, gestreiften Hauskleide, kniete vor mir und legte mir ein feuchtes Tuch auf die Stirn. Blenski stand daneben, hatte noch ein halb gefülltes Weinglas in der Hand.

Als ich dann aufgerichtet dasaß, sagte er: „Lieber Herr Rönning, nun legen Sie sich sofort ins Bett und versuchen Sie zu schlafen – verstanden! Ganz folgsam werden Sie sein! Und wenn Sie sich tüchtig ausgeruht haben, nach Tagen, dann schreiben Sie all das, was wir heute besprachen, kurz, Ihre Ihnen so unheimlich dünkenden Erlebnisse nieder. Auf diese Weise werden Sie, so hoffe ich, gerade durch die eingehende Beschäftigung mit diesen Dingen am schnellsten völlig genesen, denn Sie werden beim Schreiben sich bald mit überlegenem Lächeln fragen: Und dadurch ließ ich mich schrecken?! Was hat’s denn damit auf sich, wenn ich merkwürdige Gesichte vor mir hatte?! Nichts – nichts!“

Ich holte die Abendzeitung aus dem Briefkasten draußen an der Flurtür.

Ich las, und auf der dritten Seite des Hauptblattes fiel mein Blick auf dick Gedrucktes:

Rätselhafter Mord an dem Hausbesitzer Albert Wendel

Ich begann zu lesen... Bald flatterte das Zeitungsblatt zu Boden, und ich lehnte in meinem Sessel, einer Ohnmacht nahe. Ein Grauen beschlich mich … Der Kobrakopf – – der Kopf der Wünsche!

Den Hut wollte ich finden, meinen schwarzen Hut mit dem grünen Futter, den ich – ist’s Tatsache, ist’s der Wahn eines Traumes? – in dem alten Hause zurückgelassen habe.

Ich wollte ihn finden! Nun – andere haben ihn schon gefunden. Ich brauchte nur hinzugehen und mich auf dem Polizeipräsidium zu melden … Dann … hatte ich ihn wieder.

Minutenlang saß ich regungslos. Das Grauen wich. Ich raffte mich auf, redete mir ein: ‚Unsinn – ein Zufall ist’s!‘

Ich griff wieder nach der Zeitung. Und ich las ganz langsam, wie einer, der jedes folgende Wort fürchtet:

‚Mit dem Abbruch des Hauses Seilmachergasse 16 beschäftigte Arbeiter fanden heute vormittag gegen neun Uhr in zweiten Stock dieses baufälligen, wohl ältesten Gebäudes unserer Stadt in einer dunklen, kleinen Kammer die Leiche des Besitzers des Hauses, des Rentiers Albert Wendel. Der Tote, der noch den Hut aufhatte, zeigte ein so entstelltes, blaurot aufgedunsenes Gesicht, daß die Arbeiter vermuteten, hier könnte ein Verbrechen vorliegen. Unsere Kriminalpolizei war sofort zur Stelle. Bereits eine oberflächliche Untersuchung der Leiche ergab, daß Wendel mit einem Strick erdrosselt worden war. Neben dem Toten fand man noch einen zweiten Hut, einen schwarzen, weichen Filzhut, dessen grünseidenes Futter den Stempel der hiesigen Firma Max Specht sowie ein goldenes Papiermonogramm ‚E. R.‘ trug, ferner ein altes Kinderbilderbuch, auf dessen erster Seite der Name Sigurd Balkar steht …‘

Meine bebenden Hände sanken in den Schoß …

… Das Bilderbuch! Sigurd Balkar! Und – ich hatte darin geblättert, hatte nachgegrübelt, weshalb mir dieser Name so geläufig war. Mehr noch! Ich besann mich jäh: Ich hatte aus dem Nebengemach ein Stöhnen gehört wie das eines Schwerkranken. War’s vielleicht das Todesröcheln Wendels gewesen?

Ich las weiter. Und die Angst vor dem, was die Zeitung zu sagen wußte über diesen Mord, hatte sich noch gesteigert.

‚Dieses Verbrechen ist in mehr als einer Beziehung geheimnisvoll. Albert Wendel, ein sechsundfünfzigjähriger unverheirateter Mann, stand nicht im besten Rufe. Er war früher Kaufmann. Vor etwa zwanzig Jahren ließ er sich hier nieder, erwarb mehrere Häuser und machte sich bei seinen Mietern durch Härte und Rücksichtslosigkeit schnell unbeliebt. Er wohnte seit langem im Hinterhause des für Altdanzig so charakteristischen früheren Patrizierheims Nonnenhof 12a in einer ärmlichen Stube, zu der noch eine winzige Küche und ein dunkler Verschlag gehören. Vor zwei Wochen wurde er unter dem Verdacht, Darlehnsschwindeleien betrieben zu haben, in Untersuchungshaft genommen. Gestern erwirkte sein Verteidiger die Haftentlassung gegen zehntausend Mark Kaution. Um sieben Uhr abends kehrte Wendel, wie bereits festgestellt ist, in seine Wohnung zurück, aß dann in der nahen Kneipe ‚Zum eisernen Nagel‘ Abendbrot und verließ sie gegen neun Uhr wieder. Da der Polizeiarzt mit ziemlicher Sicherheit den Zeitpunkt des Mordes zwischen neun und elf Uhr abends festgelegt hat, dürfte Wendel sich aus jener Kneipe geradewegs nach dem baufälligen Hause begeben haben, das schon seit vielen Monaten leer steht. Was ihn dorthin geführt haben mag, bleibt aufzuklären.

Überaus wichtig für die Untersuchung ist der Hut mit dem grünen Futter und dem Monogramm ‚E. R.‘ Vielleicht gehört er dem Täter – vielleicht! Unsere Kriminalpolizei bezweifelt dies, vertritt die Ansicht, Hut und Bilderbuch seien nur bei der Leiche zurückgelassen worden, um die Behörde auf eine falsche Spur zu lenken.

Wir weisen hier noch auf die Bekanntmachung des Polizeipräsidenten hin, der eintausend Mark Belohnung für sachdienliche Angaben oder …‘ usw.

Ich starrte jetzt vor mich hin … Ein Satz fraß sich ein in mein Hirn wie ein Wurm: Vielleicht gehört er dem Täter!

Kraftlos fiel ich in mich zusammen, duckte mich scheu ganz tief. Wann – wann werden sie kommen und mich mitnehmen, einsperren in ein anderes Gefängnis? Wann wird diese kaum errungene Freiheit ihr furchtbares Ende haben? Schweiß trat mir auf die Stirn. Sie kommen, sind da, denn soeben hat die Flurglocke angeschlagen. Schwankend ging ich öffnen. Ich … muß ja! Was kann mir ein Zögern nützten?!

 

4. Kapitel.

Ich öffnete … Blenski stand vor mir. Die trübe Flurlampe beschien mein Gesicht.

„Sie haben bereits von dem Morde gelesen? Man sieht es Ihnen an,“ flüsterte er und zog mich in die Stube hinein, schloß die Türen, drückte mich in einen Stuhl und holte aus der Tasche seines Schlafrocks ein Fläschchen und ein Gläschen hervor. Ich mußte trinken.

Dann setzte er sich neben mich. Seine Hand ruhte auf meiner Schulter. „Was nun?“ fragte er leise.

Seine Nähe hatte etwas Beruhigendes. Und ich erwiderte ebenso leise: „Raten Sie mir …“

„Wenn ein alter Mann Ihnen raten darf, dann fliehen Sie – fliehen Sie sofort! – Hier ist Geld. Ich bin selbst arm. Aber – fünfhundert Mark kann ich entbehren.“ Er sprach noch vieles, gab mir gute Ratschläge: Berlin! Dort verschwindet man inmitten von Millionen am leichtesten! Oft das möblierte Zimmer wechseln! Immer nur für Tage mieten! Und – mißtrauisch sein gegen jeden!

Dann half er mir einen alten, kleinen Koffer packen. Es eilte, denn um neun Uhr ging der Schnellzug über Stettin nach der Reichshauptstadt. Bevor ich zum Hause hinausschlich, raunte er mir noch zu: „Mut, junger Freund, Mut! Ich habe einen ganz bestimmten Verdacht: Strackler!“ Ich hörte kaum noch hin, war mit meinen Gedanken mir selbst weit voraus: Auf dem Bahnhof, im Zuge, in Berlin.

Noch ein Händedruck von ihm, noch ein Abschiedsblick über das Stübchen hin, dann hinaus in den Flur.

Und – da stand Sidna Margut, streckte mir die schmale Hand hin: „Alles Gute!“

Ich eilte die steilen Treppen hinab. – – –

Ich fand ein leeres Abteil dritter Klasse ganz vorn und setzte mich in die eine Ecke, der offenen Tür gegenüber, zog den Hut noch tiefer ins Gesicht und schlug den Mantelkragen hoch. –

„Einsteigen!“ riefen die Schaffner.

Da – in der offenen Tür eine Gestalt. Ein älterer Mann mit vielen Paketen. Er schob sie auf die Bank, kletterte hinterdrein und sagte freundlich: „‘n Abend auch!“ Er setzte sich pustend, lachte behaglich und nickte mir zu: „Gerade noch im letzten Momang!“

Der Zug ruckte an, die Weichenlaternen des Bahnhofs entschwan-den. Ich starrte zum Fenster hinaus. Mein Reisegefährte gähnte laut und fragte: „Na – wie weit fahren Sie denn?“

„Bis … Stettin.“ Blenskis Warnung wirkte.

„So, so. Bis Stettin.“ Er rückte näher an mich heran. Sein bärtiges Gesicht blieb mir zugekehrt. „Bis Stettin!? Viel zu weit,“ sagte er dann.

„Ich würde hier bleiben,“ fügte er leiser hinzu. Die Stimme war plötzlich anders als bisher. Ich habe sie bereits einmal gehört. Sie hat etwas Herrisches an sich. Und – nun weiß ich’s – nun formt mein Mund unbewußt den Namen: „Herr … Herr Strackler …!!“

„Ganz recht: Benno Strackler. Ihretwegen bin ich hier. Ihretwegen spiele ich die Rolle eines, der in Danzig viel eingekauft hat. Meine Pakete da sind leere Kartons. Aber – sie mußten mir helfen, unerkannt zu bleiben …“

Ich lauschte, als ob aus der Ferne etwas mir Fremdes an mein Ohr dringe.

„Ja, ich wollte unerkannt bleiben, Herr Rönning, und Sie werden hier bleiben, werden nicht fliehen, damit Sie mir helfen, so manches aufzuklären, nicht nur den Mord!“ Der Zug raste donnernd durch den Vorortbahnhof Langfuhr.

„Sie werden meine Hilfe annehmen müssen,“ sagte er nun. „Sonst – sind Sie vielleicht ein verlorener Mann. Ich will Ihnen Aufschluß geben über mich. Nur zum Schein bin ich Winkelkonsulent, ich bin in Wahrheit Privatdetektiv, der ohne jede Reklame viel zu tun hat. Ich nehme nie Bagatellsachen an, nur Aufträge, die lohnend sind. Unter lohnend verstehe ich nicht etwa die pekuniäre Seite. Nein – nur den Sachverhalt. Die Danziger Polizei unterstützt mich, wir sind sehr gut Freund miteinander. Mein Einfluß dort im Polizeipräsidium genügt, Sie vor einer Verhaftung zu schützen. Alles ist schon vereinbart mit Kriminalinspektor Rickert. Sie sind ja auch nicht der Mörder Wendels, obwohl die Beweise gegen Sie für einen Haftbefehl noch jetzt genügen – die Scheinbeweise. Rickert wollte schon zugreifen. Da sagte ich: ‚Warten Sie noch.‘ Und er wird warten.“

Er langte in die Innentasche seines Rockes, reichte mir ein Papier mit aufgeklebter Photographie. Es war seine Legitimation. Auf der Rückseite stand eigenhändig vom Polizeipräsidenten geschrieben: ‚Ich bitte, Herrn Benno Strackler nach Kräften zu unterstützen, da er unserer Behörde bereits aus Gefälligkeit die größten Dienste geleistet hat.‘

Er steckte die Legitimation wieder ein.

„So, nun wissen Sie, wer ich bin, Herr Rönning. Und nun werden Sie auch begreifen, weshalb ich Ihnen gestern sagte: ‚Wenn Sie einmal nicht aus noch ein wissen, kommen Sie zu mir.‘ Ah – bereits Zoppot. Steigen wir aus. Wir fahren mit dem nächsten Vorortzug zurück.“

Wir hatten eine halbe Stunde Zeit und setzten uns in den leeren Wartesaal.

Ich will hier nicht im einzelnen schildern, wie Strackler mich dazu zwang, ihm einzugestehen, daß Blenski noch kurz vor meiner Flucht bei mir gewesen. Aber mein Blenski gegenüber gegebenes Versprechen hielt ich. Ich verschwieg, daß der alte, mitleidige Mann mir geraten, Danzig zu verlassen. Ich stellte alles so dar, als sei ich durch den Zeitungsartikel zur Flucht gedrängt worden.

Im Vorortzuge setzte Strackler das Verhör fort. Und als wir in Danzig wieder angelangt waren, kannte er alles, was ich erlebt oder … geträumt hatte, kannte auch – das hatte ich nicht umgehen können –, was ich über Blenskis Kobrakopf wußte.

Wir schritten vom Bahnhof den Kassubischen Markt, dann den Faulen Graben entlang, waren bald wieder in der Altstadt. Wir gingen sehr langsam, denn Strackler hatte mit mir noch vieles zu besprechen.

„Ich muß Sie in Ihrem Interesse bitten, Herr Rönning,“ meinte er nur, „daß Sie genau befolgen, was ich für nötig halte. Manches davon wird Ihnen vielleicht überflüssig und stark abenteuerlich erscheinen. Es hat jedoch alles seinen bestimmten Zweck. Zunächst, wenn jemand Sie fragen sollte, sei es, wer es sei, ob Sie geflüchtet waren und weshalb Sie wieder zurückgekehrt sind, so geben Sie das Erste ruhig zu und begründen das Zweite durch Ihr gutes Gewissen, das über eine jäh erwachte Furcht gesiegt habe. Unser Verhältnis muß bleiben, wie es war, zum Schein. Kommen Sie nicht zu mir! Wenn Sie mir etwas zu melden haben, was Ihnen wichtig erscheint, dann tun Sie es schriftlich. Den versiegelten Brief geben Sie dem Wirt vom ‚eisernen Nagel‘ oder seiner Frau. Falls ich Sie sprechen will, finde ich mich bei Ihnen … über die Dächer ein. Verriegeln Sie einen Fensterflügel Ihres Arbeitszimmers niemals, damit ich jederzeit hineinkann. Dann: sollte ich Sie durch einen Boten vielleicht irgendwohin bestellen, so gehen Sie stets zuerst in das kleine Zigarrengeschäft von Schubrich – merken Sie sich den Namen! – in der Jungferngasse, nennen Sie dem Besitzer, einem Graubart mit roter Nase und Goldkneifer, nur meinen Namen. Er weiß Bescheid und wird Sie durch einen Hinterausgang nach der Hospitalstraße hinauslassen. Verabsäumen Sie diese Vorsichtsmaßregel auf keinen Fall! Es gibt Leute, von denen Sie ständig beobachtet werden.“

Ich blieb stehen und schaute ihn verwirrt, ungläubig an.

Er nickte mir zu. „Kommen Sie! Es ist so. Sie werden beobachtet. Nicht von der Polizei. Nein! Irgendeine große Lumperei plant man gegen Sie. Was, vermag ich heute noch nicht zu sagen. Aber auch der Tag wird kommen …“

Ich schritt mit gesenktem Kopf neben ihm her. – Wer nur konnte mir schaden wollen, mir, dessen Name noch nicht einmal festgestellt war?

Nun begann Strackler wieder: „Sie werden sich mit Recht fragen, wie ich dazu kam, mich Ihrer anzunehmen. – Sie waren mir zunächst gleichgültig, als ich vor acht Jahren ebenfalls nach dem Nonnenhof zog und Ihr Nachbar wurde. Dann fiel mir so manches an Ihnen auf. Ich merkte, daß Sie in Ihren Mansardenstuben mit Ihrer Mutter wie auf einer einsamen Insel hausten. – Dies mag Ihnen für heute genügen.“

Ich merkte, daß er mir vieles verschwieg. „Mag genügen …“ Das gab zu denken.

„Ich danke Ihnen.“ Unwillkürlich kam’s mir über die Lippen. Es klang wohl sehr herzlich. Er streckte mir die Hand hin. „Keine Ursache, Herr Rönning. – Auf gute Freundschaft!“ Er drückte meine Hand fest. „Ich bin ja nicht ganz uneigennützig bei alledem,“ fuhr er lebhafter fort. „Sehen Sie, mir fehlte bisher ein Fall, der so etwas ganz Besonderes ist, so eine ganz schwierige Sache. Hier nun vermute ich manch harte Nuß, das reizt mich. Unsere Diebe und Betrüger hier im Osten sind ja zumeist dritter Güte. Die ‚Kanonen‘ der Gaunerzunft arbeiten nur in Weltstädten.“

Kurze Pause. Dann: „Ich werde mich kaum täuschen, hier müssen Riesensummen oder außerordentlich wertvolle Dinge auf dem Spiel stehen, der Einsatz sein. Die Vorbereitungen sprechen dafür.“

„Vorbereitungen?“ entfuhr es mir.

„Ja. Es scheint ein sehr weitverzweigtes Gespinst zu sein,“ meinte er grüblerisch, wie zu sich selbst. „Fäden davon reichen weit in die Vergangenheit zurück – vielleicht. Und in der Mitte des Netzes eine seltsame Spinne, vielleicht mit seltsamem Kopf.“

Ein Gedanke in mir blitzte auf wie ein kurzes Wetterleuchten: Der Kobrakopf! Und ich fragte schnell: „Was halten Sie von dem Kopf der Wünsche, Herr Strackler? Und ist die Bettlerin wohl ein Geschöpf von Fleisch und Blut wie wir?“ Ich schaute ihn an. Wir hatten das Licht einer Straßenlaterne von vorn. Er lächelte so eigen.

„Hm – der Kobrakopf! Ich kenne Indien. Es gibt dort viel Merkwürdiges. Nun, warten wir ab. Und die Bettlerin? Sie existiert!“

„Ah – wirklich!“ Ich atmete auf. Und dann, ein Argwohn kam mir so jäh, daß meine Füße förmlich gelähmt waren vor wirrem Staunen über diese Vermutung. „Sidna Margut?“ flüsterte ich und suchte seine Augen.

Strackler schüttelte den Kopf. „Nein, lieber Rönning – da sind Sie auf falscher Fährte!“

Er reichte mir die Hand. „Gute Nacht. Ich bin daheim. Sie haben noch eine Strecke zu gehen. Auf Wiederschaun! Und – machen Sie sich keine unnötigen Sorgen. Wir werden … das Spinnennetz zerreißen! Gute Nacht!“

Er klapperte mit Schlüsseln und verschwand in einem winzigen Häuschen.

 

5. Kapitel.

Ich zog meine Haustür zu. Da schlug es von Sankt Kathrinen Mitternacht. Das Glockenspiel setzte ein. Ich lauschte. Allein Gott in der Höh’ sei Ehr’ … hallte über die alte deutsche Stadt hin. Seelisch gestärkt stieg ich die Treppen empor. Ich brauchte kein Licht, ich fand mich auch so ganz sicher zurecht.

Ich drückte meine Flurtür auf, rieb ein Hölzchen an; die Petroleumlampe in meinem Arbeitszimmer fand ich nicht sofort. Sie stand doch auf dem Zeichentisch, als ich sie vor meiner Flucht ausblies.

Jetzt stand sie auf der geschweiften Kommode neben dem braunen Kachelofen. Ein drittes Streichholz flammte auf. Ich nahm schnell die Glocke ab, ergriff den Zylinder … stutzte …

Er war warm – so warm, daß die Lampe vor kurzem noch gebrannt haben mußte. Ich dachte: die Merten wird hier gewesen sein! Doch, ich belog mich selbst. Sie hat zwar einen Flurschlüssel, aber – abends war sie noch nie bei mir. Und – jetzt war’s ja auch Mitternacht.

Die Lampe brannte. Ich starrte in den Lichtkegel des Zylinders. Kein Zweifel: Während meiner Abwesenheit hatte ein Unberufener sich hier Einlaß verschafft … Wer wohl – wer? Ich sann nach. Da, draußen an der Flurtür klopfte jemand. Blenski? – Es kann nur mein Freund Blenski sein.

