Sie sind hier

Der Tote in der Burgruine

 

Argus-Kriminal-Bibliothek

 

Der Tote in der Burgruine.

 

Von

W. K. Abel.

 

1. Kapitel.

823000 Mark.

Das Auto hielt mit scharfem Ruck vor dem Eingang des ‚Centralhotels‘. Da öffnete auch schon der Fahrgast das kleine, in der Vorderwand eingelassene Glasfenster und rief dem Chauffeur zu:

„He – Mann! Sie müssen mich falsch verstanden haben! Das hier ist ja das ‚Centralhotel‘! Nach dem Hotel ‚Bristol‘ will ich! Nun aber etwas eilig, wenn ich bitten darf!“

Der Chauffeur brummte ein paar unverständliche Worte vor sich hin und schob den kleinen Hebel auf dem Steuerrad herum. Der Wagen ruckte an, glitt davon und wand sich mit der Behändigkeit eines lebenden Wesens durch das Gewühl der Straßen der Reichshauptstadt seinem neuen Ziele entgegen.

Vor dem ‚Bristol‘ angelangt, reichte der Fahrgast dem Chauffeur, noch bevor das Auto völlig hielt, das Fahrgeld nebst einem reichlichen Trinkgeld durch das Fenster der Verbindungsscheibe zu, sprang dann hinaus und verschwand im Eingang des Hotels, wobei er geflissentlich den Kopf nach links drehte, so daß der Chauffeur ihn nur von hinten sehen konnte, falls er ihm nachgeblickt hätte.

*

Kriminalkommissar Weber betrachtete etwas verwundert die Visitenkarte, die ihm ein Schutzmann soeben in sein Dienstzimmer gebracht hatte.

‚Franz Gotheim, Direktor der Union-Bank, Berlin‘, stand auf dem feingestochenen, breiten Karton.

„Ich lasse bitten,“ sagte er dann zu dem Beamten, der abwartend neben der Tür stehen geblieben war.

Daß dem Bankdirektor etwas recht unangenehmes passiert sein mußte, merkte Weber auf den ersten Blick. Gotheim, ein korpulenter Herr mit einer spiegelglatten Glatze, dabei gekleidet wie ein Dandy, trocknete sich mit dem seidenem Tuche heftig atmend die Stirn, bevor er ruckweise hervorstieß:

„Denken Sie, Herr Kriminalkommissar – dieses Unglück – 823000 Mark – ein Riesenvermögen – ein Riesenvermögen!“

Weber wies stumm auf einen Stuhl neben seinem Schreibtisch, der für etwaige Besucher dort bereit stand.

Ächzend ließ Gotheim sich auf den Sitz niederfallen. Dann stellte er seinen spiegelblanken Zylinder ungeniert auf den Aktenbock und wiederholte mit wahrhaft kläglicher Miene:

„Wirklich – genau 823000 Mark sind’s! – Unglaublich, dieses Pech, ganz unglaublich. – Was tun wir nun, um – – –“

„Pardon,“ unterbrach Weber ihn kühl, „vorläufig weiß ich noch gar nicht, was mit diesen 823000 Mark eigentlich los ist.“

Gotheim ließ den Arm, der das Seidentuch eben wieder zu der mit feinen Schweißperlen bedeckten Stirn führen wollte, sinken, und fragte beinahe unwillig:

„Was wissen Sie nicht? – Habe ich mich denn nicht klar genug ausgedrückt?!“

Weber lächelte gutmütig.

„Sie sind erregt, Herr Direktor. In diesem Zustande unterläßt man vieles, ohne daß man davon eine Ahnung hat. Bisher sagten Sie mir nur, mit dem 823000 sei irgend ein Unglück passiert. Nichts weiter. – Ist das Geld gestohlen oder unterschlagen worden?“

Gotheim wischte sich erst einmal die Stirn trocken.

„Nichts von dem,“ erwiderte er zerknirscht. „Ich habe es in einem Auto liegen lassen.“

„Donnerwetter!“ entfuhr es dem Kriminalkommissar. „Das ist allerdings Pech.“

„Nicht wahr?! Und gerade mir mußte das passieren, gerade mir!“

Weber hatte das erste Staunen schon überwunden und legte sich nun gewohnheitsmäßig einen Bogen Papier zurecht, um sich die notwendigen Notizen zu machen.

„Erzählen Sie bitte, wie das gekommen ist, Herr Direktor,“ sagte er darauf höflich.

„Für heute mittag zwölf Uhr,“ begann der Direktor hastig, „war im Blauen Saale des ‚Rheingold‘ eine Vorstandssitzung der Aktiengesellschaft für Metallindustrie angesetzt, an der ich als Aufsichtsratmitglied teilnehmend wollte. Ein Teil des Barkapitals des Reservefonds der genannten Gesellschaft wird nun von der Union-Bank verwaltet, und statutengemäß mußte es in der heutigen Sitzung des Fonds als Beweis der ordnungsmäßigen Geschäftsführung in bar dem Vorstand vorgelegt werden, der darüber zu beschließen hatte, ob die Union-Bank das Geld weiterhin als Depot behalten solle.

Um halb zwölf Uhr, also vor einer Stunde etwa, ließ ich mir von unserem ersten Kassierer die 823000 Mark in Banknoten zu verschiedenen Bündeln zusammenpacken und steckte die Pakete, sechs an der Zahl, dann in meine Aktentasche. Um dreiviertel zwölf Uhr bestieg ich Ecke der Mauer- und Friedrichstraße ein Mietauto und fuhr nach dem bekannten Weinrestaurant. Unterwegs wurden wir in der Leipziger Straße durch eine Verkehrsstockung, die eine wahre Mauer von Fuhrwerken aller Art in kurzer Zeit um uns zusammengedrängt hatte, über eine Viertelstunde aufgehalten. Mir war das sehr unangenehm, da ich die Herren vom Vorstand nicht warten lassen durfte, zumal ich ja den Reservefonds aufweisen sollte.

Kurz und gut, ich wurde immer ungeduldiger, und als wir dann endlich vor dem ‚Rheingold‘ hielten, kam ich nicht schnell genug aus dem Auto heraus und – vergaß in der Eile meine Aktentasche, die ich auf den Sitz neben mir gelegt hatte. Erst als ich meine Garderobe im Vestibül abgeben wollte, dachte ich an das Geld. Wie der Wind stürzte ich wieder auf die Bellevuestraße zurück – mein Auto war natürlich längst über alle Berge! Ich fragte alle möglichen Leute. –

Keiner gab mir eine vernünftige Antwort. Schließlich rannte ich – wahrhaftig, Herr Kommissar, ich bin gerannt! – in den Blauen Saal, berichtete den bereits versammelten Herren mein Pech, und – da bin ich. – Nun aber raten Sie, helfen Sie!“

„Vorläufig läßt sich wenig tun,“ entgegnete Weber achselzuckend. „Außerdem ist es ja immerhin möglich, daß die Tasche von dem Chauffeur oder einem ehrlichen Fahrgast gefunden und abgeliefert wird. Vielleicht ist sie sogar schon auf einem unserer Revierbureaus deponiert.“

„Und – wenn Ihre Hoffnung sich nicht erfüllt, was dann?“ fragte Gotheim nervös.

„Dann – dann müssen wir versuchen, das Geld auf andere Weise zurückzubekommen. Jedenfalls will ich schon jetzt mir einige Notizen machen, damit ich Sie nachher nicht nochmals bemühen muß. – Haben Sie sich vielleicht die Nummer des Autos gemerkt, Herr Direktor!“

Gotheim lachte ärgerlich auf.

„Merken Sie sich vielleicht, wenn Sie hier vom Präsidium nach dem Königlichen Schloß oder sonstwohin fahren, die Autonummer?!“

„Allerdings – aber – es wäre doch möglich gewesen, daß durch einen Zufall – na, wir werden auch so weiterkommen. – Wie steht es mit Farbe, Ausstattung, Bauart des Taxameters? Wissen Sie etwas anzugeben?“ –

Gotheim strengte sein Gedächtnis mächtig an und brachte auch eine ganze Menge Einzelheiten zusammen.

„Danke, Herr Direktor, das genügt,“ erklärte Weber befriedigt. „Danach finden wir das Auto schon heraus.“

Dann überlegte er ein Weilchen.

„Wie sah die Aktentasche aus, in der Sie die sechs Pakete mit den Banknoten verwahrt hatten?“ fragte er nunmehr.

„Sie war aus gewöhnlichem, dunkelbraunen Rindleder gefertigt. Das Schloß war einfach und daher leicht zu öffnen.“

Wieder sann Weber einen Moment nach.

„Besitzen Sie eine Liste der Banknoten?“ forschte er gespannt.

„Eben nicht! Das ist ja das Schlimmste bei der Geschichte! Mein Kassierer händigte mir die Summe in Fünfhundert- und Tausendmarkscheinen aus, sogar ohne Quittung, da ich eben bestimmt annahm, das Geld würde doch wieder unserer Bank anvertraut werden – was ja auch geschehen wäre, wenn ich nicht so – so – doch was hilft jetzt alles Lamentieren. Sehen wir lieber zu, wie wir den Schaden wieder wettmachen.“

Der Kriminalkommissar war sehr ernst geworden.

„Das ist allerdings höchst fatal, daß die Nummern der Scheine nicht notiert worden sind,“ meinte er, nachdenklich den Bleistift durch die Finger ziehend. „Nun, zunächst müssen wir abwarten, ob sich jemand meldet und die Tasche zurückbringt. Allerdings würde ich Ihnen nebenbei vorschlagen, Herr Direktor, einen Aufruf für die Anschlagsäulen schleunigst drucken zu lassen. Den Text, ebenso den Wortlaut der Benachrichtigung an die Zeitungen können wir ja gleich gemeinsam aufsetzen.“ –

*

Auf den Aufruf hin meldete sich nachmittags fünf Uhr bei Weber im Polizeipräsidium der Chauffeur des Autos, in dem ‚ein Herr mittags kurz vor zwölf Uhr von der Ecke Mauer- und Friedrichstraße nach einem längeren Aufenthalt in der Leipziger Straße nach dem ‚Rheingold‘ gefahren war‘, wie es in dem Aufruf hieß.

Der Kriminalkommissar hatte schnell durch ein paar Fragen festgestellt, daß er den richtigen Mann vor sich hatte.

Drauf begann er das Verhör, das von großer Wichtigkeit war, da die wertvolle Aktentasche bisher nirgends abgegeben worden war.

„Wohin fuhren Sie, nachdem der Herr Bankdirektor in der Bellevuestraße Ihren Wagen verlassen hatte?“ fragte Weber, indem er den Chauffeur durchdringend fixierte.

Der Autolenker, ein dicker Mann mit gutmütigem Gesicht, in dem eine mächtige Nase in allen Farben schillerte, blickte so harmlos drein, daß der Kommissar als guter Menschenkenner seinen Argwohn gegen diesen offenbar recht biederen und ehrlichen Burschen fallen ließ.

„Da die vorschriftsmäßige Zahl von Autos bereits vor dem Hotel in der Bellevuestraße aufgereiht stand, schlug ick den Weg nach dem Brandenburger Tore ein, wo mich dann ein elegant gekleideter Herr anrief und mir befahl, ihn nach dem ‚Centralhotel‘ zu bringen.“

Weber horchte hoffnungsfreudig auf. Da war ja schon eine Spur, die man weiterverfolgen konnte.

„Wie sah der Herr aus? Beschreiben Sie ihn mir recht genau. Sie wissen, es sind für die Wiederbeschaffung des Geldes nicht weniger als zehntausend Mark Belohnung ausgesetzt,“ fragte er freundlich.

Der dicke Chauffeur kraulte sich verlegen hinterm Ohr.

„Hm – die zehntausend Märker, die möchte ick mir schon verdienen,“ meinte er. „Dann könnte ick mir selbstständig machen. Dafür gibt’s schon ’ne feine Benzindroschke. Aber – aber! Sehen Sie, Herr Kriminalkommissar, das is nu so ’ne Sache. Wir Chauffeure schaun uns unsere Fahrgäste eigentlich nur dann genauer an, wenn die Leute so den Eindruck machen, als hätten sie nich das Geld for die Taxe nachher. Sonst – lieber Gott, sonst is uns alles ziemlich jleichjültig.“ – –

„Aber irgend etwas muß Ihnen doch von dem Anzug des Betreffenden im Gedächtnis haften geblieben sein. Denken Sie mal nach. Was hatte der Herr für eine Kopfbedeckung, was für einen Mantel? Besinnen Sie sich nur – eine Kleinigkeit wird doch wohl in Ihrer Erinnerung aufleben, wenn Sie sich die Szene so recht vergegenwärtigen, wie der Herr einstieg.“

Der Chauffeur kniff die in dicken Fettpolstern liegenden Augen noch mehr zusammen. Offensichtlich gab er sich alle Mühe, irgend etwas zu finden, was hätte von Wichtigkeit sein können. Und plötzlich leuchtete sein rundes Gesicht förmlich auf.

„Nu weeß ick wat, Herr Kommissar,“ stieß er freudig hervor. „Der Mann hatte janz sicher nen sehr langen Ulster an und einen Hut auf ’n Kopf von ähnlicher Farbe.“

„Na, das ist doch schon etwas!“ meinte Weber. „Sehen Sie, das Nachdenken hilft schon. Strengen Sie Ihr Hirn nur noch weiter an. Vielleicht pressen Sie noch mehr heraus.“

Aber es kam nichts mehr. Bedauernd schüttelte der Wagenlenker den Kopf, nachdem er eine ganze Weile grübelnd vor sich hingestarrt hatte.

„Nee, Herr Kommissar, nu’ bin ick mit meine Kunst wirklich am Rande,“ murmelte er traurig.

„Haben Sie sich denn das Gesicht gar nicht angesehen?“ forschte Weber hartnäckig. „Hatte der Herr vielleicht einen Vollbart, trug er eine Brille?“

„Sie können mir dodschlagen – ick weeß nischt mehr, wahrhaftig nich!“ erklärte der Chauffeur abermals.

Weber lehnte sich in seinen Stuhl zurück und schaute nachdenklich auf das helle Viereck, das eine draußen auf der Straße brennendes Laterne mit ihrem Lichtschein auf die Wand zeichnete.

Dann fragte er, jetzt ziemlich mutlos:

„Der Herr stieg vor dem ‚Centralhotel‘ aus, nicht wahr?“

„Nee – das tat er eben nich!“ erwiderte der Chauffeur mit einem bedeutungsvollen Augenzwinkern. „Er rief mir vielmehr zu, ick hätte mir verhört, er wollte nach dem ‚Bristol‘. Das war ja nu Quatsch. Ick und mir verhören! Na, jedenfalls gondelte ick dann nach dem ‚Bristol‘, wo er wirklich ausstieg.“

Weber hatte sich weit über den Tisch gebeugt.

„Mann, das ist ja von größter Wichtigkeit!“ rief er ganz erregt. „Also erst beordert er Sie nach dem ‚Central‘ und dann fährt er nach dem ‚Bristol‘! Hm – über diesen Punkt mache ich mir so meine besonderen Gedanken!“

Der dicke Chauffeur, dem die zehntausend Mark Belohnung jetzt wieder wie eine köstliche Fata Morgana, die doch noch Wirklichkeit werden könnte, erschienen, riß seine schwimmenden Äuglein weit auf. Und im Tone festester Überzeugung sagte er:

„Tatsache, Herr Kommissar. Erst sagte er ‚Central‘ – ganz klar und deutlich! Ich besinne mir auch noch – er rief mir noch zu: Fahren Sie über die ‚Linden‘. Und wenn er ‚Bristol‘ gemeint hätte, da wär diese Anweisung doch überflüssig gewesen.“

„Allerdings,“ erklärte Weber ziemlich zerstreut. Er hatte nämlich soeben blitzschnell einen ganzen Schlachtplan entworfen, wie er dem Unbekannten auf die Spur kommen wollte.

Erst nach einer geraumen Weile richtete er das Wort wieder an den schon ziemlich ungeduldig gewordenen Chauffeur.

„Hatte der Kerl, als er vor dem ‚Bristol‘ ausstieg, vielleicht eine Aktentasche unter dem Arm?“ fragte er jetzt.

„Kann ick wirklich nich sagen. Ick hab mir jar nich nach ihm umjesehn, weil ick das Fahrgeld in meinen Geldbeutel steckte, das er mir nebst anständigem Trinkgeld durch das kleine Fenster zujereicht hatte.“

„Also er zahlte vom Innern des Wagens aus?“ meinte Weber höchst interessiert.

„Ja. Und ’ne halbe Mark Trinkgeld jab er.“

„Und wo blieben Sie, nachdem Sie den Fahrgast am ‚Bristol‘ abgesetzt hatten?“ fragte der Kommissar wieder.

„Ick machte bei der Autohaltestelle in der Wilhelmstraße Mittagspause, nachdem ick das Verdeck runterjelassen hatte, um den Wagen etwas auszulüften.“

„Dann hätten Sie also die Tasche wohl unbedingt bemerken müssen, wenn sie noch im Wagen gelegen hätte?“ forschte Weber gespannt.

„Sicher! Aber es war nischt drin. Nur ein Zigarettenstummel, nee, besser ’n Papiermundstück, lag auf dem Boden. Es war so eins von russische Zigaretten, die so ’n langes Mundstück und ganz wenig Tabak haben.“

„Und wo ließen Sie den Stummel?“

„Auf die Straße hab ick ihn jeworfen, wo er hinjehört.“

Weber strich sich nachdenklich mit der Hand über die Stirn.

„Sie können jetzt gehen. Und – fahren Sie doch mal sofort mit Ihrem Auto, das unten auf der Straße steht, nach der Wilhelmstraße und schauen Sie sich nach dem Zigarettenstummel um. Das Geld für die Tour erhalten Sie nachher zurück. Im übrigen, sprechen Sie mit niemandem über die Sache – verstanden! Denken Sie daran, daß Ihnen zehntausend Mark winken!“

 

2. Kapitel.

Frau Sorge.

Der Mond stand als leuchtende Scheibe über den leise rauschenden Bäumen des Parkes und tauchte die Terrasse des Herrenhauses von Draken in ein silbernes Licht, in dem sich das blasse, feine Antlitz Helindes wie der Marmorkopf einer antiken Statue ausnahm.

Frau v. Polnitz lehnte an der gemauerten Brüstung der großen Terrasse. Ihr gegenüber in einem Korbsessel neben dem kleinen Serviertischchen, auf dem eine Zigarrenkiste und ein Likörservice standen, saß eine breite, massige Gestalt in schwarzem, hochgeschlossenem Rock. – Vom Park her führte der leichte Abendwind die Herbstgerüche absterbender, faulender Pflanzen und Blätter herüber. Aus der Ferne erklang hin und wieder das Blaffen eines Hundes, das Aufkreischen von Mädchenstimmen, dazwischen eine ungeübte Baritonstimme, die ein Abendlied sang. Die Töne, an und ab schwellend, verstärkten noch die Melancholie dieser Herbststimmung, die über der ganzen Umgebung lag.

Pfarrer Heinz hatte Helinde von Polnitz nun schon eine ganze Weile stumm betrachtet. Jetzt sagte er mit seiner sonoren Stimme, die so biegsam war und so klar wie die eines guten Schauspielers:

„Sie werden sich erkälten, gnädige Frau. Diese Oktobernacht ist gefährlich, zumal wenn man so leicht gekleidet ist wie Sie.“

Helinde zog den indischen, mit Silberstickerei durchwirkten Schal fester um die Schultern.

„Seien Sie unbesorgt, Herr Pfarrer, ich bin genügend abgehärtet.“ Sie versuchte zu lächeln, und doch fröstelte sie leicht und duckte ihre zierliche Gestalt noch mehr zusammen.

Der Geistliche, der nun schon seit Jahren als Seelsorger in dem Dorfe Draken seines Amtes waltete, zog die Uhr und sah beim Lichte des Mondes nach der Zeit.

„Gleich acht! Meine Frau wird mit dem Abendessen warten,“ meinte er, indem er sich erhob. „Sie entschuldigen mich. – Ich kann die Angelegenheit ja auch morgen mit Ihrem Gatten besprechen.“

Helenes große, dunkle Augen schauten ihn jetzt fast ängstlich forschend an.

„Handelt es sich um – um eine Geldangelegenheit, Herr Pfarrer?“ fragte sie unsicher.

Der Geistliche nickte.

„Leider. Ihr Herr Gemahl muß als Patron der Kirche von Draken die Rechnungen für die letzte Renovierung des Gotteshauses bezahlen – wenigstens zum Teil. Ich kann die Aufstellung ja gleich hierlassen. Bitte – um diese Schlußsumme – achthundert Mark – dreht es sich.“

Frau v. Polnitz legte die Blättchen achtlos auf den Tisch. Dann verabschiedete der Pfarrer sich.

„Auf Wiedersehen, gnädige Frau.“ – Sie drückten sich kräftig die Hände.

„Grüßen Sie bitte die Ihrigen recht herzlich von mir,“ sagte Helinde noch, während sie den Gast bis zur Treppe der Terrasse begleitete.

Pfarrer Heinz schritt eilig die Allee entlang, die zum Eingang des Parkes und von da nach dem nahen Dorfe führte.

„Armes Weib,“ murmelte er vor sich hin. „Nichts als Sorgen! – Wahrhaftig, ein glänzendes Elend ist’s!“ –

Inzwischen hatte Helinde durch das Stubenmädchen den Serviertisch abräumen lassen und war in das Innere des Hauses gegangen. – Bald vernahm sie draußen das Rollen von Rädern. Sie erkannte deutlich den flüchtigen Hufschlag der beiden vor den leichten Jagdwagen gespannten Füchse, mit dem sich Edgar v. Polnitz regelmäßig in der warmen Jahreszeit von dem etwa fünf Kilometer entfernten Bahnhof Bernburg abholen ließ.

Die Begrüßung zwischen den nunmehr fünf Jahre verheirateten Eheleuten war nicht so zärtlich wie sonst. Polnitz, eine große, schlanke Erscheinung mit ernstem aber trotzdem gütigem Gesicht, schien auffallend zerstreut. Er küßte Helinde flüchtig auf die Stirn und trug dann die Reisetasche in sein Arbeitszimmer, wo er sie ganz gegen seine sonstige Gewohnheit in seinen Gewehrschrank einschloß.

Wenige Minuten später saßen sich die beiden Menschen, die seinerzeit gegen den Willen von Edgar v. Polnitz’ ganzer Familie sich aus reiner Neigung geheiratet hatten, an dem Abendbrottisch gegenüber.