Ich öffnete. Blenski schaute mich mit eigentümlichem Lächeln an. Ich hatte die Lampe in der Linken. Und er in der Rechten halb vor der Brust das Ebenholzkästchen, den Kobrakopf. Schweigend trat er ein. Erst als ich die Tür geschlossen hatte, gab er mir die Hand. Das Kästchen stand nun auf dem Tisch, und er sagte: „Sie haben sich also doch zur Rückkehr zwingen lassen. Sie hätten vorsichtiger sein sollen!“

Ich mußte heucheln. Es gelang. „Ah – Sie meinen, die Polizei habe mich abgefaßt, Herr Blenski? Sie irren. Ich bin freiwillig in Zoppot ausgestiegen. Ich will dem Schicksal die Stirn bieten. Mein Gewissen ist rein.“

Er setzte sich und nickte … „Ja, ja … rein!! Mancher dachte so und sitzt jetzt hinter dicken Mauern und verflucht das reine Gewissen. Ich habe dies vorausgesehen, lieber Herr Rönning, diese Umkehr. Männer von Ihrer Weltfremdheit vertrauen zu leicht einem gütigen Geschick, das alle Knoten lösen wird. Ich war vor einer Viertelstunde deshalb auch schon einmal hier. Sie hatten in der Hast des Aufbruchs die Flurtür nicht abgeschlossen. Ich wollte hier auf Sie warten. Meine Ahnungen trügen selten. Und nun sind Sie da.“

„Ich habe den Kobrakopf mitgebracht,“ fuhr er fort, „vielleicht hegen Sie den Wunsch, den Mörder Albert Wendlers wenigstens im Traum kennenzulernen. Ich weiß ja nicht, ob dieser Wunsch so ganz frei von Selbstsucht ist, ob Ihnen gewährt wird, was Sie erbitten. Aber … versuchen können Sie’s ja. Gelingt’s, so haben Sie doch einen Anhalt dafür, wie Sie der Polizei Fingerzeige geben, wie Sie mithelfen können, den Täter zu entdecken.“ Er öffnete das Kästchen. Im Lampenschein hatte der Schlangenkopf etwas Unheimliches an sich. Ein Frösteln ging mir über den Leib. Ich beugte mich tiefer; mein Blick fraß sich in den glitzernden Augen fest. Und ich trieb meine Gedanken auf einen ganz engen Raum zusammen, bis alles andere ausgeschaltet war, bis ich nur noch dachte: Ich möchte den Mörder im Traum sehen!

„Sie sind so blaß,“ meinte Blenski. „Trinken Sie einen Likör, bevor Sie sich niederlegen. Warten Sie, ich bin gleich wieder da.“ Er kam zurück, und ich trank mit Behagen. Dann verabschiedete er sich mit den Worten: „Es werden schwere Tage für Sie kommen. Vergessen Sie nie, daß ich für Sie stets zu sprechen bin.“

Bald gähnte ich und schloß halb die Augen. Nur sekundenlang wollte ich so dasitzen, dann zu Bett gehen, aber ich schlief ein. Und Traumgesichte jagten an dem Spiegel meines Bewußtseins vorüber.

Eine Hand rüttelte mich, ich wurde munter und sah drüben an der anderen Seite des Tisches eine Gestalt stehen. Die Lampe brannte schwach, ich erkannte Strackler. Er trug dieselben Kleider wie damals, als er zum ersten Male mich besuchte – meines Namens wegen. Und er hob jetzt langsam den rechten Arm, deutete mit dem Zeigefinger auf seinen Hals und fuhr mit dem Finger unter dem Kinn lang, dann nickte er mir zu und schien in den Dielen zu versinken. – –

Auf diese Traumszene besann ich mich ganz deutlich, als ich gegen sechs Uhr morgens auf dem Stuhl erwachte und eiligst, vollständig durchkältet, mein Bett aufsuchte. Nicht um zu schlafen, nur um mich zu erwärmen.

Ich hatte den Mörder wirklich im Traum erblickt – den Mörder, der die seltsame Handbewegung um seinen Hals machte … Und … Albert Wendel war erwürgt worden. ‚Strackler, Strackler?!‘ schrie es in mir auf … Unmöglich!! Ich bin ein Spielball der Launen eines tückischen Schicksals, das mich an allen Menschen irremachen will.

Kann Strackler der Mörder sein?

Ich habe Strackler versprochen, ihm nichts zu verschweigen. Soll ich ihm nun auch diesen Traum berichten, an dem der Kobrakopf schuld ist? Unmöglich! Ich will ihn nicht verletzten, diesen Mann, der so angesehen bei der Polizei ist, und zu dem ich mich schon jetzt hingezogen fühle wie zu einem Freunde.

Weiter: Soll ich ihm sagen, das in der verflossenen Nacht, als ich frierend gegen Morgen im Bett lag und mein Kopf glühte, in mir ein leiser Argwohn aufgestiegen ist gegen einen alten, weißhaarigen Mann, der ebenfalls vorgibt, es mit mir gut zu meinen? Ein Argwohn, der sich nur darauf stützt, daß ich Blenskis Eindringen in meine Wohnung während meiner kurzen Flucht seinerseits für etwas schwach begründet halte und daß ich mich zu erinnern glaube, meine Flurtür verschlossen zu haben, als ich nach dem Bahnhof ging. Sollte ich denn so zerstreut gewesen sein und den Schlüssel abgezogen haben, ohne ihn vorher umzudrehen?!

Es ist dies ja nur ein so leiser Schimmer eines Argwohns, daß ich selbst ihm keine Bedeutung beimesse, obwohl …, ja – obwohl ich niemals in einer fremden Behausung mich unerlaubterweise aufgehalten und sogar noch die Lampe angezündet hätte. Nein – nein – mir kommt’s doch wie großer Undank gegen Blenski vor, all dies abzuwägen. Ich werde auch hierüber schweigen …

Ganz offen konnte ich ja jetzt weder zu dem weißbärtigen Alten noch zu Strackler sein. Mich störte dieser Gedanke. Beide wollten mir helfen, und dennoch: Beide erschienen mir wie versteckte Gegner. Daß Blenski über Strackler nicht günstig dachte, wußte ich ja; er hatte mich vor ihm gewarnt; ganz unzweideutig. – –

Frau Mertens räumte im Schlafzimmer meiner Mutter heute gründlich auf, scheuerte, putzte die Fenster und trug die überflüssigen Betten in die Kammer. Dann kam sie und fragte, ob das Bettgestell nicht auch hinaus gestellt werden könne; es nehme doch nur Platz weg.

Es war ein Bett aus rot gebeiztem Fichtenholz. Der Matratzenbezug war oben vielfach geflickt. Ich half das Bett auseinandernehmen. Wir lehnten die Matratze aufrecht an die Wand. Ein muffiger Geruch entströmte ihr. Ich riß die Fenster weit auf und drehte mich schnell um, denn ich hatte soeben ein leises Poltern gehört. Und nun lag zwischen Matratze und Wand ein kleines, dickes Buch mit der Vorderseite nach oben. Ich sah auf dem Deckel ein Kruzifix, darüber etwas wie eine Münze. Ich bückte mich, hob das kleine Gebetbuch auf und trat damit ans offene Fenster.

Die Merten trug die Seitenbretter des Bettes hinaus, sie achtete nicht auf mich. Ich hatte dieses dicke Büchlein noch nie gesehen. Und doch mußte es wohl meiner Mutter gehört haben, die es in der Matratze versteckt hielt.

So dachte ich, und meine Augen glitten über einen mit verblaßter Tinte geschriebenen Namen auf dem Titelblatt hin. Glitten darüber hin. Mein Hirn sträubte sich, diesen Namen als richtig entziffert hinzunehmen, denn er lautete: Hedwig Balkar …

Und doch – da steht Balkar, Balkar wie in jenem Bilderbuche, das jetzt die Kriminalpolizei verwahrt hält.

Wie geläufig mir dieses Balkar schon damals war, als die Bettlerin mich in das Haus 1599 geführt und mich dann allein gelassen hatte. Und jetzt wieder dieselbe Empfindung: Du kennst diesen Namen seit lan-gem – langem. Wie ein ganz ferner Klang lebte er in meinem Gedächtnis.

Die Merten tappte herein. Schnell schob ich das Büchlein in die innere Brusttasche meiner Arbeitsjacke.

Ich besichtigte die Matratze näher. Und ich bemerkte, daß an der einen Seite sich ein rechteckiger Riß in dem Bezug befand, und daß dieser Leinenlappen nur festgedrückt, nicht gestopft war. Ich bekam die Hand kaum in dieses Loch hinein. Aber meine Finger fühlten sofort etwas Hartes außer der muffigen Füllung. Und ich holte eine runde Blechdose hervor von der Größe kleiner Kakaobüchsen.

Auch die Blechbüchse verschwand schnell in meiner Tasche. Wir trugen die Matratze in die Kammer. Und dann war ich allein in meinem Arbeitszimmer, saß in dem alten Sessel am Fenster und hielt den Inhalt der Blechbüchse auf den zusammengedrückten Schenkeln.

Wie enttäuscht war ich! Was hatte ich alles in der Büchse zu finden erwartet! Und nun –: nichts als Watte und fünf, nein, sechs Stücke eines dicken, offenen Zylinders aus irgendeiner schwarzen Masse!

Ich schob diese nichtigen Trümmer in die Watte in das Behältnis zurück, stellte es auf den Fensterkopf und langte nach dem Buch in die Tasche. Fingerspuren an vielen Seiten bewiesen, daß es oft der halb Gelähmten Trost gespendet hatte.

Sonst – nichts darin – außer dem Namen: Hedwig Balkar! Keine Eintragung, kein Wort mehr. Ich schaute mir den Deckel genauer an. Das ganze Buch sah recht wertvoll aus. Die Deckel waren aus einem dunklen Holz; Kruzifix und Münze schienen Gold zu sein. Die Münze! Fraglos sehr alt. Die Prägung war schlecht, verschwommen. Ich mußte sehr genau hinsehen, ehe ich etwas wie einen Schlangenkopf und darüber merkwürdige Zeichen unterscheiden konnte.

Ja – es war ein Schlangenkopf! Ich habe die Münze mit dem Ärmel blank gerieben. Nun erkannte ich den Kopf einer Kobra, einer Brillen-schlange, mit aufgeblähter Haube. Einer Kobra!! Wieder eine Kobra – ein Kobrakopf!! Seltsam! War’s ein Zufall? – Blenskis Kobrakopf, die Münze hier –, bestand zwischen beiden ein Zusammenhang? Jedenfalls erschien mir dieser Fund, dieses Gebetbuch, so wichtig, daß ich Strackler sofort davon Nachricht geben wollte.

 

6. Kapitel.

Ich schrieb an Strackler ganz kurz und bat ihn, mich abends zu besuchen. Das Fenster würde offen sein.

Als ich den Brief aber im ‚Eisernen Nagel‘ abgeben wollte, meinte der dicke Wirt: „Herr Strackler ist verreist und läßt Ihnen sagen, Sie möchten noch vorsichtiger sein.“

„Wann kehrt er zurück?“

„Ich soll Ihnen auf diese Frage antworten: Sobald er in Berlin genug über die Familie Balkar ermittelt hat.“ –

Ich war wieder daheim. Noch vorsichtiger! – Familie Balkar …!! – – Balkar …!! Und da: Grell leuchtete die Erkenntnis auf: Es ist dein eigener Name!!

Und so bestimmt wußte ich’s jetzt, daß ich ganz laut vor mich hin sprach: „Ich heiße Sigurd Balkar!“

Gleich darauf meldete die Merten mir den Kriminalinspektor Rickert. Ein Hüne war’s, breitschultrig, eisgrauer Kopf, faltiges Gesicht, gütige Augen und eine Ruhe, die scheinbar nichts erschüttern kann.

Er reichte mir die Hand. „Ich muß mich hier mal sehen lassen, damit die Gegenpartei nicht argwöhnisch wird,“ meinte er leise.

Wir setzen uns. „Sollte Sie jemand fragen, was ich hier bei Ihnen wollte, so erwidern Sie, daß ich Sie nur auf die bestimmte Zusage, Danzig nicht zu verlassen, nicht verhaftet hätte; auch einem eingehenden Verhör seien Sie unterzogen worden. Übrigens: Strackler glaubt jetzt Ihren wahren Namen zu kennen …“

„Sigurd Balkar,“ fiel ich ihm ins Wort.

„Ach?! Sie scheinen davon unterrichtet zu sein?“

Ich nickte eifrig. „Ich bin froh, jemand gefunden zu haben, dem ich das Gebetbuch und die Blechbüchse zeigen kann,“ unterbrach ich Rickert abermals und legte ihm meinen Fund dar. Doch auch er schien davon nichts Besonderes zu halten. „Immerhin – schweigen Sie darüber,“ meinte er. „Wir werden ja Stracklers Ansicht hören.“

Ich hätte ihn so viel zu fragen gehabt, diesen gemütlichen Mann. Aber ich scheute mich, aufdringlich zu werden. Er selbst erwähnte ja den Mord mit keiner Silbe mehr. Wir plauderten eine gute Stunde. Dann verabschiedete er sich, sagte noch zuletzt:

„In der Zeitung wird eine Notiz erscheinen des Inhalts, daß der Täter demnächst verhaftet werden und der Hut bei dessen Überführung eine große Rolle spielen dürfte. Mag Sie das nicht weiter beunruhigen. Es ist nur … Spiegelfechterei. Auf Wiedersehen, Herr Rönning.“ Wieder ein fester Händedruck.

Rickerts Besuch hatte mich noch froher gestimmt. Ich wußte jetzt: Ich bin Sigurd Balkar! Und ich wußte weiter, daß die Polizei mir nichts anhaben wird. Ich begann zu arbeiten. Wie flott mir die Entwürfe heute von der Hand gingen! Leicht wie meine Seele ist diese schaffende Hand.

Stunden eilten im Fluge dahin.

Ich hielt im alten Sessel Mittagsruhe. Die warmen Strahlen des Tagesgestirns trafen meine Knie.

Ich schaute zuweilen nach dem Fuchsbau hinüber. Die Fensterscheiben dort hatten alle einen grünlichen Schimmer. Das Glas war wohl das billigste, das der Hauswirt auftreiben konnte. Wenn ich den Blick etwas senkte, sah ich das braunschwarze Pappdach des überdachten Ganges, der die beiden Häuser in Höhe des ersten Stockwerks verband. Diese Brücke hat vom Treppenhaus einen Eingang in Gestalt einer kleinen eisernen Tür. Man bemerkt sie kaum in der Wandnische, diese schmale Brückenpforte. Sie ist mit Kalk geweißt wie das ganze Treppenhaus und stets verschlossen.

Dieser überdachte Gang, der an jeder Seite zwei längliche, mit Spinngeweben überzogene Fenster hatte, regte oft in mir allerlei Gedanken an. Er hatte etwas Geheimnisvolles, dieser verwitterte Kasten aus Holz, den man da zwischen den beiden Häusern festgeklemmt zu haben schien. Ich stellte mir oft vor, daß dort dicke Staubschichten den Boden bedecken und Mäuse ihr Wesen treiben müßten.

Ich fuhr plötzlich leicht zusammen und sprang auf die Füße.

Täuschte ich mich? Wieder eine Vision?! – Da war die Gestalt drüben schon verschwunden, drüben von dem zweiten Seitenfenster der Brücke …

Einen Augenblick nur konnten meine Sinne prüfen, ob es wirklich Kopf und Oberleib der Bettlerin gewesen, die dort hinter den blinden Scheiben mit den Vorhängen aus Spinngeweben stand und mir zunickte. Jetzt – sah ich nichts mehr. Nein, es wird doch nur Einbildung gewesen sein. Ich hatte ja gerade an die Bettlerin gedacht – mit einem leisen Gefühl der Sehnsucht.

Heute, wo meine Seele ruhig und heiter, hatte sich wieder jenes Empfinden unter der schweren Schicht neuer Kümmernisse, die es so lange fast völlig bedeckt hatten, scheu hervorgewagt, das ich damals auf dem Wege vom Kirchhof so deutlich als Sehnen nach Weibesliebe verspürte. Und dieses Sehnen galt der, die mich in das alte Haus 1599 in der Seilmachergasse führte, galt der Bettlerin, obwohl doch gerade sie von mir wie eine Feindin gefürchtet und gemieden werden sollte.

Ich zweifelte jetzt ja nicht mehr daran, daß sie existiere, daß ich wirklich damals in dem alten Hause gewesen und nicht lediglich geträumt hätte, das Bilderbuch in jener kahlen, traurigen Stube beim Lichte der stinkenden Küchenlampe in der Hand gehabt und das erste Bild, den ausschlagenden Ziegenbock, sinnend betrachtet zu haben. – Gewiß – ich hätte auch jetzt noch vieles aufzählen können, was dagegen zu sprechen schien. Aber selbst die Tatsache, daß ich jenen Raum am Morgen in Begleitung der beiden Arbeiten leer gefunden, war ein Nichts gegenüber einer Bemerkung, die Rickert bei passender Gelegenheit wie absichtslos in unsere Unterhaltung eingestreut hatte. Sie hatte gelautet – ungefähr:

‚Hm – Frauen!! Wo, wann spielen sie nicht eine Rolle in unserem Leben?! Immer! Denken Sie nur an sich selbst, lieber Herr Rönning! Die Bettlerin, die Sie in die Seilmachergasse brachte, damals abends! Was hätte daraus für Sie entstehen können! Wenn wir sie nur erst hätten, diese Frau – oder dieses Mädchen! Nun – jedenfalls ein Weib, das Ihrem Dasein leicht eine sehr traurige Wendung gegeben hätte. Zum Glück war ja unser Strackler bereits …‘

Da hatte er sich unterbrochen, seine Zigarre frisch angezündet und nachher einen anderen Satz begonnen. –

Ich sprang auf, ging zu Blenski hinüber und läutete. Sidna Margut öffnete mir die Tür und reichte mir freundlich die Hand. Ich horchte auf. So warm klang ihre Stimme, so durchweht von herzlicher Anteilnahme. „Gut, daß Sie kommen, Herr Rönning. Sie dürfen nicht so viel allein sein. Der Großvater wollte Sie schon holen.“ Sie hielt meine Hand noch immer fest. Und in dem halbdunklen, kleinen Flur klang’s nun wie ein Hauch an mein Ohr: „Auch ich möchte Ihnen so gern etwas Sonnenschein geben.“

Dann öffnete sie die Tür nach dem Wohnzimmer. Verwirrt trat ich ein. Der Klang lag noch in meinen Gehörnerven, dieser zarte, streichelnde Klang: ‚Sonnenschein geben.‘

Nun in der Helle des Zimmers schaute ich Sidna dankbar an. Sie trug heute ein graues, ganz schlichtes Kleid; der Hals war frei; die Linien dieser Gestalt in dem fast ärmlichen Gewand entzückten mein Künstlerauge.

Sidnas Blicke sind heute ebenfalls so anders. Das, was mich sonst an Sidnas Augenausdruck gestört haben mag, eine gewisse kühle Überlegenheit, das Aufblitzen einer starken Willenskraft, fehlte jetzt vollständig. Eher melancholisch, verträumt, mehr voller Seele waren diese halb verschleierten Augen, mehr große, dunkle Kinderaugen, die bereits so manches Leid geschaut.

Ich nahm Platz. Da erschien auch schon Blenski aus seiner Studierstube. Ich wunderte mich, daß er mich nur flüchtig ansah, kurz nickte und sofort zu Sidna sagte:

„Bitte melde mir Besuche stets sofort, Kind!“

Seine Augen hatten dabei etwas Strenges, fast Drohendes.

Mir wurde unbehaglich zumute. Ich schien nicht gerade zu glücklicher Stunde mich hier eingefunden zu haben.

Ich erhob mich. „Entschuldigen Sie bitte, daß ich …“

Blenski streckte mir beide Hände hin. „Lieber Freund, keine Redensarten! Trinken Sie mit uns Kaffee. Wir können dann nachher einen Spaziergang machen.“

Es wurde eine sehr gemütliche, zwanglose Kaffeestunde. Nur Sidna, glaubte ich, war ein wenig bedrückt. Selten nur sprach sie ein paar Worte. Desto eifriger suchten meine Blicke sie verstohlen immer aufs neue.