Der Gutsbesitzer schenkte sich zunächst einen Kognak ein und goß ihn mit offensichtlichem Behagen hinunter.

„Ich fühle mich unglaublich kaputt, Heli,“ meinte er, seine Frau mit warmer Zärtlichkeit anschauend. „Mach’ nicht so ein betrübtes Gesicht, Kleines,“ setzte er schnell hinzu. „Ich war vorhin bei der Begrüßung wohl nicht so lieb, wie du es erwartet hattest. Schreib’s auf Rechnung dieser Berliner Reise, die wirklich kein Vergnügen war, Heli, und – so – reich’ mir die Hand und sei wieder gut!“

Helinde lächelte glücklich wie immer, wenn sie fühlte, daß diese fünf Ehejahre ihre gegenseitige Liebe nur gekräftigt und vertieft hatten.

„Eigentlich fürchtete ich schon, du würdest heute gar nicht mehr kommen und die Nacht in Berlin bleiben,“ sagte sie dann und legte ihm ein Stück von einer kalten Kalbskeule auf den Teller.

Polnitz, dessen Gedanken offenbar schon wieder irgendwohin in die Ferne abgeirrt waren, antwortete erst nach einer geraumen Weile.

„Beinahe wär’s auch so geworden,“ sagte er dann, indem er langsam das Fleisch zerteilte. „Ein reiner Zufall, daß ich meine Geschäfte so schnell erledigen konnte.“

„Und hast du erreicht, was du wolltest?“ fragte sie mit einer gewissen Ängstlichkeit.

Er zog wieder wie geistesabwesend seinen blonden Schnurrbart durch die Finger, ohne bisher auch nur einen Bissen genossen zu haben.

„Edgar! Woran denkst du?!“

Ihre Stimme schreckte ihn aus seinem Brüten auf.

„Verzeih, Liebling. – – Was fragtest du doch? – Ach so, richtig. – Na, ich bin ganz zufrieden mit dem Erfolg. Meierheim will mir das Darlehn besorgen. Freilich, so einige Zeit wird es ja noch dauern. Aber die Hauptsache ist, daß wir überhaupt die Geschichte ins Glatte bringen.“

Helinde lenkte dann absichtlich das Gespräch auf ein anderes Thema über. Doch immer deutlicher merkte sie, daß ihren Gatten irgend etwas bedrückte, was er vor ihr nach Möglichkeit verbergen wollte. Dabei aß er wenig, sprach nur dem Kognak in einem Maße zu, daß es sich um ihr Herz bald wie ein schmerzhafter Druck legte. Was mochte ihm nur passiert sein, was ließ ihn immer wieder so nachdenklich mit gerunzelter Stirn vor sich hin schauen?! Und – hatte sie nicht Anspruch darauf, daß er ihr alles anvertraute? War es bisher nicht immer so gewesen, war sie nicht seine beste, treueste Kameradin, seine verständige Beraterin in allen Dingen?! –

Immer trauriger wurde ihr zu Mute. Und bald verstummte die Unterhaltung ganz. Edgar v. Polnitz schien das gar nicht zu bemerken.

Nach Tisch entschuldigte er sich. Er würde wohl erst spät zu Bett gehen, da er noch allerlei Briefe zu erledigen habe. Sie möge jedoch seinetwegen nicht etwa aufbleiben. Es könnte Mitternacht werden, bevor er mit seiner Arbeit fertig würde.

All das klang so seltsam gezwungen, daß Helinde den Gatten nun erst recht nicht begriff. Weshalb wollte er allein sein – denn dieser Wunsch war so deutlich aus seinen Worten herauszumerken? Hatte sie bis jetzt ihm nicht immer Gesellschaft geleistet, wenn er noch lange aufgesessen und sich mit der Führung der verschiedenen Konten beschäftigt hatte, eine Tätigkeit, die ihm, dem früheren Kavallerieoffizier, recht wenig zusagte und die er doch auf sich nahm, nur um einen Rentmeister, wie ihn alle größeren Güter besaßen, zu ersparen? –

Trotzdem sagte sie kein Wort. Und halb getröstet durch den langen, heißen Kuß, den er ihr auf die fischen Lippen drückte, als er ihr ‚Gute Nacht‘ wünschte, begab sie sich gegen einhalb zehn Uhr in das gemeinsame Schlafzimmer hinüber, dessen Tür, nur durch den breiten Korridor getrennt, der von Edgars Studierstube, wie er den Raum bisweilen ironisch nannte, gerade gegenüberlag.

Aber einschlafen konnte sie nicht. Zunächst hatte sie noch in einem Leihbibliotheksband geblättert, der jedoch ihr Interesse nicht zu fesseln vermochte; dann ruhte sie mit offenen Augen in den Kissen und ließ die Gedanken an Gegenwart und Vergangenheit in stets wechselnden Bildern durch ihren Geist ziehen.

In dem romantisch gelegenen Badeorte Tölz war es gewesen, wo Edgar sie kennen gelernt hatte – als jugendliche Liebhaberin des dortigen Sommertheaters, bei dem sie ihr erstes Engagement absolvierte. Bald hatte der flotte Offizier, der seine kränkliche Mutter nach Tölz begleitet hatte, bemerkt, daß Helinde Marler nicht eine jener Theaterprinzessinnen war, deren Gunst sich mit Diamanten und Blumen leicht erkaufen läßt, bald sah er ein, daß er ein reines, vertrauensvolles Geschöpfchen vor sich hatte, welches zu schützen er für seine Kavalierpflicht hielt. Und eines Tages, als sie wieder einmal durch die schattigen Bergwälder dahinschritten, da war es über ihn gekommen wie ein Rausch! Er hatte Helinde in seine Arme genommen und ihr die Lippen rot geküßt. Wie er sie dann wieder freigab, war sie weinend davongelaufen, weinend, weil sie sich schämte, daß ihre Arme ihn gleichfalls so fest umklammert und ihr Mund so törichte, verliebte Worte gestammelt hatte.

Und Edgar v. Polnitz entzweite sich Helenes wegen mit seiner ganzen adelsstolzen Familie, nahm den Abschied, kaufte sich, freilich mit einer geringen Anzahlung, das in der Nähe der Reichshauptstadt gelegene Gut Draken und führte die Geliebte in kurzer Zeit als Herrin auf die eigene Scholle. In den ersten Jahren blieb das Glück dem jungen Paare hold. Edgar arbeitete mit wahrem Feuereifer, sparte, wo der nur sparen konnte, und da recht gute Ernten eingebracht wurden, vermochte er sogar noch verschiedene Verbesserungen auf seinem Besitz einzuführen, der bald weit und breit als Musterwirtschaft galt.

Dann kam der Umschlag. – Viehseuchen, nasse Sommer, die das Getreide auf den Äckern verfaulen ließen, zwangen ihn in den letzten zwei Jahren, immer wieder neue Darlehn aufzunehmen. Gewiß, einmal hatte er es doch gewagt, sich an seinen Vater um eine Unterstützung zu wenden. Aber der alte Majoratsherr v. Polnitz antwortete dem ungeratenen Sohne, der ihm zu trotzen gewagt und eine Komödiantin geheiratet hatte, auch nicht mit einer Zeile. So war die Not in das Herrenhaus von Draken eingezogen, die Not und die Sorge. – –

Edgar von Polnitz war in dieser letzten Zeit zusehends gealtert. An seinen Schläfen zeigten sich plötzlich die ersten grauen Haare, und um den Mund hatte er jetzt bisweilen einen Zug von gramvoller Erbitterung, den selbst Frau Helindes Zärtlichkeiten nicht mehr fortzuwischen vermochten.

An all das dachte die einsame Frau, während sie mit offenen Augen in die Dunkelheit hineinstarrte. Zum ersten Male begann sie sich Vorwürfe zu machen, kamen ihr Gedanken, die ihr eigenes Verhalten kritisierten. War es recht von ihr gewesen, daß sie ihren Gatten mit seiner Familie entzweit, daß sie ihn in eine unsichere Zukunft hineingedrängt hatte?! Wahre Liebe soll ja selbstlos sein! Und – hätte sie nicht auf das Glück dieser Ehe verzichten müssen, um den Geliebten vor diesen Alltagssorgen, die der bis dahin nie gekannt hatte, zu bewahren – vor Sorgen, an denen sie, die ihm auch nicht einen Pfennig Vermögen mitgebracht hatte, schließlich doch wohl allein die Schuld trug! Denn niemals hätten Edgars Eltern den Sohn fallen lassen, wenn er nicht diesen Schritt getan hätte, der ihn mit einem Schlage aus dem Kreis seiner Standesgenossen hinausführte – für immer. – –

Helinde sann und sann. Ihr wurde heiß unter der wärmenden Decke. Die Gedanken trieben ihr das Blut immer schneller durch die Adern, immer schneller.

Deutlich hörte sie jetzt die Wanduhr im Zimmer des Gatten mit ihrem tiefen Gongton eine Stunde schlagen. Unwillkürlich zählte sie die Schläge mit. –

Bereits Mitternacht. Und noch immer kam er nicht. Was mochte er nur dort drüben treiben? Arbeiten – Rechnungen durchsehen und die Eintragungen in den Büchern ergänzen – das hatte er doch erst vorgestern besorgt. – –

Schließlich duldete es sie nicht länger in dem dunklen Zimmer. Schnell schlüpfte sie in ihren weichen Schlafrock, zog die warmen Schuhe an und wollte eben die Tür nach dem Korridor öffnen, als sie draußen vorsichtige Schritte zu vernehmen glaubte.

Kein Zweifel. – Jetzt knarrte auch die Diele neben dem großen Wandschrank, die Edgar schon lange hatte festnageln lassen wollen.

Der, der durch den Korridor schlich, konnte nur ihr Gatte sein. Sonst hätte der Jagdhund Hektor, der nebenan im Wohnzimmer als Wächter neben dem Ofen seine Lagerstatt hatte, längst angeschlagen.

Ein Angstgefühl, für dessen Entstehung sie keine Erklärung fand, packte Helinde. Leise, geräuschlos drückte sie jetzt die Türklinke herunter und steckte den Kopf durch den Türspalt.

In dem langen, breiten Korridor brannte in der Mitte wie immer die Nachtlampe und gestattete ihr, noch eben Edgars Gestalt wahrzunehmen, der gerade nach links, nach der Vorhalle zu, verschwand.

Hastig huschte sie zum Zimmer hinaus und ihm nach. Sie kam zu spät. Die vergitterte Tür, die auf die Vorderterrasse führte, hatte er halb offen gelassen. Als sie ins Freie trat, schlug ihr die feuchtkalte Nachtluft so eisig entgegen, daß sie fröstelnd zusammenschauerte. Der Mond, den noch eben eine dichte Wolke verdeckt hatte, kroch jetzt hinter der dunklen Wand langsam hervor und überflutete die Allee mit weißlichem Licht, auf deren Schattenseite eilig dahinschritt – Edgar.

Helinde hatte schon den Mund geöffnet, um ihn zurückzurufen. Sie unterließ es. Warum, wußte sie selbst nicht. – –

Eine halbe Stunde war vergangene. Noch immer stand Frau v. Polnitz auf der Terrasse und wartete auf die Rückkehr ihres Gatten. Ein ungewisses Furchtgefühl, das ihr das Herz stets von neuem zusammenkrampfte, ließ sie die Kälte vergessen, obwohl ihre Zähne bisweilen wie im Fieberfrost aneinanderschlugen.

Endlich – endlich tauchte er in der Ferne auf. Hastig eilte sie in das Schlafzimmer zurück, warf ihre Sachen ab und schlüpfte ins Bett.

Als Edgar v. Polnitz wenige Minuten später gleichfalls sein Lager aufsuchte, glaubte er aus den regelmäßigen Atemzügen seines Weibes entnehmen zu kennen, daß sie fest schliefe.

*

Am Morgen jagte ein Wagen in schnellem Tempo nach dem Städtchen Bernburg, um den Sanitätsrat Freytag nach Draken zu holen, da Frau Helinde in der vergangenen Nacht schwer erkrankt war.

Der Arzt konstatierte dann hohes Fieber und eine beginnende Lungenentzündung.

„Mein lieber Herr von Polnitz,“ hatte der alte Herr gesagt, „ich will Ihnen die Wahrheit nicht verhehlen. Die Sache sieht ziemlich ernst aus. Lassen Sie eine Krankenschwester aus Berlin herüberkommen, die die Pflege übernimmt. Das dürfte das Richtigste sein.“ – –

Als der Gutsbesitzer wieder allein war, ließ er sich aufstöhnend in den nächsten Stuhl fallen. Verzweifelt starrte er vor sich hin. Auch das noch zu allem anderen.

Und dann schlich er auf Fußspitzen in das Schlafzimmer zurück, wo sein geliebtes Weib mit fiebergeröteten Wangen, unverständliche Worte vor sich hin murmelnd, in den weißen Kissen lag.

 

3. Kapitel.

Ein Klient.

Dem Detektiv Fritz Schaper, dem Inhaber des bekannten Instituts ‚Argus‘, gegenüber saß ein kleines Männchen, bescheiden, aber sauber gekleidet, mit einem schlauen Gesicht und einem Paar lebhafter Augen, die einen natürlichen Mutterwitz und eine gewisse Portion Verschlagenheit verrieten.

„Rentier Zingerle,“ hatte er sich Fritz Schaper mit einem altmodischen Kratzfuß beim Betreten des Zimmers vorgestellt.

„Nun, Herr Zingerle, was führt Sie zu mir?“ begann der Detektiv, indem er dem Alten, der ihn wie ein Wundertier anstarrte, belustigt zunickte. Er war es gewöhnt, daß die Leute ihn stets zunächst mit einer naiven Neugier von oben bis unten musterten. Als Berliner Lokal-Berühmtheit mußte er sich das schon gefallen lassen.

„Hm, ja – was mich hergeführt hat! Eine merkwürdige Geschichte ist’s, sogar sehr merkwürdig. – Hier, lesen Sie einmal diese Annonce, Herr Schaper.“

Der Detektiv nahm das Zeitungsblatt, das der Rentier aus der Brusttasche seines Rockes hervorgeholt hatte, entgegnete und überflog die mit Bleistift umrandete Stelle im Anzeigenteil.

‚Hohes Gewinnlos einer preußischen Geldlotterie zu kaufen gesucht. Offerten postlagernd Amt N 54 unter Chiffre ‚Gutes Geschäft‘.‘

Schaper legte das Zeitungsblatt vor sich auf den Tisch.

„Eigentümliches Kaufgeschäft, das stimmt,“ meinte er nachdenklich.

„Sehen Sie, Herr Schaper, ich wußte gleich, daß Ihnen die Geschichte auch auffallen würde. Und denken Sie, in sämtlichen Berliner Blättern hat das Inserat gestanden. Muß dem Herrn ein nettes Stück Geld gekostet haben, der’s eingerückt hat.“

„Ohne Zweifel. – Was haben Sie aber mit der Sache zu tun, Herr Zingerle?“

„Nun – weil ich doch in der vergangenen Woche den zweiten Haupttreffer in der Roten Kreuz-Lotterie gemacht habe.“

„Ach so! Und da wollen Sie mich jetzt fragen, ob es ratsam ist, sich auf die Annonce hin zu melden, nicht wahr?“

Zingerle zog die Mundwinkel mißmutig nach unten.

„Wäre gut gewesen, wenn ich’s getan hätte. Aber leider ließ ich mich verleiten und bin auf das Geschäft eingegangen.“

„Wirklich?!“ Der Detektiv richtete sich interessiert in seinem Stuhle auf. „Erzählen Sie, Herr Zingerle,“ bat er eifrig. „Aber möglichst eingehend. Sonst hat’s überhaupt keinen Zweck.“

„Schön – wird gemacht. Also vor drei Tagen fand ich in der Abendzeitung rein durch Zufall die Annonce. Da sagte ich gleich zu meiner Frau: ‚Weißt du, Alte, das paßt ja famos auf uns. Vielleicht können wir aus dem Los noch mehr herausschlagen.‘ Worauf meine Frau, die Ihnen wahrhaftig ein selten kluges Weib ist, antwortete: ‚Franz, das ist alles ganz gut. Aber wenn es nun ein Betrüger ist, der dir oder sonst einem glücklichen Gewinner nur das Geld abknöpfen will?!‘ –

Damit hatte sie nun nicht ganz unrecht. Aber wir Berliner sind doch helle, und so leicht beschummelt man Franz Zingerle nicht! –

Na – kurz und gut – ich schrieb also eine Antwort auf die Offerte und bat den Unbekannten, er möge sich mit mir in Verbindung setzen, wenn er das Los mit gehörigem Aufgeld, gegen bar natürlich, kaufen wolle. Diesen Brief steckte ich noch an demselben Abend in den Kasten.“

Der Rentier machte eine kleine Kunstpause, wohl um die Spannung seines Zuhörers noch zu vergrößern.

„Gestern mittags so gegen einhalb ein Uhr war er dann bei mir,“ fuhr er bedächtig fort. „Nun – der Handel kam zustande, aber mir auch hinterher so allerlei Bedenken – –“

„Halt, halt,“ unterbrach ihn Schaper lebhaft. „Das geht etwas zu schnell, Herr Zingerle. Bitte, schildern Sie mir genau, wie der Mann aussah, was er Ihnen zur Begründung seines eigentümlichen Kaufgesuches mitteilte usw. Sonst erhalte ich kein richtiges Bild von der Geschichte.“

„Gut, wie Sie wollen, Herr Schaper. – Es war fraglos ein feiner Herr, obwohl er den Schnurrbart wie so’n russischer Kosak um die Mundwinkel herabhängen und eine blaue Brille auf der Nase hatte. Er nannte sich Steuerrat Schroedter, behauptete, in Frankfurt a.d.O. zu Hause zu sein. Danach sah er aber eigentlich nicht aus. Er hatte vielmehr so etwas Forsches, Militärisches an sich. –

Ich führte ihn in unsere gute Stube, wo er auf dem neuen Plüschpaneelsofa Platz nahm. Dann sagte er mir, daß er ein Gewinnlos deswegen kaufen wolle, um einem alten Freunde, dem es herzlich schlecht ginge, eine Überraschung zu bereiten. Dieser Freund sei sehr stolz und wolle Unterstützungen durchaus nicht annehmen. Da hätte er ihm denn vor einiger Zeit vorgeschlagen, gemeinsam doch mal ein Los zu spielen – alles, um nachher den frommen Betrug in Szene setzen zu können. Der Freund wäre darauf eingegangen und hätte es ihm überlassen, was für ein Los er kaufen wolle. Und weil es ihm persönlich nun pekuniär sehr gut ginge, so wolle er eben dem andern durch diese Mogelei ein kleines Vermögen aufzwingen, indem er dann angeben würde, das Los, das sie gemeinsam spielten, sei mit Gewinn gezogen worden. –

Was sagen Sie zu dieser Geschichte, Herr Schaper?“

Der Detektiv zuckte die Achseln.

„Kann wahr sein, oder auch nicht. Das läßt sich erst später entscheiden, wenn ich alles weiß.“

Zingerle schien von dieser Antwort nicht befriedigt zu sein.

„Hätten Sie den Herrn reden hören, Sie würden’s ebenso wie ich für bare Münze genommen haben, glauben Sie mir!“ meinte er eifrig. „Mein Besucher verstand mir die Sache so fein auseinanderzusetzen, daß ich ordentlich Hochachtung vor ihm fühlte, der so uneigennützig einem alten Bekannten helfen wollte. –

Dann kamen wir auf den Geldpunkt zu sprechen. Er bot mir ohne weiteres zweitausend Mark mehr für das Los, dessen Gewinn ich morgen schon abheben kann, da heute die Ziehungsliste ausgegeben worden ist. Nun – ich wollte ihn nicht gerade auspressen und – verlangte nur dreitausend Mark Aufgeld. Er handelte auch nicht einen Moment. Ich hätte also ganz gut auch viertausend Mark sagen können. Na – man will schließlich auch nicht gerade zu habgierig sein! –

Der Herr Steuerrat erklärte mir, daß er in der Lage sei, mir das Geld sofort auszuzahlen. Nur müsse er eine Bedingung stellen. Ich dürfte über die Sache mit niemandem sprechen, weil der Zufall es mit sich bringen könne, daß dann womöglich sein Freund davon erführe, was dieser ihm nie vergessen würde. Ich war einverstanden. Aber vorsichtigerweise meinte ich, er solle mir das Geld nebenan in der Filiale der Dresdener Bank aushändigen, wo ich es ohnehin deponieren wollte. Dort würde ich ihm dann gleich auch das Los Zug um Zug übergeben. Er zögerte erst noch eine Weile, kam dann aber mit.

Der Kassierer der Bankfiliale, der mich gut kennt, prüfte dann die Banknoten auf meine Bitte flüchtig auf ihre Echtheit – na, und damit war die Sache soweit erledigt. Der Herr Steuerrat steckte das Los ein, und ich war Inhaber eines Bankkontos in einer Höhe, wie ich es noch nie besessen hatte.“

Wieder verschnaufte sich Franz Zingerle ein Weilchen, bevor er fortfuhr:

„Vor meiner Haustür trennten wir uns. Und nun, Herr Schaper, kommt der Witz bei der Geschichte. Ich sagte Ihnen ja schon, daß ich dem Käufer den ‚Steuerrat‘ nicht recht geglaubt hatte. Und so war ich denn neugierig, wo er eigentlich bleiben würde. Mit einem Wort, ich wollte ihm so ein bißchen nachspionieren. Mein Mittag hatte ich ja schon hinter mir, und so hinderte mich nichts, ihm auf den Fersen zu bleiben. Meiner Alten, die oben bei uns auf dem Balkon stand – wir wohnen im Vorderhaus – nickte ich vergnügt zu und machte so eine Handbewegung, die ihr andeuten sollte, was ich vorhatte.