Ich begriff mich nicht. Wie konnte ich nur soeben noch vor der Flurtür Sidna Margut so ganz ausschalten wollen – fast in einem Gefühl der Abneigung. Meine abirrenden Gedanken umspielten dieses schlichte Mädchen da mit keuschen Wünschen. Ich stellte mir vor, Sidna würde mir dieses Wesen werden, das ich ersehnte. Und ich fühlte geradezu in mir die sichere Überzeugung: Das wäre das Glück – ein volles Glück! Wie seltsam wieder meine Gedanken waren! Und wie ungereimt! Wie war’s nur möglich, daß ich meine Ansichten so schnell wechselte – von trübem Grau zu Rosenrot!

„Sie sind heute merkwürdig zerstreut,“ lächelte Blenski. Aber mir wollte es scheinen: Seine Augen lächelte nicht mit.

Überhaupt: Wenn ich scharf prüfte, spürte ich in dieser bescheidenen Stube heute doch etwas wie Gewitterschwüle; Blenski und Sidna waren nicht wie sonst. Oder lag es nur an mir, daß ich schon wieder dem Hang zum Grübeln nachgab, daß meine in den Jahren der Gefangenschaft zu dünnen Fäden abgeschliffenen Nerven allzu leicht vor geringen äußeren Einflüssen zu vibrieren begannen und das Geringste zu Bedeutungsvollem anschwellen ließen?!

Ich wurde unter Blenskis forschendem Blick verlegen.

Er stand auf und sagte heiter: „Ins Freie also! Vorwärts! Die Sonne lockt – der Frühling!“ Sidna blieb daheim. Ich hätte sie heute so gerne neben mir gehabt, als wir dann an der Mottlau dicht am Ufer entlangwanderten, den hochragenden Essen und Baulichkeiten der Werften zu. Blenski hatte bisher nichts von dem erwähnt, was doch auch ihm in meinem Interesse so wichtig sein mußte: Ob der Kobrakopf mir gewährt, was ich erbeten hatte: Den Mörder im Träume zu sehen!

Nicht ein Wort war ja dort am Kaffeetisch zwischen uns über das Verbrechen gewechselt worden. Und auch jetzt sprach Blenski wieder nur von Indien. Nun sagte er, indem er stehenblieb und auf einen großen Frachtdampfer deutete, den ein winziger Schlepper an langer Trosse in den Innenhafen nach den uralten Getreidespeichern brachte: „Ein Gruß aus der Ferne! Ein Australier ist’s, aus Melbourne. Eine weite Reise … Weizen hat er fraglos geladen, vielleicht auch Gefrierfleisch. Australien exportiert jetzt viel gefrorene Schafe …“

Er muß wirklich die ganze Welt kennen, dachte ich.

Inzwischen hatte er nach kurzer Pause gefragt: „Hat denn Ihre liebe Mutter nie eine Andeutung gemacht, ob Ihr Vater – Ihr richtiger Vater – vielleicht längere Zeit im Auslande gewesen? Dies gäbe dann doch einen geringen Anhalt dafür, welchen Beruf er gehabt haben mag.“

Ich verneinte. Und Blenskis Frage brachte mich auf das große Ereignis von heute: Sigurd Balkar! Mein Name!

Ob ich ihm dies wohl anvertrauen sollte? – Ich war ja so voller Freude über dieses Fallen der Schleier, die meine Vergangenheit umgaben. Sie hatten sich etwas gesenkt. Und sichtbar geworden war in frohen, hellen Buchstaben: Balkar.

Wir wanderten weiter. Ich möchte Blenski beweisen, daß er wirklich mein Freund. Doch: Rickert hat gewarnt. Ich sollte verschweigen, was ich in der Matratze fand. Und ohne das kleine Gebetbuch vermochte ich Blenski nicht zu erklären, wie ich die Gewißheit erlangt, daß … das Bilderbuch einst mein gewesen, daß meine Mutter Hedwig Balkar geheißen hatte.

Es fiel mir schwer. Aber ich behielt für mich, was diesen Tag zu einem festlichen machte.

Blenski hatte sich auf eine morsche Bank dicht am Ufer gesetzt.

„Ruhen wir uns aus,“ meinte er. „Die Luft macht müde. Hm – müde! Wie haben Sie geschlafen? Haben Sie geträumt?“

„Ja.“ Ich zögerte mit diesem Ja. Dann fügte ich sofort hinzu, um diesen mir peinlichen Gegenstand zu erledigen: „Ich habe auch von dem Mörder geträumt, ihn ganz deutlich vor mir gesehen.“

„Ah – erzählen Sie!“

Ich berichtete eingehend und schloß dann: „Ihr Kobrakopf, lieber Herr Blenski, wird an diesem Traum schuld sein, oder … er lügt, denn“ – die folgenden Sätze hatte ich mir sehr genau überlegt! – „heute war der Kriminalinspektor Rickert bei mir und ließ mich darüber nicht im Zweifel, daß … nur ich als Täter in Betracht käme. Wenigstens nach dem jetzigen Stand der Ermittlungen.“

Blenski wandte mir sein Patriarchengesicht zu und nickte ernst …

„Ich kann mir denken, was der Inspektor Ihnen gesagt haben wird. Er wird von einer Tat im Dämmerzustande gesprochen haben. Gut, daß Sie selbst beginnen, hiermit zu rechnen.“ Seine heisere Stimme flüsterte das Letzte nur; seine Augen suchten die nahe Wasserfläche des Flusses.

Ich saß wie gelähmt da. Blenskis Worte hämmerten noch immer wie Keulenschläge gegen meinen von hastigen Gedanken erfüllten Kopf.

Nie – nie hatte ich diese Antwort vermutet – niemals! Ich hatte ja von Blenski etwas anderes auf Umwegen herauslocken wollen: Seine jetzige Ansicht darüber, ob die Bettlerin wirklich ein Trugbild gewesen sein könne! – Er mußte ja meines Erachtens diese Ansicht aufgegeben haben. Und gerade weil mir heute so seltsam das Bild des Mädchens in dem dürftigen Umschlagetuch und Sidna, wie ich sie vor einer Stunde neu kennengelernt, in eins zusammengeschmolzen waren – nur deshalb sollte Blenski mir gleichfalls bestätigen, was schon Inspektor Rickert angedeutet hatte: Kein Trugbild, nein – Fleisch und Blut!

Ich fühlte plötzlich Blenskis Rechte auf meinem Arm.

„Lieber Rönning, ich fürchte, ich habe da soeben etwas Böses angerichtet. Mein Gott, wenn ich das geahnt hätte!“

Ich regte mich, stierte ihn an …

„Also meinen Sie wirklich, ich könnte …“ Ich brachte den Satz nicht fertig vor Grauen vor mir selbst …

„Seien Sie stark,“ sagte er gütig. Und liebevoller konnte der Ton einer Mutter nicht sein, die ihr Kind trösten will. „Sie müssen es sein. Glauben Sie, die Polizei würde dieser erdrückenden Beweislage gegenüber von einer Verhaftung absehen, wenn sie eben nicht lediglich in aller Stille sich Aufschluß über Ihre Geistesverfassung verschaffen wollte? Der Inspektor sagte Ihnen, daß nur Sie Wendel ermordet haben können. Er wird dies geäußert haben, nachdem er Sie eingehend verhört hatte. Aus diesem Verhör gewann er die Überzeugung, daß Sie für das Geschehe nicht voll verantwortlich zu machen seien. Und nun wird man Sie genau beobachten, bis man einen weiteren Beweis dafür erhält, daß zur Sicherheit für Ihre Umgebung und zu Ihrem eigenen Besten einige Zeit völliger Zurückgezogenheit in einer geeigneten Heilanstalt nötig ist.“

Verzweifelt sprang ich auf, packte Blenskis Schultern und rüttelte ihn:

„Die Wahrheit – die Wahrheit! Ich bin verrückt – verrückt – irrsinnig – nicht zurechnungsfähig … Ist’s so …? Ist’s so …?“

Blenski rief um Hilfe, er stieß mich von sich. Eine wahnsinnige Wut bemächtigte sich meiner. Ich drang auf ihn ein … Männer tauchten auf, Eisenfäuste bändigten mich … Ich wurde ohnmächtig … –

 

7. Kapitel.

Als ich erwachte, saß Strackler an meinem Bett.

Ein Blick hatte genügt. Ich war nicht daheim! Ich befand mich in einem freundlichen, hellen Zimmer in einem sauberen, weißlackierten Bett. Die Sonne schien durch die beiden Fenster herein. Ein Fensterflügel stand offen. Draußen sah ich grüne Linden, deren Zweige leicht sich bewegten. Ich hörte Vögel zwitschern. Dann – aus dem Innern des Hauses ein gellender Schrei, der in ein entsetzliches Heulen überging.

Ein Eiseshauch kroch mir über den Leib. Ich schaute scheu den still dasitzenden Strackler an. Ich war so schwach, daß ich kaum den Kopf in den Kissen drehen konnte.

Strackler nickte mir mit aufmunterndem Lächeln zu und sagte: „Endlich haben Sie’s überstanden, lieber Herr Balkar. Endlich! Fast zwei Wochen lagen sie in schwerem Nervenfieber.“

„Zwei Wochen …? – Unmöglich! Ich erinnere mich ja auf die furchtbare Szene am Mottlauufer noch so genau.“

„Na – noch eine Woche, dann können Sie heim,“ fuhr er fort. „Für heute mag dies als erste Unterhaltung genügen.“ Er erhob sich, nahm meine abgezehrte Hand und streichelte sie. „Jetzt nur Mut, lieber Freund! Dann renken wir alles ein – alles!“

„Wo bin ich?“ Welche Mühe mir die wenigen Worte machten!

Strackler wurde ernst. „Erschrecken Sie nicht! Ich möchte vorausschicken: Sie sind nicht etwa geistesgestört, keine Rede davon! Auf mein Wort, damit Sie mir glauben! Man hat Sie aus bestimmten Gründen, die jedoch mit Ihrer Person nichts zu tun haben, auf meine Veranlassung nach der Provinzialirrenanstalt Neustadt gebracht.“

Eine leichte Ohnmachtsanwandlung überkam mich – vor jähem Grauen, das meine Seele förmlich zusammenpreßte.

„Nochmals, lieber Herr Balkar, Sie sind geistig durchaus normal. Und um auch das gleich zu erledigen, was Sie in Ihren Fieberphantasien so oft angstvoll hinausschrien wie ein Verzweifelter: Sie haben Albert Wendel nicht ermordet – auch nicht etwa in einer Art von Dämmerzustand! Sie sind völlig schuldlos an diesem Verbrechen. Den Schuldigen werden wir finden, wenn Sie erst ganz gesund und kräftig genug sind, mir zu helfen. Ohne Ihre Hilfe vermag ich nichts in diesem Falle. Es handelt sich eben um einen Kampf gegen Verbrecher, die mir an Schlauheit vielleicht noch überlegen sind. Trotzdem: Siegen werden wir! Das Recht ist auf unserer Seite. So – nun leben Sie wohl! Versuchen Sie zu schlafen! Und wenn Sie wieder aufwachen, sei Ihr erster Gedanke: Ich bin unschuldig und geistig gesund!“ Dann ging er.

Schlafen soll ich?! Unmöglich! Aber – da öffnete sich die Tür, und ein Mädchen in Schwesterntracht trat ein und brachte mir ein Glas Limonade.

Ich trank, wurde so müde … Ich sah noch die Schwester mit gütigem Lächeln an meinem Bett stehen, ein Mädchen mit bereits leicht ergrautem Haar, sah noch, wie ihr Gesicht andere Linien annahm, wie es dem der Bettlerin plötzlich glich. Mein Denken glitt in die Welt der Träume hinüber.

Sidna Margut beugte sich über mich. Sie trug das Schlangengewand, und ihre Züge ähnelten so seltsam einem Kobrakopf. – Ich scheuchte sie angstvoll hinweg.

Ihre Gestalt löste sich in Nebel auf … Die Nebel wallten, verloren das traurige Grau, färbten sich, und Sidna Margut mit den wehen Kinderaugen der Bettlerin und im schlichten Kleide stand wieder vor mir. Ich streckte sehnsüchtig die Arme aus. Sie sank langsam mit schmerzlichem Aufstöhnen in die Knie, wühlte das Gesicht in die Steppdecke und weinte.

Meine magere, weiße, kraftlose Hand fuhr liebkosend über den aschblonden Scheitel hin …

Ich lauschte. Sidna Margut stieß unter trockenem Aufschluchzen einzelne Worte hervor: „Ich … verdiene … es … nicht …“

Ich streichelte ihr Haar weiter – immerzu. Linde Wärme zog in mein Herz ein.

„Ich liebe Dich,“ flüsterte ich. „Ich liebe Dich über alles … Geh nicht mehr von mir …“

„Ich … muß … muß …!!“

Die knieende Gestalt zerflatterte … Und abermals formte sich der Nebel zu einem Menschen: Strackler!

Er drückte meine Hand und lachte fröhlich: „Zwölf Stunden haben Sie geschlafen! Das lob’ ich mir! Guten Morgen, Herr Sigurd Balkar. Oh – machen Sie nicht so wilde Augen. Sie sind wirklich wach. Ihre Wangen haben schon etwas Farbe.“

Strackler stopfte mir Kissen in den Rücken. Ich saß nun aufrecht und konnte die Arme leicht bewegen, mein Kopf war klar, meine Brust erfüllt von der Wonne der Genesung.

Die Schwester mit dem leicht ergrauten Scheitel trug ein großes Teebrett herein: Frühstück für Strackler und mich. Dann ging sie wieder. Strackler bediente mich. Ich sah, daß er genau so ärmlich gekleidet war wie bei seinem ersten Besuch bei mir in meiner Mansardenwohnung.

In meiner Wohnung! Was mag wohl aus ihr geworden sein? So kam es, daß meine erste Frage meinem Heim galt.

„Ihre Wohnung? Oh, da haust jetzt ein Kriminalbeamter als ständige Wache. Niemand kann dort etwas stehlen. Ihr Stellvertreter, lieber Freund, zog noch an demselben Nachmittag ein, als Sie am Mottlauufer in momentaner Nervenüberreizung auf den alten Blenski eindrangen. – Nun – Sie haben Blenski nichts angetan. Nein, meine Leute waren schnell genug zur Stelle.“

„Ihre Leute?“

„Ja doch. Natürlich! Ich durfte Sie doch nicht unbewacht lassen. Dazu hatte man Ihnen doch schon zu gefährliche Schlingen gelegt. Rickerts Beamte, zwei Mann, waren stets hinter Ihnen auf diesem Spaziergang. Und ich folgte als dritter ganz hinten.“ Er lächelte wieder. Das Lächeln war selbstbewußt und auch drohend.

„Ich war nämlich um vier Uhr nachmittags damals aus Berlin zurückgekehrt,“ fuhr er fort, „und hatte dort recht schnell erledigt, was not tat.“

Ich unterbrach ihn. „Balkar?“ fragte ich nur.

„Ja – Balkar, Familie Balkar, Ihre Familie, lieber Freund.“

Er nahm einen Schluck Portwein. „Es scheint zu schmecken. Freut mich. Hier – essen Sie nur ruhig noch ein Ei. Der Geheimrat hat es erlaubt.“

Ich gehorchte. Eine zitternde Ungeduld war in mir, dann fragte ich zögernd: „Meine Familie? Bitte, Herr Strackler, was wissen Sie jetzt über die Balkars?“

Er schaute auf seine Fingernägel und meinte:

„Zuviel, um heute schon darüber zu sprechen. Übermorgen, hoff’ ich, werden wir im Garten sitzen können. Dann werden Sie wissen, wer Ihr Vater war. Ich kehre heute nach Danzig zurück. Wundern Sie sich also nicht, wenn ich morgen hier nicht erscheine. Ich muß dort mal wieder nach dem Rechten sehen in unserem Nonnenhof.“

Eine andere Frage wollte ich jetzt an ihn richten. Er sah mir an, daß ich etwas auf dem Herzen hatte, beugte sich über mich und sagte in leicht scherzendem Tone:

„Im Fieber warfen Sie immer Sidna Margut und die Bettlerin in einen Topf, mein Lieber. Aber aus Ihren wirren Reden ging doch hervor, daß ein gewisser Jemand sich mehr nach dem Mädchen im löchrigen Umschlagetuch sehnt.“

Ich wurde rot und strich die Steppdecke glatt. „Haben Sie die Bettlerin nun gefunden?“ brachte ich fast angstvoll über die Lippen. Ich hegte ja so innig den Wunsch, sie einmal sprechen zu können, obwohl ich sie damals am Kaffeetisch bei Blenski fast ganz vergessen hatte – damals, als Sidna mich immer so traurig anschaute, so flehend und so mitleidig …

„Nein. Sie muß Danzig verlassen haben. Auch eins von den vielen Rätseln, die noch aufzuklären sind.“ –

Zwei Tage später lag ich in einem Krankenstuhl im Garten. Der Direktor trat auf mich zu und legte mir drei Briefe in den Schoß.

„Lieber Herr Rönning, die sind während der zwei Wochen für Sie eingetroffen. Heute gestatte ich, daß Sie sie lesen.“

Er drückte mir die Hand, schloß die Pforte nach dem Anstaltsgarten auf und begab sich zu seinen Kranken.

Briefe? Für mich? Wer könnte an mich geschrieben haben?

Ich nahm den obersten. Ah, Absender: Blenski! Er schrieb: ‚Mein lieber junger Freund! Ob man Ihnen dieses Schreiben aushändigen wird, bezweifle ich fast. Trotzdem drängt es mich, Ihnen mein aufrichtiges Bedauern wegen dieser traurigen Schicksalswendung auszusprechen. Ich mache mir die größten Vorwürfe, weil meine Bemerkung damals am Mottlauufer Ihnen erst Klarheit über das gab, was ich sofort vermutet hatte. Seien Sie überzeugt, daß niemand so warm mit Ihnen mitfühlt, wie gerade ich. Auch für Sie werden wieder bessere Tage kommen. Glauben Sie dies einem Manne, der der Wunderkraft eines Kobrakopfes mehr vertraut als dem Urteil aller Ärzte der Welt. – Ich grüße Sie vielmals. Ihr Otto Blenski.‘

Der Brief hinterließ in mir recht zwiespältige Empfindungen.

Und so griff ich nach dem zweiten Brief. Eine seltsame Handschrift, wie die eines Kindes fast. Nur die dicken Grundstriche schienen mehr die Tatkraft eines Erwachsenen zu verraten.

Auf dem Umschlag war kein Absender vermerkt. Poststempel: ebenfalls Danzig! – Unwillkürlich prüfte ich so auch den dritten Brief. Dieselbe Handschrift! Merkwürdig – woher plötzlich diese Unruhe, diese Erregung, daß meine Hände zitterten …?

War Sidna Margut die Absenderin? Ja – sie mußte es sein – nur sie! Doch nicht jene Sidna, die damals mit Blenski und mir vom Kirchhofe heimging, nein – die neue Sidna, die mit den Augen der Bettlerin. Ich las:

‚Vielleicht wird man gnädig sein und Ihnen diesen Brief vorlesen. Vielleicht wirft man ihn auch ins Feuer. Ich weiß ja nicht, ob die, die man in solche Häuser sperrt, noch Briefe empfangen dürfen. – Ich werde Sie nie wiedersehen. Aber zurufen will ich Ihnen, und denken Sie jetzt, ich läge auf Knien vor Ihnen: Verzeihen Sie mir! Sie ahnen nicht, mit welchen Strömen von Tränen ich diese Schuld bereue! Verzeihen Sie einer Unglücklichen, die nie wieder ihres Lebens froh werden kann.‘

Keine Anrede, keine Unterschrift. Und diese Sätze? Was bedeuteten sie? – Vielleicht gab der zweite Brief Aufschluß? Ich überflog die wenigen Zeilen:

‚Sollte Ihnen mein erster Brief ausgehändigt worden sein, so – verbrennen Sie ihn bitte sofort, genau wie diesen. Die Macht derer, die ich zu fürchten habe, reicht weit.‘

Seltsam – seltsam!! Ich war ein Gezeichneter, war der Mittelpunkt eines großen Geheimnisses, das in unzählige kleine sich aufgelöst hat.

„Guten Morgen!“

Ich fuhr zusammen. Strackler schüttelte mir die Hand. „Aha – die Briefe! Deshalb auch hörten Sie mich nicht kommen. – Wer sind denn die Absender? – Ich muß alles wissen. Das sagte ich Ihnen ja schon in der Nacht Ihrer Flucht.“

„Bitte!“ Ich reichte ihm die Schreiben. Er stand vor mir. Sein Gesicht war wieder unrasiert, und er sah in seinem Anzug und mit dem zerknitterten, hellgrauen Filzhut geradezu schäbig aus. Mit einem „Hm, hm!“ faltete er die Briefe zusammen und schob sie in die Brusttasche.