Inzwischen war auch der Steuerrat schon ein ganzes Stück voraus, so daß ich ordentlich die Beine in die Hand nehmen mußte, um ihm wieder näher zu kommen. Ein paarmal schaute er sich auch um, aber da ich auf der anderen Seite der Straße entlang ging, bemerkte er mich nicht, zumal es gerade ein wenig regnete und ich schleunigst meinen Schirm aufgespannt hatte, der mein Gesicht verbarg. Am Oranienburger Tor nahm der Herr dann ein Auto und ich – tat dasselbe. Mein Chauffeur war ein gerissener Bursche, so daß wir die Benzindroschke des Steuerrats nicht aus den Augen verloren. So kamen wir dann am Potsdamer Bahnhof an. Hier duckte ich mich immer vorsichtig hinter Gepäckträgern und Reisenden zusammen, so daß Schroedter mich nicht gewahrt wurde. Er schaute sich auch außerdem gar nicht weiter um, sondern trat an den Billetschalter heran und verlangte eine Fahrkarte zweiter Klasse nach Bernburg. Das hörte ich ganz genau. Und wie er nun die Treppe zum Fernbahnhof emporstieg, da sah ich, daß er die Brille abgelegt hatte und daß sein blonder Schnurrbart mit einem Mal recht anständig, so ordentlich offiziersmäßig, hochgezogen war.

Eine halbe Stunde später bestieg er den Zug nach Werder. In Wildpark hat er dann ja Anschluß nach Bernburg. – So, das ist alles, Herr Schaper.“

Der Detektiv hatte sich in den Ledersessel zurückgelehnt und die Augen halb geschlossen. Dem Ausdruck seines Gesichts sah man an, daß er scharf nachdachte. Erst nach einer ganzen Weile fragte er dann, indem er den Rentier durchdringend anblickte:

„Und was soll ich nun bei dieser Sache tun, Herr Zingerle? Denn Sie sind doch offenbar in einer ganz bestimmten Absicht zu mir gekommen.“

„Gewiß, Herr Schaper, da haben Sie recht. – Sie sollen mir also raten, ob ich vielleicht den Handel rückgängig machen soll. Irgendetwas ist bei der Sache fraglos faul. Das sagte ich mir sofort, als ich mir diese Geschichte mit der blauen Brille, die nachher verschwand, und dem forschen Schnurrbart, der mit einem Male so kavaliermäßig aussah, später daheim in Ruhe überdachte. Ich weiß eben bloß nicht, weshalb dieser angebliche Steuerrat diesen Ankauf so geheimnisvoll bewerkstelligt haben mag. Habe mir genug darüber den Kopf zerbrochen, jedoch vergeblich.“

„Ihnen kann nichts passieren, Herr Zingerle,“ beruhigte der Detektiv den kleinen Mann. „In dieser Beziehung können Sie sich auf meine Kenntnis der Strafgesetzparagraphen verlassen. Selbst wenn hierbei ‚etwas faul im Staate Dänemark‘ ist, wie man zu sagen pflegt, so sind Sie stets geschützt. Sie haben gutgläubig das Los veräußert, und das bleibt die Hauptsache.“

Der Rentier atmete sichtlich erleichtert auf.

„Noch eine Frage,“ meinte Schaper, als das alte Männchen sich jetzt erheben wollte. „Der angebliche Steuerrat bezahlte Ihnen die dreiundfünfzigtausend Mark in Banknoten – so sagten Sie doch. Was für Kassenscheine waren das? Vielleicht alles Tausendmarknoten?“

„Nein. Für fünfunddreißigtausend Mark Tausender und der Rest in Fünfhundertmarkscheinen.“

„So. Danke vielmals. – Ob Sie mir Honorar schuldig sind? – Nein. Derartige Auskünfte erteile ich gratis. – Adieu, Herr Zingerle. –

Halt, noch eins. Welche Nummer hatte das Gewinnlos? Wissen Sie das vielleicht noch?“

„Na und ob! – 14183!“ –

Als Fritz Schaper wieder allein war, suchte er aus einer Mappe, die eine Unmenge Zeitungsausschnitte enthielt, ein bestimmtes Blättchen hervor. Es war ein Bericht über die in der Autodroschke liegen gebliebenen 823000 Mark.

Langsam las der Detektiv die eingehende Schilderung mehrmals durch. Zwei Sätze interessierten ihn hauptsächlich:

‚Die Riesensumme bestand in Fünfhundert- und Tausendmarkscheinen. Der, der die Aktentasche mit dem wertvollen Inhalt gefunden und bisher nicht abgeliefert hat, wird von dem Gelde jedoch keinerlei Vorteil haben, da man die Nummern der Banknoten genau kennt und ein Ausgeben der Scheine deshalb unmöglich ist, zumal bereits alle Geldinstitute und Postämter die Nummernliste erhalten haben.‘

Dies waren die beiden Sätze, auf die es dem Detektiv ankam.

Mit einem zufriedenen Lächeln legte er die Mappe dann wieder zur Seite, während er leise vor sich hinmurmelte:

„Der brave Zingerle sollte ahnen, wie wertvoll mir seine Mitteilungen gewesen sind! Schade nur, daß ich ihm zu sagen vergaß, er möchte die Sache doch lieber niemandem gegenüber erwähnen. Nun, das kann ich ja durch einen Brief nachholen. Seine Adresse habe ich zum Glück behalten. – Oranienburgerstraße 16. – Und die Losnummer war 14183.“

 

4. Kapitel.

Die Burgruine.

Pfarrer Heinz saß mit den Seinen beim Morgenkaffee in der geräumigen Holzlaube, die er sich nach seinen eigenen Ideen zurechtgezimmert hatte und die den Neid manches Fachmannes erregt haben würde, so zierlich war sie aufgefallen und so sauber paßten all die vielen geschnitzten Teile, die Frucht langer Winterabende, aneinander.

„Kinder, diesen warmen Oktobertag hat uns Gott geschenkt,“ sagte der Pastor und schob die Kaffeetasse ein Stück zurück, um den Aschbecher an ihre Stelle zu rücken. Denn Heinz war ein leidenschaftlicher Raucher. ‚Ein Laster muß jeder haben,‘ pflegte er sich selbst zu entschuldigen.

„Wie wär’s, wenn wir das schöne Wetter dazu benutzten, um unsere Rosenstöcke für den Winter einzuschlagen,“ wandte er sich jetzt an seine drei erwachsenen Töchter. „Oder habt ihr etwas anderes vor?“

Hanni und Lotti schwiegen. Nur Lenchen, die zweitjüngste, meinte entschuldigend:

„Ich möchte gerne meine Novelle beenden, Papa. Aber wenn ich helfen soll – –“

„Laß dich nicht abhalten, kleiner Blaustrumpf,“ wehrte jedoch der gutmütige Pfarrer ab, der sich heimlich stets vom neuem freute, daß sich sein Lenchen mit ihrer schriftstellerischen Tätigkeit hin und wieder ein ganz nettes Sümmchen verdiente.

Die jungen Mädchen begannen den Kaffeetisch abzuräumen.

Der Pastor hatte sich in seinen Gartenstuhl zurückgelehnt und schaute sinnend auf die entlaubten Bäume und Sträucher des weiten Parkes, der sich hinter dem großen Pfarrhause ein Stück in das Feld hinein erstreckte und der Pastorfamilie an Obst und Gemüse lieferte, was sie in der Wirtschaft brauchte.

„Wieder einmal Herbst,“ meinte er träumerisch. „Je älter man wird, desto schneller fliegen die Jahre.“

Die Frau Pfarrer, eine stattliche Erscheinung mit gütigen, dunklen Augen unter dem noch unverfärbten Scheitel, hatte ihren Gatten schon eine ganze Weile mit besonderen Blicken betrachtet.

„Alterchen,“ sagte sie jetzt herzlich und legte ihm leicht die Hand auf die Schulter, „du bist seit einiger Zeit so merkwürdig melancholisch gestimmt. Ist dir etwas Unangenehmes begegnete?“

Heinz streifte die Asche seiner Zigarre ab. Dabei gruben sich zwei deutlich sichtbare Falten in seine Stirn ein.

„Unangenehmes wohl gerade nicht,“ erwiderte er zögernd. „Mir geht nur das Unglück dort drüben im Herrenhause durch den Kopf. Mit Frau v. Polnitz steht es schlecht, wie mir der Sanitätsrat gestern erklärte. Der arme Mann tut mir recht leid. Erst die Geldsorgen, und jetzt noch die Krankheit im Hause! Da werden seine grauen Haare sich wohl schnell vermehren. Er irrt ja schon selbst nachts wie ein ruheloser Geist umher. Die Gedanken werden ihn nicht schlafen lassen. Als ich letztens aus Buchholz zurückkam – du weißt, Mutter, ich hatte dem alten Töfs das Abendmahl reichen müssen – begegnete ich ihm auf der Chaussee. Es war bereits nach Mitternacht. Ich hatte gerade die ausgegangene Laterne meines Rades wieder angezündet, als er vor mir aus dem Wäldchen an der alten Ruine auftauchte, mit ein paar Sätzen über die Straße sprang und in der Richtung nach dem Gutsparke zu verschwand.“

„Merkwürdig!“ meinte die Frau Pastor. „Was hat er denn nur so mitten in der Nacht in der Gegend zu suchen?“

„Ich sagte ja schon, Mutter – die Sorgen werden ihn unstät machen. Ja, ja – auch hier erfüllt sich der alte Spruch ‚Des Vaters Segen bauet den Kindern Häuser, aber der Mutter Fluch reißt sie nieder!‘ – Womit ich freilich nicht ausdrücken will, daß mir Helinde v. Polnitz etwa mißfällt. Im Gegenteil, sie ist ein kreuzbraves Weib. – Nur – der Sohn hätte doch alles daran setzen müssen, um die Einwilligung seiner Eltern zu dieser Ehe zu erlangen.“

In diesem Moment betrat der Briefträger durch die Gartenpforte das Pfarrgrundstück und händigte dem Herrn Pastor die Morgenzeitungen und einige Briefe aus.

Einer alten Gepflogenheit gemäß erhielt er eine Zigarre, und ebenso fragte der Geistliche wie immer:

„Gibt’s was Neues, Krüger?“

Der Postbote nickte eifrig.

„Denken Sie, Herr Pastor, gestern abend hat der Sohn von Förster Christian in der Ruine die Leiche des seit vier Tagen vermißten Viehhändlers Bertold aus Bernburg gefunden.“

„Gestern abend? Davon weiß ich ja noch gar nichts,“ rief der Pfarrer erregt. „Es wundert mich, daß niemand mir das gemeldet hat. Die Ruine liegt doch keinen halben Kilometer von Draken entfernt.“

„Der Fritz Christian hat davon auch keinem was erzählt, sondern ist sofort zusammen mit seinem Vater nach Bernburg gegangen, wo sie die Sache dem Gericht meldeten. Der Herr Amtsrichter Grunwald wird noch heute vormittag, wie mir der Kanzlist ferner mitteilte, herauskommen und den Tatbestand untersuchen. Denn der Berthold soll ermordet worden sein. Der Kopf ist fast ganz zerschmettert, so sagte der Förster wenigstens.“

Der Pastor hatte die Zigarre auf den Aschbecher gelegt und schaute den Briefträger entsetzt an.

„Wirklich ermordet, Krüger?“ fragte er, als könne er das Furchtbare noch immer nicht glauben.

„Es wird schon so sein, Herr Pastor,“ meinte der Beamte ernst. „Der Bertold ist am Montag abend mit beinahe zweitausend Mark in der Tasche vom Viehmarkt in Beelitz zu Fuß nach Bernburg gewandert, und seitdem hat man ihn nicht gesehen. Erst jetzt ist seine Leiche aufgefunden worden, unten in der Halle der alten Burgruine und nur durch einen Zufall, da sonst niemand das Gemäuer, wo es spuken soll, gern betritt. Der Fritz Christian ist auch nur dort hineingegangen, weil er hinter einem Viehdieb her war, der in der Ruine verschwand und den der Förstersohn dann doch nicht gegriffen hat. Dafür entdecke er den Toten. Muß ein schöner Schreck gewesen sein, als er plötzlich die Leiche im Mondlicht vor sich liegen sah.“

Dann verabschiedete sich der Briefträger, um seinen Bestellgang fortzusetzen.

Der Pfarrer aber saß noch eine ganze Weile wie versteinert auf seinem Stuhl.

„Montag abend – gerade Montag!“ murmelte er geistesabwesend. „Das war da, als ich zu dem alten Töfs kommen mußte –“

„Mann!“ flüsterte die Pastorin entsetzt, „Mann, woran denkst du!! Bringst du etwa dein Zusammentreffen mit Polnitz mit – diesem Morde in Verbindung?!“

Der Pfarrer schaute seine Gattin unsicher an.

„Um ehrlich zu sein – Helene – ja, ähnliche Gedanken hegte ich. Es liegt ja auch so nahe. Polnitz kam aus der Richtung der Ruine und rannte wie ein gehetztes Wild über die Chaussee!“

Die Pastorin rang bestürzt die Hände.

„Das ist ja unmöglich – ausgeschlossen! Wo wird Polnitz – nein, nie und nimmermehr traue ich ihm eine solche Tat zu.“

Da kam ihr ein anderer Gedanke.

„Du warst doch gestern im Herrenhause, Mann. Hast du ihn denn da nicht gefragt, was er in der Nacht draußen im Felde getrieben hat? Hast du gar nicht erwähnt, daß du ihn erkanntest, wie er über die Chaussee an dir vorüberlief?“

Heinz schüttelte den Kopf, dessen scharfe, charaktervolle Züge jetzt einen so traurigen Ausdruck hatten.

„Nein, Helene – die Sache war mir zu unwichtig, um sie überhaupt zu berühren. Ich habe ja auch dir erst heute davon erzählt,“ erwiderte er nachdenklich.

Vor der Laube erschien die schlanke Gestalt der blonden Lotti.

„Papa, Herr Amtsrichter Grunwald möchte dich sprechen. Er ist mit einem Wagen aus Bernburg eingetroffen.“

Langsam erhob sich der Geistliche.

„Bring’ mir meinen Rock, Kind,“ sagte er, sich die Asche von der Weste abklopfend. „In meiner Joppe kann ich dem Amtsrichter doch nicht gut gegenübertreten.

Eine böse Sache für mich,“ wandte er sich an seine Gattin, nachdem Lotti in das Haus geeilt war. „Soll ich nun der Behörde von meiner Beobachtung in jener Nacht Mitteilung machen oder nicht? – Tue ich’s, so wird man fraglos gegen Polnitz Verdacht schöpfen. Tue ich’s nicht, so handele ich gegen mein Gewissen. –

Schade, daß dieser wunderbare Herbsttag uns so böse Überraschungen bringen mußte.“ –

*

Die Ruine, in der der junge Christian, welcher in der nahen Försterei als Gehilfe tätig war, die Leiche des Viehhändlers Bertold aufgefunden hatte, stammte erwiesenermaßen aus der Zeit des ersten Markgrafen von Brandenburg, der dem Raubritter Emilo von Draken wie so manchem anderen adligen Wegelagerer die festgebaute Burg mit Hilfe der schwerfälligen Kanone, die vom Volksmund ‚Faule Grete‘ getauft worden war, über dem Kopfe zusammengeschossen und dem Besitzer selbst das trotzige Haupt zur Strafe für freche Plünderungen friedlicher Kaufleute vor die Füße gelegt hatte.

Jetzt bewegte sich auf der in einem Tannengehölz liegenden Trümmerstätte, aus der nur noch einige Mauern und ein Teil des Mittelturmes hervorragten, ernste Gestalten hin und her – die Herren vom Amtsgericht Bernburg, der Kreisarzt, der Pfarrer und die beiden Christians, Vater und Sohn.

Man hatte, nachdem die Leiche in ihrer ursprünglichen Lage photographiert worden war, nochmals die ganze Umgebung der Ruine genau untersucht, ohne jedoch irgendetwas von Bedeutung zu finden.

Jetzt ließ Amtsrichter Grunwald den Toten aus der Halle des halbverfallenen Turmes ins Freie hinaustragen, wo der Kreisarzt dann eine sorgfältige Untersuchung der Stichwunde vornahm, während der Gerichtsaktuar, den der Amtsrichter als Protokollführer mitgenommen hatte, die Taschen der Leiche entleerte. Es wurde nichts von Wert entdeckt. Ferner waren auch seine Uhr und die Schlipsnadel, die aus einem Brillanten bestand, verschwunden.

Der Kreisarzt befühlte eben mit bloßen Fingern ohne jede Scheu die blutige, zertrümmerte Schädeldecke.

Zu dem Amtsrichter, einem noch jungen Manne mit kurzgeschnittenem Vollbart, aufschauend, sagte er:

„Es unterliegt keinem Zweifel, daß Bertold ermordet wurde und zwar durch einen Schlag mit einem stumpfen Instrument, der die linke Kopfseite völlig zertrümmerte, mithin mit großer Kraft geführt wurde. Der Täter muß ein ungewöhnlich starker Mensch sein, da Bertolds Schädel eine außerordentlich feste Struktur aufweist.“

Der Kreisarzt wollte noch mehr hinzufügen, wurde aber durch das Erscheinen eines Fremden unterbrochen, der soeben von der Chaussee her das Gehölz betreten hatte und nun ohne weiteres sich der Gruppe der Herren, die um den Toten herumstanden, zugesellte.

 

5. Kapitel.

Dr. Remstein aus Marburg.

Amtsrichter Grunewald schaute den Fremden, der mit seiner goldenen Brille und dem blonden, etwas ungepflegten Vollbart ganz den Eindruck eines Gelehrten machte, nicht gerade sehr freundlich an.

„Mein Herr,“ sagte er, leicht den Hut lüftend, „wie Sie sehen, tagt hier eine Gerichtskommission. Ich muß Sie daher schon bitten, den Platz zu verlassen.“

Der Fremde verbeugte sich, wobei er den breitkrempigen, schwarzen Filzhut zog, so daß seine etwas langen, nach hinten zurückgestrichenen Haare sichtbar wurden.

„Mit wem habe ich die Ehre?“ fragte er liebenswürdig.

„Amtsrichter Grunwald,“ stellte dieser sich vor.

„Professor Dr. Remstein, Archäologe aus Marburg,“ nannte nun auch der andere mit einem gewissen Selbstbewußtsein seinen Namen. Und dann fügte er höflich hinzu:

„Ich bedauere unendlich, daß ich die Herren gestört habe. Nicht bloße Neugier hat mich hergeführt. Diese Ruine ist es, die mich reizt. Das Studium alter Burgen bildet ja mein Spezialgebiet. Jedenfalls bitte ich Sie, Herr Amtsrichter, ruhig in der Erfüllung Ihrer ernsten Pflicht fortzufahren. – Wohl ein Mord, der hier vorliegt?“

Der Beamte war entwaffnet. Er konnte doch unmöglich einen so gelehrten Herrn nochmals ersuchen, das Feld zu räumen. Schließlich schadete es ja auch nichts, wenn jener hierblieb. Und so entgegnete er denn zuvorkommenden Tones:

„Allerdings, Herr Professor, es handelt sich um ein Kapitalverbrechen. Der Tote ist ein Viehhändler, den man offenbar niedergeschlagen und seiner nicht unbeträchtlichen Barschaft beraubt hat.“

„Der arme Mann,“ meinte Dr. Remstein bedauernd, indem er die Leiche eingehend betrachtete.

Dann wandte er sich wieder an den Amtsrichter.

„Würden Sie vielleicht die Liebenswürdigkeit haben und mich den übrigen Herren bekannt machen? Da ich mich einige Zeit hier in Draken aufzuhalten gedenke, wäre es mir sehr angenehm, wenn ich mit den gebildeten Kreisen der Umgebung bald Fühlung gewinnen würde.“

Der Amtsrichter entsprach diesem Wunsche gern, und dann wurde die unterbrochene Tatbestandsaufnahme fortgesetzt. Währenddessen blieb der Professor, scheinbar von den Vorgängen höchst interessiert, ruhig neben dem Richter stehen und wurde so Zeuge jedes einzelnen Wortes, das zwischen den Anwesenden gewechselt ward.

Aus Rücksicht auf die schwer erkrankte Frau v. Polnitz wurde dann das Protokoll im Pfarrhause und nicht auf dem nahen Gute aufgenommen, nachdem die Leiche in das Spritzenhaus des Dorfes geschafft worden war.

Der Professor, der sich mit dem Pastor in ein längeres Gespräch eingelassen hatte, war zwar aufgefordert worden, sich den Herren anzuschließen, lehnte aber mit dem Bemerken höflich ab, daß er den hellen Sonnenschein benutzen wolle, um von der Ruine einige photographische Aufnahmen zu machen. Tatsächlich hatte er ja auch einen Apparat an einem Riemen über der Schulter hängen. Immerhin versprach er jedoch dem Geistlichen, ihn nachher noch zu besuchen, worüber dieser ehrlich erfreut war, da der Archäologe ein recht angenehmer Gesellschafter zu sein schien.

Nachdem die Gerichtskommission verschwunden war, begab sich Dr. Remstein sofort in das Innere des Turmes, in die sogenannte Halle, wo eine große Blutlache auch die Stelle bezeichnete, an der der Leichnam gelegen hatte. Eine geraume Zeit brachte der Gelehrte hier damit zu, in tief gebückter Haltung den mit Steinbrocken und Unkraut bedeckten Boden Schritt für Schritt abzusuchen.

Nachher stieg er dann auch die verfallene Steintreppe, die in ein zweites, nur noch zur Hälfte erhaltenes Turmgemach führte, empor und schaute sich hier ebenso sorgfältig um, obwohl das Mauerwerk, besonders die östliche Wand, in gefahrdrohendem Bogen weit nach innen überhing und jeden Augenblick einzustürzen drohte.

Das größte Interesse schenkte der Professor hier oben einem aus mächtigen Feldsteinen errichteten Kamin, der beinahe ein Fünftel des Raumes ausfüllte und sich an einen schweren Pfeiler anlehnte, der, vom Erdboden aufsteigend, offenbar einen besonderen Zweck gehabt haben mußte.

Immer von neuem besichtigte der Professor diese Anlage, über deren Bedeutung er sich nicht klarwerden konnte. So verging eine gute halbe Stunde.

Dann erst stieg Dr. Remstein die Treppe wieder hinab und holte nun seinen Kodak hervor, um die Ruine von verschiedenen Seiten zu photographieren.

*

Inzwischen hatten sich im Arbeitszimmer des Pfarrers, wo der Amtsrichter die Aussagen des jungen Forstgehilfen und das vorläufige Gutachten des Kreisarztes zu Protokoll nahm, wichtige Dinge abgespielt.

Zum Schluß hatte der Pastor, der als stiller, in sich gekehrter Zuhörer in der Stube geblieben war, sich erhoben und den Amtsrichter gebeten, ihn gleichfalls verantwortlich vernehmen zu wollen.

Der Beamte schaute erstaunt auf.