„Merkwürdige Briefe, die beiden von Damenhand,“ meinte ich zaghaft, um ihn zum Reden zu bringen.

„Sehr wichtige Briefe,“ nickte er grüblerisch. „Ja, ja, die Macht derer, gegen die wir nun gemeinsam kämpfen werden, lieber Rönning, reicht weit! – Ganz recht. Nur nicht bis in diese Mauern hinein, hinter denen die schmachten, die man nicht mehr fürchten zu müssen glaubt. – Lassen wir jetzt die Briefe. Sie sollen heute ja endlich erfahren, wer Sie sind. Damit will ich beginnen und Sie nachher schrittweise weiterführen. Es wird ein Weg werden, wie ihn nicht viele gehen dürften. Dieser Weg ist … der ‚große Fall‘, Sie wissen, meine Sehnsucht! Ein Verbrechen, das weit über alles Alltägliche hinausragt, ein Gegner, der mir zum mindesten gewachsen …! – Hier habe ich endlich dieses Große gefunden.

Lesen Sie diese meine kurzen Aufzeichnungen!“

Ich griff nach dem Bogen Paper und begann voller widerstrebender Gefühle:

‚Als ich gewahr wurde, wie abgeschlossen die beiden Rönnings, Mutter und Sohn, lebten, witterte meine feine Spürnase hier allerlei Geheimnisse.

Nun hat mir Freund H. vom Meldeamt mitgeteilt, daß diese Frau Rönning seinerzeit einen falschen Namen angegeben und sich auf falsche Papiere hin angemeldet habe.

Um Klarheit zu gewinnen, nahm ich zunächst an dem ärmlichen Begräbnis teil und beobachtete Rönning, auch auf dem Rückwege. Ich sah die Bettlerin, mir entging nicht, wie sie in einem Wagen verschwand. –

Die Ermordung Wendels hat großes Aufsehen erregt. Ich fand am Tatort ein Bilderbuch mit dem Namen Sigurd Balkar und einen Hut, als dessen Besitzer Rönning festgestellt wurde. Standen Buch und Hut in irgendeinem Zusammenhang? Aus Berlin erfuhr ich, daß vor zwanzig Jahren die Familien Rönning und Balkar dort in der Turmstraße nebeneinander gewohnt hatten.

Balkar ging nach der Geburt seines Sohnes Sigurd nach Indien und kehrte erst nach sieben Jahren unerwartet nach Berlin zurück. Hier wurde er bald nach seiner Ankunft in der Wohnung der Familie vergiftet und beraubt. Seine Frau wurde der Tat verdächtig und nur aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Sie verschwand mit ihrem Sohne aus Berlin.‘

Als ich aufsah, ergänzte Strackler diese kurzen Angaben:

„Ihre Mutter ist schuldlos; ein anderer hat Ihren Vater getötet. – Wenn Ihre arme Mutter etwas Gesetzwidriges begangen hat, so ist dies lediglich die Entwendung der Papiere, die den Rönnings einst gehörten, und weiter die Falschmeldung hier bei den Danziger Behörden. Dies jedoch sind so winzige Vergehen gegenüber dem Riesenleid, das Ihre Mutter all die Jahre getragen hat, daß ihr Bild in Ihrem Herzen, lieber Freund, völlig rein dastehen muß.

Nun fragt es sich, wer war der Mörder Ihres Vaters und wo ist das große Gepäck mit seinen Wertsachen geblieben. Ich habe nach den Gerichtsakten festgestellt, daß Ihre Mutter in der kleinen Reisetasche nur ein Gebetbuch neben einem Kruzifix sowie eine Blechbüchse aus einer braunschwarzen Masse mitgenommen hat. Außer Wäsche wurden nur einhundertachtzig Mark Bargeld gefunden, keine Papiere, kein Gepäckschein. Auch dies werden wir aufzuklären suchen.“ –

Strackler ging bald wieder und ließ mich mit meinen Grübeleien allein.

Zwei Tage später durfte ich heimkehren. Der letzte Zug brachte mich nach Danzig zurück. In meinem Abteil las ich die Zeitung, die mir der Geheimrat zugesteckt hatte. Und ich fand auch die kurze Notiz, die sich auf mich bezog:

‚Die Untersuchung im Falle Wendel scheint leider mit einem völlig negativen Ergebnis enden zu wollen. Es hat sich herausgestellt, daß der für unheilbar geistesgestört erklärte Zeichner R., in dem man bereits den Täter gefunden zu haben glaubte, weder als Mörder in Frage kommt noch auch gemeingefährlich geisteskrank ist. Man wird diesen armen Mann, der lediglich durch eine Reihe widriger Zufälle in so schweren Verdacht geriet und der ebenso nur in augenblicklicher Nervenüberreizung einen tätlichen Angriff auf einen älteren, ihm befreundeten Herrn unternahm, nur ehrlich bemitleiden können …‘

Ich wußte sofort: Das war Stracklers Werk! – Ich wußte es, obwohl ich ihn seit jenem Vormittag im Garten des Direktors nicht mehr gesehen hatte. – –

 

8. Kapitel.

Wieder daheim! Die Haustür hatte ich noch offen gefunden. Und der Beamte, mein Stellvertreter in der Wohnung, hatte mich erwartet, mir die Flurtür auf mein Läuten sofort geöffnet, seine wenigen Sachen zusammengepackt und mir schnell noch einen Zettel in die Hand gedrückt, bevor er ging.

Ich war allein, das Licht auf dem Tisch brannte. Ich steckte auch noch die Hängelampe an. Nun sah ich jedes Möbelstück ganz genau, begrüßte jedes einzelne, begrüßte mein Handwerkszeug auf dem Mitteltisch – aber alles ohne rechte Freude. Und dann setzte ich mich in den alten Lehnstuhl am Fenster. Die Vorhänge hatte ich zurückgezogen – der Lehnstuhl war mir teuer. Hier hatte ich das kleine Gebetbuch zum ersten Male genau betrachtet, hier die Blechbüchse auf den Knien gehabt. Jetzt las ich, weit mich nach dem Licht vorbeugend den Zettel – Stracklers Begrüßungsworte und eingehende Verhaltungsmaßregeln:

‚… es geht nicht anders! Sie müssen heucheln, schauspielern! Bedanken Sie sich sofort für seinen Brief! Aber Vorsicht bei jedem Wort! Verbrennen!! Ihr … Str.‘

Also hinüber zu Blenski sollte ich! Und zwar noch an diesem Abend! – Nun gut: Ich tue es Strackler zu gefallen! Ich selbst?! Ich habe das Interesse an der ‚großen Sache‘ verloren. – –

Blenski öffnete mir.

Und wie er zurückprallte bei meinem Anblick! – Das war nicht Mache!! Das war halb Entsetzen, halb sehr schlecht verhehlte Unfähigkeit, auch nur ein Wort hervorzubringen! Aber bei mir war alles Mache, Theater! Mein trübes Lächeln schien zu fragen: ‚Sie wollten wohl nichts mehr von mir wissen, Herr Blenski? …‘

Endlich hatte er sich gefaßt und sagte: „Sehen Sie, mein lieber, armer Freund, der Kobrakopf hat nicht gelogen! Sie haben doch meinen Brief erhalten, nicht wahr? Nun also! Doch – entschuldigen Sie einen Augenblick. Ich will nur Sidna mitteilen, daß Sie es sind; sie hat es sich bereits etwas bequem gemacht. Es geht ihr gesundheitlich nicht gut. Sie werden sie nicht begrüßen können. Vielleicht morgen erst.“

Er schlüpfte in das Wohnzimmer, öffnete dabei die Tür nur ganz wenig und zwängte sich hindurch.

Mein Blick folgte ihm. In der Mitte des Zimmers hatte Sidna Margut gestanden, in demselben schlichten, grauen Kleide wie damals an jenem Nachmittag. Und ihre Haltung, ihr Gesichtsausdruck waren die eines Menschen gewesen, der in freudiger Überraschung nach der Tür hingehorcht hatte.

Blenski hatte also schon wieder gelogen! Sidna sah wohl blaß, aber durchaus nicht so krank aus, daß sie mich nicht hätte begrüßen können. Und ihr Anzug hätte dies erst recht nicht verhindert …!

Mit gespanntester Aufmerksamkeit lauschte ich und vernahm heftige Worte, erregte Wechselrede, unterdrücktes Schluchzen, das Zuschlagen einer Tür.

Dann nahm mich Blenski in das Zimmer hinein. Es war leer. Ich mußte mich auf das Sofa setzen, mußte ein Glas Wein mit dem Alten zur Feier des Tages trinken, ich ließ mich aushorchen, tat, als hätte ich nichts zu verschweigen, mischte geschickt Wahrheit und Lüge, zeigte Blenski das heutige Abendblatt, in dem die Notiz von meiner Entlassung aus der Anstalt stand.

Er stierte lange auf die gedruckten Zeilen – zu lange! Dann schenkte er sich mit etwas unsicherer Hand das Weinglas voll und stürzte den Inhalt auf einen Zug hinunter.

Und wieder vergingen Sekunden, bevor er fragte: „Hat Ihnen der Direktor in Neustadt nicht sagen können, ob man jetzt eine andere Spur verfolgt? Ich meine, man hätte Ihnen hierüber Aufschluß geben müssen, damit Sie nicht argwöhnen könnten, Ihre Entlassung sei nur wieder ein Trick der Polizei zu irgendwelchen dunklen Zwecken …“

Ah – ich merkte sofort: Er wollte mich wieder mißtrauisch machen, mir andeuten, er selbst glaube an diesen Trick. Nun – ich war ja durch Stracklers Zettel genügend auf alles vorbereitet und erwiderte gelassen:

„Gewiß hat man mir Aufschluß gegeben. Die Polizei sucht jetzt die Bettlerin. Leider ist sie spurlos verschwunden. Man nimmt an, jenes Mädchen sei die Mörderin gewesen. Aber – nur eine verkleidete Bettlerin! Wahrscheinlich ein Weib, das von Wendel durch Wuchergeschäfte zur Verzweiflung getrieben worden ist.“

Blenskis Augen umspielten dauernd mein Gesicht. Er schüttelte nun den Kopf und meinte:

„Hm – haben Sie denn den Herren dort in Neustadt nichts von Ihren anderen Begegnungen mit dieser Person gebeichtet? Sie verstehen, in der großen Allee, in der Hökergasse.“

„Nein – nein! Ich habe mich gehütet!!“ flüsterte ich. „Ich habe dann stets gedacht, was Sie mir auf der Bank am Mottlauufer vorgehalten haben: Daß diese Scheinerlebnisse ein Beweis für …“

Er winkte ab. „Schon gut – schon gut! – Sie haben mithin nur von der einen Begegnung an jenem Abend gesprochen, an der Marienkirche.“ Nervös strich er die Tischdecke glatt. Überhaupt: Wie anders war er heute! Wie ein Wild kam er mir vor, das von der Treiberkette eingekreist ist und nach einem Löchlein zum Entschlüpfen sucht.

„Ich bin von Kommissar Rickert auch vernommen worden – natürlich!“ fuhr er fort. „Ich sollte über Ihren Geisteszustand Bekundungen machen. Ich habe erklärt, daß ich Sie lediglich für nervös überreizt hielte, Einzelheiten vermied ich, entging weiteren Fragen durch Hinweis auf mein angeblich schlechtes Gedächtnis, so – also an eine verkleidete Frau denkt die Polizei jetzt! Gar nicht so übel, diese Mutmaßung. Das wird wohl Rickerts Freund und heimliche rechte Hand ausgeklügelt haben. Wissen Sie, wer dies ist? Strackler – Benno Strackler!“ Er lachte ironisch auf, beugte sich vor und wiederholte achselzuckend: „Ausgerechnet Strackler! Denn – er ist nicht bloß Winkelkonsulenten, lieber Freund, oh nein! Er ist ein sehr befähigter Privatfahnder – ein Detektiv von ‚stillem‘ Ruf, das heißt: Alle Welt soll ihn lediglich für einen armseligen, unrasierten, vertrottelten Winkeladvokaten halten.“

Er sprach immer leiser. „Ich weiß seit langem, was er in Wahrheit treibt, deshalb warnte ich Sie auch vor ihm! Er läßt sich von der Polizei gut bezahlen. Er ist erbarmungslos ehrgeizig; er würde seinen besten Freund verraten, nur um einen Erfolg zu erzielen. – Hat er nicht auch Sie in Neustadt – vielleicht unter einer Maske – ausgehorcht?“

Ich fühlte Blenskis lauernden Blick. „Ja – ja – er war zweimal in der Anstalt, nicht verkleidet, er kam mit dem Direktor in mein Zimmer, behauptete, der Geheimrat sei ein alter Bekannter von ihm; er wolle mich nur begrüßen und trösten.“

„Ah – und – – was wollte er aus Ihnen dann herausholen?“

„Ob ich nicht den Namen Balkar häufiger von meiner Mutter gehört hätte; ob ich wüßte, daß es in Berlin eine Familie dieses Namens gegeben habe, und ob ich in die Einzelheiten des Giftmordprozesses Balkar eingeweiht sei.“

Der Erfolg meiner Worte war derart, daß ich mir alle Mühe geben mußte, so zu tun, als bemerke ich Blenskis Erbleichen nicht, nicht die feinen Schweißperlen, die ihm auf die Stirn traten, nicht das Zittern seiner Hände. Er lehnte sich jetzt ganz weit in seinen Stuhl zurück. Und seine Stimme klang noch heiserer, noch unangenehmer als er mit einem kurzen Auflachen sagte: „Sehen Sie – – sehen Sie: So ist er! Ich wußte es ja: Rickert hat ihn wieder zu Hilfe gerufen, diesen … elenden Schnüffler, der …“

Er hatte die letzten Worte recht laut gesprochen, wie gepackt von einer ohnmächtigen Wut. Plötzlich, mitten im Satz, erhob er sich, glitt nach der Tür, die in das dritte Zimmer führte, und verschwand dahinter. Von dort her hörte ich jetzt halb ersticktes Weinen; dazwischen Blenskis Stimme; hastigen Wortwechsel.

Er kam zurück. „Verzeihen Sie! Mir war’s, als hätte Sidna mich gerufen. Es war ein Irrtum.“ Er setzte sich wieder. Ich reimte mir das Richtige zusammen: Er hatte gefürchtet, Sidna könnte gelauscht haben! Und – es war auch wohl der Fall gewesen.

Er trank schnell ein ganzes Glas, füllte auch das meine und sagte nun: „Ich kann Sie nur nochmals vor Strackler warnen. Falls er sich jetzt hier an Sie heranmachen sollte, so gehen Sie, rate ich Ihnen, auf alles ein, stellen Sie sich, als ob Sie sich freuten, daß er Sie mit seiner Freundschaft beehrt. Wir beide werden ja wohl schlauer sein als er und bald merken, was er eigentlich im Schilde führt! Vielleicht gegen Sie! Wer kann’s wissen?! Denn, mein lieber Herr Rönning – ehrlich gestanden: Ich begreife nicht, daß man Sie aus der Anstalt entlassen hat. Ich werde da aus so vielem nicht recht klug. Ich sehe da so allerlei Widersprüche, die mir …“ Er flüsterte wieder, und das Letzte blieb mir unverständlich, war nur noch ein lautloses Bewegen der Lippen …

Kein Zweifel, ihn hatte die Angst um die eigene Sicherheit gepackt! Er begann sich zu fürchten! Er fürchtete Strackler! Und er tat es mit Recht! Wie fein hatte Strackler nicht diesen sofortigen Besuch bei Blenski berechnet gehabt, wie fein mir die Antworten in den Mund gelegt!! An alles, an jede Möglichkeit hatte er gedacht. Er hatte erreicht, was er wollte: Blenski traute mir und setzte das alte Spiel wieder fort!

Ich blieb bis Mitternacht bei ihm. Beim Abschied meinte er dann: „Was haben Sie dazu gesagt, daß die Polizei in Ihre Wohnung einen ihrer Schergen hineingesetzt hat?“

Ich zuckte die Achseln. „Man ist ja machtlos, lieber Herr Blenski. Beschweren?! Ob das Zweck hat?“

„Bewahre. Lassen Sie’s bleiben! Ist der Mensch denn noch da?“

„Nein. Er verschwand sofort. Ich war so empört, daß ich … Doch ich will mich nicht wieder aufregen. – Gute Nacht, auf Wiedersehen. Bitte auch Sidna zu grüßen. Gute Besserung.“

Ich schloß meine Flurtür auf, hörte, wie Blenski an seiner Tür die Sicherheitskette vorlegte und der starke Riegel zuschnappte, den er noch über dem Schloß von innen hatte anbringen lassen.

In meiner Wohnstube strich ich ein Streichholz an, hielt es über den Lampendocht …

Es fiel mir aus der Hand. Denn aus dem alten Lehnsessel hatte Strackler mir leise zugerufen: „Endlich, lieber Balkar!“

Ich strich ein zweites Hölzchen an.

„Tragen Sie die Lampe bitte in Ihr Schlafzimmer,“ meinte Strackler. „Wir müssen hier im Dunkeln bleiben.“

Ich tat’s. Und dann erst schüttelten wir uns die Hände.

Ich zog mir einen Stuhl neben den Sessel und mußte nun berichten, wie Blenski sich benommen, was er gesprochen hatte.

„Alles tadellos!“ nickte Strackler. „Vielleicht haben wir schon in dieser Nacht Glück. Wenn nicht – in der nächsten ganz bestimmt, denn er wird sich mit ihr aussprechen wollen.“

„Er? Blenski? Ihr?“ flüsterte ich. „Mit wem denn?“

„Nun – mit seiner Mutter. Doch fragen Sie nichts mehr! Sie sollen handeln – mit mir gemeinsam. Ich sagte Ihnen damals in Neustadt – besinnen Sie sich: Ich könnte ohne Sie hier nichts ausrichten. Ich brauche Sie eben dazu, Blenski, der jetzt ungeheuer vorsichtig ist, zu einem Besuche bei seiner Mutter zu bewegen. Jetzt wird er eine Dummheit machen, aus ungewisser Angst! Er fühlt, daß ich ihm überall Schlingen gelegt habe. Trotzdem wird er in eine hineintappen.“

Strackler stand auf. „Werden Sie an dem Strick bis zum Dach hochklettern können? Sind Sie schwindelfrei?“ fragte er leise und zog mich an das andere Fenster. „Wir müssen erst auf das Hausdach und dann auf das des altehrwürdigen Brückenkastens! Wird’s gehen? – Wenn nicht, so warten Sie hier auf mich …“

„Es wird gehen …“

 

9. Kapitel.

Strackler hatte Lederhausschuhe an. Auch ich mußte die Stiefel ausziehen und in ein Paar Segeltuchschuhe schlüpfen. Dann kletterte er als erster zum Fenster hinaus, nachdem er eine Weile sehr scharf den Fuchsbau drüben gemustert hatte. Dort waren nur im ersten Stock zwei Fenster erleuchtet. Die Nacht war dunkel; der Himmel hing wie ein pechschwarzes Tuch scheinbar ganz tief. Nicht ein Stern war zu sehen. In der Ferne grollte ein Gewitter. Strackler warf mir dann eine dünnere Leine von oben zu. Er hatte mir befohlen, sie mir um die Brust zu binden, das eine Ende hatte er in der Hand zu behalten.

Für mich, der noch nie auch nur entfernt Ähnliches erlebt hatte, bedeutete dieses Abenteuer geradezu eine Probe auf die Widerstandsfähigkeit meiner Nerven. Der Wein, den mir Blenski vorgesetzt hatte, kam mir jetzt sehr gelegen. Ich verspürte eine fast leichtfertige Unternehmungslust.

Ich stand nun auf dem Fensterkopf und umfaßte den dicken Kletterstrick, zog mich hoch und pendelte zwischen Himmel und Erde. Strackler half mit der Leine nach, die er stets ganz straff gespannt hielt. Ich hatte nicht einen Augenblick das Gefühl, es könnte mir irgend etwas zustoßen. Ich gelangte auch wohlbehalten auf das Dach neben Strackler, der mir anerkennend ein ‚gut gemacht‘ zuflüsterte. Während er das Tau von dem einen Schornstein losknüpfte und einige Schritt weiter an einem Haken befestigte, der hier an den Dachbrettern festgeschraubt war, wagte ich mich bis zu der kleinen, von einem morschen Geländer eingefaßten Dachplattform hinauf.

Die Kletterpartie auf das Dach des Verbindungsganges war ganz ungefährlich. Strackler ließ mich diesmal zuerst hinunter. „Legen Sie sich sofort platt nieder und vermeiden Sie jedes Geräusch,“ sagte er, als ich bereits wieder an dem Tau hing.