„Wie, Herr Pastor – habe ich richtig verstanden?“ fragte er. „Sind Sie denn imstande, etwas Wichtiges zur Sache anzugeben?“

„Ob es wichtig ist, vermag ich nicht zu entscheiden,“ meinte Heinz mit auffallendem Ernst „jedenfalls aber zwingt mich meine Pflicht als Mensch, der der Gerechtigkeit dienen soll wie jeder gute Staatsbürger, wo er es nur kann, zur Mitteilung eines Vorganges, dessen Zeuge ich in der Nacht vom Montag zum Dienstag dieser Woche wurde – also damals, als der Ermordete zum letztenmale lebend gesehen worden war.“

Der Anwesenden hatte sich eine leicht begreifliche Spannung bemächtigt. Alles schaute mit neugierigen Blicken unverwandt auf den Pastor, der nach einer kurzen Pause fortfuhr:

„Bevor ich meine Aussage zu Protokoll gebe, möchte ich noch eines bemerken. Ich knüpfe an das, was ich beobachtet habe, keinerlei Kombinationen. Dies überlasse ich den Behörden. Die Person, die ich jetzt nenne, ist für mich über jeden Verdacht erhaben. Trotzdem halte ich mich für verpflichtet, das an sich belanglose Zusammentreffen zu erwähnen, schon aus dem Grunde, weil es ja möglich ist, daß der Betreffende, wenn er an jenen Abend erinnert wird, sich auf Einzelheiten besinnt, die vielleicht der Untersuchung förderlich werden können.“

Mit innerem Widerstreben schilderte der Pastor dann seine Begegnung mit Edgar v. Polnitz in jener Nacht, seit der der Viehhändler spurlos verschwunden war.

Amtsrichter Grunwald und der Kreisarzt tauschten einen vielsagenden Blick aus, als Heinz erzählte, daß der Gutsbesitzer aus der Richtung der Ruine gekommen sei und in weiten Sätzen die Chaussee überquert habe.

Als der Pfarrer mit seiner Aussage fertig war, erklärte der Amtsrichter mit merklich bewegter Stimme:

„Es wäre allerdings eine grobe Verletzung Ihrer staatsbürgerlichen Pflicht gewesen, Herr Pastor, wenn Sie uns von diesem Zusammentreffen keine Mitteilung gemacht haben würden. Es ist verständlich, daß es Ihnen nicht leicht geworden ist, diese Dinge zu Protokoll zu geben. – Gestatten Sie, daß ich noch einige Fragen an Sie richte.“

In demselben Moment wurde leise die Tür geöffnet, und Professor Dr. Remstein schaute in das Zimmer.

„Ist es gestattet, näher zu treten?“ fragte er in seiner bescheidenen, liebenswürdigen Art.

Der Amtsrichter nickte ihm freundlich zu und wies auf einen leeren Stuhl, auf den sich der Archäologe dann auch leise niederließ.

Dann wandte sich die Aufmerksamkeit der versammelten Herren wieder dem Richter und dem Geistlichen zu, zwischen denen sich folgendes Gespräch entspannt:

„Herr Pastor, meinen Sie, daß Polnitz Sie bemerkt hat, als er über die Chaussee lief?“

„Das glaube ich kaum. Mir war meine Azetylenlaterne plötzlich ausgegangen, und daher stieg ich vom Rade ab, lehnte es gegen einen der Chausseebäume und brachte die Laterne wieder in Ordnung. Dies nahm eine ziemliche Zeit in Anspruch. Als ich noch, bevor ich mit der Arbeit fertig war, einmal zufällig aufschaute, bemerkte ich bei dem Dämmerschein des Mondlichtes etwa dreißig Meter vor mir die Gestalt des Gutsherrn von Draken, die aber in wenigen Sekunden wieder verschwunden war und zwar in der Richtung nach dem Gutshaus zu.“

„Also auf dreißig Meter schätzen Sie die Entfernung? Können Sie sich da nicht vielleicht hinsichtlich der von Ihnen beobachteten Person geirrt haben?“

„Wenn ich meiner Sache nicht sicher wäre, hätte ich nie einen Namen genannt,“ erwiderte der Geistliche bestimmt.

Der Amtsrichter schien befriedigt.

„Noch eins, Herr Pastor. Haben Sie Herrn v. Polnitz erzählt, daß Sie ihm damals in der Nacht begegnet sind?“

„Nein. Ich hatte den Vorfall längst vergessen. Erst als mir heute morgen der Briefträger von der Auffindung der Leiche des vermißten Bertold berichtete, fiel mir das kleine Erlebnis wieder ein.“

Nachdem Heinz dann das Protokoll, das der Amtsrichter dem Aktuar in die Feder diktierte, unterzeichnet hatte, wollte der Beamte die Verhandlung schließen.

Da erhob sich jedoch plötzlich Professor Remstein und trat näher an den Tisch heran, an dem die Gerichtspersonen saßen.

„Einen Augenblick noch, Herr Amtsrichter,“ bat er zuvorkommend. „Es dürfte Sie vielleicht interessieren, daß der Viehhändler fraglos nicht in der Ruine selbst, sondern etwa dreihundert Meter weiter nach Osten zu und zwar an der Mauer des Dorfkirchturms ermordet wurde.“

Grunwald war aufs höchste überrascht.

„Wie kommen Sie zu dieser Vermutung, Herr Professor?“ meinte er kopfschüttelnd. Man merkte ihm deutlich an, daß er dieser Neuigkeit wenig Wert beimaß.

„Um eine Vermutung handelt es sich keineswegs,“ entgegnete Dr. Remstein ernst. „Es führt von der Ruine eine kaum sichtbare Blutspur bis zur Kirchhofsmauer hin quer über das Stoppelfeld und die schmale Wiese.“

„Eine Blutspur?“ fragte der Amtsrichter zweifelnd.

„Allerdings. – Ich wurde darauf aufmerksam, als ich mir für die photographischen Aufnahmen geeignete Standorte in der Nähe der Ruine aussuchte.“

„Und diese Blutspur ist so deutlich, daß Sie sie verfolgen konnten? – Dann muß ja ein direkter roter Streifen sich über das Feld hinziehen!“ sagte Grunwald mit leichter Ironie.

Dr. Remstein lächelte eigenartig vor sich hin.

„Sie halten mich anscheinend für kurzsichtiger als ich in Wirklichkeit bin, Herr Amtsrichter. Das Blut ist nur tropfenweise geflossen. Hie und da finden sich an Gräsern der Wiese Blutstropfen, die freilich längst schwarz geworden und eingetrocknet sind. Aber es bleibt dennoch Blut!“

Grunwald wurde nun doch unsicher. Vielleicht hatte der Professor wirklich recht. Und unwillkürlich dachte er an die Geschichte vom blinden Huhn, das bisweilen ein Korn findet. – –

„Und was entdeckten Sie an der Kirchhofsmauer, Herr Professor?“ fragte er jetzt schon mit offensichtlicher Spannung.

„Eine von Schuhen zerstampfte Stelle – offenbar den Platz, an dem zwischen dem Opfer und den Mördern ein Kampf stattgefunden hat,“ erwiderte der Gelehrte bedächtig.

Grunwald hatte aufgehorcht.

„… den Mördern?! Sie denken also, daß mehrere Personen die Tat verübten?“ rief er eifrig.

„Zu der Ansicht muß man notwendig gelangen,“ sagte Dr. Remstein wieder mit einem feinen Lächeln.

„Und die Gründe für diese Annahme?“ forschte der Amtsrichter.

„Weil ein Mann allein die Leiche des kräftigen Viehhändlers, den ich auf gut zwei Zentner Gewicht taxiere, nie allein bis zur Ruine hätte tragen können, und wenn, dann nur auf die Weise, daß er den Körper am Boden entlang schleppten ließ, was aber nicht geschehen sein kann, da die Kleider des Toten dazu zu sauber waren.“

Grunwald starrte den Professor wie eine Erscheinung an. Wer hätte diese kriminalistischen Fähigkeiten bei dem stillen, bescheidenen Archäologen vermutet! Ja, was dieser hier soeben vorgebracht hatte, war keineswegs von der Hand zu weisen.

Und dieser Meinung gab der Amtsrichter nun auch offen Ausdruck.

„Wir sind Ihnen zu größtem Danke verpflichtet, Herr Professor,“ sagte er liebenswürdig. „Ihre Angaben müssen sofort durch nochmalige Besichtigung der Örtlichkeit nachgeprüft werden. Würden Sie so liebenswürdig sein und uns an die betreffende Stelle führen?“

„Sehr gern. – Noch eine Frage hätte ich vorher, die mir vielleicht der Herr Förster am sichersten beantworten kann. – Wann hat es hier in der Gegend zum letztenmal geregnet?“

Christian, eine stattliche Erscheinung mit langem, grauem Bart, trat vor.

„Das Wetter ist seit einer Woche unverändert schön gewesen. Den letzten Regen haben wir vor etwa zehn Tagen gehabt.“

„So, danke, Herr Förster.“ Und dann wandte sich Dr. Remstein wieder an den Amtsrichter.

„Diese Auskunft ist wohl recht bedeutungsvoll. Wir werden nämlich neben der Blutspur auf dem Felde deutlich ausgeprägte Eindrücke von Stiefeln finden. Hätte es nun inzwischen geregnet, so wären die Fährten verwaschen worden und es könnte sich also nicht um die Spuren der Mörder handeln, vielmehr nur um später entstandene Schuheindrücke. Jetzt bin ich gewiß, daß zwei Leute an der Tat beteiligt waren, da eine Doppelspur über das Stoppelfeld und die Wiese nach der Burgruine führt.“

Grunwald wurde dieser merkwürdige Gelehrte, der hier seine Theorien wie ein Kriminalist von Beruf entwickelte, immer rätselhafter.

„Herr Professor,“ rief er ganz begeistert, „wenn ich nicht wüßte, daß Sie Altertumsforscher sind – wahrhaftig, ich würde Sie weit eher für einen verkappten Staatsanwalt halten.“

Dr. Remstein verbeugte sich scheinbar erfreut. Und bescheiden erklärte er:

„Diese Schlüsse aus den vorhandenen Spuren zu ziehen, war ja wirklich nicht allzu schwer. Hätten Sie die Blutspur wie ich zufällig entdeckt, Herr Amtsrichter – Sie wären sicher zu demselben Resultat gekommen.“

Hierauf begaben sich die Herren sämtlich wieder nach der Ruine, wo man die Behauptungen des Gelehrten in vollem Umfange bestätigt fand. Und eine halbe Stunde später fuhren die Bernburger Gerichtspersonen und der Kreisarzt nach der Stadt zurück, da auf eine Anfrage im Gutshause der Bescheid gekommen war, daß Herr v. Polnitz zur Zeit nicht daheim, vielmehr mit dem Morgenzuge nach Berlin gefahren sei und erst mit am Nachmittage zurückzukehren gedenke. So mußte der Amtsrichter die Vernehmung des Gutsherrn, auf die er nicht verzichten zu können glaubte, denn auf später verschieben.

 

6. Kapitel.

Unter schwerem Verdacht.

Als Edgar v. Polnitz in Bernburg den Zug verließ, näherte sich ihm der ihm von Ansehen bekannte Bürodiener des Amtsgerichts und ersuchte ihn höflich aber bestimmt, sofort zu Herrn Amtsrichter Grunwald zu kommen, der ihn in einer dringenden Angelegenheit zu sprechen wünsche.

Der Gutsbesitzer konnte es nicht verhindern, daß ihm urplötzlich das Blut in heller Röte ins Gesicht schoß. Und verlegen den Beamten musternd, sagte er dann ziemlich barschen Tones, wodurch er nur seine Bestürzung zu verbergen suchte:

„Ich bedauere sehr. Jetzt habe ich keine Zeit. Bestellen Sie dem Herrn Amtsrichter, daß meine Frau schwer krank ist und daß ich ohne Säumen nach Hause muß. Ich werde mich morgen vormittag bei ihm einfinden. Sie sehen, mein Wagen wartet dort. Ich kann mich nicht länger aufhalten.“

Der Gerichtsdiener ließ sich jedoch so leicht nicht abschütteln.

„Ich habe den bestimmten Befehl erhalten, Herr v. Polnitz, Sie unter allen Umständen mitzubringen,“ erklärte er ernst. „Es ist ja möglich, daß die Rücksprache sich in kurzem erledigen läßt,“ fügte er überredend hinzu.

Polnitz stampfte ärgerlich mit dem Fuße auf.

„Nun gut denn, obwohl es eine unglaubliche Belästigung bleibt! – Ich werde meinen Wagen benutzen. Wenn Sie wollen, steigen Sie auf den Bock und kommen Sie mit. Sonst denken Sie noch, ich rücke Ihnen aus.“ –

In dem Dienstzimmer des Amtsrichters brannten bereits die Glühbirnen des einfachen Kronleuchters, als Polnitz eintrat. Die Fenstervorhänge waren herabgelassen, so daß man von dem gegenüberliegenden Hause nicht beobachten konnte, was in dem graugetünchten, nüchternen Raume vorging.

Grunwald hatte den Gutsbesitzer mit deutlicher Reserve begrüßt und ihn dann zum Platznehmen aufgefordert.

Polnitz konnte sich nicht enthalten, seinem Unwillen über diese ‚zwangsweise Vorführung‘, wie er es nannte, unverhohlen Ausdruck zu geben.

„Ich habe daheim ein krankes Weib, darauf hätte man Rücksicht nehmen können,“ sagte er gereizt.

Grunwald, der den Gutsbesitzer nur oberflächlich kannte, da dieser mit seiner Gattin nirgends Besuche gemacht hatte, erwiderte darauf recht scharfen Tones:

„Sie übersehen, daß es sich um eine dienstliche Angelegenheit handelt, Herr v. Polnitz. Ich tue nur meine Pflicht, wenn ich Sie trotz Ihres häuslichen Unglücks hier einige Zeit aufhalte.“

Er hatte vor sich auf dem Tisch einen eng beschriebene Bogen Papier liegen, den er jetzt flüchtig durchsah. Dann lehnte er sich in seinen Stuhl zurück und fragte mit einer gewissen Betonung, die Polnitz zur Vorsicht mahnte:

„Kennen Sie den Viehhändler Bertold?“

Der Gutsbesitzer erbleichte so merklich, daß es dem Beamten nicht entging. Und mit leicht belegter und unsicherer Stimme erwiderte er:

„Natürlich ist der Mann mir bekannt. Ich habe oft genug mit ihm Geschäfte gemacht.“

„Wann waren Sie zum letztenmal mit Berthold zusammen?“ forschte der Richter weiter.

Polnitz, der sich inzwischen gefaßt hatte, zuckte die Achseln.

„Zusammen? – Wie meinen Sie das, Herr Amtsrichter?“

„Nun, wann Sie ihn gesehen oder gesprochen haben,“ erwiderte Grunwald kurz.

„ Ah so. – Nun, das war auf dem Viehmarkt in Beelitz am Montag.“

„Vor- oder nachmittags?“

„Vormittag. Ich bot ihm einige Rinder an. Wir wurden aber nicht handelseinig, da er einen zu geringen Preis zahlen wollte. Unser Gespräch dauerte vielleicht ganze drei Minuten.“

„Und seitdem sahen Sie Bertold nicht mehr?“ forschte der Amtsrichter, mit prüfendem Blick das Gesicht des Gutsbesitzers musternd.

Polnitz schlug in deutlicher Verlegenheit die Augen zu Boden.

„Nein –“ entgegnete er zögernd.

Grunwald merkte nur zu gut, daß der andere die Unwahrheit sprach. Lügen schien nicht Edgar v. Polnitz’ Stärke zu sein.

„Sie wissen doch, daß der Viehhändler seit jenem Montag verschwunden ist?“ meinte er so nebenbei.

Polnitz nickte. „Ja. Mein Inspektor erzählte mir davon.“

Grunwald machte absichtlich eine längere Pause. Dann begann er wieder:

„Gestern abend ist die Leiche des Händlers gefunden worden – in der Ruine der alten Raubburg.“

Diese Nachricht wirkte auf den Gutsbesitzer offenbar keineswegs überraschend.

„So – also tot. Der arme Mann!“ sagte er nur.

‚Heucheln kann er auch nicht,‘ dachte der Amtsrichter. ‚Jedenfalls bin ich jetzt fest überzeugt, daß er schon vorher von dem Morde etwas gewußt hat. Andernfalls hätte ihn diese Mitteilung wohl kaum so kalt gelassen.‘

Laut aber erklärte er:

„Allerdings – der Bertold ist wirklich zu bedauern. Er hat ein gewaltsames Ende gefunden und ist seiner ganzen Barschaft beraubt worden.“

Polnitz’ sonst so frisches Gesicht sah noch immer auffallend blaß aus. Zusammengesunken, wie unter der Last einer schweren Bürde, saß er da. Seine Stimme klang tonlos, fast heiser, als er dann sagte:

„Also ein Verbrechen, ein Raubmord! Da werden Sie schwerere Arbeit haben, Herr Amtsrichter.“

„Ganz sicher. Ich bin auch heute vormittag schon am Tatort gewesen.“

„Und haben Sie etwas entdeckt, das auf die Spur des Schuldigen führen könnte?“ Eine unbestimmte Angst lag in dieser Frage, etwas Tastendendes, Forschendes.

Grunwald ließ sich nicht aushorchen.

„Ich darf nicht darüber sprechen, Herr v. Polnitz. Das alles ist Amtsgeheimnis.“

Der Gutsbesitzer zog jetzt seine Taschenuhr und sah nach der Zeit.

„Dürfte ich nun erfahren, zu welchem Zwecke Sie mich haben rufen lassen?“ meinte er etwas ungeduldig.

Grunwald vermied eine direkte Antwort. Urplötzlich überfiel er den Ahnungslosen mit einer Frage, die dieser kaum erwarten konnte.

„Wo waren Sie in der Nacht vom Montag zum Dienstag dieser Woche gegen zwölf Uhr?“ fragte er, jedes Wort mit Nachdruck betonend.

Der Erfolg blieb nicht aus.

Polnitz war von seinem Stuhle hochgeschnellt und stierte den Amtsrichter mit weiten, entsetzten Augen wie einen bösen Geist an.

„Was – was soll das heißen?! Was soll diese Frage?“ stieß er verwirrt hervor.

Schwer sank er dann auf seinen Sitz zurück, fuhr sich mit der Hand wie geistesabwesend über die Stirn und unterdrückte nur mühsam ein verzweifeltes Stöhnen, das sich seiner Brust entringen wollte.

Der Amtsrichter hatte mit gespannter Aufmerksamkeit jede Bewegung, jeden Wechsel in dem Gesichtsausdruck seines Gegenübers verfolgt. Immer zuversichtlicher wurde er, immer mehr gewann er die Überzeugung, daß Edgar v. Polnitz bei diesem Verbrechen irgendwie mitbeteiligt sei.

„Bitte, geben Sie mir eine bündige Antwort,“ sagte er streng. „Welche Gründe ich für meine Fragen habe, werden Sie später hören.“

Der Gutsbesitzer nahm alle seine Energie zusammen. Um seinen Mund gruben sich zwei tiefe, senkrechte Falten, so fest preßte er die Zähne zusammen. Seine Gedanken eilten in wilder Hast. – Nur jetzt nicht schwach werden, nur jetzt alle Verstandeskräfte aufbieten, um dem drohenden Unheil zu entgehen.

Und sich zu einem gleichgültigen Lächeln zwingend, das doch nur ein verzerrtes Grinsen wurde, erwiderte er schnell:

„Wo ich in jener Nacht war? Daheim in meinem Bett, wie ich ganz bestimmt weiß. Zu den Nachtschwärmern gehöre ich nicht. Bei mir heißt es, früh in die Federn, früh wieder heraus! Das ist bei uns Landwirten so.“

Der Amtsrichter reckte sich höher.

„Sie lügen, Herr von Polnitz!“ sagte er schneidend. „Ich warne Sie! Sie sind in jener Nacht gesehen worden und zwar – außerhalb Ihres Hauses! Machen Sie keine Ausflüchte! Ich muß die Wahrheit wissen, muß!“

Der Gutsbesitzer erwiderte kein Wort. Wie gebrochen lehnte er in seinem Stuhl, den Kopf tief auf die Brust gesenkt. In seinen Ohren brauste das Blut, das ihm das wildklopfende Herz immer schneller durch die Adern trieb. Wie die Posaunen des jüngsten Gerichts dröhnte noch immer dieses ‚Sie sind gesehen worden!‘ durch sein gehetztes Hirn.

„Wollen Sie sich nicht erklären, Herr v. Polnitz?“ rief der Amtsrichter drohend. „Nochmals – wo waren Sie in jener Nacht?“

Edgar v. Polnitz hob langsam den Kopf, schaute sich verwirrt um, als ob er soeben erst aus einem schweren Traum erwachte. Seine Mienen drückten eine furchtbare Verzweiflung aus. Und seine Stimme bebte, als er kaum vernehmlich sagte:

„Ich – ich besinne mich jetzt. Ich wollte noch etwas frische Luft schöpfen und bin ein Stück spazieren gegangen.“

„Wohin?“

„Auf das Feld hinaus.“ – –

„Waren Sie damals in der Nähe der Ruine?“ fragte Grunwald hartnäckig weiter.

„Das – das weiß ich nicht mehr.“

„So?! – Nun, aus welchem Grunde sind Sie denn wie einer, der größte Eile hat, von der Ruine nach dem Gutshause zu über die Chaussee gelaufen?“

Polnitz horchte auf – und ein Hoffnungsstrahl durchzuckte ihn plötzlich. – Wenn man ihn auf der Chaussee gesehen hatte, dann konnte man …

Mit einem Male war er ganz ruhig geworden. Also hatte der Amtsrichter ihn nur aushorchen wollen! Und er – er hatte sich beinahe verraten – beinahe! Das mußte wieder ausgeglichen werden, um jeden Preis!

Und so sagte er denn ziemlich gefaßt, wobei er dem Beamten offen ins Gesicht blickte:

„Nun gut – ich bin gelaufen. – Und was folgert man daraus?“

Doch der Amtsrichter war vorsichtig und ließ sich nicht so leicht übertölpeln.

„Fragen habe nur ich hier zu stellen, Herr v. Polnitz,“ meinte er ablehnend. „Sie geben also zu, daß Sie sehr eilig die Chaussee überquerten?“

„Ich habe keinen Grund, es zu leugnen, obwohl ich mich darauf nicht mehr genau besinne,“ war die gemessene Antwort.

„Sie müssen für Ihre Eile aber doch irgendeine Veranlassung gehabt haben,“ bohrte Grunwald, der zu seinem Mißvergnügen merkte, daß der Gutsbesitzer sich der mißlichen Situation immer mehr gewachsen zeigte, weiter.

„Ich weiß nur, daß mir auf meinem nächtlichen Spaziergang plötzlich einfiel, daß ich die Haustür hinter mir offen gelassen hatte. Deshalb machte ich kehrt. Möglich ist es also immerhin, daß ich ein Stück Weges in schnellerer Gangart zurücklegte.“

„Sie werden zugeben, Herr v. Polnitz, daß dieser angebliche nächtliche Spaziergang zum mindesten etwas merkwürdig ist. Um Mitternacht pflegt man doch draußen nicht – frische Luft zu schnappen.“

Der Gutsbesitzer hatte jetzt seine Haltung vollständig zurückgewonnen.

„Ich kann Sie nicht dazu zwingen, mir Glauben zu schenken. Jedenfalls bitte ich, mir nun endlich zu sagen, weshalb dieses Verhör mit mir angestellt wird. Glauben Sie etwa, daß ich der Mörder des Viehhändlers bin?! – Ich werde die Beantwortung aller weiteren Fragen ablehnen, bevor ich nicht eine offene Erklärung erhalten habe.“

Je kühler und ruhiger Polnitz wurde, desto mehr ereiferte sich der Amtsrichter, der den Gutsbesitzer bereits für halb und halb überführt hielt und in seinem ehrgeizigen Bestreben, den Täter möglichst schnell dingfest zu machen, die unparteiische Übersicht über das scheinbare Belastungsmaterial verlor.

Mit einer gewissen triumphierenden Überlegenheit erklärte er daher:

„Sie sind in jener Nacht, in der Bertold fraglos ermordet worden ist, in der Nähe des Tatortes, oben auf der Chaussee, beobachtet worden und zwar beim eiligen Überschreiten des Fahrdammes – was auf alles andere als auf einen harmlosen Spaziergang schließen läßt. Ihr ganzes Benehmen hier spricht außerdem deutlich dafür, daß Sie mir irgendwas verheimlichen wollen. Ich hätte also wirklich Grund genug, Sie als zum mindesten der Teilnahme an dem Verbrechen verdächtig zu verhaften. Wenn ich hiervon absehe, so geschieht es nur in Rücksicht auf den augenblicklichen Gesundheitszustand Ihrer Gattin, deren Befinden durch Ihr persönliches Fernbleiben vom Hause aufs ungünstigste beeinflußt werden könnte. Freilich muß ich von Ihnen verlangen, Herr v. Polnitz, daß Sie mir Ihr Ehrenwort geben, sich vorläufig ohne meine Erlaubnis nicht aus dem Bereiche Ihres Gutes zu entfernen. –

So, weiter hätte ich Ihnen nichts zu sagen.“

Der andere erhob sich schnell.

„Gut, ich gebe mein Ehrenwort, und dies umso leichter, als ich Ihnen versichern kann, daß ich mit dem Verbrechen nichts zu schaffen habe, nicht das Geringste! Meine völlige Unschuld wird sich ja bald herausstellen. –

Noch eins, Herr Amtsrichter. Sie erwähnten soeben mein Benehmen, meine Verstörtheit, die Ihnen auffällig erschienen. Sie sind, soweit mir bekannt ist, nicht verheiratet und können daher die Gefühle eines Menschen, der um seine Existenz kämpft, der dicht vor dem pekuniären Zusammenbruch steht, nicht so recht würdigen. In dieser Lage befinde ich mich zur Zeit. Die nächsten Wochen werden darüber entscheiden, ob ich mein Gut aufgeben und dann mit meiner Frau arm und heimatlos in die Ferne ziehen, mich irgendwo – verkriechen muß. Sehen Sie – diese Gedanken waren es, diese Befürchtungen um meines Weibes und meine eigene Zukunft, die mich in jener Nacht ruhelos hinaustrieben auf die Felder. Und aus demselben Grunde, eben weil meine Nerven vollkommen überreizt sind, mag ich Ihnen hier zuweilen etwas eigentümlich vorgekommen sein.“

Der Amtsrichter wußte nicht recht, wie er diese scheinbare Offenheit einschätzen sollte. In dem, was Polnitz sagte, war ein Ton von Aufrichtigkeit, der Grunwald fraglos zu einer vollständigen Meinungsänderung gebracht haben würde, wenn der Gutsbesitzer nicht vorher absichtlich diese und jene Ausflüchte gebraucht hätte. So blieb jedoch das alte Mißtrauen bei ihm bestehen.

Der Abschied zwischen den beiden Herren war kühl und förmlich.

Dann saß Edgar v. Polnitz in dem leichten Jagdwagen und fuhr dem Herrenhause von Draken zu. Leidensfalten lagen um seinen Mund, und oft zuckten seine Lippen in bitterem Weh. – –

Aus dem Rattern der Räder, dem Klappern der Pferdehufe tönte ihm immer derselbe Satz entgegen wie ein drohender Schrei:

‚Wie soll das enden? – Wie soll das enden?!‘

 

7. Kapitel.

Ein Detektiv bei der Arbeit.

Dr. Remstein, der Marburger Archäologe, war auf die liebenswürdig vorgebrachte Einladung des Pfarrers hin noch in dessen Studierstube sitzen geblieben, als die Herren vom Gericht und die übrigen Teilnehmer des Lokaltermins sich entfernten. Offenbar hatte der Pastor für den gesprächigen und dabei doch stets bescheidenen Gelehrten eine immer stärker werdende Sympathie gefaßt.

„So, Herr Professor,“ meinte er, nachdem er die anderen Gäste noch bis vor die Tür begleitet hatte, „jetzt wollen wir es uns gemütlich machen. Wie wär’s mit einem Gläschen Wein? Und – Zigarre gefällig?“

Der Professor nahm dankend an.

Dann saßen die Herren in angeregtem Geplauder beieinander und gingen noch einmal in allen Einzelheiten die Ergebnisse des gerichtlichen Lokaltermins durch. Wieder fiel es hierbei dem Geistlichen auf, wie gut bewandert Dr. Remstein auch auf kriminalistischem Gebiet war. Als er eine diesbezügliche Äußerung tat, erklärte der Professor mit feinem Lächeln:

„Mein lieber Herr Pastor, ich will mich nicht gerade rühmen; aber es gibt wohl kein Gebiet, sei es was es sei, mit dem ich mich nicht beschäftigt hätte. Für Kriminalistik besaß ich nun eigentlich von Jugend an eine kleine Schwäche. Wo sich mir Gelegenheit bot, da habe ich auch später stets mein theoretisches und praktisches Wissen in diesem Fach zu vervollkommnen gesucht. Auch dieser Fall hier, mit dem mich ein Zufall sozusagen in Berührung gebracht hat, interessiert mich. –

Sagen Sie, kennen Sie diesen Herrn v. Polnitz, den der Amtsrichter offenbar für einen der Schuldigen hält, genauer?“

„Sogar sehr genau, Herr Professor. Er ist als Gutsherrn von Draken der Patron unseres Kirchleins. Einmal habe ich mit ihm also mancherlei Verwaltungssachen zu regeln; dann aber verkehren wir auch freundschaftlich miteinander. Deshalb wurde es mir ja auch so schwer, meine Beobachtungen in jener Nacht, bei denen er die Hauptrolle spielt, zu Protokoll zu geben.“

„Trauen Sie Polnitz einen Mord zu?“ fragte Dr. Remstein nach einer kurzen Pause.

„Nein! Nie und nimmer!“ – Der Pastor hatte dabei halb entrüstet die Hände wie zur Abwehr eines so unglaublichen Gedankens erhoben. „Polnitz ist die Ehrenhaftigkeit selber,“ fügte er warm hinzu. „Ich kenne keinen Gutsherrn, der so unermüdlich fleißig ist, der so sparsam lebt wie er. Für ihn gibt es nur zwei Dinge auf der Welt, die seinen Ideenkreis ausfüllen: Seine Frau und seine Scholle! –

Vielleicht lernen Sie ihn noch kennen, Herr Professor. Dann werden Sie mein Urteil unfehlbar bestätigen müssen.“

Dr. Remstein nickte nur zerstreut mit dem Kopf.

Nachdem er langsam sein Glas geleert hatte, sagte er mit aller Harmlosigkeit:

„Wissen Sie vielleicht, Herr Pastor, ob Polnitz irgendein körperliches Gebrechen hat?“

Der Geistliche schaute überrascht auf.

„Wie kommen Sie darauf?!“ meinte er, seinem Gast verwundert in das freundliche Gelehrtengesicht blickend.

„Das werde ich Ihnen später erklären, nicht heute, lieber Herr Pastor – aus bestimmten Gründen. – Nun, wie steht’s damit – ich meine mit dem Gebrechen?“

Heinz dachte nach.

„Gebrechen?!“ erwiderte er dann. „Nein! Polnitz ist ein vollständig gesunder, kräftiger Mann. Nur einen kleinen Fehler hat er an der linken Hand, der kaum auffällt. Er ist einmal, wie er mir selbst erzählte, beim Reiten gestürzt und hat sich den Mittelfinger der linken Hand mehrmals gebrochen. Und dieser ist dann etwas schief wieder zusammengeheilt und liegt über dem vierten Finger ein Stückchen über. Wer’s nicht weiß, merkt es aber kaum.“

Dr. Remstein nickte. „Das habe ich mir gedacht,“ meinte er leise, wie zu sich selbst sprechend.

„Gedacht?!“ Der Pastor war aufmerksam geworden. „Wie soll ich das verstehen, Herr Professor? – Haben Sie denn diesen körperlichen Fehler vorausgeahnt? Anders ist Ihre Bemerkung kaum zu deuten.“

Der Gelehrter lächelte und schüttelte langsam den Kopf.

„Sie haben mich mißverstanden. Der Satz bezog sich auf Ihre Äußerung, daß der schiefe Finger nicht weiter auffällig sei.“

Dann sprachen die Herren von etwas anderem. Und eine Viertelstunde später wollte der Archäologe sich verabschieden, wurde aber nicht fortgelassen.

„Bleiben Sie bitte zu Tisch, Herr Professor,“ sagte Heinz in seiner gemütlichen Art. „Drüben im Gasthause bekommen Sie wohl ein einigermaßen behagliches Zimmer, aber mit dem Essen dürften Sie kaum zufrieden sein.“

Dr. Remstein machte aus Höflichkeit noch einige Einwendungen, die aber von der inzwischen erschienenen Pastorin schnell und liebenswürdig zurückgewiesen wurden.

So verlebte der Professor denn in dem gastlichen Pfarrhause von Draken noch zwei heitere Stunden, erfreute sich an der natürlichen Frische der Töchter des Hauses, die ihm mit ihrem fröhlichen Geplauder das Herz warm machten.

Als er sich endlich von diesem Kreise zufriedener Menschen trennte, geschah es mit dem festen Versprechen, sich zum Abend wieder einfinden zu wollen.

Langsam wanderte er die Dorfstraße hinunter dem Gasthause zu. So manches hatte er von den Damen des Gasthauses während der Mittagsmahlzeit noch erfahren, was ihn höchst wertvoll und wichtig dünkte. So z. B. der Umstand, daß Frau Helinde v. Polnitz in derselben Nacht so schwer erkrankt war, in der der Pastor ihren Gatten auf der Chaussee beobachtet hatte.

Dr. Remstein, der schon morgens gleich nach seiner Ankunft aus der Reichshauptstadt in dem bescheidenen Wirtshause das beste Zimmer für sich belegt und auch seine Reisetasche dort gelassen hatte, begab sich jetzt sofort in die im Hausflur befindliche Telephonzelle und ließ sich mit Berlin verbinden.

Er hatte Glück. Schon nach wenigen Minuten bekam er Anschluß.

Das Gespräch, das er dann führte, war in mancher Beziehung für einen Professor der Archäologe recht merkwürdig.

Nachdem er die mit ihm verbundene Person vertraulich begrüßt hatte, gab er folgende Anweisungen:

„Hiller muß unverzüglich hierherkommen. Er soll in dem hiesigen Gasthaus ‚Zur goldenen Krone‘ als Reisender für künstliche Düngemittel absteigen und das Zimmer Nr. 2, das neben dem meinigen liegt, nehmen. Ich selbst wohne auf Nr. 1. Um halb elf Uhr erwarte ich ihn bei mir. Im übrigen kennen wir uns natürlich nicht. Sagen Sie ihm genau Bescheid, wie die Sache Gotheim steht. – Ist das Bankhaus Koerper beobachtet worden? – So? Na, das war ja auch eigentlich anzunehmen. – Adieu!“

*

Eine halbe Stunde später finden wir den Professor bereits wieder in der alten Burgruine, wo er sowohl in dem Gemäuer als auch in dem kleinen Gehölz nochmals jeden Fußbreit Boden eingehend absuchte.

Dann schritt er langsam, tief gebückt über das Stoppelfeld und die Wiesen auf die Kirchhofsmauer zu nach jener Stelle hin, an der offenbar zwischen den Mördern und ihrem Opfer ein kurzer Kampf stattgefunden hatte, in dem der riesige Viehhändler unterlegen war. Auch diesen Platz besichtigte Dr. Remstein mit größter Genauigkeit.

Hiermit noch nicht zufrieden, umschritt er dann den Dorfkirchhof, der mitten auf dem Felde auf einer kleinen Anhöhe lag und ließ seine Augen unruhig überallhin schweifen. Nichts entging seinen Blicken. Soeben bemerkte er denn auf der dem Dorfe abgekehrten Seite des Kirchhofs dicht an der Mauer eine ganze Anzahl abgebrannter Zündhölzer, die ziemlich dicht beieinander im Grase lagen. Ohne seine Beinkleider zu schonen, ließ er sich auf die Knie nieder und beschaute sich diese eine Stelle mit ganz besonderem Interesse. Zwischen den herbstlich matten Gräsern erblickte er auch ein kleines Häufchen eines weißen Pulvers. Er nahm ein wenig davon zwischen die Fingerspitzen und prüfte es durch Geruch und Geschmack. Schließlich sammelte er den Rest sorgfältig mit der Klinge seines Taschenmessers auf ein Stückchen Papier, das er dann zusammenfaltete und in seine Brieftasche legte.

Inzwischen war die Dämmerung hereingebrochen. Gut zwei Stunden hatte sich Dr. Remstein auf diese Weise hier draußen beschäftigt. Jetzt trieb ihn die schnell zunehmende Dunkelheit in das Dorf zurück.

In dem Gasthause wiederangelangt, schickte er den Sohn des Wirtes mit einem kurzen Briefchen in das Pfarrhaus. Es enthielt die Bitte, der Pastor möchte ihn doch freundlichst auf einen Augenblick besuchen.

Heinz kam diesem Wunsche unverzüglich nach. Der Professor geleitete ihn darauf in sein in einem Seitenbau liegendes Zimmer, in dem schon eine Petroleumlampe auf dem mit einer bunten Decke ‚verschönten‘ Tische brannte, bot dem Gast höflich einen Stuhl an und begann nun, indem er dem Pfarrer gegenüber Platz nahm:

„Herr Pastor, besondere Umstande zwingen mich, mein Inkognito bereits früher zu lüften, als ich dies zunächst beabsichtigt hatte. Ich heiße weder Dr. Remstein noch bin ich Professor der Archäologie. Zu dieser Würde habe ich mich selbst aus persönlicher Machtvollkommenheit erst erhoben, als ich mein plötzliches Auftauchen heute vormittag bei dem in der Ruine stattfindenden Lokaltermin glaubwürdig begründen wollte. In Wirklichkeit heiße ich Fritz Schaper und bin – –“

„Privatdetektiv!“ vollendete Heinz lachend. „Ehrlich gestanden,“ fügte er hinzu, „an den Archäologen habe ich seit unserer heutigen Unterredung, bei der Sie sich so eingehend nach Herrn v. Polnitz erkundigten, nicht mehr recht geglaubt. Wie Sie nun eben Ihren Namen nannten, wußte ich Bescheid. Fritz Schaper ist auch hier kein Unbekannter. In den Zeitungen nennt man Sie ja stets den ‚deutschen Sherlock Holmes‘.“

Schaper verbeugte sich leicht. Dann sagte er aufrichtig:

„Daß ich mich Ihnen anvertraue, Herr Pastor, hat einen bestimmten Grund. Sie haben mich in Ihrem Heim außerordentlich liebenswürdig aufgenommen und sogar für den Abend wieder eingeladen. Ich weiß nun nicht, ob Ihnen der Detektiv als Gast ebenso lieb ist, wie der Archäologe Dr. Remstein. Ich möchte nicht weiter Ihnen gegenüber einen Titel für mich in Anspruch nehmen, auf den ich kein Anrecht habe.“

Der Pastor streckte ihm herzlich die Hand hin.

„Mein lieber Herr Schaper – ich habe heute den Menschen in Ihnen schätzen gelernt, nicht den Marburger Altertumsforscher. – Nun kein Wort mehr davon. Nehmen Sie Hut und Paletot. Meine Mädels freuen sich schon, mit Ihnen wieder plaudern zu können.“

Schaper blieb trotz dieser freundlichen Aufforderung sitzen.

„Ich möchte noch etwas bemerken,“ meinte der zögernd. „Ich habe in der Ruine eine Entdeckung gemacht, die den Gutsbesitzer noch mehr belasten wird. – Vielleicht ändert dieser Umstand Ihre Beziehungen zu mir.“

„Sollte es denn wirklich möglich sein, daß ein Mann wie Polnitz – – nein, nein, ich kann daran nicht glauben! Sie müssen sich irren, Herr Schaper. Hier kann nur eine Verkettung unglücklicher Zufälle vorliegen.“ – –

„Ich sage ja auch nicht, das ich Polnitz für schuldig halte,“ wehrte der Detektiv ab. „Mag das Gericht meine Entdeckung auf ihre Richtigkeit hin prüfen. Ich werde jedenfalls noch nach einer anderen Spur suchen, die womöglich in ganz entgegengesetzte Richtung führt. Immerhin muß ich Sie aber bitten, mein Geheimnis vorläufig noch zu bewahren. Im Interesse der Untersuchung dieses Falles ist es unbedingt nötig, daß ich hier weiter für einen harmlosen Gelehrten gelte.“

„Das sehe ich vollkommen ein. – Doch, welcher Grund hat Sie eigentlich zu uns nach Draken kommen lassen, Herr Schaper? Sind Sie von einem Privatmann hier mit irgendwelchen Ermittlungen betraut worden?“

„Allerdings. Jedoch führte mich nicht der Mord hierher, sondern eine andere Sache, über die ich nicht sprechen darf. Unsere Aufträge sind ja größtenteils sehr diskreter Natur.“

Da der Pastor den Detektiv nun abermals dringend bat, seiner Einladung Folge zu leisten, verließen die beiden Herren den Gasthof und begaben sich in das Pfarrhaus, wo ‚Professor Remstein‘ von den Damen mit offensichtlicher Freude begrüßt wurde.

 

8. Kapitel.

In der Burgruine.

Spät abends war in der ‚goldenen Krone‘ in Draken noch ein neuer Gast mit einem Wagen von Bernburg eingetroffen, ein Reisender, der für eine chemische Fabrik ein Düngemittel vertrieb, wie er dem Wirt, der ihm beim Abendessen Gesellschaft leistete, erzählte.

Dieser angebliche Herr Schneider aus Leipzig saß zwei Stunden später in leise geführtem Gespräch mit dem Detektiv Schaper in dessen Zimmer zusammen, nachdem im Hause alles ruhig geworden war und die beiden ein Überraschtwerden nicht mehr zu befürchten brauchten.

„Zunächst einmal die Sache Gotheim,“ hatte Schaper ganz geschäftsmäßig begonnen. „War Lemke bei Kommissar Weber? Und was hat er ausgerichtet?“

Hiller, einer der befähigtsten Angestellten des Detektivinstituts, erzählte genau wieder, was der Bureauvorsteher Lemke ihm mitgeteilt hatte.

„Der Kriminalkommissar empfing ihn sehr höflich und zeigte sich nicht im geringsten zugeknöpft, zumal Lemke ihm auch versprach, daß er das Gehörte nur ganz zuverlässigen Personen anvertrauen würde. –

Die Geschichte mit den aus dem Auto verschwundenen 823000 Mark ist jetzt völlig auf dem toten Punkt angelangt. Weber wußte von dem Herrn, der nach dem Bankdirektor Gotheim das Auto benutzt und sicherlich die wertvolle Aktentasche an sich genommen hat, nur zweierlei: Erstens, daß der Betreffende einen graugrünen Ulster angehabt hatte, und zweites daß er wahrscheinlich im ‚Centralhotel‘ wohnte. Dann spielte noch ein Zigarettenstummel eine Rolle, den der Chauffeur im Auto nach der Beendigung der Fahrt mit der verdächtigen Person gefunden hatte. Es war dies das Mundstück einer russischen Zigarette, wie der Droschkenführer versicherte. Da es aber auf der Straße an der Haltestelle, wohin dieser es beim Reinigen seines Gefährts geworfen hatte, nicht mehr gefunden wurde, schenkte der Kriminalkommissar diesem Zigarettenrest weiter keine Beachtung und beschränkte sich auf die beiden verbleibenden Merkmale: den graugrünen Ulster und den Umstand, daß der Fremde das Auto zunächst nach dem ‚Centralhotel‘ dirigiert hatte, wo er daher wahrscheinlich auch wohnte. Daß er später dem Chauffeur angab, ihn nach dem ‚Bristol‘ zu fahren, indem er sich damit herausredete, jener hätte ihn falsch verstanden, deutete der Kommissar eben dahin, daß der Betreffende die Tatsache seiner Zugehörigkeit zu den Gästen des ‚Centralhotels‘, nachdem er die Aktentasche bemerkt hatte, verheimlichen wollte. –

Weber begann daher seine Nachforschungen im ‚Centralhotel‘, erfuhr jedoch von dem Portier und den Zimmerkellnern aufs bestimmteste, daß an dem in Frage kommenden Tage kein Herr mit einem Ulster von graugrüner Farbe dort abgestiegen war. Obwohl der Kriminalkommissar sich nun sagen mußte, wie gering die Aussicht war, durch eine Anfrage bei sämtlichen Hotels und Pensionaten den betreffenden Herrn festzustellen, versuchte er auch dieses. Das Resultat war ein negatives. Jetzt nun hat sich der Kommissar nach Rücksprache mit Bankdirektor Gotheim dazu entschlossen, eine Notiz in die Zeitungen einrücken zu lassen des Inhalts, daß dem Wiederbringer des Geldes ein Zehntel als Belohnung und strengste Diskretion, das heißt Unterlassung jeder polizeilichen bzw. strafrechtlichen Verfolgung wegen Fundhinterziehung zugesichert werde.“

Schaper unterbrach hier seinen Angestellten.