Dann kroch er mir voran auf allen Vieren bis zur Mitte des Daches des langgestreckten, zwischen Vorder- und Hinterhaus festgekeilten Kastens. Hier hob er mit der Klinge seines Taschenmessers ein Stück Brett in Größe eines Zigarrenkistendeckels heraus, legte es beiseite und flüsterte: „Jetzt nicht gerührt! Und – Geduld!“

Wir lagen lang ausgestreckt da, die Köpfe dicht an dem Loch, unter dem tiefstes Dunkel lauerte. Von Sankt Katharinen schlug es eins. Das Glockenspiel begnüge sich mit den wenigen Takten: ‚Die Himmel rühmen des Ewigen …‘ – Die Töne klangen seltsam dumpf.

Ich stierte wie hypnotisiert in das Loch hinein, das ich nur als dunkleren Fleck wahrnahm. Stracklers Gedanken waren wohl kaum so rege wie die meinen. Mir wurde warm über all dem Denken. Meine Gleichgültigkeit gegenüber Stracklers ‚großem Fall‘ war dahin. Sidna – die Sidna im schlichten, grauen Kleide, wie sie so glücklich nach der Tür hin gelauscht hatte – diese Sidna hatte meine Wandlung bewirkt. Ich sann darüber nach, wen ich nun eigentlich liebte, wem meine erste, auf ein Weib gerichtete Sehnsucht gehörte … War’s nun die Bettlerin, war’s Sidna Margut mit den schwermütigen Augen und ohne das Schlangengewand …? – Und ich sagte mir: ‚Alles, was dir im Leben begegnet, hat etwas Rätselhaftes – alles! Andere Männer lieben, werden vielleicht glücklich, vielleicht unglücklich. Aber sie kennen doch wenigstens die Eine, der sie ihre sehnsüchtigen Wünsche weihen, die Eine! Und ich?! Ich taumele schon wieder wie ein Blinder mit meinen Gefühlen umher, möchte gern sehend werden und vermag es nicht. Die Bettlerin soll tot sein, behauptet Strackler. Und doch: Für mich lebt sie … Sie lebt weiter als Sidna Margut, als die andere Sidna …!‘

Da – Stracklers Finger umkrallten meinen Arm. Ich verstand und brachte das Gesicht der kleinen Öffnung noch näher.

Die Finsternis dort unten zerschnitt ein dünner, weißer Strahl. Er tänzelte über staubige Dielen hin. Jetzt sah ich auch die Quelle, der er entsprang: Eine elektrische Taschenlampe, die ein Mann in der Rechten hielt und die er so mit den Fingern beschattete, daß nur ganz wenig Licht hindurchfiel.

Der Mann war vorüber. Strackler schob meinen Kopf beiseite, horchte in das Loch hinein, richtete sich dann auf und deckte die Öffnung wieder zu.

„So,“ meinte er triumphierend. „Das wäre geglückt. Und nun kommt Fräulein Sidna an die Reihe. Schnell zurück in Ihre Wohnung und dann hinein zu Blenski. Wir werden ihm einen noch größeren Schreck einjagen. Wir lassen Sidna verschwinden! Sie wird gehorchen. Anderenfalls scheue ich mich auch nicht, Gewalt anzuwenden!“

Ich fieberte jetzt förmlich. Wir waren in meinem Wohnzimmer. Strackler zog einen Schlüssel aus der Tasche, mit vielfach gezacktem Bart. „Er paßt. Ich habe ihn bereits in aller Stille ausprobiert,“ sagte er, mir zunickend. „Den Riegel kann er jetzt ja nicht vorgeschoben haben, der Herr Chemiker.“

Wir öffneten meine Flurtür, standen im Dunkeln und lauschten minutenlang.

Plötzlich gegenüber ein leises Geräusch. Dort lag die Flurtür Blenskis; es wurde ein Schlüssel im Schloß umgedreht. Jetzt ein schwacher Lichtschein; eine Hand hielt eine kleine Kerze; die Tür dort ging weiter auf. Und – Strackler hatte schon wieder meinen Arm gepackt. Die Gestalt in dem großen Umschlagetuch, die nun die Tür vorsichtig ins Schloß zog, die dann nach der Treppe zu verschwand, war … meine Bettlerin!

Wir hörten Stufen knarren. Und ich fühlte Stracklers eisernen Druck, hörte seine gehauchten Worte: „Was – was bedeutet das nun wieder?!“ Dann nach Sekunden: „Freund Balkar, Sie müssen hinter ihr drein. Seien Sie schlau! Wir müssen wissen, wo sie bleibt. Ich bin hier nötiger. Sollte sich irgend etwas ereignen, sollten Sie Hilfe brauchen, so wenden Sie sich nur an den Kriminalbeamten, der Ihnen jetzt nach-schleichen wird. Er ist zu Ihrem Schutz und als Wache vor dem Hause da. Wie er aussieht, weiß ich nicht. Der Bettlerin würde er nicht folgen. Darauf ist er nicht vorbereitet – auf diese neue Überraschung.“

Meine Segeltuchschuhe eigneten sich recht gut für eine Verfolgung in den Schleiern des leichten Regens. Ich war stets zwanzig Schritt hinter dem eilig dahinhastenden Mädchen. Ob jemand wieder mir auf den Fersen blieb, konnte ich nicht feststellen. Ich sah und hörte nichts von einem Beamten hinter mir. Die Jagd ging durch schmale Gassen dem Fischmarkt zu. Dann am Hafen entlang dorthin, wo ich damals mit Blenski auf der Bank aus morschen Schiffsplanken saß. – Hier war noch Leben; hier waren einzelne Kneipen noch offen.

Vor mir huschte die ärmliche Gestalt zusammengeduckt dahin; wie damals, als sie mich in das leere Haus in der Seilmachergasse führte. Und heute? Wohin ging’s heute? Die letzten Häuser. Jetzt nur noch Kisten- und Fässerstapel.

Dann das leere, mit Faschinen befestigte Ufer. Einzelne hohe Pfähle mit tiefen Rillen, die die Taue ausgescheuert haben. – Ich mußte mehr zurückbleiben. Ich wandte mich nach links, wo der Bretterzaun eines Lagerplatzes mir Schutz bot. So kam ich auf eine Höhe mit dem Mädchen, das ich liebe, das – mein Frühlingstraum sein könnte, wenn ich wüßte, daß …

Ah, sie trat dicht an den Rand des Bollwerks und verschwand fast. Ich kam näher. Sie stand jetzt auf einem mit Kies beladenen Prahm, dicht über dem häßlich im Glanze der fernen Lichter schillernden Wasser. Der Regen fiel stärker.

Jäh zuckte ein Gedanke in mir auf: Selbstmord! Denn, was suchte sie hier sonst wohl, wenn nicht den freiwilligen Tod?

Ebenso jäh fuhr ich herum, neben mir sagte ein älterer Mann in Fischertracht: „Herr Rönning, die Geschichte gefällt. – –“ Da raste er schon vorwärts. Ich sah ihn vom Prahmrand mit Hechtsprung ins Wasser sausen.

Und – da weiter rechts erschien etwas wie eine Hand über der trüben Flut. Ich sprang hinein und packte zu, während das Wasser über mir zusammenschlug. Und – ich hatte Glück. Ich war’s, der das Mädchen rettete trotz ihres verzweifelten Widerstandes. Der Kriminalbeamte half sie mir nur auf den Prahm zerren. Sie schluchzte. Das große Umschlagtuch hatte die Mottlau verschluckt.

Es war die Bettlerin; es war die geflickte Bluse, der löcherige Rock. Der Fischer, der Wachtmeister Kersten, wurde energisch. „Lassen Sie das Weinen! Wer sind Sie?“

Keine Antwort. Und wieder wollte er das Mädchen hart anfahren. Da mischte ich mich ein. „Sie kennen mich. Ich weiß, wer sie ist. Zunächst bringen wir sie wohl am besten nach Hause.“

Stracklers Stimme drang an mein Ohr. „Ja – zu mir nach Hause …!“

Der Kies knirschte unter seinen Schritten. Er stand neben uns und sagte zu dem schluchzenden Mädchen: „Sie haben nichts zu befürchten. Wir meinen es nur gut mit Ihnen. Folgen Sie uns getrost …“

Kersten lief davon. Strackler hatte ihn nach einem Wagen geschickt. Wir nahmen das Mädchen in die Mitte. Sie schluchzte noch immer leise in sich hinein. Kersten kam uns auf dem Fischmarkt mit einer Taxameterdroschke entgegen. Der Kutscher mußte vom Bock. Kersten fuhr uns. Und Strackler meinte beiläufig, während wir durch die Gassen der Altstadt ratterten: „Von den Ereignissen dieser Nacht darf nichts an die Öffentlichkeit dringen.“

Wir hielten dann in der Großen Nonnengasse vor einem winzigen Häuschen. Die Tür war mit dicken Eisennägeln, einem blitzenden Messinggriff und einem altehrwürdigen Türklopfer verziert. Strackler stieg schnell aus. Neben der Tür in der Hauswand mußte es eine versteckte elektrische Glocke geben. Minuten verstrichen. Ich saß neben dem Mädchen und suchte umsonst nach einem herzlichen, lieben Wort. Und – in Gedanken hatte ich mir ja wiederholt so genau ausgemalt, wie das Wiedersehen mit ihr sein sollte, was ich sagen würde.

Und jetzt – schwieg ich beklommen. Und sie zitterte in ihren nassen Kleidern. Vielleicht nicht allein vor Kälte. Ich dachte an die bebende Angst, die ihre Seele trotz Stracklers Güte zermartern mußte. Sie war es ja gewesen, die mich in das Haus 1599 gelockt hatte; sie mußte von jenem Morde mehr wissen als Strackler selbst.

Von dem Morde! Ich wurde diesen Gedanken nicht los! Seltsam genug, bisher hatte ich diese Bluttat kaum mit ihr in Verbindung gebracht. Gerade jetzt tauchte das alles in mir auf, alle Einzelheiten jenes Abends und des am Morgen entdeckten Verbrechens. Eine Scheidewand entstand zwischen mir und diesem Weibe, die mein unberührtes Herz mit so viel sehnsüchtigen Gedanken umgeben hatte.

Strackler öffnete die Wagentür. „Bitte!“ Das Mädchen gehorchte. Sie hatte sich in ihr Schicksal ergeben.

Die Tür des Häuschens war offen. Eine alte, grauhaarige Frau wartete in dem engen Flur mit einer Küchenlampe mit Blechscheinwerfer. Sie schritt uns voran über einen Hof durch ein winziges Gärtchen. Ein großer Fliederbaum duftete hier in voller Blütenpracht; durch eine Mauerpforte ging’s weiter in einen anderen Hof. Dann hinein in einen Vorbau, einen Flur. Die Frau drückte eine Tür auf, winkte dem Mädchen. Und Strackler führte mich an die nächste Tür, öffnete, ließ mich eintreten.

Eine Petroleumlampe brannte über einem Eichentisch mit gedrehten, schweren Füßen. Dahinter ein mächtiges Ledersofa; gedrehte Säulen trugen das Paneel über der hohen Lehne. Zinnkrüge, Bronzen, eine ironisch lächelnde Buddhafigur darauf. Das ganze, so niedrige und doch so behagliche Zimmer enthielt Altdanziger Möbel. Sogar eine jener wertvollen Truhen mit Kunstschloß, wie sie im Museum des Franziskanerklosters ausgestellt sind.

„Mein Studierzimmer, lieber Balkar,“ meinte Strackler. – „Einen Augenblick. Ich hole Ihnen trockenes Zeug.“ Er kehrte sehr bald zurück, nahm dann meine nassen Sachen hinaus, brachte ein Teebrett mit einem kupfernen Spirituskocher darauf, mit einer Flasche Rotwein, Gläsern, Zuckerdose. Ich mußte mich mit einem warmen Hausrock, einer Decke und warmen Filzschuhen in die Sofaecke setzen. Strackler ging auf und ab. Dann kochte der Rotwein im Kessel.

Wie wohl hätte ich mich hier gefühlt, wenn nicht dort im Nebenzimmer vorhin wieder das trostlose Aufschluchzen laut geworden wäre! Ich hatte mit Strackler bisher nur wenige Worte gewechselt. Jetzt setzte er sich in den Lehnsessel neben mich.

„Sie schläft,“ meinte er. „Ich habe ihr in den heißen Tee ein Schlafpulver gemischt. Es ist am besten für sie. Meine Schwester wird bei ihr wachen. Meine Schwester Berta führt mir den Haushalt. Oder richtiger: Sie führt zwei Haushalte, denn mir gehören beide Häuschen; dies hier im Nonnenhof und das andere in der Großen Nonnengasse. Berta wohnt ‚offiziell‘ drüben, ich hier. Sie ist Witwe. Und nur ganz wenige wissen, daß Frau Berta Kunkel und ich Geschwister sind.“ Er füllte die Gläser, tat Zucker hinein.

„Sie haben ein reizendes Heim,“ sagte ich mit neuem Umblick durch das Zimmer.

„Nachher zeige ich Ihnen jenseits des Flurs die Kehrseite der Medaille.“ Er lächelte. „Dort haust der Winkelkonsulent. So ein richtiges Winkeladvokatenbureau. Trinken Sie, lieber Freund! Ihr Wohl! Und auf die Erfolge dieser Nacht. Ich möchte heute nicht in Blenskis Haut stecken.“

 

10. Kapitel.

Er stellte Zigarren und Zigaretten vor mich hin und fuhr fort: „Inzwischen habe ich mich weiter mit der Familie Blenski beschäftigt. Ich habe festgestellt, daß der alte Blenski gestorben ist. Seine geschiedene Frau Karla hat sich seiner Zeit wieder verheiratet, und zwar mit dem Steuermann Thomas Brakfort. Sie wohnt – von ihm getrennt – im Fuchsbau, sie war Wendels Flurnachbarin.

Otto Blenski, Sohn des obigen, ist aus Indien mit zwei Kindern – Sidna und Mona – zurückgekehrt. Er hat die Leiche seines Vaters beiseite geschafft und spielt seitdem sehr geschickt dessen Rolle. Er bemühte sich mit einem Raffinement ohnegleichen, Ihre stark angegriffenen Nerven mit Hilfe der Bettlerin, seiner Tochter Mona, immer weiter zu schädigen.

Als Sie hinter Mona Blenski die Treppe hinabhuschten, war ich bereits in des ‚alten‘ Blenskis Räumen. In der Wohnstube auf dem Sofatisch bemerkte ich sofort einen gegen den Fuß der Petroleumlampe gestützten Zettel, auf dem mit eben erst getrockneter Tinte geschrieben stand:

‚Ihr habt mich in den Tod getrieben, habt mich belogen, meine Leichtgläubigkeit mißbraucht. Mag auch mein Selbstmord Euch Ungelegenheiten bereiten – mir ist jetzt alles gleichgültig. Ich flehe Euch nur noch um eins an: Gebt die Versuche auf, bei ‚ihm‘ das zu finden, was wahrscheinlich nur ein Hirngespinst ist, schont ihn! Ihr habt jetzt ja die beste Gelegenheit, durch die Morning Post ins Ausland zu kommen. – Verzeihen kann ich Euch nicht! Ihr habt mein Leben vernichtet – nur Ihr! –

Mona.‘

So lauteten die Abschiedsworte der Selbstmörderin, die nun dort friedlich schläft und deren Leben wir, mein lieber Freund, nachher hoffentlich etwas sonniger gestalten können.“ Strackler lächelte fein, nickte und trank mir zu: „Lieber Balkar – nicht wahr, etwas Sonnenschein wollen wir dieser Mona spenden, der es – und das kann ich als guter Menschenkenner behaupten! – nicht anders geht als Ihnen.“

Ich wurde rot. Aber – ich reichte ihm die Hand und sagte herzlich: „An mir soll’s nicht fehlen.“

„Dacht’ ich mir! – Und jetzt, wo Sie noch ihr Lebensretter geworden sind, da wird … – Doch abwarten! Derartiges entwirrt und … findet sich von selbst. Der Zettel an der Lampe blieb, wo er war. Ich beeilte mich, Ihnen zu folgen, erwischte auch glücklich noch den Wachtmeister Kersten, sagte ihm Bescheid und hielt mich als Dritter ganz hinten. Das Weitere ist Ihnen bekannt. Nun zu Blenski. Ob er noch bei seiner Mutter im Fuchsbau sitzt und mit ihr über neuen Plänen brütet, wie man mich kaltstellen und doch noch die erhofften Millionen einstreichen …“

„Millionen?!“

„Gewiß. Das sagte ich Ihnen ja schon nach Ihrer mißglückten Flucht: Hier handelt es sich nicht um Lapalien! Damals vermutete ich’s nur den ganzen Vorbereitungen nach; heute weiß ich’s bestimmt. Also die Beiden, Mutter und Sohn, werden vielleicht noch beisammen sein. Wenn nicht, dann hat Blenski den Zettel bereits gefunden. Und – vielleicht ist er dann nochmals durch den Holztunnel in den Fuchsbau geeilt. Nun, er wird jedenfalls einen bösen Schreck bekommen haben, und morgen wird sich zeigen, ob er das Spiel hier verloren gibt.“

Stracklers Verhaltungsmaßregeln für mich waren wieder so eingehend und so klar, daß ich mich meiner Aufgabe durchaus gewachsen fühlte.

In seinem Anzug, mit einer Lodenpelerine von ihm versehen – ich besaß eine ähnliche, – ließ er mich dann nach der Großen Nonnengasse zu hinaus.

Als ich am ‚Eisernen Nagel‘ vorüberkam, stand dort in der dunklen Toreinfahrt ein Mann, der wie ein Bettler ausschaute. Er mußte mich sofort erkannt haben, zog mich schnell neben sich, flüsterte als Erkennungswort: „Strackler!“

„Herr Rönning,“ teilte er mir hastig mit, „vorhin waren oben bei Blenski die vier Fenster hell. Jetzt ist wieder alles dunkel. Er war auch hier auf der Straße, blieb dann aber unschlüssig stehen, murmelte etwas vor sich hin und lief wieder ins Haus zurück.“

„Ihr Kollege Kersten hat Ihnen von dem Selbstmordversuch …“

„Ja – ich bin eingeweiht. Hat Herr Strackler für diese Nacht noch etwas vor?“

„Nein …“

„Danke sehr. Gute Nacht, Herr Rönning.“

Ich stieg doch mit einigem Herzklopfen die Treppen hinan. Strackler rechnete ja bestimmt damit, daß Blenski spätestens vormittags bei mir sich einfinden und mir sehr wahrscheinlich mitteilen würde, ‚Sidna‘ hätte plötzlich abreisen müssen oder ähnliches, denn den Selbstmord würde er, meinte Strackler, ohne Zweifel zunächst verschweigen und ebensowenig den verhängnisvollen Zettel erwähnen.

Der Morgen graute bereits, als ich mich zu entkleiden begann. Dann kam mir ein anderer Gedanke. Ich zog mir meinen Winterüberzieher an, nahm einen Stuhl und setzte mich in meinen Wohnungsflur. Ich wollte aufpassen, wann Blenski aus dem Fuchsbau in seine Behausung zurückschlich. War er noch drüben bei seiner Mutter, so mußte er jetzt in kurzem hier wieder erscheinen. Er würde es nicht wagen, am Tage den Verbindungsgang und die eiserne Pforte im Treppenhaus zu benutzen.

Ich lauschte angestrengt. Und – ich brauchte nicht lange zu warten. Es gab da auf dem ersten Treppenabsatz ein paar Dielen, die recht laut knarrten. Kaum vernahm ich die mir so wohlbekannten Geräusche, als ich mich auch schon vorbeugte und durch das Schlüsselloch blickte. Vom Dachfenster fiel bereits genügend Licht in den Vorraum hinein. So bemerkte ich denn zwei Gestalten, die sehr eilig hinter Blenskis Tür verschwanden. Zwei Gestalten: Blenski und … Sidna Margut!! Die richtige Sidna Margut! Oder besser – Sidna Blenski!

Ah – das war wieder eine wichtige Überraschung! Wir wußten jetzt ja: Nicht die Bettlerin, nicht Mona Blenski, war sozusagen in eine Versenkung untergetaucht, sondern ihre Zwillingsschwester Sidna! – Mona, nicht Sidna, war es gewesen, die damals zu mir an jenem Nachmittag so lieb gesagt hatte: ‚Auch ich möchte Ihnen so gern etwas Sonnenschein geben‘ – Mona war’s, die damals von Blenski so unliebenswürdig und schroff behandelt worden war. Mona hatte gestern abend mitten im Zimmer gestanden und so freudig mir entgegengeschaut! Kein Wunder also, daß die Bettlerin und die vorgetäuschte ‚Sidna‘ für mich so rätselvoll in eins verschmolzen waren!

Und jetzt – jetzt tauchte die echte Sidna wieder auf! Ob sie etwa die ganze Zeit über bei ihrer Großmutter Karla Brakfort sich verborgen gehalten hatte?! – Mir schien dies nicht recht glaubhaft. – Wo aber war sie inzwischen gewesen?!

Strackler mußte jedenfalls hiervon sofort benachrichtigt werden. Für mich stand es fest, daß Blenski Sidna nur zurückgeholt hatte, um das Verschwinden Monas besonders mir gegenüber zu verheimlichen, und daß er daher sich auch kaum am Vormittag bei mir einfinden würde. Ich schrieb also an Strackler ein paar Zeilen, teilte ihm kurz das Beobachtete mit und ging dann sehr leise die Treppen hinab, läutete den Wirt des ‚Eisernen Nagels‘ heraus, gab ihm den Brief und sagte nur: „Für Herrn Strackler! Sehr dringend!“

Er nickte. „Wird besorgt, Herr Rönning..“ Er reichte mir die Hand und fügte hinzu: „Herzlich willkommen daheim! Ich bin nämlich so ziemlich mit allem vertraut … Ich war früher Kriminalschutzmann und helfe noch jetzt der Polizei, wo ich irgend kann.“

Daheim ging ich nun wirklich zu Bett. Um acht weckte mich ein Schornsteinfeger; er müsse die Öfen nachsehen. – Ich ließ ihn ein. Schweigend gab er mir ein Briefchen. Es war von Strackler.

‚Der Kaminkehrer ist ein Beamter,‘ schrieb er. ‚Er soll nachher auch zu Blenskis hinüber. – Sie haben ganz recht: Sidna ist der Ersatz für Mona. Es bleibt bei unserem Programm. Kommt Blenski bis zehn nicht zu Ihnen, so gehen Sie zu ihm und handeln, wie zwischen uns vereinbart. Der Schornsteinfeger wird zwischen zehn und elf bei Karla Brakfort vorsprechen und dafür sorgen, daß sie uns nicht stört. – Gruß Str.‘

Ich wartete bis fünf Minuten nach zehn. Dann läutete ich bei Blenski an. Und – Sidna öffnete mir, Sidna mit den kühlen, allzu klugen Augen. Es gelang ihr sehr schlecht, jenen Ton zu treffen, in dem Mona mit mir verkehrt hatte. Ihre Herzlichkeit blieb gemacht.

Blenski sah heute blaß und etwas verfallen aus. Ich bat, ihn allein sprechen zu dürfen. Wir gingen in sein Studierzimmer hinüber. Dort brachte ich das Gespräch auf den Kobrakopf. Ich spielte den leicht Verlegenen.

„Lieber Herr Blenski, ich habe ein Anliegen,“ meinte ich dann. „Sie sind jetzt doch selbst davon überzeugt, daß die Bettlerin existiert …“

Ein scharfer Blick traf mich.

„Wenigstens die, die mich damals nach der Seilmachergasse brachte,“ fügte ich hinzu.

Er nickte nur.

„Ich habe dieses Mädchen doch an demselben Nachmittag, als wir nachher den Spaziergang am Mottlauufer entlang machten, von meiner Wohnstube aus am Fenster des Brückenganges nach dem Hinterhause ganz deutlich gesehen …“

Er lächelte gutmütig.

„Und ich möchte daher den Kobrakopf. – –“

Er erhob abwehrend die Hände und unterbrach mich.

„Lieber Herr Rönning – ich kann zu diesem Zweck, der doch fraglos halb selbstsüchtig, eben der Wunsch eines Menschen ist, der …“

„Oh – bitte, bitte – tun Sie mir doch den Gefallen,“ fiel ich ihm ins Wort. „Von Selbstsucht ist keine Rede, und versuchen könnte ich’s doch wenigstens, ob das Mädchen sich dort hinter dem verstaubten Fenster wieder blicken läßt. Ich will mich ja auch erkenntlich zeigen. Ich will Ihnen etwas anvertrauen, was ich in Neustadt in der Anstalt von einem Gespräch zwischen dem Direktor und Strackler erlauscht habe. Nur ein paar Worte waren’s. Aber sie hatten auf Sie Bezug.“

„Ah – wirklich?!“ Sein Gesicht straffte sich. „Gut – ich komme nachher mit zu Ihnen hinüber mit dem Ebenholzkästchen. Nun, was erlauschten Sie?“

„Strackler sagte zu dem Geheimrat etwa: ‚In Danzig hat es mal kurze Zeit zwei Blenskis und zwei Töchter des einen gegeben‘ – mehr hörte ich nicht.“

Er war schnell aufgestanden und an den großen Schrank getreten. Er riß die Tür auf. „Sie müssen sich verhört haben, lieber Freund,“ sagte er in den Schrank hinein und nahm das Kästchen heraus. „Dieser ekelhafte Schnüffler phantasiert gern so allerlei, spielt den Superklugen.“

Er verschloß den Schrank und wandte sich mir zu. Die Blässe seines Gesichts hatte sich noch nicht vollständig verloren. „Gehen wir,“ meinte er und versuchte zu lächeln. „Der Kobrakopf wird versagen – ganz bestimmt. Aber – ich tue Ihnen gern den Willen.“

Wir begaben uns in meine Wohnung. Im Arbeitszimmer schlug die Uhr gerade halb elf. Ich hatte die Zeit tadellos abgepaßt.

Blenski stellte das Kästchen auf den Tisch und öffnete es. Und als ich nun den häßlichen und in seiner Art doch so merkwürdigen Schlangenkopf nach so langer Zeit wieder vor mir sah, da erst fiel mir ein, daß Strackler in der verflossenen Nacht über diesen Kopf der Wünsche sich so gar nicht geäußert, und daß ich vergesse hatte, seine ehrliche Ansicht über dieses seltsame Tierpräparat einzuholen.

Jedenfalls beugte ich mich mit recht zwiespältigen Empfindungen über das Kästchen und starrte die glitzernden Augen des Reptils an. Ich brauchte nicht zu wünschen, daß Mona dort an einem der spinnwebüberzogenen Fenster des verwitterten, großen Holzkastens erschiene. Sie würde ja ohne mein Zutun dort auftauchen. Aber etwas wie einen Wunsch formten meine Gedanken unwillkürlich doch: Monas Schuld möchte so gering sein, daß nichts dem im Wege stünde, meinen Frühlingstraum in beglückende Wirklichkeit überzuleiten. Das dachte ich. War es Selbstsucht?!

Ich richtete mich wieder auf, klappte das Kästchen zu, trat an das linke Fenster und schaute nach dem Verbindungsgange hinunter. Hinter mir Blenskis heiseres Lachen. „Aber, lieber Herr Rönning, hoffen Sie etwa, daß das … hm … das sogenannte Bettelmädchen sich Ihnen jetzt sofort zeigen wird?!“

Ich drehte mich nach ihm um. „Ich habe so intensiv, so mit aller mir nur …“ –

Ich schwieg, rief dann leise in ganz anderem Tone: „Da – da … wahrhaftig … sie ist’s – – sie ist’s!!“

Im Nu war er neben mir. Ich machte ihm etwas Platz. Sein keuchender Atem traf meine Wange. Dort unten zwischen den Spinnwebfenstern stand die Bettlerin, stand Mona Blenski, schaute zu mir hinauf, lächelte traurig, hob grüßend die Hand.

Blenski stützte sich mit den Fäusten auf das Fensterbrett. Ich musterte ihn heimlich von der Seite. In seinen weit aufgerissenen Augen lag ein Ausdruck wildester Wut! Sein Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Noch nie hatte ich ihn in einer solchen Verfassung gesehen. Dann stieß er kurz hervor: „Entschuldigen Sie mich! Ich bin sofort wieder zurück.“ Er lief davon und schmetterte die Türen hinter sich zu. Und wie behende er noch war, wirklich alles andere als greisenhaft!

Strackler hatte alles ganz richtig berechnet. Ich nahm schnell das Ebenholzkästchen, verbarg es unter dem Rock und folgte Blenski. Als ich die Treppe leise hinabschlich und mich über das Geländer beugte, sah ich ihn gerade noch, wie er die eiserne Pforte des Brückentunnels hinter sich zuzog.

Mit drei langen Sätzen war ich vor der Flurtür des Ehepaares Lemke, würdiger Rentiersleute, die Strackler ins Vertrauen gezogen hatte. Die Tür stand etwas offen. Ich reichte das Kästchen hinein, hetzte sofort wieder nach oben, blieb dann dort auf der Treppe stehen, wo man rechts in die Nische einsteigen konnte, die die kleine Eisentür enthielt.

Hier wartete ich. Blenski kam. Bei meinem Anblick prallte er zurück. Sein Lächeln war nur ein Grinsen, als er sagte: „Bitte – überzeugen Sie sich selbst, daß der Gang leer ist …“

Ich spielte den ungläubig Erstaunten, murmelte: „Unmöglich – unmöglich!“

Ich sah, der Gang war leer. – Natürlich leer, denn Mona war längst wieder bei dem alten Ehepaar in Sicherheit.

Blenski schloß die Tür ab. „Ein Zufall, daß ich den Schlüssel besitze und gerade bei mir hatte,“ sagte er harmlos. „Ich wollte Ihnen nur beweisen, daß ich recht habe, daß Sie tatsächlich noch immer Gespenster am hellen Tage sehen. Kommen Sie, lieber Freund!“

Er ging mir voran in meine Wohnung. Die Flurtür war weit offen. Dann rief ich: „Das Kästchen!! Es stand doch vorhin noch hier.“

Ich wühlte die Zeitungen auf dem Tisch sehr zwecklos durcheinander – absichtlich! Blenski stand mit schlaff herabhängenden Armen regungslos da. Seine erst so mißtrauisch auf mich gerichteten Augen veränderten den Ausdruck.

„Sie hätten die Flurtür nicht offen lassen sollen,“ sagte er langsam und ließ die Augen über die Fenster hingleiten. „Ah – der Flügel da ist nur angelehnt!“ Mit einem einzigen Satz war er dort, beugte sich zum Fenster hinaus und schaute nach oben. Dann ging er bis zum Tisch und blickte sich nochmals um.

„Ein Dieb war hier,“ flüsterte er und deutete auf das Fenster. „Er kann ja nur den Weg gewählt haben. Die Treppe war durch Sie gesperrt.“ Ich merkte, wie rastlos seine Gedanken das Verschwinden des Kästchens zu klären suchten, wie furchtbar ihn dies Geschehnis beunruhigte.

Er blieb noch fünf Minuten. Dann verabschiedete er sich. „Auf Wiedersehen, lieber Freund. Machen Sie sich weiter keine Gedanken darüber. Sie können nichts dafür.“ Er drückte mir die Hand. Sein Gesicht war wieder ganz verfallen. Und in seinen Augen wohnte jetzt schlecht verhehlte Angst. – –

Es war geglückt! Nicht nur der Kobrakopf, auf den Strackler es abgesehen hatte, befand sich nun in unserem Besitz, nein, auch der weitere Zweck war erreicht: Blenski wußte, daß Mona lebte, wußte aber nicht, was ihr Erscheinen in dem Verbindungsgange bedeutete, und fühlte sich nun stärker denn je beunruhigt und in seiner Sicherheit bedroht. Strackler hoffte jetzt, daß unser Gegner der ersten Dummheit – der Preisgabe seines Geheimnisses, daß er zu der eisernen Pforte einen Schlüssel besaß! – noch eine zweite, größere folgen lassen würde. Was Strackler mit dieser zweiten Unüberlegtheit meinte, hatte er mir nicht gesagt.

Als Blenski gegangen war, kam der Rückschlag nach dieser aufregenden halben Stunde. Ich setzte mich in den alten Sessel, schloß die Augen und fühlte nichts als eine ungeheure geistige und körperliche Abspannung. Es kostet Nerven, wenn man schauspielern muß und dies so gar nicht gewohnt ist, besonders aber, wenn man’s noch mit einem Menschen wie mit diesem Blenski zu tun hat.

Die Ruhe tat mir wohl. Mein Geist erholte sich schneller als mein Körper. Eine angenehme Müdigkeit ließ mich dann die Beine weit von mir strecken. Ich verfiel in eine Art Halbschlaf. Die Sonne schien wieder durch das Fenster herein und durchwärmte meinen Unterkörper, meine im Schoß liegenden Hände.

Jener seltsame Zustand, in dem wir wach zu sein wähnen und doch für Sekunden dann die Gewalt über das Heer unserer Gedanken verlieren, schuf die widerspruchsvollsten Bilder in meinem Hirn. Ich dachte an Mona, an meine Bettlerin. Ich hatte dem Kobrakopf den stillen Wunsch anvertraut, Mona möchte mir nicht etwa durch ihre Beteiligung an all diesen geheimen Ränken verloren gehen. Ich liebte sie. Ich liebte zum ersten Male. Und was das für einen Mann bedeutet, der all seine Sehnsucht nach Glück bisher nie irgendwie vergeudet hat, das empfand ich selbst am allerdeutlichsten. Ich würde nie mehr dem Dasein auch nur das geringste Interesse abgewinnen können, wenn diesem Sehnen die Erfüllung versagt bliebe.

Dann war ich plötzlich in Stracklers behaglich vornehmem Studierzimmer, saß in der Sofaecke und Mona weinend neben mir eben Sessel. Mir war’s, als hätte sie mir soeben unter Tränen eingestanden, sie liebe einen anderen …

Und in gleichen Augenblick riß ich auch schon die Augen auf und schaute wild um mich, bald aber atmete ich erleichtert auf und lächelte … Ich befand mich ja daheim. Mona saß nicht neben mir. Leider nicht. Ich schloß wieder die Augen, und bald ging der Zustand halben Wachseins in Tiefschlaf über.

Ich schlief traumlos, bis mich jemand rüttelte. „Lieber Rönning – aufgewacht!“

Strackler war’s. Ich gähnte zwanglos. Aber mir blieb der Mund vor Überraschung offen. Ein Blick nach rechts hatte mir Blenski und Sidna gezeigt, die hinter dem Tisch auf den billigen Fichtenstühlen saßen, hatte mich Inspektor Rickert erkennen lassen, der mehr nach der Tür zu auf einem dritten Stuhle saß, während am braunroten Kachelofen der Fischer von gestern Nacht, der Wachtmeister Kersten, lehnte.

War das Wirklichkeit? Unmöglich! Ich mußte träumen. Blenski trug ja seinen Ausgehanzug, und Sidna saß in einem hellgrünen Kostüm mit Strohhut da.

Dann aber hörte ich wieder Stracklers Stimme:

„Lieber Rönning, oder besser, lieber Sigurd Balkar, wir haben uns erlaubt, Herrn Otto Blenski junior nebst Tochter Sidna hier in Ihre Wohnung zu bringen. Sie wollten einen Ausflug nach dem Hafen von Neufahrwasser machen und hatten in ihrem Handkoffer angeblich nur etwas Tagesproviant mit. Dieser Proviant bestand jedoch in Banknoten und Wertpapieren im Gesamtbetrage von 172000 Mark und in einigen echt goldenen altindischen Schmucksachen. Die Herrschaften waren sehr empört, als sie am Ausgang des Nonnenhofes angehalten wurden. Inspektor Rickert war jedoch unhöflich genug, mit Gewalt zu drohen. Und nun finden Sie uns hier versammelt, um durch eine kleine Aussprache ein wenig Licht in ältere und neuere Vorgänge zu bringen. Eine Person fehlt hier noch, wird aber sofort erscheinen: Die geschiedene Frau Karla Blenski, die Vertraute Wendels. – Ah – da kommt sie bereits mit Wachtmeister Heller.“

Nun war ich nur zu wach. Ich erkannte: Der letzte Akt des Dramas hatte begonnen!

Die dürre, alte Dame, die mir von Ansehen als Bewohnerin des Fuchsbaus nicht mehr fremd war, fuhr sofort auf Inspektor Rickert los, redete allerlei von empörender Vergewaltigung, schwieg jedoch sehr bald, als der Hühne Rickert sie drohend anblitzte und sagte: „Setzen Sie sich dort neben das übrige Mördergesindel! Sie gehören mit dazu!“

Die ganze Situation war für mich außerordentlich qualvoll. Ich wagte weder Blenski noch Sidna anzusehen. Strackler nahm sich einen Stuhl und setzte sich den drei Blenskis gegenüber an den Tisch. Dann richtete er das Wort an Otto Blenski.

„Ich frage Sie im Auftrag des Kriminalinspektors Rickert, ob Sie ein offenes Geständnis ablegen wollen? Dieses Geständnis soll sich nicht nur auf die jetzigen, sondern auch auf die Vorfälle vor zwanzig Jahren in der Turmstraße in Berlin beziehen und noch weiter zurück auf Erlebnisse, die sich in den zum Fürstentum des Radschas von Birkassar gehörigen Shara Ginga Bergen abgespielt haben.“

Ich schaute nun doch zu Blenski hinüber. Er lehnte recht zwanglos in dem Stuhl. In seinem Gesicht drückte sich lediglich eine gereizte Aufmerksamkeit aus. Er erwiderte mit leichtem Achselzucken: „Ihre Andeutungen verstehe ich nur zum Teil. Ich habe ein Recht darauf, daß mir klipp und klar gesagt wird, was dies alles hier bedeutet und was man mir im einzelnen zum Vorwurf macht. Ich erkläre aber schon jetzt, daß ich es ablehne, einem Winkelkonsulenten zu antworten.“ Er wandte sich an den Inspektor: „Bitte – ich möchte von Ihnen Aufschluß haben.“

Rickert nickte. „Wie Sie wollen …“ Er winkte dem Wachtmeister Kersten, flüsterte ihm etwas zu.

Kersten schritt zu Blenski hin. Und ehe dieser noch wußte, wie ihm geschah, schnappten ein paar Stahlfesseln um seine Handgelenke. Er wurde kreideweiß. Und Rickert meinte in seiner unerschütterlichen Ruhe: „Das ist meine Antwort! – Zu erwidern brauchen Sie nichts auf das, was Herr Strackler Ihnen vorhalten wird. Wir haben jetzt alle Beweise beisammen. Strackler hat Sie zur Flucht zwingen wollen, damit Sie das Wendel geraubte Geld aus dem uns noch unbekannten Versteck hervorholen sollten.“

Blenski standen dicke Schweißperlen auf der Stirn. Nur sehr tonlos klang sein: „Ich – ich werde mich über diese Behandlung beschweren …“

Niemand achtete darauf. Strackler machte Kersten ein Zeichen. Der Wachtmeister ging hinaus und kehrte sofort mit einem jener älteren Modelle der Edisonschen Phonographen zurück, die man jetzt höchstens noch als billiges Kinderspielzeug antrifft, stellte den Apparat vor Strackler auf den Tisch und nahm wieder seinen Platz am Ofen ein.

 

11. Kapitel.

Was sollte der Phonograph hier?!

Nun – sehr bald sollte ich mit erleben, daß die veraltete Sprechmaschine Blenski völlig niederschmetterte – gerade diese Edisonsche Erfindung, die jetzt so tadellos vervollkommnet worden ist.

Strackler begann wieder, ganz leidenschaftslos, so etwa, als läse er etwa aus einem Buche vor:

„Ihre Tochter Mona wollte gestern aus Gewissensqualen sich das Leben nehmen. Herr Balkar hat sie gerettet und zu mir gebracht. Ich aber fand in Ihrer Wohnstube den gegen den Lampenfuß gelehnten Zettel – die Abschiedsworte Ihrer Tochter für Sie!“

Blenskis Kopf sank tiefer; seine Augen stierten auf den Fußboden.

„Mona hat uns heute morgen, Rickert und mir, alles gebeichtet, was sie wußte. Allzuviel war es ja nicht. Aber es genügte trotzdem. Sie erklärte:

‚Sidna und ich sind die Kinder aus einer illegitimen Ehe meines Vaters Otto Blenski mit einer Inderin vom Stamme der Dalgar aus Radschputana. Wir haben unsere Mutter nicht gekannt. Sie soll aber wie alle Dalgar eine so helle Hautfarbe wie eine Europäerin gehabt haben. Sie starb in Indien an der Pest. Wir wurden bis zum zehnten Jahre in einer Missionsschule in Delhi erzogen. Unseren Vater sahen wir nur selten.