„Ein Zehntel der Summe! Donnerwetter! Das lohnt! – An sich ist diese Maßregel aber total verfehlt! Denn der, der das Geld gefunden und bisher nicht wieder abgegeben hat, ersieht daraus, wenn er nicht gerade vollständig vernagelt ist, daß man ihm wohl nie bare 82000 Mark bieten würde, wenn ihm das Ausgeben des Geldes, wie es in den ersten Zeitungsnachrichten hieß, durch die Meldung der Nummern an alle Geldinstitute usw. tatsächlich unmöglich gemacht wäre! Der Mann wird sich jetzt sagen ‚So schnell würde die Bank wohl kaum diese Summe als Finderlohn aussetzen, wenn sie eben nicht wüßte, daß die Sache für sie insofern recht schlecht stehe, als ich ganz unbekümmert die Banknoten einwechseln kann, da – die Nummern eben nicht bekannt sind!‘ –

Sehen Sie, Hiller, daß der Kommissar hiermit eine veritable Dummheit begangen hat?! In jedem Falle hätte er mit diesem letzten Mittel zur Wiedererlangung der Riesensumme noch ein oder zwei Wochen warten müssen.“

Hiller nickte zustimmend.

„Ähnliches habe ich mir auch gesagt, Herr Schaper. – Nun, uns geht die Geschichte ja weiter nichts an.“

Der Detektiv schien diese letzte Bemerkung überhört zu haben. Häufig genug pflegte er seinen Leuten Aufträge zu geben, ohne daß sie ahnten, in welcher Angelegenheit sie tätig waren. So hatte Schaper auch dieses Mal seine Mitarbeiter in seine geheimsten Gedanken und Absichten nicht eingeweiht.

„So, Hiller, und nun zu der anderen Sache, der Losgeschichte. Lemke berichtete mir heute schon telephonisch, daß ein Herr den Gewinn am Vormittag bei dem Bankhaus Koerper, welches wir beobachten ließen, abgehoben hat. – Wie sah der Betreffende aus?“

„Düring hatte diese Sache in die Hand genommen. Er schilderte den Herrn als groß, schlank und recht anständig gekleidet. Der Mann trug eine blaue Brille und hatte einen ungepflegten, herabhängenden Schnurrbart. Auffallend war an ihm eine gewisse Nervosität und Ängstlichkeit. Bei Koerper nannte er sich Schroedter, wollte aus Frankfurt an der Oder und Steuerrat sein.“

„Ist Düring dem Herrn später heimlich gefolgt?“ fragte Schaper gespannt.

„Nein. Das hatten Sie ja nicht gewünscht.“

„Richtig. Ich besinne mich.“

Der Detektiv schaute nach der Uhr.

„Halb zwölf. Es wird Zeit. – Wir haben nämlich noch einen kleinen Ausflug über Land vor uns, Hiller,“ erklärte er dann. „Gehen Sie also leise in Ihr Zimmer und holen Sie sich Ihren Mantel.“ –

Die Fremdenzimmer der ‚goldenen Krone‘ befanden sich in einem Anbau, der dem Hause erst später hinzugefügt war. Ihre Fenster, die keine drei Meter über dem Boden lagen, gingen auf einen Seitenweg hinaus, so daß Schaper nur den Nachtwächter des Dorfes als eventuellen Störenfried zu fürchten hatte. Bei einiger Aufmerksamkeit und Vorsicht konnten sie aber auch einer Begegnung mit diesem unschwer ausweichen.

Fünf Minuten später waren sie bereits glücklich außerhalb des Dorfes.

Schaper weihte nun seinen Angestellten in den Tatbestand des an dem Viehhändler verübten Raubmordes ein.

„Sie sehen, Hiller,“ fügte er zum Schluß hinzu, „daß Herr v. Polnitz fraglos in nicht unbedenklicher Weise belastet ist. Ich bin überzeugt, der Amtsrichter wird ihn gleich heute noch sofort nach seiner Rückkehr aus Berlin vernommen haben. Wer weiß, wie Polnitz bei diesem Verhör sein nächtliches Umherschweifen erklärt hat. Davon hängt viel ab. Morgen früh will ich selbst nach Bernburg fahren und dem Amtsrichter mitteilen, was ich hier entdeckt habe. –

Doch nun wollen wir besser unsere Unterhaltung einstellen. Der dunkle Fleck da vor uns ist das Gehölz, in dem die Ruine liegt.“

Schaper verließ jetzt die Chaussee, auf der sie bis dahin entlanggewandert waren, und bog aufs Feld ab.

Auch heute strahlte vom sternenklaren Himmel das milde Licht des Mondes herab und tauchte die Gegend in eine ungewisse Dämmerung, die immerhin gestattete, alle Gegenstände in der Runde auf zwanzig Schritt deutlich zu erkennen.

Vorsichtig schlichen die beiden an einem mit Birnbäumen bepflanzten Feldrain weiter. Als sie dann das Gehölz erreicht hatten, bewegten sie sich nur noch schrittweise vorwärts. Hier unter den Bäumen herrschte eine Dunkelheit, die das Gehen um so mehr erschwerte, als überall Mauertrümmer und Steine umherlagen, über die man nur zu leicht straucheln konnte. Dafür war die Lichtung, in deren Mitte die Ruine mit ihren phantastischen Formen emporragte, wieder deutlich zu überblicken.

Hier machten die beiden Halt und fasten hinter einem dichten Dorngestrüpp Posto. Überreste der alten Umfassungsmauer der Burg dienten ihnen als Sitz.

Schweigend verharrten sie auf ihrem Platz. Nur ihre Augen wanderten unablässig hin und her.

Eine Eule, die wohl in dem alten Gemäuer nisten mochte, umkreiste mit lautlosen Schwingen den Turm. In der Ferne, auf der Chaussee, rollte ein Wagen vorüber. Dann war es wieder totenstill.

So verging eine gute halbe Stunde.

Schaper begann zu frieren. Die Herbstnacht war kühl, und der Boden strömte eine Feuchtigkeit aus, die unangenehm durch das Schuhwerk hindurchdrang.

Hiller, der in den letzten Tagen in Berlin viel zu tun gehabt hatte, kämpfte verzweifelt gegen die immer mehr zunehmende Müdigkeit an. Bisweilen sank ihm der Kopf auf die Brust. Dann schreckte er regelmäßig auf und suchte durch allerlei kleine Mittel die Schlafsucht zu vertreiben.

Die Kirchturmuhr des Dorfes schlug halb eins. Der Wind, der von Osten her wehte, trug den Schall ganz deutlich herüber.

Hiller, er soeben wieder eingenickt war, fühlte plötzlich Schapers Hand mit festem Druck seinen Arm umspannen. Er riß schlaftrunken die Augen auf. – –

Drüben auf der anderen Seite der Lichtung hatte sich eine dunkle Gestalt von dem schwarzen Hintergrunde der Bäume losgelöst und eilte mit schnellen Schritten auf den Eingang der Ruine zu.

Atemlos starrten die beiden Lauscher dem Manne nach, der eben im Turme verschwand.

„Ganz leise ihm nach!“ flüsterte Schaper. „Aber Vorsicht. – Nicht das geringste Geräusch.“ – –

Das war leichter gesagt als getan. Als sie sich von ihrem harten Sitz erhoben, merkten sie erst, wie steif ihre Glieder geworden waren. Und schon nach den ersten Schritten war es Schaper selbst, der über eine heimtückische Baumwurzel stolperte und der Länge nach hinschlug, wobei er im Fallen einen Steinhaufen mit umriß, der mit dumpfem Gepolter zusammenstürzte.

„Verdammt! Das hat uns gerade noch gefehlt,“ fluchte der Detektiv. „Vorwärts, Hiller! Wir dürfen den Menschen nicht entschlüpfen lassen. Dort – nach rechts hinüber, daß wir den Mann in die Mittel nehmen!“

Doch vergeblich warteten sie auf das Wiedererscheinen des nächtlichen Besuchs dieser unheimlichen Stätte.

Schließlich dauerte dieses Aufpassen dem Detektiv zu lange. Er winkte Hiller mit der Hand zu, der ihn auch sofort verstand.

Langsam rückten sie jetzt auf den Eingang des Turmes vor, standen dann vor der dunklen Öffnung, die einstmals fraglos durch ein festes Tor verschlossen werden konnte.

Unschlüssig schaute Schaper in das finstere Gemach hinein, in dem noch vor kurzem die Leiche des Ermordeten gelegen hatte. Ungefährlich war das Eindringen nicht. Der Unbekannte brauchte nur ein paar Steine bereitzuhalten, mit denen er sie böse zurichten konnte. Trotzdem – es ging nicht anders.

Und so holte der Detektiv denn seine elektrische Taschenlampe hervor, schaltete den Strom ein und betrat den unwirtlichen Raum, indem er den weißen Lichtkegel blitzschnell über die Wände hingleiten ließ.

Das Gemach war leer.

Da deutete Schaper auf die nach oben führende, halb zerstörte Steintreppe.

Hiller, der inzwischen gleichfalls seine Taschenlampe zur Hand genommen hatte, mochte seinem Herrn hier nicht wieder den Vortritt lassen. Mit einem schnellen Sprunge gewann er die unterste Stufe und verschwand bald in der Fußbodenöffnung, von der jetzt ein paar Mauerbrocken sich loslösten und in die Tiefe fielen.

Schaper war seinem Begleiter augenblicklich gefolgt. Doch ihre Vorsicht stellte sich als überflüssig heraus. Auch das obere Turmgemach, dessen Decke längst eingestürzt war und in das der Mond neugierig hineinlugte, zeigte keine Spur eines lebenden Wesens. Nur die beiden Detektive befanden sich darin und schauten sich verwundert an.

„Unbegreiflich,“ meinte Hiller mit halblauter Stimme. „Wo nur der Mensch geblieben sein mag?! Einen zweiten Ausgang hat der Turm doch nicht!“

Schaper leuchtete auch hier genau die Wände ab, von denen die eine, nur noch zur Hälfte vorhanden, sich leicht erklettern ließ.

„Der Mann muß von dort in die Tiefe gesprungen sein,“ erklärte er. „Eine andere Lösung gibt es nicht.“

Hiller schwang sich kurz entschlossen auf die Mauerkante. Bei dieser Kletterübung fielen abermals einige Steine mit lautem Gepolter herab.

Als er oben stand, schüttelte er zweifelnd den Kopf.

„Wenn der Mensch wirklich diesen Weg zur Flucht benutzt hätte, so würden wir unbedingt etwas davon gemerkt haben. Ohne Geräusch kann hier niemand hinunter. Einige Mauerbrocken hätte er immer mitgerissen, die ihn dann verraten haben würden.“

„Trotzdem muß er hierhinaus entkommen sein,“ beharrte Schaper bei seiner Ansicht, indem er nochmals jede Mauerritze ableuchtete, da er irgend eine Spur des Verschwundenen zu finden hoffte.

Doch all sein Suchen war umsonst.

So mußten sie sich denn schließlich, nachdem sie das Gehölz nach allen Richtungen durchstöbert hatten, unverrichteter Sache auf den Rückweg machen.

 

9. Kapitel.

Für und wider Polnitz.

Der Amtsrichter war am nächsten Vormittag kaum eine halbe Stunde in seinem Arbeitszimmer, als ihm der Gerichtsdiener eine Karte überreichte, ein längliches Stück weißen Kartons, auf dem mit Tinte geschrieben war:

Professor Dr. Remstein

Bittet um eine kurze Unterredung.

Grunwald schien sichtlich überrascht. – Was mochte der Gelehrte von ihm wollen? Überhaupt ein komischer Kauz, dieser Dr. Remstein. Hatte für Dinge Interesse, die ihn eigentlich verflixt wenig angingen. Trotzdem – offenbar ein kluger Mensch. Denn, daß er die Blutspur entdeckt hatte, bedeutete für einen Altertumsforscher, zumal er noch so allerhand Kombinationen daran geknüpft hatte, eine recht beachtenswerte Leistung. –

Der Professor hatte dem Amtsrichter gegenüber auf dem ihm angebotenen Stuhle Platz genommen.

„Sind wir hier vor Lauschern sicher?“ fragte er dann leise, indem er auf eine anscheinend in ein Nebenzimmer führende Tür deutete.

„Aber gewiß, dort drüben liegt die Bibliothek. Niemand hält sich jetzt dort auf.“ Man merkte es Grunwald an, daß er über diese Einleitung des Gesprächs recht erstaunt war.

Dr. Remstein nickte befriedigt. Dann sagte er mit einem leisen Lächeln:

„Ist Ihnen gestern an mir so gar nichts aufgefallen, Herr Amtsrichter?“

Dieser musterte den Besucher jetzt mit wachsender Neugier. – Was bedeutete das?

„Ich wüßte nicht, Herr Professor,“ erwiderte er trotzdem höflich.

„So trauen Sie also einem Gelehrten, der von der Praxis der Kriminalwissenschaften keine Ahnung hat, wirklich zu, daß er Entdeckungen machen könnte, wie sie mir gestern gelungen sind?!“

Wieder lag dieses eigenartige Lächeln um Dr. Remsteins Mundwinkel.

Grunwald verstand sofort. Und sich etwas vorbeugend, fragte er gespannt:

„So sind Sie gar nicht der, für den Sie sich ausgeben? – Dann habe ich in Ihnen entweder einen Kriminalbeamten oder einen Privatdetektiv vor mir,“ fügte er bestimmt hinzu.

Der andere erhob sich und machte eine leichte Verbeugung.

„Fritz Schaper,“ sagte er einfach.

„Wirklich? Sie sind Herr Schaper?“

Der Detektiv lächelte. „Allerdings. Natürlich trage ich eine Verkleidung.“

Grunwald hatte sich schnell gefaßt. „Wer hätte das ahnen können!“ meinte er, über diese Neuigkeit offenbar ehrlich erfreut, und streckte Schaper die Hand hin. „Es ist mir ein besonderes Vergnügen, Ihre Bekanntschaft zu machen. Dem Namen nach kenne ich Sie ja längst.“

Der Detektiv entnahm seiner Brieftasche eine Legitimation und reichte sie dem Amtsrichter hin.

„Der Ordnung halber,“ erklärte er.

Grunwald schaute nur flüchtig hinein und gab sie dann zurück.

„Sind Sie in der Mordsache hier tätig, Herr Schaper?“ forschte er begierig.

„Nein. Es war ein Zufall, der mich gestern Zeuge des Lokaltermins werden ließ. Der Mord wurde ja auch erst vorgestern abend entdeckt. – Nein, ich habe hier eine andere Angelegenheit zu ordnen. Trotzdem werde ich Ihnen aber gern weiter mit Rat und Tat zur Hand stehen, Herr Amtsrichter, zumal ich mich ja eigentlich schon im Falle Bertold nützlich gemacht habe.“

„Sie würden mich dadurch zu großem Dank verpflichten, Herr Schaper. Fraglos hat Ihr heutiger Besuch doch einen bestimmten Zweck. Und ich gehe wohl nicht fehl, wenn ich annehme, daß dieser Zweck mit dem Morde irgendwie zusammenhängt.“

„Ganz richtig vermutet. Ich wollte mit Ihnen so einiges durchsprechen, was für die Ermittlung der Täter wichtig sein dürfte. – Vorher jedoch eine Frage. Haben Sie Herrn v. Polnitz schon vernommen?“

„Ja, gestern nachmittag.“

„Das dachte ich mir. – Und welchen Eindruck ließ dieses Verhör bei Ihnen zurück?“

„Daß der Gutsbesitzer kein reines Gewissen haben kann,“ entgegnete Grunwald mit leiser Erregung. „Er wich meinen Fragen aus, gebrauchte allerlei Notlügen, kurz, er machte sich durch sein ganzes Verhalten verdächtig. Ich befinde mich daher in einer recht unangenehmen Lage. Soll ich ihn verhaften oder soll ich Rücksicht auf seine schwerkranke Gattin nehmen?! – Ich weiß nicht, was das Richtige ist!“

Schaper bat den Amtsrichter, ihm doch den Verlauf der Vernehmung recht eingehend zu schildern, was Grunwald auch bereitwilligst tat. Hoffte er doch, daß der in solchen Kriminalfällen weit erfahrenere Detektiv ihm aus diesem Zwiespalt heraushelfen werde. Als er mit seinem Bericht fertig war, begann Schaper dann seinerseits eine Schilderung dessen, was er in der Ruine und neben der Kirchhofsmauer an besonderen Spuren bemerkt und was er weiter mit seinem Angestellten Hiller in der verflossenen Nacht erlebt hatte.

„Nachdem Sie gestern Draken verlassen hatten, verbrachte ich zunächst noch in der Familie des Geistlichen einige gemütliche Stunden, die zum Teil mit harmlosem Geplauder gefüllt wurden, zum Teil aber auch dazu dienten, meine bisherigen Kenntnisse von dem Gutsbesitzer, seinen Charakteranlagen, ja seinen ganzen Verhältnissen zu vervollständigen. So erfuhr ich z.B. auch, daß Frau v. Polnitz merkwürdigerweise in derselben Nacht erkrankt ist, in der ihr Gatte von dem Pastor auf der Chaussee gesehen wurde.

Die Frau Pfarrer fragte ich daraufhin, ob sie mir vielleicht angeben könne, welcher Ursache die Lungenentzündung der Gutsherrin zuzuschreiben sei, indem ich betonte, daß meist doch eine starke Erkältung eine derartige Erkrankung des wichtigsten Atmungsorgans zur Folge habe. Die Pastorin erklärte mir, niemand habe eine Ahnung, wann und wo Frau v. Polnitz sich den Keim des so plötzlich ausgebrochenen Leidens geholt habe. Wozu der Pfarrer noch bemerkte, er sei an demselben Abend noch auf dem Gute gewesen und da hätte er der Dame nicht das Geringste angemerkt, vielmehr habe sie sich mit ihm in gewohnt liebenswürdiger Weise unterhalten. –

Es entsteht mithin die Frage, kann man die Krankheit der Gutsherrin vielleicht mit dem nächtlichen Spaziergang ihres Gatten irgendwie in Verbindung bringen? –

Um diese Sache nachzuprüfen, begab ich mich, nachdem ich mich von der gastfreundlichen Pastorenfamilie verabschiedet hatte, nochmals nach der Ruine. –

Sie wissen, Herr Amtsrichter, daß meine Theorie dahin geht, daß mindestens zwei Leute den Mord verübt haben, da der Körper des Viehhändlers von der Kirchhofsmauer über das Feld nach der Ruine getragen wurde. Ich wollte daher die Fußspuren, die in dem Roggenacker besonders deutlich ausgeprägt sind und die neben der Blutspur dahinlaufen, mir daraufhin ansehen, ob vielleicht das eine Paar dieser Fährten von einer – Frau herrühren könne. –

Begreifen Sie meine Kombinationen?“

Grunwald nickte.

„Gewiß. Sie vermuten eben, daß Polnitz mit Hilfe seiner Frau die Leiche nach dem Turme geschafft haben könne.“

„Allerdings. Ich mußte aber bald einsehen, daß die Fährten an dem Stoppelfelde und auch am Tatort von Männerstiefeln herrührten. Freilich waren die Spuren in all den inzwischen verflossenen Tagen recht undeutlich geworden. Trotzdem habe ich meinen Argwohn gegen die Gattin des Gutsbesitzers aufgegeben. Diese soll einen auffallend kleinen Fuß haben, wie mir die Pastorin zu berichten wußte. Und derartige Fährten eines kleinen Frauenschuhes wären auch jetzt noch unverkennbar gewesen.“

„Somit war also Ihre nochmalige Nachprüfung der Spuren ergebnislos?“ meinte der Amtsrichter bedauernd.

„Das habe ich nicht gesagt. Nur die eine Vermutung habe ich ausschalten müssen – eine Erkenntnis, die auch ganz wertvoll ist, da sie mich davor bewahrt, unnötig in falscher Richtung zu suchen. –

Im übrigen aber hatte ich auch noch eine andere Veranlassung, die Ruine mir abermals genauer anzusehen.“

Schaper machte eine kleine Pause und fuhr dann fort:

„Ich will ehrlich sein, Herr Amtsrichter. Eigentlich hätte ich Ihnen gestern vormittag bei dem Lokaltermin bereits weit mehr sagen können als ich es getan habe. Ich hatte nämlich, kurz nachdem Sie und die übrigen Herren das Gehölz verlassen hatten, in der Ruine sowohl in dem unteren als auch in dem oberen Gemach an der staubigen Wand die flachen Abdrücke einer linken Hand entdeckt, die allerdings nur bei ganz genauem Hinsehen zu bemerken waren. Diese Abdrücke können erst vor kurzer Zeit entstanden sein, da sonst die Umrisse nicht mehr so deutlich gewesen wären, und sie sind dadurch hervorgerufen worden, daß irgendeine Person beim Durchschreiten der mit Trümmern bedeckten Räume sich mit der weit ausgestreckten linken Hand an die Mauer gestützt hat, um sicher zu gehen. Im ganzen fand ich fünf solcher Abdrücke, drei unten, zwei oben im Turme. Daß sie von einer linken Hand herrühren, besagte mir die Fingerstellung. Der Daumen als der bei einer ausgebreiteten Hand am weitesten abstehende Finger lag für mich als Beobachter an der rechten Seite. Diese Spuren in der Staubschicht, die sämtlich gleichartig aussehen und zwar wie ein Fleck mit strahlenförmigen Strichen darüber, zeigten nun eine Eigentümlichkeit, die mich sofort stutzig machte. In den Staubbildern waren nur vier Striche sichtbar, d. h., es fehlte ein Finger und zwar der mittelste! –

Wenn ich Ihnen nun sage, daß Polnitz an der linken Hand einen kleinen Fehler hat und der Mittelfinger bei ihm schräg über dem vierten liegt, so werden Sie ebenso wie ich zu dem notwendigen Schluß gelangen, daß der Gutsbesitzer vor nicht allzulanger Zeit in der Ruine gewesen ist.“

Grunwald sprang auf und begann mit ungestümen Schritten das Gemach zu durchqueren.

„Also noch ein weiterer Beweis, der gegen ihn spricht!“ stieß er erregt hervor. „Doch – woher wissen Sie die Sache von dem verkrüppelten Finger, Herr Schaper? Haben Sie Polnitz schon gesehen? – Mir ist bisher dieses kleine Gebrechen vollständig entgangen.“

„Pfarrer Heinz bestätigte mir auf meine Frage das Vorhandensein dieses Fehlers,“ erklärte der Detektiv.

„Dann wird’s damit wohl auch seine Richtigkeit haben. – Was tue ich nur – was tue ich nur?! Raten Sie mir bitte. Soll ich Polnitz verhaften lassen?“

„Davon später. Wir wollen zunächst das erledigen, was ich vorzubringen habe. –

Ich fand in der Ruine nämlich am Nachmittag noch etwas, eine Busennadel, aus einem erbsengroßen Diamanten in Goldfassung bestehend. – Die Nadel war in einer Mauerritze versteckt und zwar im unteren Raume.“

„Haben Sie sie an sich genommen?“

„Aber, Herr Amtsrichter! So ein brillantes Beweisstück werde ich doch nicht beseitigen! Nein, die Schlipsnadel, die fraglos Eigentum des ermordeten Händlers ist, liegt noch dort, wo ich sie entdecke.“

„Ich begreife nicht recht, wozu – –“

„Sehr einfach,“ unterbrach er Grunwald. „Ich rechne eben damit, daß der, der das wertvolle Schmuckstück dort verbarg, versuchen wird, es bei Gelegenheit an sich zu nehmen. Und hierbei möchte ich den Menschen überraschen. –

Leider habe ich einmal Pech gehabt. In der verflossenen Nacht bin ich mit einem meiner Angestellten, den ich mir zu meiner Unterstützung nachkommen ließ, in dem Gehölz gewesen. Tatsächlich tauchte auch nach Mitternacht eine Gestalt auf, die dann im Turme verschwand. Aber – der Mann war nachher wie durch die Luft davongeflogen – spurlos weg.“

„Das müssen Sie mir genauer erzählen, Herr Schaper,“ bat der Amtsrichter, indem er sich dem Detektiv gegenüber an den Schreibtisch lehnte.

Der andere kam diesem Wunsche bereitwilligst nach. Als der dann mit seiner Schilderung dieser seltsamen Ergebnisse fertig war, fügte er noch hinzu:

„Ich kann mir dieses spurlose Verschwinden nur so erklären, daß der Mann von der Mauer herabgesprungen ist. Eine andere Erklärung gibt es nicht.“

„Haben Sie denn wenigstens etwas von dem Gesicht des Betreffenden gesehen?“ fragte Grunwald mit höchstem Interesse.

„Nichts, da wir viel zu weit entfernt waren. Vom Rande der Lichtung, wo wir Posto gefaßt hatten, bis zum Turmeingang betrug die Entfernung gut dreißig Meter. Auf solche Distanz vermag man bei Mondlicht nur die Umrisse einer Gestalt zu erkennen.“

„Schade, schade!“ Der Amtsrichter schaute nachdenklich vor sich hin. Dann kam ihm ein neuer Gedanke.

„Hat der Mensch denn nun die Nadel aus ihrem Versteck hervorgeholt?“ meinte er gespannt.

„Nein, eben nicht. Und das ist das Merkwürdigste an der Sache. Denn Zeit genug hätte er dazu gehabt.“

„Dann ist es also auch nicht die Person gewesen, die die Nadel dort versteckte,“ erklärte Grunwald unzufrieden. „Die Geschichte wird immer rätselhafter, meinen Sie nicht auch?“

„Stimmt. Von der Lösung dieser Frage, die mit dem Morde zusammenzuhängen scheint, sind wir noch ein gutes Stück entfernt, besonders da ich an der dem Dorfe abgewandten Seite der Kirchhofsmauer noch so einiges gefunden habe, was vielleicht auch mit unserem Kriminalfall in Verbindung steht und in gewisser Weise gegen die Annahme der Täterschaft des Gutsbesitzers spricht – falls es eben mit zur Sache gehört. An jener Stelle entdeckte ich nämlich im Grase siebzehn bis auf einen kleinen Rest abgebrannte Zündhölzchen, die auf einen Umkreis von vielleicht einem halben Meter verstreut waren. Dicht daneben, nur etwas mehr nach der Mauer des Friedhofs zu, fand ich weiter zwischen den Halmen ein kleines Häufchen eines weißen Pulvers, das sich bald als – Schnupftabak und zwar als die bekannte Marke ‚Schneeberger‘, die ja weiß wie Puderzucker ist, entpuppte. Eine Probe davon habe ich in meiner Brieftasche.“

Der Amtsrichter lauschte mit gespannter Aufmerksamkeit. Als der Detektiv einen Moment schwieg, fragte er fast ungeduldig:

„Und was haben die Zündhölzer und der Schneeberger mit dem Morde zu tun? Ich finde beim besten Willen keine Brücke, die hier einen Zusammenhang herstellt.“

Schaper lächelte fein.

„Eine Brücke gibt es schon, nur ist es die große Frage, ob sie nicht allzu unsicher gebaut erscheint. –

Versetzen wir uns einmal in die Lage der Mörder nach geschehener Tat. Sie haben soeben den Toten in die Ruine geschleppt, wo er, wie sie hoffen können, nicht so bald aufgefunden werden wird, da die argwöhnischen Bewohner der Umgegend das alte Gemäuer meiden, weil es dort spuken soll.

Die Täter denken nun daran, die Beute zu teilen. Zu diesem Zweck kehren sie zu dem Kirchhof zurück und setzen sich an der Mauer in das Gras. Während der eine ein Streichholz nach dem anderen anbrennt, um für ihr Beginnen das nötige Licht zu haben, wird das geraubte Geld durchgezählt und dann halbiert. Nachher zieht der eine der Mörder seine Schnupftabakdose und füttert sein Riechorgan. Hierbei fällt ihm etwas von dem Schneeberger daneben. –

So, Herr Amtsrichter, könnte man sich meinen Fund erklären. Ich betone, könnte!! –

Vielleicht ist’s auch ganz anders gekommen, daß die Hölzchen und der Tabak in das Gras gerieten, obgleich ich beinahe wetten möchte, daß ich recht mit meiner Vermutung habe.“

Grunwald schaute den Detektiv bewundernd an. Diese Kombinationen, die er ihm soeben entwickelt hatte, waren ein kleines Meisterstück. Freilich – seine Bedenken schienen nicht ungerechtfertigt, die er hinsichtlich der Richtigkeit seiner Schlüsse hegte.

Und dieser Meinung gab der Amtsrichter auch unverhohlen Ausdruck.

„Wetten wollen Sie, Herr Schaper – aber nur – beinahe! Und das finde ich sehr verständig von Ihnen, denn auch mir scheint die Brücke noch verflixt lose gefügt. Schön sieht sie aus, sogar bestechend schön! Aber – der innere Gehalt fehlt.“

„Das habe ich ja selbst schon zugegeben. – Auf eins will ich Sie doch noch aufmerksam machen, Herr Amtsrichter: Tabak, der längere Zeit an der freien Luft liegt, büßt, besonders unter der Einwirkung der Sonnenstrahlen, in wenigen Tagen an Schärfe des Geruches und Geschmackes bedeutend ein. Der Schneeberger nun, den ich fand, kann nicht vor allzu langer Zeit verschüttet worden sein, weil er noch ziemlich kräftig ist. Und Streichhölzer, die den Einflüssen der Witterung ausgesetzt sind, vergilben wieder und zwar ebenfalls in kurzem. Die, die ich entdeckte, waren noch verhältnismäßig zart geblieben. Mithin befinden sich die kleinen Beweisstücke sicherlich erst einige Tage an jener Stelle bei der Kirchhofsmauer. Ferner, vermögen Sie mir eine andere einleuchtende Erklärung dafür zu geben, wie diese Menge von abgebrannten Zündhölzern an jenen Platz gelangt ist?“

„Sie kämpfen mit allen Mitteln eines geschärften Verstandes für Ihre Theorie,“ meinte Grunwald unsicher. „Und doch vermögen Sie mir keinen untrüglichen Beweis für die Richtigkeit Ihrer Mutmaßungen zu erbringen.“

„Fügen Sie ‚vorläufig‘ hinzu, und ich will – vorläufig schweigen!“ lächelte Schaper. „Doch – zu einem Wortgeplänkel ist die Zeit zu kostbar und die Sache, die uns beschäftigt, zu ernst. Ich muß mit dem, was ich Ihnen zu sagen habe, zu Ende kommen. Betrachten wir nochmals im Zusammenhange das, was wir über den Mord bisher ermittelt haben. –

Die Tat ist fraglos in der Nacht vom Montag zum Dienstag dieser Woche verübt worden, da der Händler seit diesem Zeitpunkt vermißt wird. Als Mörder kommen zwei Personen in Betracht, die ihr Opfer mit Hilfe eines stumpfen Instruments an der Mauer des Dorfkirchhofs erschlagen und dann in die Ruine getragen haben. Einer der Täter hat die Busennadel des Viehhändlers im unteren Turmgemach in einer Mauerritze versteckt. Die übrigen Wertsachen und die Barschaft Bertolds sind verschwunden. –

Diese Punkte stehen einwandfrei fest. Sie bilden also das Fundament, auf dem wir weiterbauen müssen. –

Der Verdacht hat sich nun auf den Gutsbesitzer v. Polnitz gelenkt. Was wissen wir von ihm? –

Eine ganze Menge. Erstens, seine pekuniären Verhältnisse sind die denkbar schlechtesten. Mithin hätte man, wenn man ihn die Tat zutraut, als Motiv Geldgier, hervorgerufen durch Not, anzunehmen. –

Zweitens, in der Mordnacht wird er von einem glaubwürdigen Zeugen auf der Chaussee in der Nähe der Ruine gesehen. Hierüber befragt, sucht er zunächst zu leugnen, gibt dann aber zu, um Mitternacht spazieren gegangen zu sein. Sein Benehmen beim Verhör ist derart, daß man es nur mit dem Ausdruck ‚halbe Verzweiflung‘ bezeichnen kann. –

Drittens, in dem Turme der Burgruine finden sich in der Staubschicht der Mauern fünf Abdrücke seiner linken Hand. Mithin ist er in der letzten Zeit dort gewesen. –

Dies wären die Momente, die auf ihn als den Täter hindeuten. –

Für seine Schuldlosigkeit wieder wäre folgendes anzunehmen: Er ist ein gebildeter Mensch von tadellosem Ruf. Für seine Gemütsveranlagung spricht seine Liebesheirat, da er gegen den Willen seiner ganzen Familie ein armes Mädchen heimführte, ferner sein unermüdlicher Fleiß, mit dem er seinen Besitz hochzubringen suchte.

Weiter. Der Mord wurde von zwei Personen begangen. Also müßte Polnitz einen Mitschuldigen haben. –

Wer sollte dieses sein? Freunde, die er zu einem solchen Plane hätte überreden können, besitzt er nicht. Vielmehr lebt er ganz für sich. Daß seine Gattin Mittäterin war, ist den Fußspuren nach ausgeschlossen. Wo ist also der Mann, dem Polnitz soweit vertraute, um ihn an seinem Verbrechen teilnehmen zu lassen? –

Schließlich, einer der Mörder hat die Busennadel des Toten in der Ruine versteckt. –

Auch hieraus läßt sich eine Reihe logischer Schlüsse zu gunsten des Gutsbesitzers ziehen. Ich behaupte nämlich folgendes, das Schmuckstück wurde nicht etwa nach der Teilung der Beute, sondern vorher in der Mauerritze verborgen. Diese meine Vermutung begründe ich dadurch, daß ich die ganze Ruine aufs sorgfältigste abgesucht und keinen weiteren Gegenstand mehr gefunden habe, der Eigentum des Ermordeten war, als gerade nur die Schlipsnadel, ein Kleinod, das sich wegen seiner geringen Größe am allerleichtesten versteckten läßt. Es ist daher nicht anzunehmen, daß einer der Mörder die Nadel aus Furcht, sie könne an ihm zum Verräter werden, in dem Turme zurückgelassen hat, vielmehr erscheint es bedeutend plausibler, daß einer der Täter kurz nach dem gewaltsamen Ende des Bertold diesem das Schmuckstück heimlich aus der Krawatte gezogen und dann, als die Leiche in dem Turm niedergelegt wurde, vorläufig dort versteckt hat, um sie später abzuholen, kurz, daß er seinen Mitschuldigen um dieses Beutestück betrogen hat. –

Sind Sie meinen Ausführungen gefolgt, Herr Amtsrichter?“

Grunwald nickte.

„Gewiß. Und auch hier gebe ich die Möglichkeit zu, daß Ihre Kombinationen stimmen – aber auch nur die Möglichkeit. Wie wollen Sie nun Polnitz mit der Schlipsnadel in Verbindung bringen und daraus einen Entlastungsmoment konstruieren?“

„Sehr einfach. Hätte Polnitz sich mit einem zweiten Manne zur Verübung des Verbrechens zusammen getan, so würde es sich bei diesem Mitschuldigen nach meinen vorhergehenden Ausführungen nur um einen einfachen Mann aus dem Volke, etwa einen der Gutsarbeiter oder Knechte, handeln können, dem Polnitz für seine Hilfe eine bestimmte Summe zugesichert, d. h., den er bestochen hat. Wäre dem so, so würde dieser zweite Mörder nie die genügende schnelle Entschlußfähigkeit besessen haben, um die Nadel geschickt und unauffällig an sich zu bringen und nachher zu verbergen. Einen solchen Streich traue ich nur einem intelligenten, alten Verbrecher zu, niemals einem Menschen, der, wie es hier der Fall sein dürfte, gelegentlich als Helfer gedungen wird. Und deshalb möchte ich auch fast behaupten, daß mindestens einer der Mörder ein gewiegter Gauner ist, der hier sozusagen eine Gastrolle gegeben hat.

Meinen Sie nun, Herr Amtsrichter, daß Polnitz so töricht sein wird, sich mit einem einfachen Manne in solche Dinge einzulassen, bei denen es um Kopf und Kragen geht, mit einem Manne, der ihn vielleicht einmal aus reiner Dummheit verraten könnte? Nie und nimmermehr! –

Ich könnte Ihnen hieran anschließend noch eine Unmenge von Momenten nennen, die, auf dem Wege der Kombination gefunden, gegen die Annahme, daß Polnitz der Täter ist, sprechen. Trotzdem bin ich nicht so in meine Theorie verrannt, um nicht zuzugestehen, daß mindestens ebenso starke Beweise den Gutsbesitzer schuldig erscheinen lassen. Daher mache ich auch folgenden Vorschlag, lassen Sie uns zusammen nach Draken hinausfahren und fragen Sie Polnitz, wann er zum letztenmale in der Ruine gewesen ist. Natürlich dürfen Sie nicht sofort mit dieser Frage das Verhör einleiten, sondern so ganz von ungefähr darauf zu sprechen kommen. Von der Antwort des Gutsbesitzers wird es abhängen, wie sich die Dinge weiter für ihn gestalten.“

 

10. Kapitel.

Die Haussuchung.

An demselben Morgen, als diese Unterredung zwischen dem Amtsrichter und dem Detektiv stattfand, betrat Edgar v. Polnitz aufgeregt das Krankenzimmer seiner Gattin.

Helinde, deren Befinden sich, seitdem die Krise überstanden war, wesentlichen gebessert hatte, streckte ihm mit mattem, zärtlichem Lächeln die Hand entgegen, die er liebevoll an die Lippen zog.

„Wie hast du geschlafen, Liebling?“ fragte er dann, mit Mühe seine Nervosität unterdrückend. Und, ohne ihre Antwort abzuwarten, wandte er sich an die Krankenschwester:

„Schwester Helene, würden Sie uns bitte einen Augenblick allein lassen? Ich habe mit meiner Frau etwas zu besprechen.“

Die Pflegerin erhob sich sofort.

„Gern, Herr v. Polnitz. Nur müssen Sie mir die Zusage geben, Ihre Gattin nicht durch irgendwelche erregenden Mitteilungen zu beunruhigen.“

„Wo werde ich, Schwester! Seien Sie ganz unbesorgt!“

Als das Ehepaar allein war, zog Polnitz sich einen Stuhl an das Kopfende des Bettes und begann dann, indem er ein mitgebrachtes Zeitungsblatt entfaltete:

„Liebling, denk’ dir, soeben finde ich in der gestrigen Morgenzeitung eine kurze Notiz, die auch uns angeht. Danach ist mein Vater schwer erkrankt. Doch am besten, ich lese dir die betreffende Stelle vor:

Der Majorats– und Kammerherr Egon v. Polnitz, der seit einer Woche hier in der Reichshauptstadt zur Teilnahme an den Beratungen des Vorstandes des Bundes der Landwirte weilt, wurde während der heutigen Vorstandssitzung von einem Schlaganfall heimgesucht und bewußtlos in eine Privatklinik geschafft, wohin man sofort seine gleichfalls in Berlin anwesende Gemahlin berief. Der Zustand des Majoratsherrn, der zu den reichsten Mitgliedern der schlesischen Aristokratie gehört, soll recht bedenklich sein.“

Polnitz faltete die Zeitung wieder zusammen.

„Begreifst du die Wichtigkeit dieser Nachricht, Liebling?“ meinte er ernst. „Ich wünsche meinem Vater gewiß von Herzen ein langes Leben. Aber unter diesen Umständen liegt es so nahe, daß man sich mit dem Gedanken vertraut macht, über kurz oder lang könnte eine einschneidende Änderung in unseren Verhältnissen eintreten. Bisher habe ich mit dir darüber nie gesprochen, Heli, nie! Einmal muß es geschehen. Sollte eine Katastrophe sich ereignen – du weißt wohl, was ich meine – so fällt mir eine Erbschaft von etwa einer Viertelmillion zu.“

„… einer Viertelmillion?“ Helinde sprach das Wort mit einer gewissen Ehrfurcht aus.

„Sicherlich soviel,“ bestätigte Polnitz. „Das Barvermögen meines Vaters, das nicht im Majorat steckt, schätze ich auf etwa eine Million. Somit müßte bei drei Erben auf meinen Teil mindestens ein Viertel kommen.“

In demselben Augenblick klopfte es leise.

Polnitz ging zur Tür und öffnete. Die Schwester stand vor ihm.

„Herr v. Polnitz, zwei Herren wünschen Sie zu sprechen. Sie warten im Salon.“

Der Gutsbesitzer verfärbte sich. Eine bange Ahnung wie vor kommendem Unheil krampfte ihm das Herz zusammen. Und doch verabschiedete er sich lächelnd von seiner Gattin.

„Auf Wiedersehen, Liebling. Ich bin bald zurück.“

Kaum hatte er die Tür des Krankenzimmers hinter sich zugezogen, als er sich matt, mit einem trostlosen Ausdruck wilder Verzweiflung im Gesicht, gegen die Wand des Korridors lehnte.

„Wird diese Qual denn nie ein Ende nehmen!“ flüsterte er ganz geistesabwesend vor sich hin. „Muß ich denn wirklich einen Moment unseliger Verirrung so bitter büßen!“

Mit müden Bewegungen, zögernd und zagend, schlich er den Korridor entlang. Vor der Salontür angelangt, raffte er sich auf. –

‚Haltung – Haltung und Ruhe!‘ raunte eine Stimme ihm zu. ‚Du weißt, für wen du kämpfst!‘

Als er in den Salon eintrat, fand er seine Vermutung bestätigt.

Der Amtsrichter machte ihm eine offizielle Verbeugung, stellte seinen Begleiter als ‚Herrn Müller‘ vor und begann dann, nachdem sie wieder Platz genommen hatten:

„So leid es mir tut, Herr v. Polnitz – ich muß nochmals auf die Ereignisse jener Montagnacht zu sprechen kommen. – Bleiben Sie bei Ihrer Behauptung, daß Sie damals lediglich spazieren gegangen sind?“

Der Gutsbesitzer runzelte ärgerlich die Stirn.

„Eigentlich müßte ich jede weitere Frage, die diesen Gegenstand berührt, überhören. Ich sagte Ihnen schon gestern, wie sich die Sache verhält, und dabei bleibe ich.“

Schaper hatte inzwischen Gelegenheit gefunden, Polnitz eingehend betrachten zu können. Sehr bald war er mit seinem Urteil fertig. Dieser Mann war kein Mörder! – Auf seine Menschenkenntnis konnte er sich schon verlassen. –

Der Amtsrichter schickte sich zu einem neuen Angriff an.

„Herr v. Polnitz, ein etwas merkwürdiges Zusammentreffen ließ Ihre Frau Gemahlin in derselben Nacht erkranken, in der Sie um Mitternacht die Felder durchstreiften, um frische Luft zu schöpfen – wie Sie angegeben haben. Wissen Sie vielleicht, wann und wo sich Ihre Gattin so schwer erkältet hat, daß dies eine Lungenentzündung zur Folge hatte?“

Der Gutsbesitzer schaute Grunwald offen an.

„Ich weiß es nicht. Meine Frau ist erst seit gestern außer Gefahr, und da habe ich noch nicht Gelegenheit gefunden sie dieserhalb zu befragen.“

Der Amtsrichter nickte befriedigt.

„Darauf können wir ja später noch zurückkommen. – Etwas anderes, Herr v. Polnitz, gehört der Grund und Boden, auf dem die Burgruine steht, zu Ihrem Gute?“

Der Gutsbesitzer wurde merklich unruhig.

„Ja, Herr Amtsrichter,“ entgegnete er dann zögernd und blickte verlegen vor sich hin auf das Muster des großblumigen Teppichs.

„Ist die Ruine ebenfalls Ihr Eigentum?“ forschte Grunwald weiter.

Polnitz nickte nur. Sein Gesicht hatte sich mit einer dunklen Röte überzogen, und die Augen hielt er noch immer zu Boden geschlagen.

Die beiden anderen Herren tauschten einen beredten Blick.

Dann holte der Amtsrichter zum entscheidenden Schlage aus. Harmlos, ohne besondere Betonung, fragte er:

„Wann waren Sie zum letzten Mal in der Ruine, Herr v. Polnitz? Und – wissen Sie vielleicht, ob dort bisweilen irgend welche Landstreicher oder Zigeuner nächtigen?“

Der Gutsbesitzer hob den Blick und schien Grunwald auf dem Grunde der Seele lesen zu wollen. Sein Atem ging schwer, und man merkte deutlich, welche Überwindung es ihn kostete, sich zu einer Antwort aufzuraffen.