Dann brachte er uns nach Europa, nach Berlin, wo wir in einem Töchterpensionat aufwuchsen. Auch hier besuchte der Vater uns nur selten. Was er eigentlich trieb, wußten wir nicht. Wenigstens ich wußte es nicht. Sidna war sein Liebling, und ihr, so schien es mir damals schon, schenkte er mehr Vertrauen. –

Daß unser Großvater Blenski hier in Danzig wohnte, war mir bekannt. Mein Vater hatte sich jedoch mit ihm völlig entzweit, da er sich ganz auf die Seite seiner Mutter geschlagen hatte, von der der Großvater sich scheiden ließ und die hierbei als der allein schuldige Teil erklärt wurde. –

Vor vier Wochen etwa erhielt Sidna dann eine Depesche von unserem Vater und teilte mir mit, wir müßten sofort nach Danzig reisen, aber getrennt. Sie fuhr mit dem Nachtzuge, ich erst morgens, so daß ich hier um Mitternacht eintraf. Sidna holte mich vom Bahnhof ab und brachte mich drüben in die Mansardenwohnung.

Im ersten Augenblick erkannte ich den Vater gar nicht. Er sah wie ein Greis aus. Nachdem ich einiges genossen hatte, erklärte mir mein Vater etwa folgendes: Hier im Hause nach dem Hofe hinaus wohnen eine Frau Rönning und ihr erwachsener Sohn. Der Ehemann dieser Frau hat mich vor vielen Jahren um Millionen betrogen. Es handelt sich um ein Geheimnis dabei, dessen Einzelheiten dir doch unverständlich bleiben würden. Ich nahm an und glaube auch noch heute, daß Rönning seiner Frau irgend etwas Schriftliches darüber hinterlassen hat, wo sein Raub versteckt ist. Ich bin nur deshalb in diese Wohnung, angeblich als mein inzwischen verstorbener Vater, eingezogen, um Gelegenheit zu finden, die Räume der Leute drüben durchsuchen zu können. Da jedoch Frau Rönning dauernd krank und an das Bett gefesselt war, konnte ich meine Absichten nicht durchführen.

Gestern ist nun Frau Rönning gestorben. Es wird sich jetzt leichter ermöglichen lassen, die Stuben drüben gründlich in Augenschein zu nehmen. Wenn ich meines ungetreuen Freundes Aufzeichnungen über jenes Versteck finde, werden wir reich sein und uns alles gönnen, was das Leben nur bietet. –

Wir müssen uns jedenfalls zunächst mit dem hinterbliebenen, sehr menschenscheuen und weltfremden Sohne näher anfreunden. Hierbei mußt du mithelfen.

Mein Vater gab mir dann ganz genaue Verhaltungsmaßregeln, was ich in der Großen Allee als Bettlerin zu tun hätte, sagte mir auch, daß meine Anwesenheit hier in Danzig verborgen bleiben müsse. Als ich mich weigerte, mich an diesem trügerischen Spiel, das ich nicht völlig durchschaute, zu beteiligen, wußte er mir hoch und heilig zu versichern, ich hülfe ja nur mit, ein vor vielen Jahren ihm angetanes Unrecht wettzumachen.

So kam es, daß ich hier in der Rolle der Bettlerin auftrat, erst in der Großen Allee, dann damals abends an der Marienkirche. Vater hatte mir für diesen Abend wieder sehr eingehende Verhaltungsmaßregeln gegeben und mir auch am Tage den Weg nach der Seilmachergasse gezeigt. Er zerstreute meine erneuten Bedenken durch die Erklärung, ich solle Erwin Rönning nur deshalb in das alte Haus führen und dort dann allein lassen, damit er – mein Vater – Zeit fände, die Wohnung Rönnings zu durchsuchen. Ich fühlte undeutlich, daß Vater und auch Sidna mich belogen oder mir doch jedenfalls nicht alles sagten, was sie vorhatten. Sidna war stets die Genuß- und Putzsüchtigere von uns beiden gewesen. Mir lag nichts an Reichtum. Ich stand ihnen ja aber ganz allein gegenüber, und ich hatte niemand, der mir hätte raten können. Außerdem – wie sollte ich meinem Vater auch geradezu etwas Schlechtes zutrauen?!

Jedenfalls gehorchte ich in allem, wenn auch widerstrebend. Aus dem leeren Hause in der Seilmachergasse eilte ich, während Herr Rönning das Bilderbuch betrachtete, zurück auf die Straße und nach Hause. Ich traf nur Sidna daheim an. Vater sei ausgegangen, sagte sie. Wann er heimkehrte, weiß ich nicht. Ich hörte ihn nur – es muß nach Mitternacht gewesen sein – mit Sidna in der Wohnstube flüstern, schlief aber wieder ein.

Am folgenden Vormittag – es war vielmehr frühmorgens – mußte ich mich hastig wieder als Bettlerin verkleiden und nach der Seilmachergasse gehen, mußte nachher in der Hökergasse Rönning in jenen Kellerladen locken, dessen Besitzer ich nicht kannte, der mich aber nachher über den Hof in eine Nebenstraße führte. Die Hökergasse, den Keller und auch noch ein anderes Haus auf den Dämmen mit zwei Ausgängen hatte mir der Vater gleichfalls am Tage vorher gezeigt. Im Hause auf den Dämmen sollte ich ein andermal für Rönning wieder spurlos verschwinden. Mein Vater hatte mir jetzt eingeredet, er würde am leichtesten Rönnings Vertrauen gewinnen, wenn dieser in den Glauben versetzt würde, die Bettlerin existiere nicht. Er würde bei Vater sich gegenüber all dem Unerklärlichen Rat holen, und auf diese Weise würden wir vielleicht Rönning aushorchen können, ob er nichts von einer Geheimschrift oder dergleichen wüßte, die sein Vater hinterlassen hätte.

Ich lebte im übrigen wie eine Gefangene. Dann mußte ich wieder eines Nachmittags mit Vater in den Brückengang hinab und mich dort an das Fenster stellen. Ich sah Rönning oben an seinem Fenster und nickte ihm, wie mir befohlen war, zu. An demselben Tage nun war Sidna abgereist. Wohin – das erfuhr ich nicht. Ich mußte, als Rönning zu uns kam, Sidna spielen.

Er tat mir leid, und das Gewissen meldete sich bereits bei mir, so daß ich ihn recht lieb empfing. Dann ging er mit dem Vater spazieren. Ich war allein. Und da erst fand ich Zeitungen, die man offenbar absichtlich vor mir versteckt hatte, fand darin die Meldung von dem an Albert Wendel gerade in demselben alten Hause verübten Morde. Ich las … las. Mein Hirn fieberte, sträubte sich dagegen, meinen Vater mit diesem Verbrechen in Verbindung zu bringen. Er kam heim. Ich hielt ihm die Zeitung unter die Augen. Er nickte traurig, sagte, so leid Rönning ihm auch täte, aber – er hielte ihn für den Mörder, zumal dieser arme Geistesgestörte ja soeben auch einen Angriff auf ihn ausgeführt hätte.

Aber ich war argwöhnisch geworden. Ich glaubte ihm nicht und begann ihn heimlich zu beobachten. –

Der Mann, der in Rönnings Wohnung eingezogen war, hielt sich dort zumeist nur abends und nachts auf. Mein Vater stellte mich als Wache an die Treppe und durchsuchte die Räume mit unermüdlichem Eifer, fast jeden Tag ein paar Stunden. Und nachts wieder schlich er häufig lautlos davon. Einmal blieb ich hinter ihm. Und so stellte ich fest, daß er mit Hilfe des Brückenganges irgend eine Person im Hinterhause besuchte. In derselben Nacht hörte ich aber auch, daß jemand auf dem Dach über dem Mansardenwohnraum sich bewegte. In der Angst, man könne dem Vater bereits nachspionieren und so auch meine Beteiligung an den gegen unseren Nachbar gesponnenen Ränken aufdecken, teilte ich meinem Vater mit, daß ich schleichende Schritte auf dem Dache vernommen hätte. Er bekam einen furchtbaren Schreck. Ich merkte ihm an, daß er vor Angst kaum wußte, was er sprach. Gerade dies sagte mir genug, enthüllte mir die für mich so niederschmetternde Wahrheit: Mein Vater hatte ein böses Gewissen, und – ich war seine Mitschuldige!

In meiner Verzweiflung schrieb ich an Herrn Rönning nach der Irrenanstalt, erflehte seine Verzeihung. – Mein Vater wagte sich jetzt nicht mehr in die leerstehende Wohnung, auch nicht nach dem Hinterhause hinüber. Ich fühlte ganz deutlich: Er glaubte sich überall von Spionen umgeben.

Dann läutete Herr Rönning gestern abend ganz überraschend an unserer Tür. Ich erkannte seine Stimme, hätte ihn so gern begrüßt. Aber Vater schickte mich in ins Schlafzimmer. Meine anfängliche Freude über die Entlassung unseres Nachbarn aus der Anstalt verwandelte sich nur zu bald in die trostloseste Verzweiflung. Ich ahnte, daß mein Vater Rönning nun wieder nachstellen würde; ich dachte an das, was ich auf dem Gewissen hatte. Und – als Vater dann die Wohnung verließ, wollte ich dieses Leben von mir werfen, das mir ja keine frohe Minute mehr schenken konnte …!“

Strackler, der all das ohne Unterbrechung wie auswendig gelernt vorgetragen hatte, fügte hinzu: „Schon dies genügt, Sie als des Mordes verdächtig zu verhaften, Otto Blenski. Ich kann Ihnen aber noch mehr Einzelheiten angeben, die Sie schwer belasten. Das Bilderbuch mit dem Namen Sigurd Balkar können nur Sie aus diesen Räumen gestohlen haben. Sie sind es gewesen, der die eine Stube in dem alten Hause in der Seilmachergasse mit wertlosem Gerümpel ausgestattet und dieses Gerümpel nachher wieder in den Keller getragen hat. Ich habe im Staube der Kellertreppe Spuren gefunden, die der Größe Ihrer Schuhe genau entsprechen. Und auf dem Blechschirm der Petroleumlampe, die Sie dort auf den Tisch gestellt hatten, waren die Abdrücke eines Daumens und zweier Fingerspitzen deutlich zu erkennen. Es waren die Ihres rechten Daumens und des Zeige- und Mittelfingers. Auf der Ofentür aus Messingblech und noch auf anderen Gegenständen hier, die Sie beim Durchsuchen dieser Wohnung berührt haben, fanden wir dieselben Abdrücke. – Sie – nur Sie haben Albert Wendel ermordet und beraubt! Wollen Sie dies jetzt zugeben?“

Blenski hatte sich längst wieder gefaßt und offenbar auch bereits einen Verteidigungsplan entworfen. Er wandte sich mit seiner Antwort an Inspektor Rickert:

„Ich leugne nicht, gegen Erwin Rönning, der ja in Wahrheit Sigurd Balkar heißt, all das unternommen zu haben, wessen Mona mich beschuldigt. Es ist Tatsache: Der Ingenieur Balkar, sein Vater, hat mich schmählich betrogen. Die Einzelheiten hierüber bleiben für alle Zeit mein Geheimnis. –

Wendel habe ich nicht ermordet. Ich kannte ihn ja kaum von Ansehen, habe höchstens viermal ein paar Worte mit ihm gewechselt. Wie sollte es mir da wohl möglich gewesen sein, ihn in das alte Haus zu locken! – Nein – mag ich mich gegen Sigurd Balkar vergangen haben, Wendel …“

„Einen Augenblick,“ fiel ihm Strackler hier ins Wort. „Sie sagten soeben, Sie hätten Wendel kaum von Ansehen gekannt. Sie haben dann ein sehr schlechtes Personengedächtnis. Ganz abgesehen davon, daß Ihre Mutter dort, Frau Karla Brakfort, Wendels Vertraute gewesen ist und Ihnen doch wahrscheinlich recht viel über Wendel berichtet haben dürfte, so auch, daß er es durch unsaubere Geldgeschäfte zu Vermögen gebracht hatte – ganz abgesehen von diesen Dingen, auf die ich nachher nochmals zu sprechen komme, möchte ich Ihr Gedächtnis auf andere Art ein wenig auffrischen.

Sie räumen ein, hier in dieser Wohnung alles nach schriftlichen Aufzeichnungen des Ingenieurs Balkar durchstöbert zu haben. Sie hätten besser nach … mündlichen suchen sollen. Als der Ingenieur ganz überraschend aus Indien heimkehrte, brachte er zweierlei Gegenstände mit: Eine Blechbüchse und ein wertvolles kleines Gebetbuch. – Beides fand der Sohn dann nach dem Tode der Mutter in der Matratze eines Bettes. Erst gestern abend gelang es mir, die Bedeutung des Gebetbuches und die Art des Zusammenhanges zwischen diesem Büchlein, dem Inhalt der Blechdose und dem berühmten Kobrakopf festzustellen, indem ich mir nämlich die Mühe machte, jede einzelne Seite des Gebetbuches auf das allersorgfältigste zu besichtigen. So entdeckte ich, daß auf manchen Seiten einzelne Buchstaben durch feine Nadelstiche gekennzeichnet worden waren. –

Hierüber nachher Näheres. Jetzt möchte ich Ihnen, Otto Blenski, die mündlichen Aufzeichnungen des Ingenieurs vortragen lassen. Dieser Phonograph hier wird es tun. Die erwähnte Blechbüchse, die mein junger Freund Balkar fand, enthielt nämlich eine phonographische Walze aus Hartgummi, freilich eine zerbrochene – aber die Stücke habe ich sehr sauber wieder zusammengeleimt.“

Strackler stand auf und brachte den Phonographen in Ordnung, streifte die Walze über die Rolle, setzte den Trichter nebst Schalldose und Nadel auf und zog den Hebel zurück, so daß das Uhrwerk die Walze sehr langsam zu drehen begann.

 

12. Kapitel.

Strackler nickte mir ernst zu. – Ich wußte, was er meinte. Ich würde die Stimme dessen hören, den ich nie gekannt und von dem ich ein wenig günstiges Bild erhalten hatte. Die Stimme eines Toten würde ich hören, meines Vaters!

Eine feierliche Spannung, die nichts mit bloßer Neugierde zu tun hatte, bemächtigte sich meiner. Und sie wurde auch nicht dadurch gestört, daß die Walze zunächst nur häßliche, schnarchende und kratzende Geräusche von sich gab. Dann eine Weile nur das Surren des Uhrwerkes und ein leises Schleifen, auf einmal ganz unvermittelt:

„Mein Geheimnis verlangt besondere Vorsichtsmaßregeln. Es ist überaus wertvoll.“

Eine kleine Pause.

Also das – das war seine Stimme. Die Walze sprach so klar und so jede Klangfärbung wiedergebend, daß dieses harte, selbstbewußte und große Willenskraft verratende Organ recht gut zu dem paßte, was ich bisher von meinem Vater wußte.

Dann die Fortsetzung:

„Ich hinterlasse dieses Geheimnis meinem Sohne für den Fall, daß es mir nicht mehr vergönnt sein sollte, die Diamantenfundstelle auszubeuten, die ich durch einen Zufall in den Shara Ginga Bergen im Fürstentum des Radschas von Birkassar entdeckt habe. Drei Männer sind hinter mir her, die es auf diese meine Schätze abgesehen haben und die die Habgier zu gefährlichen, rücksichtslosen Gegnern gemacht hat. Ich will kurz die notwendigen Tatsachen schildern.

Der Radscha, ein Mann von europäischer Bildung und modernen Anschauungen, ließ in seinem Fürstentum durch eine englische Firma eine große Talsperre bauen, um die für die Errichtung eines Elektrizitätswerks nötige Wasserkraft zu gewinnen. Mir wurde die Oberleitung über den Bau der maschinellen Anlagen übertragen. In meiner freien Zeit durchstreifte ich die Berge, jagte und sah mich nebenbei nach wertvollen Mineralien um. Der Radscha hatte mir eine hohe Belohnung zugesagt, wenn ich abbaufähige Erzlager finden würde. Inmitten eines tropischen Urwaldes, der sich an eine sanft geneigte Berglehne hinzog, stieß ich dann eines Tages auf eine große Lichtung, die aus einem sandigen Tale bestand. Ein uralter, verfallener kleiner Tempel verriet mir, daß in dieser Einöde einst Menschen gehaust hatten. Ich bemerkte hier aber auch Spuren sehr primitiver Bergbautätigkeit, drang in einen durch verwitterte Balken abgestützten Gang ein und erkannte, daß in dicker Schicht hier jene blaue Erde vorkam, aus der man auch in den Diamantminendistrikten Südafrikas die Edelsteine herausgräbt.

In aller Heimlichkeit grub ich dann dort nach Diamanten. Schon am ersten Tage fand ich ein paar Dutzend kleine Steine, im Verlaufe der nächsten Woche auch einige größere. Ich wußte jetzt, daß hier fraglos Millionenwerte verborgen lagen. Dann fiel mir auf, daß drei Leute, die gleichfalls von der englischen Firma für den Talsperrenbau angeworben worden waren, mir nachzuschleichen versuchten, sobald ich wieder scheinbar zu einem Jagdausflug aufbrach. Ich wurde vorsichtig. Ich mied das Tal und durchstreifte andere Teile des Gebirges. Und – auch jetzt hatte ich insofern Glück, als ich wirklich Erz entdeckte. Der Fürst war überglücklich und versprach mir einhunderttausend Mark auszuzahlen, sobald die Talsperre und das Kraftwerk fertig waren.

Die sofortige Annahme des Geldes hatte ich abgelehnt. Ich brauchte es damals nicht. Zwischen dem Radscha und mir entwickelte sich eine enge Freundschaft. Trotzdem verschwieg ich ihm mein Geheimnis, mied das sandige Tal auch weiterhin. Nach sechs Jahren war meine Arbeit in Indien beendet.

Beim Abschied schenkte mir der Radscha noch ein Ebenholzkästchen, in dem ein tadellos präparierter Kobrakopf lag. Es war dies insofern eine äußerst wertvolle Gabe, als der Kobrakopf eines jener seltsamen Wunderdinge darstellte, die in den Schatzkammern indischer Fürsten in so vielfacher Art lagern und die ein Europäer selten zu Gesicht bekommt. Das Geschenk an sich hatte sehr geringen Wert. Seine ideelle, geheimnisvolle Bedeutung lag darin, daß dieser Schlangenkopf angeblich Wünsche erfüllte, die frei von Selbstsucht waren. Der Radscha äußerte sich zu mir darüber nicht näher, ob er an diese Wunderkraft des Kobrakopfes glaube. Er sagte nur etwa folgendes: ‚Ein großer Teil der so unerklärlich erscheinenden Kunststücke, die unsere Fakire oder Yogi ausführen, beruht entweder auf Auto- oder auf Massensuggestion. Nehmen Sie an, daß dieser Kopf mit seinen schillernden Augen imstande ist, die Willenskraft eines Menschen auf ein bestimmtes Ziel in ganz besonderer Weise durch eine Art Autosuggestion zu konzentrieren und ihn daher zu ganz besonderen Leistungen zu befähigen – dann haben Sie eine einleuchtende Erklärung für dieses Wunderhaupt.‘ –

Am Abend des Tages, an dem der Kobrakopf mein wurde, veranstaltete der Fürst für die Angestellten der Firma ein Abschiedsfest. Ich hatte meinen Kollegen erzählt, in welcher Weise der Radscha mich durch Überreichung des schwarzen Ebenholzkästchens ausgezeichnet hatte, denn eine Auszeichnung war es – mehr als ein hoher europäischer Orden. Die Sache sprach sich schnell herum. Man beglückwünschte mich. Wir kannten ja jetzt Indien, das Land der Rätsel, Wunder und märchenhaften Prachtbauten, zur Genüge. Auch der Techniker Blenski, ein Landsmann, gratulierte mir und zeigte großes Interesse für den Kopf der Wünsche. Da er zu den drei Leuten gehörte, die mit Recht vermuteten, ich hätte eine ergiebige Diamantenfundstelle entdeckt, ließ ich ihn meine Abneigung ziemlich deutlich fühlen.

Absichtlich erzählte ich überall, ich würde jetzt nach Kalifornien gehen, mich dort ankaufen und meine Familie später aus Deutschland nachkommen lassen. Ich reiste auch bis Yokohama, stets argwöhnisch, die drei könnten sich an meine Fersen geheftet haben. Erst in Yokohama fühlte ich mich ganz sicher. Statt von hier aus nach San Franzisko weiterzufahren, benützte ich einen Frachtdampfer bis Hongkong, nahm dann eine Kabine auf einem Lloyddampfer und landete vierzehn Tage später in Genua. Von hier aus wollte ich mit der Bahn nach Deutschland reisen.

Aber ich änderte meine Pläne, da ich jetzt plötzlich erkannte, daß ich mich, was die Schlauheit meiner drei Widersacher anbetraf, sehr im Irrtum befand. Sie hatten meine Spur nicht verloren, waren wirklich hinter mir geblieben und drangen eines Abends ganz unerwartet in mein Hotelzimmer ein, ohne Frage in der Absicht, mich durch Drohungen zur Preisgabe meines Geheimnisses zu zwingen. Nur meine Geistesgegenwart rettete mich. Die Fenster standen offen, und diesen Umstand benützte ich, mich sofort hinaus und auf die eiserne, eingemauerte Feuerleiter zu schwingen, bevor sie mir noch diesen Fluchtweg versperren konnten. Ich gelangte so in den Hotelgarten, eilte durch den Speisesaal nach dem Vorraum und sah die drei gerade noch in einem Mietwagen davonrasen. Sie fürchteten wohl, ich würde mich an die Polizei wenden. Ich nahm hiervon jedoch Abstand. Ich hätte der Polizei doch angeben müssen, weshalb ich diese Leute fürchtete und weshalb ich ihr plötzliches Erscheinen in meinem Hotelzimmer so schlimm gedeutet hatte.

Unter allen nur erdenklichen Vorsichtsmaßregeln suchte ich nun meine Fährte zu verwischen. Ich schickte meine drei Koffer als Eilfracht nach Berlin, fuhr auf Umwegen nach Rom und stieg in einem kleinen deutschen Fremdenheim unter anderem Namen ab.

Zurzeit befinde ich mich noch in Rom. Ich habe mich jetzt auf alle, selbst die ärgsten Möglichkeiten vorbereitet. Diese Phonographenwalze wird mein Geheimnis hüten.

Nur einen Teil des Geheimnisses! Das Wichtigste davon ist bereits in meinen Koffern nach Deutschland unterwegs, nämlich das Ebenholzkästchen mit dem Kobrakopf. Ich will nun noch meiner Frau ein Gebetbüchlein kaufen. Werde ihr dann für alle Fälle gleich nach meiner Heimkehr diese Walze und das Gebetbuch mit den nötigen Erklärungen aushändigen. Ich gedenke jetzt von Palermo aus nach Hamburg zu reisen. Ich nehme nur meine Handtasche und einen kleinen Koffer mit, damit ich jederzeit von Bord des Dampfers verschwinden kann, den ich benützen werde. Ich habe zwar in den letzten Tagen – seit jenem Abend in Genua – von meinen Verfolgern nichts mehr wahrgenommen, will aber doch auch weiter mißtrauisch und wachsam sein. –

Mein lieber Sohn! Diese mündlichen Aufzeichnungen deines Vaters werden dir nur ausgehändigt werden, falls der Tod es mir unmöglich macht, die Diamantenschätze zu heben. Du bist mein Erbe, der Erbe meines Geheimnisses! Sieh zu, daß du reich und glücklich wirst! –

Damit du dich nun vor jenen dreien, deren Habgier ich jede Schlechtigkeit zutraue, in acht nehmen kannst, erfahre hier noch ihre vollen Namen: Techniker Otto Blenski, Kaufmann Albert Wendel und Maschinist, früher Steuermann, Thomas Brakfort. Die beiden ersten sind Deutsche und mit mir etwa in einem Alter; Brakfort ist Engländer und dürfte Ende der Dreißig sein. –

Ich schließe hiermit diese Enthüllungen. Gott sei mit dir, mein Sohn! – Dein Vater Sigurd Balkar.“ – –

Ich vernahm jetzt kaum die kratzenden Geräusche, die den letzten Worten folgten. Ich hörte nur immer noch dieses ‚Gott sei mit dir!‘ – und ich fühlte, daß meinem Vater damals, als er diesen Wunsch in den Aufnahmetrichter des Phonographen hineingesprochen hatte, genau so feierlich zumute gewesen wie mir jetzt …

„Otto Blenski,“ sagte Strackler laut und eindringlich, „wollen Sie jetzt ein Geständnis ablegen? Sie müssen nun doch eingesehen haben, daß die Partie für Sie verloren ist! Der Kobrakopf befand sich in des Ingenieurs Koffern. Und – derselbe Kobrakopf wurde jetzt von Ihnen zu jenem gewissenlosen Ränkespiel benutzt, dessen Opfer nun hier der Sohn des Mannes werden sollte, den Sie in Berlin vergiftet und beraubt haben! Wo sind zum Beispiel jene einhunderttausend Mark geblieben, die der Ingenieur besaß, wo die Edelsteine?! Otto Blenski – erleichtern Sie Ihr Gewissen! Das Spiel ist aus … – Ich habe Sie matt gesetzt!“

Blenski zuckte die Achseln. „Matt gesetzt?! Ich habe den Ingenieur nicht ermordet. Wendel tat’s! Den Kobrakopf hat er mir geschenkt.“

„So?! Eine recht schwache Verteidigung! Eine Frage: Wo befindet sich Thomas Brakfort, der zweite Mann Ihrer Mutter, jetzt?“

Frau Karla Blenski-Brakfort hatte bisher regungslos mit gesenktem Haupt dagesessen. Jetzt schnellte dieser magere Kopf mit dem faltigen, spitzen Vogelgesicht hoch. Ein Blick tödlichen Hasses und ohnmächtigen Grimms traf Strackler. Dann ein höhnisches Auflachen:

„Suchen Sie ihn doch, Sie … Sie … ekelhafter Schnüffler, Sie Schleicher, Sie …“ – Ihr Mund geiferte förmlich. Sie fand nicht so schnell ein neues Schimpfwort für den, der auch sie entlarvt hatte.

„Suchen?!“ meinte Strackler gelassen. „Oh – das habe ich nicht mehr nötig. Der armen Mona Abschiedszeilen wiesen mir den richtigen Weg. Der Dampfer ‚Morning Post‘, Kapitän Thomas Brakfort, liegt jetzt wieder seit vier Wochen im Neufahrwasser Hafen und wollte morgen mit seiner Ladung Zucker in See gehen. Er wird es auch. Aber ohne den Kapitän. Der ist nämlich vorhin verhaftet worden, Frau Brakfort!“

„Verfluchter Hund!“ zischte Blenski. „Du – Du stehst mit dem Satan im Bunde!“ – Er zitterte vor Wut, und seine gefesselten Hände drohten nach Strackler hinüber.

Benno Strackler meinte gelassen: „Thomas Brakfort war klüger als Sie! Er hat sofort zu Protokoll gegeben, was ihm über des Ingenieurs Sigurd Balkar und über Albert Wendels Ermordung bekannt ist. – Rickert, bitte – reichen Sie mir doch …“

Der Inspektor hatte schon einen zusammengefalteten Bogen aus der Tasche hervorgeholt und gab ihn Strackler, der nun fortfuhr:

„Ich werde Brakforts Aussage verlesen. Sie klärt auch das auf, was bisher noch zweifelhaft sein könnte.

‚Ich, Thomas Brakfort, Kapitän und Eigentümer des Frachtdampfers ‚Morning Post‘, zweiundsechzig Jahre alt, geboren zu Halifax in Kanada, gebe freiwillig folgendes zu Protokoll:

Otto Blenski war schon damals in Indien derjenige, dem am meisten darum zu tun war, den Ingenieur Balkar zu zwingen, uns die Diamantenfundstelle zu verraten. Er übte auf Wendel und mich einen unheilvollen Einfluß aus. Wir beide hätten uns von ihm losgesagt, wenn wir ihn nicht so sehr gefürchtet hätten. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, Blenski konnte jeden, mit dem er häufiger in Berührung kam, seinem Willen gefügig machen.

Wir sind Balkar bis Hamburg und auch weiter bis Berlin gefolgt. Wendel und ich mußten unten vor dem Hause in der Turmstraße aufpassen, während Blenski oben bei Balkar war. Er kehrte nach etwa zehn Minuten zu uns zurück. Das, was er der Handtasche Balkars entnommen hatte – Banknoten und Edelsteine –, teilten wir unter uns.

Blenski machte mich dann mit seiner Mutter bekannt, die ein Jahr jünger als ich war. Er verstand es, mich dazu zu bewegen, sie zu heiraten.

Während ich mir dann zunächst eine Brigg kaufte und Frachtfahrten zwischen England und Norwegen machte, während Wendel wieder auf Blenskis Geheiß Frau Hedwig Balkar und ihrem Sohne nach Danzig folgte, um sie dort im Auge zu behalten, begab Blenski sich nach Indien zurück und suchte die Umgegend der damals von uns gebauten Talsperre mit kurzen Unterbrechungen jahrelang ab. Er hoffte, er würde die Stelle finden, wo Balkar die Edelsteine ausgegraben hatte. –

Wendel und ich sahen uns gelegentlich in Danzig wieder. Ich hatte inzwischen den Dampfer erworben und fuhr ziemlich regelmäßig zwischen Neufahrwasser und London mit Zucker- beziehungsweise Heringsfracht. Wir dachten kaum mehr an jene alten Geschichten. Viele Jahre hörten wir von Blenski nichts, von dessen Mutter ich mich sehr bald wieder getrennt hatte. Dann erschien meine ehemalige Frau, die bis dahin sich bald hier, bald dort aufgehalten hatte, eines Tages bei Wendel und mietete sich neben diesem dort im Hinterhause ein, wo sie noch jetzt wohnt.

Abermals einige Jahre darauf – ich glaube, es waren so zwei oder drei – tauchte auch Otto Blenski in Danzig auf und begann das Komödienspiel als ‚Chemiker Otto Blenski‘ in der Mansardenwohnung. Bald wurde es Wendel und mir klar, daß er noch immer hinter den erhofften Millionen – eben der Diamantenfundstelle – her war.

Mit meiner Frau hatte ich mich leidlich wieder ausgesöhnt. Sie wurde bald Wendels Vertraute, dem sie bei seinen wohl nicht ganz sauberen Geschäften mit Rat und Tat half. Als ich vor vier Wochen hier mit meinem Dampfer wieder eingetroffen war, erzählte mir meine frühere Frau sofort, Wendel sitze in Untersuchungshaft. Sie wisse nun genau, daß er in seinem baufälligen Hause in der Seilmachergasse irgendwo einen größeren Geldbetrag kurz vor seiner Verhaftung versteckt habe; es handele sich mindestens um neunzigtausend Mark. Otto Blenski hatte ihr nun den Vorschlag gemacht, Wendel dort in dem alten Hause zu ermorden, und zwar so, daß der Verdacht der Täterschaft notwendig auf den jungen Balkar oder Rönning, wie er jetzt hieß, fallen müsse. Blenski wolle so zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Wendels Geld an sich bringen und den jungen Rönning aus seiner Mansardenwohnung durch die Verhaftung entfernten, damit er – Blenski – in aller Ruhe die Räume nach schriftlichen Aufzeichnungen des Ingenieurs durchsuchen könne.

Ich lehnte jede Beteiligung an diesen neuen Verbrechen rundweg ab, ließ mich dann auch nicht mehr bei meiner Frau sehen, las aber schon am übernächsten Tage die Meldung von Wendels Ermordung. Ich war entsetzt über diesen Schurkenstreich Blenskis. Ich verdiente jetzt ehrlich mein Geld. Der junge Rönning, den meine Frau und Blenski verderben wollten, tat mir aufrichtig leid. Ich durfte ihm jedoch nicht helfen. Ich war ja in gewissem Grade mit schuldig an des Ingenieurs Tod, und mir war der Mund deshalb für immer verschlossen. –

Da an der Maschine meines Dampfers etwas zu reparieren war, mußte ich länger als sonst in Neufahrwasser bleiben. Bereits zwei Tage nach Wendels Ermordung war ganz unerwartet Sidna Blenski bei mir an Bord erschienen und hatte mich gebeten, ihr Unterkunft zu gewähren. Ich tat’s nur widerwillig. Ich wollte von der ganzen Sippe nichts mehr wissen. Sidna ist Otto Blenskis echte Tochter – genau so hinterlistig, schlau, geldgierig und rücksichtslos wie er. Sie machte sich über meine Gewissensbisse lustig.

Bis gestern abend blieb sie bei mir an Bord. Gegen zehn Uhr begab sie sich dann, als Schiffsjunge verkleidet, nach Danzig und in die Wohnung ihrer Großmutter, da ihr Vater sie durch eine besonders vereinbarte kurze Zeitungsnotiz zu einer Besprechung dorthin bestellt hatte. Sie ist nicht wieder zurückgekehrt. Mehr vermag ich nicht anzugeben!‘

So – das wäre Thomas Brakforts Aussage. – Nun, Otto Blenski, wie steht es jetzt mit einem Geständnis?“

Blenski war besiegt. Ganz schlaff lehnte er jetzt auf seinem Stuhl. Nur ganz leise erklärte er:

„Ich gebe alles zu – – alles!“

Eine Weile lautlose Stille. Dann hörte man Sidnas helle Stimme: „Feigling!“

Und im selben Augenblick kreischte auch die dürre Frau Karla: „Narr – Narr!! Uns so hineinzulegen!!“

Ein furchtbarer Ekel würgte mir in der Kehle. Diese Szene hatte etwas so Abstoßendes an sich, daß selbst Rickert murmelte: „Pfui Teufel!“

Strackler packte jetzt aus einer Umhüllung von Zeitungspapier das Ebenholzkästchen und das kleine Gebetbuch aus.

„Ich habe hier nur noch weniges zu bemerken,“ begann er wieder. „Dieses Gebetbuch, auf dessen Deckel der Ingenieur Balkar seinerzeit eine alte Goldmünze des Fürstentums Birkassar befestigt hatte, deren Vorderseite gleichfalls einen Kobrakopf als Prägung zeigt und die somit darauf hindeuten sollte, daß das Büchlein mit dem Kopf der Wünsche in Verbindung zu bringen sei – dieses Gebetbuch enthält das Hauptgeheimnis des Ingenieurs, nämlich die Angabe, wo dessen Sohn die Zeichnung suchen solle, mit deren Hilfe er das Tal in den Shara Ginga Bergen auffinden würde. – Die durchstochenen Buchstaben in diesem Büchlein ergeben, der Reihe nach zu Worten aneinandergefügt, folgendes:

‚Auf der Unterseite des Kobrakopfes habe ich mit gelbroter Tinte in das Hautmuster eine kleine, aber übersichtliche Geländeskizze gezeichnet und das Tal durch ein stehendes Kreuz kenntlich gemacht.‘ –“

Da – Blenski schnellte hoch. Ein halbirres Lachen kam über seine Lippen:

„Also all die Jahre habe ich die Skizze zur Verfügung gehabt – all die Jahre! Ich Dummkopf, daß ich auch nie die Unterseite des Kobrakopfes mir angesehen habe!“

Strackler fügte Blenskis Ausruf sofort hinzu:

„Dummkopf?! In Beziehung auf die Skizze auf dem Schlangenkopf trifft das nicht zu!“ Er öffnete das Kästchen, nahm den Kopf heraus und hob ihn hoch. „Hier – die Zeichnung ist nur bei schärfstem Hinsehen zu bemerken. Wie konnten Sie ahnen, daß sich in den feinen Rillen der scheckigen, getrockneten Haut eine solche Zeichnung verbarg?! Nein – Ihre Dummheiten waren anderer Art! Sie lagen in verschiedenen Überschlauheiten des teuflischen Ränkespiels gegen den jungen Balkar!

Die Komödie mit der Bettlerin war nicht schlecht ausgedacht – nur schlecht inszeniert! Bei solchen Intrigen darf man keine fremden Mitwisser haben, wie zum Beispiel den Besitzer des Wagens, der Mona aus der Großen Allee verschwinden ließ, und den Hauseigentümer in der Hökergasse, der seinen Kellerladen für eine Woche an Sie vermietete! Man darf auch nicht in einen Likör einen Schlaftrunk mischen und dann den auf seinen Stuhl eingeschlummerten jungen Balkar wachrütteln und ihm die als Strackler leidlich geschickt herausgeputzte alte Frau dort als Wendels Mörder einen Augenblick zeigen, wenn man sich nicht vorher vergewissert hat, ob nicht vielleicht draußen auf dem Fensterbrett ein Kriminalbeamter als Lauscher steht und den Mummenschanz belächelt! –

Auch Sidna Margut, die Brahmanentochter, war ein Zuviel, wenn man mit der Möglichkeit rechnen muß, daß den Familienverhältnissen etwas genauer nachgespürt wird! Ich könnte Ihnen noch eine Reihe weiterer Fehler vorhalten, Otto Blenski!

Dies mag aber genügen. Eines nur möchte ich gern noch wissen: Wer hat damals in der Hökergasse den Gemüsehändler gespielt? Etwa ebenfalls Sie, Frau Karla Brakfort?“

Das magere, grauhaarige Weib nickte kaum merklich. Mit hohnvoller Frechheit wanderten Sidnas Augen zwischen Strackler und mir hin und her. Als dieser jetzt aufstand und den Beamten ein Zeichen gab, daß die drei verbrecherischen Blutsverwandten nun fortgeschafft werden könnten, rief sie mir zu:

„Sie werden nun ja wohl den Unschuldsengel Mona heiraten! Ihre Bettlerin! Viel Vergnügen! Mein Fluch wird unser Hochzeitsgeschenk sein!“

Rickert hatte mir nur einen leisen Abschiedsgruß zugerufen. Jetzt trat Strackler hinter mich, legte mir leicht die Hand auf die Schulter: „Mein lieber Freund, aus Monas Beichte habe ich etwas unterschlagen. Was – das mag sie Ihnen selbst sagen. Sie ist drüben in Blenskis Wohnzimmer.“ –

Ich habe mir nie so viel Mut zugetraut. Ich eilte sofort hinüber. Die Flurtür war nur angelehnt. Zum Wohnzimmer klopfte ich zwar, wartete das Herein aber nicht ab.

Mitten in der Stube stand Mona. Ihre Augen schauten mir unsicher, ängstlich entgegen …

Wo ich nur den Mut hernahm?! Ich, der doch nichts von Liebe bisher wußte, ich breitete die Arme aus und rief leise:

„Mona …! – Mona …!“ Aber all meine Sehnsucht nach Glück muß wohl in diesem Ruf sich offenbart haben, all meine Liebe für die, die dort im schlichten, ärmlichen Gewand vor mir stand – für meine Bettlerin.

Dann lag sie an meiner Brust, dann glitt sie in die Knie, stammelte: „Verzeih mir – verzeih mir!“

Ich hob sie auf, küßte ihre Stirn, ihren Mund. Der Frühling meines Lebens hatte erst jetzt begonnen. – –

Blenski entzog sich dem irdischen Richter, vergiftete sich im Untersuchungsgefängnis. Seine Mutter Karla Brakfort starb bald darauf an einer Lungenentzündung ebenda. Nur Brakfort und Sidna wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt. – Diese kurzen Angaben mögen genügen …

Mona hatte in Stracklers Haus eine neue Heimat gefunden. Nicht für lange. Bereits ein halbes Jahr später, als Strackler und ich aus Indien zurückgekehrt waren, wo ich das Geheimnis meines Vaters an den Radscha von Birkassar abgetreten hatte, führte ich Mona als mein Weib in unsere freundliche, kleine Villa, die auf einer Anhöhe am Fuße des Karlsberges in Olivia liegt.

Winter war’s. Neuschnee war gefallen. Wir stiegen am Nachmittag unseres Hochzeitstages bis zur Spitze des Karlsberges empor. Die scheidende Sonne bestrahlte dort im Osten das Häusermeer der alten deutschen Stadt Danzig, den dicken, massigen Turm von Sankt Marien, andere schlanke Türme …

Und ringsum die Landschaft unter Schnee begraben. Nur die Wasser der Danziger Bucht schimmerten in etwas düsterem Graublau.

Winter war’s in der Natur … – In unseren Herzen aber froher jubelnder Sommer … – –

Und wieder vier Monate drauf nahm Mona mich bei der Hand und führte mich vor das offene Ebenholzkästchen, vor den Kobrakopf, schmiegte sich an mich und flüsterte wie mit Blut übergossen:

„Wünsch dir etwas, Liebster …“

Ich schaute sie fragend an. Sie lächelte so schelmisch … Da verstand ich, küßte sie …

Und wirklich: Als die Zeit erfüllt war, krähte ein Stammhalter bei uns die Wände an – –

Der Kobrakopf ist noch heute unser Glückstalisman!