Dann, erst nach einer ganzen Weile, erwiderte er:

„Ich habe die Ruine seit längerer Zeit nicht betreten. Vagabunden mögen dort zuweilen einen Unterschlupf suchen, das ist richtig!“

Jetzt mischte sich Schaper in das Gespräch.

„Wäre es nicht besser, Herr v. Polnitz, wenn Sie der Wahrheit die Ehre geben würden?“ meinte er überredenden Tones. „Sie können sich wohl denken, daß der Herr Amtsrichter nicht ohne stichhaltigen Grund wissen will, wann Sie zuletzt die Ruine besuchten. Mehr noch – wir haben Beweise, daß Sie vor nicht langer Zeit dort gewesen sind.“

Des Gutsbesitzers Zähne gruben sich so fest in die Unterlippe, daß ein feiner Blutstropfen hervordrang. Und doch vermochte er nicht zu verhindern, was nur als Zeichen eines schuldbeladenen Gewissens gedeutet werden konnte, ein jähes Erblassen, ein merkliches Zittern, das seine kräftige Gestalt überlief. Und dann rang sich ein Stöhnen aus seiner Brust hervor, ein qualvolles Ächzen, das in die leise geflüsterten Worte ausklang:

„– seit – seit Wochen war ich nicht in der Ruine –“

Schaper schüttelte unzufrieden den Kopf.

„Aber in dem Turm sind Sie gewesen, Herr v. Polnitz, – das steht außer Zweifel. Ich fand dort die Abdrücke Ihrer linken Hand in der Staubschicht der Mauer. Und diese Abdrücke sind keine acht Tage alt.“

Der Gutsbesitzer stierte den Detektiv an wie ein verwundetes Tier seinen Peiniger.

„Wer – wer sind Sie, Herr Müller?“ fragte er tonlos.

„Der Berliner Detektiv Fritz Schaper,“ antwortete dieser streng. Und fügte schnell hinzu:

„Geben Sie Ihr Leugnen auf, Herr v. Polnitz. Hören Sie auf mich! – Was hatten Sie letztens im Turm der Ruine zu tun?“

„Ich war nicht dort. Und nun lassen Sie mich endlich in Ruhe!“

Der Gutsbesitzer hatte sich erhoben. Auf seiner Stirn lagen die Adern wie dicke Stränge. Eine unnatürliche Röte färbte sein Gesicht, in dem ein Ausdruck verzweifelter Wut alles Ängstliche, Unsichere verdrängt hatte.

Auch Grunwald stand schnell auf.

„Herr v. Polnitz,“ sagte er hart, „dann bleibt mir nichts anderes übrig, als Sie zu verhaften!“

Der Gutsbesitzer stützte sich schwer auf die Lehne des Polsterstuhles.

„Tun – Sie – das nicht – bitte – bitte –! Sie würden mein – Weib – töten –“ lallte er, sinnlos vor Angst und Schrecken.

Da kam ihm Schaper zu Hilfe.

„Vielleicht gibt es einen Ausweg, diese Verhaftung noch hinauszuschieben, Herr Amtsrichter,“ meinte er schnell. „Ich will es übernehmen, hierzubleiben und darauf acht zu geben, daß Herr v. Polnitz keinen Fluchtversuch oder sonst etwas unternimmt, wodurch die Untersuchung im Falle Bertold gestört werden könnte. Damit meine Anwesenheit hier vor den Leuten erklärt werden kann, will ich für den Altertumsforscher Professor Dr. Remstein gelten, der die Ruine untersuchen möchte und den Sie, Herr v. Polnitz, für einige Zeit gebeten haben, Ihr Gast zu sein.“

Grunwald willigte nach kurzem Zögern ein. Trotzdem sagte er noch zu Schaper, der den Gutsbesitzer mitleidig anschaute:

„Ich mache Sie aber darauf aufmerksam, daß Sie mir für die Person dieses Herren bürgen, der sich fortan als Verhafteter zu betrachten hat.“

„Sie können sich auf mich verlassen, Herr Amtsrichter,“ entgegnete der Detektiv ruhig.

„Gut. Dann habe ich hier noch eine Pflicht zu erfüllen,“ erklärte Grunwald. „Ich möchte eine Hausdurchsuchung vornehmen, der Sie hoffentlich keine Hindernisse in den Weg legen werden, Herr v. Polnitz.“

Dieser verbeugte sich knapp.

„Die Räume stehen Ihnen zur Verfügung. Nur eine Bitte hätte ich, erledigen Sie diese Hausdurchsuchung so, daß mein Personal nichts davon merkt.“

Nachdem das Schreckgespenst sofortiger Verhaftung verscheucht war, hatte der Gutsbesitzer schnell seine Fassung wiedergefunden. Mit einer Gelassenheit, die bewies, daß der Amtsrichter hier kaum etwas Wichtiges entdecken würde und daß Polnitz dies genau wußte, führte der die Herren zunächst in sein Arbeitszimmer, wo Grunwald nur solche Behältnisse durchforschte, die als unauffälliges Versteck in Frage kommen konnten.

Ohne Widerrede öffnete der Gutsbesitzer jede Schublade, jeden Schrank. Schaper spielte dabei den stillen Zuschauer. Ihm erschien diese Arbeit höchst überflüssig. Aber er mochte dem Amtsrichter, der schließlich nur nach dem altbewährten Schema der Behörden handelte, nicht dareinreden. –

Die Hausdurchsuchung verlief, wie Schaper von Anfang an vermutet, resultatlos.

Grunwald glaubte jetzt seiner Pflicht Genüge getan zu haben und verabschiedete sich, nachdem er den Detektiv nochmals beiseite genommen und ihm größte Aufmerksamkeit anempfohlen hatte. Dann fuhr er in seinem Wagen nach Bernburg zurück.

Im Dorfe Draken ließ er vor der ‚Goldenen Krone‘ halten. Dem Wirt, der eilfertig herbeigelaufen kam, trug er auf, dem Reisenden Schneider aus Leipzig zu bestellen, dieser möge sich sofort nach dem Gutshause bemühen, wo Professor Remstein ihn zu sprechen wünsche. Auch müsse die Handtasche des Herrn Professors ebendorthin geschafft werden, da der Herr Gelehrte von Herrn v. Polnitz eingeladen worden sei, im Gutshause zu logieren, so lange er mit der Untersuchung der Burgruine hier zu tun habe.

Darauf rollte der Wagen davon, und der Wirt begab sich in die Gaststube zurück, wo der ‚Reisende für Düngemittel‘ eben beim Mittagessen saß.

 

11. Kapitel.

Ein wohlmeinender Freund.

Schaper hatte den Gutsbesitzer, nachdem Grunwald sie verlassen, in das Arbeitszimmer gebeten.

„Es ist eine eigentümliche Lage, Herr v. Polnitz, in der wir beide uns befinden,“ meinte er mit einem gutmütigen Lächeln. „Ich soll hier den Wächter spielen für einen Mann, von dessen Schuldlosigkeit ich überzeugt bin. –

Bitte, lassen Sie mich ausreden. Sie können mir ja nachher sagen, was Sie auf dem Herzen haben. Ich will Sie nun hier in keiner Weise belästigen und mich tatsächlich nur als ein halbwegs gern gesehener Gast betrachten, wenn Sie mir durch Handschlag dasselbe versprechen, was Sie gestern schon dem Amtsrichter ehrenwörtlich versicherten, daß Sie die nähere Umgebung des Gutshauses ohne meine Erlaubnis nicht verlassen wollen. –

Gut, der Händedruck genügt mir.“

Polnitz fühlte sich durch das freundliche Wesen des Detektivs förmlich neubelebt.

„Herr Schaper,“ sagte er mit aufrichtiger Herzlichkeit, „wie soll ich Ihnen nur für Ihr Eingreifen zu meinen Gunsten danken! Sie haben meiner Frau und mir dadurch unendliches Herzeleid erspart. Und gerade die Dankbarkeit zwingt mich, Ihnen nochmals zu versichern, daß Sie für keinen Unwürdigen, keinen Mörder sich verwendet haben. Die Tat, deren man mich beschuldigt, habe ich nicht begangen – so wahr mir Gott helfe!“

„Das glaube ich Ihnen,“ meinte der Detektiv freundlich. „Trotzdem haben Sie aber fraglos irgend ein Geheimnis zu behüten, Herr v. Polnitz. Wäre es nun nicht besser, wenn Sie sich mir anvertrauten? Sollte es nicht eine Möglichkeit geben, Ihren Besuch in der Ruine in einer Weise aufzuklären, die dem Gericht genügt und – Ihnen keine Unannehmlichkeiten schafft? –

Verstehen Sie mich recht, ich spreche hier nicht als der Detektiv Fritz Schaper zu Ihnen, nein, als Mensch zum Menschen. Pfarrer Heinz und die Seinen haben von Ihnen soviel Anerkennenswertes berichtet, daß ich es nur gut mit Ihnen meine, daß ich Sie gern schützen möchte vor – Zufällen, die Ihnen gefährlich werden könnten.“

Polnitz hatte mit wachsender Unruhe zugehört. –

Wie sollte er nur diese Worte auffassen? Sollten das alles etwa Andeutungen sein, daß der Detektiv noch mehr wußte – Dinge, die ja eigentlich noch weit schlimmer waren als der Mord, eben weil sie einen tatsächlichen Hintergrund hatten?! –

Grübelnd, verlegen und mit einer ungewissen Angst im Herzen, stand der Gutsbesitzer seinem Gaste gegenüber.

Schließlich raffte er sich zu einer Antwort auf. Denn irgend etwas mußte er doch sagen! Sein Schweigen wäre ja wie ein Zugeständnis gewesen!

In demselben Moment klopfte es. Das Stubenmädchen trat ein und meldete, daß ein Herr Schneider den Herrn Professor zu sprechen wünsche.

„Würden Sie mir gestatten, den Herrn hier zu empfangen?“ bat der Detektiv daraufhin den Gutsbesitzer.

„Selbstverständlich.“

Damit verließ er das Zimmer. –

Die Unterhaltung zwischen ‚Herrn Schneider aus Leipzig‘ und dem Detektiv wurde im vorsichtigen Flüsterton geführt.

„Nun, haben Sie etwas erreicht, Hiller?“ begann Schaper das Gespräch.

„Ich war den ganzen Vormittag unterwegs,“ begann die Erwiderung. „In Beelitz, wo doch der Bertold am Montag zum Viehmarkt war, traf ich mit dem Gendarmen zusammen, der anscheinend im Auftrage des Amtsrichters darüber Nachforschungen anstellte, mit wem der Händler zuletzt zusammengewesen war, bevor er zu Fuß nach Bernburg aufbrach.“

„Hat der Gendarm etwas Wichtiges ermittelt?“ meinte Schaper ohne besonderes Interesse.

„Das weiß ich nicht. Der Beamte war einer von den ganz Zugeknöpften. Aus dem war nichts herauszuholen.“

„Und wie steht es mit dem Schnupftabak? Waren Sie in den einschlägigen Geschäften?“

„Ja, ich stellte mich als Reisender in dem Artikel vor. Aber niemand wollte Schneeberger bestellen. Die Sorte würde nie verlangt. Darauf fuhr ich mit dem Rade, das mir der Wirt der ‚goldenen Krone‘ geliehen hatte, nach Bernburg. Hier fand ich nur ein Geschäft, das Schneeberger führte, einen kleinen Kolonialwarenladen. Der Inhaber erklärte mir, er hielte sich den weißen Schnupftabak eigentlich nur für den Hausierer Blomke, der mit einem Kasten voll allerlei Kleinkram – Knöpfe, Bänder, Spiegel usw. – von Ort zu Ort wandere. Dieser Blomke wohnt in derselben Gasse, in der sich die Krämerei befindet. –

Weiter mochte ich den Ladeninhaber nicht ausforschen, damit meine Fragen ihn nicht etwa argwöhnisch machten.“

„Sehr richtig, Hiller. Da hätten wir nun schon einen Fingerzeig. – Ist noch mehr passiert?“

„Gewiß, Herr Schaper, und zwar etwas recht merkwürdiges. Wie Sie mich durch den Amtsrichter hierher bestellt hatten, besuchte ich auf dem Wege vom Dorfe nochmals die Ruine. –

Was denken Sie nun wohl, Herr Schaper, fand ich in dem oberen Turmgemach? Sie werden es kaum erraten!“

„Nun?“ fragte der Detektiv gespannt.

„Zwei weitere Handabdrücke an der Wand, links neben dem Ka–min – Abdrücke, die mit den alten genau übereinstimmten. Vorher hatten Sie im ganzen doch nur fünf gezählt, und jetzt sind es sieben geworden!“

„Alle Wetter!“ entfuhr es Schaper, „das ist freilich außerordentlich bedeutungsvoll.“

„Freilich. Darf ich eine Vermutung aussprechen?“ meinte Hiller bescheiden.

Der Detektiv nickte. „Immer los, Hiller. Wir werden wohl beide dasselbe denken.“

„Ich behaupte, daß der Mann, der uns gestern nacht entwischte, kein anderer als Herr v. Polnitz gewesen ist,“ flüsterte Hiller eifrig.

„Natürlich ist er’s gewesen,“ bestätigte Schaper. „Bei der Dunkelheit hat er sich bei der eiligen Flucht vor uns wieder gegen die Wand gestützt, um nicht zu stolpern. – Hm – und die neuen Abdrücke befinden sich links vom Kamin?“

„Jawohl, und zwar dicht nebeneinander.“

Schaper blickte grübelnd vor sich hin.

„Was nur der Polnitz immer in der Ruine zu suchen hat!“ meinte er. –

Plötzlich hob er wie elektrisiert den Kopf. Ein Gedanke war ihm gekommen, eine Erklärung für das, was ihm bisher noch rätselhaft erschienen war.

Trotzdem schwieg er – mit voller Absicht. Hiller sollte nur eben gerade soviel wissen, um ihm behilflich sein zu können, mehr nicht. Denn dieser Fall wollte mit besonderer Vorsicht behandelt sein.

Erst nach einer Weile richtete Schaper dann wieder das Wort an seinen Untergebenen.

„Sie haben mich also verstanden?“ fügte er zum Schluß hinzu. „Um halb zwölf rechts von der Ruine am Feldrain bei den Birnbäumen.“

Gleich darauf verabschiedete sich ‚Herr Schneider aus Berlin‘ und begab sich in die ‚goldene Krone‘ zurück, wo er in seinem Zimmer eine ausgiebige Nachmittagsruhe hielt und bis zum Kaffee fest schlief.

Polnitz hatte die Zwischenzeit dazu benutzt, um seine Frau von dem Eintreffen des Professors Remstein zu verständigen, der einige Tage als Gast dableiben würde.

Helinde sorgte sich, ob das Personal auch das Fremdenzimmer für den Gelehrten ordentlich instandsetzen würde.

„Schau’ du jedenfalls auch etwas nach dem Rechten,“ bat sie. „Der Professor darf darunter nicht leiden, daß die Hausfrau krank ist, Edgar. Nun, wenn meine Besserung weiter solche Fortschritte macht, hoffe ich ja auch bald aufstehen zu können.“

Als Polnitz dann den angeblichen Dr. Remstein, nachdem sie gemeinsam zu Mittag gegessen hatten, in das Fremdenzimmer führte, schien Schaper mit seinem neuen Logis nicht recht zufrieden zu sein.

„Verargen Sie mir bitte ein offenes Wort nicht, Herr v. Polnitz,“ sagte er liebenswürdig. „Ich habe eine unüberwindliche Abneigung gegen Räume, die in der zweiten Etage liegen. Könnten Sie mich nicht im Erdgeschoß unterbringen? Ich würde mit dem bescheidensten Winkel fürlieb nehmen.“

Der Gutsbesitzer war allerdings etwas verwundert über diese merkwürdige Schrulle, ließ dem Gast aber doch sofort das leerstehende Dienerzimmer herrichten.

„So, hier gefällt es mir,“ erklärte Schaper vergnügt. „Und nun will ich mein gewohntes Verdauungsschläfchen halten. – Auf Wiedersehen!“

Polnitz verstand den zarten Wink und verschwand.

Fritz Schaper aber lehnte sich für einen Moment zum Fenster hinaus und maß mit den Augen taxierend die Entfernung bis zum Erdboden.

‚Hier ist ein heimliches Verlassen des Hauses doch bequemer, wie von der zweiten Etage aus,‘ dachte er, zog sich seinen Rock aus, legte sich auf den Diwan und war bald fest einschlafen.

 

12. Kapitel.

Ein Geständnis.

Bis gegen zehn Uhr abends hatte Schaper mit Polnitz im Salon zusammengesessen. Die Unterhaltung drehte sich um alles mögliche. So gewann der Detektiv denn leicht einen tieferen Eindruck in das Seelenleben dieses Mannes, der ihm schon von Pfarrer Heinz als ein seltener Charakter von vorzüglichen Eigenschaften geschildert worden war.

Polnitz hatte zu Ehren seines Gastes einige Flaschen eines recht feurigen Burgunders aus dem Keller heraufholen lassen und nötigte den Detektiv immer aufs neue durch häufiges Zuprosten zum Trinken.

Schließlich fiel Schaper dieser geflissentliche Versuch, einen harmlosen Abend zu einem Trinkgelage umzuwandeln, doch auf. Er machte sich so seine besonderen Gedanken darüber. Dann begann er mit einem Mal immer häufiger zu gähnen.

„Entschuldigen Sie schon, Herr v. Polnitz – aber der Burgunder hat’s in sich! Mir ist schon ganz wirbelig im Kopf. – Nein – keine neue Flasche. Ich bin bereits müde zum Unsinken.“

Wieder gähnte er.

„Einen Teil der Schuld trägt wohl auch die frische Luft. Wir sind nachmittags doch ein gehöriges Stück auf den Feldern umhergelaufen. Und dann der Herbst! Der steckt mir stets in allen Knochen!“

Bald trennten sie sich.

Etwas unsicher und schwankend schritt Schaper den Korridor entlang, seinem Zimmer zu.

Befriedigt lächelnd, folgte Polnitz mit der Lampe in der Hand.

„Gute Nacht, Herr Schaper! Schlafen Sie angenehm unter meinem Dach!“

„Wird besorgt. Ihr Burgunder ist besser, als all die Schlafmittel – Veronal, Oxal, Ditruval und wie sie alle heißen!“

Der Detektiv war allein. Erst lauschte er, bis des Gutsbesitzers Schritte verklungen waren. Dann schenkte er sich ein volles Glas Wasser ein, trank es auf einen Zug leer und stürzte ein zweites nach.

„Der Wein war schwer, mein lieber Polnitz,“ murmelte er. „Aber doch nicht schwer genug! So dumm ist Fritz Schaper nicht –“

Eine reichliche Stunde hatte er im Dunkeln bei halb offenen Fenstern auf dem Diwan gelegen.

Im Hause war alles still geworden.

Jetzt ging ein schlurfender Schritt unten vorüber – der Nachtwächter, der schon zum zweiten Male seine Runde machte. Kaum war er in der Richtung nach den Wirtschaftsgebäuden zu verschwenden, als Schaper behende zum Fenster hinaussprang und blitzschnell in den Schatten einer breiten Kastanie trat.

Hier blieb er eine Weile stehen und schaute sich vorsichtig um. Dann erst setzte er seinen Weg fort. Von Gebüsch zu Gebüsch, von Baum zu Baum schlüpfte er, stets in Deckung bleibend.

Endlich war er außerhalb des Parkes und eilte nun der Chaussee zu, die sich vor ihm als ein hellgrauer Streifen von den dunkleren Feldern abhob. –

Hiller war bereits an Ort und Stelle, als der Detektiv bei den Birnbäumen am Feldrain eintraf.

In wenigen Minuten hatte Schaper dem anderen seinen Feldzugsplan mitgeteilt. Dann huschten sie lautlos auf das Gehölz und die Ruine zu. Am Rande der Lichtung blieb Hiller zurück, während sein Chef im Bogen dem Eingange des Turmes zustrebte, wobei er sich stets vorsichtig hinter Mauertrümmern zusammenduckte.

Leise wie eine Katze, Schritt für Schritt, schob der Detektiv sich jetzt in das Turmgemach hinein, in dem es vollständig dunkel war. Der Gedanke, daß hier vorgestern noch die Leiche eines Ermordeten gelegen hatte, stört ihn nicht im mindesten. Derartige Gefühle kannte er nicht.

Links neben dem Eingang wucherte an der Wand ein kleines Gestrüpp; allerlei Unkraut, dessen Samen der Wind hier hineingeweht hatte und das dann trotz des mangelnden Sonnenlichtes hochgeschossen war. Diesen natürlichen Vorhang benutzte Schaper als Versteck. Er setzte sich bequem auf den Boden nieder, nachdem er ihn mit der Hand geglättet hatte, legte die elektrische Lampe und den Revolver neben sich und wartete.

Der verfallene Turmeingang lag wie ein helles, längliches Viereck vor ihm. Deutlich hörte er den Nachtwind in den Bäumen draußen rauschen. Jetzt ein leises Scharren. Ein schlanker Tierkörper huschte blitzschnell am Eingang vorüber – ein Marder, der nach Feldmäusen jagte.

So verging eine halbe Stunde.

Die Turmuhr der Dorfkirche hatte soeben die mitternächtliche Stunde verkündet – die Zeit der Geister und Gespenster.

Schaper zuckte plötzlich zusammen.

Draußen hatte er ein Geräusch gehört wie von schleichenden Schritten.

Dann war alles wieder still geworden. – Da – abermals das Tappen, ein Knirschen von bröckelndem Mauerwerk. Kein Zweifel – es näherte sich jemand den Eingang des Turmes.

Jetzt tauchte eine Gestalt in dem helleren Viereck auf. Ein Blick zeigte dem Detektiv, daß dies Polnitz nicht sein konnte. Der Mann war mindestens einen Kopf größer.

Langsam rückte der Unbekannte näher. Offenbar wurde es ihm schwer, den Raum, in dem tiefe Finsternis herrschte, zu betreten. Nun blieb er stehen, suchte in seinen Taschen. Gleich darauf flammte ein Zündhölzchen auf.

Blitzschnell hatte der Mann sich in dem unheimlichen Gelaß, wo noch immer zwischen dem Schutt der große, dunkle Blutfleck lauerte, umgeschaut. Der Detektiv war jedoch seinen spähenden Blicken entgangen, da dieser sich ganz tief zwischen den Sträuchern an den Boden geschmiegt hatte.

Das Zündholz erlosch. Ein weißlicheres Licht blitzte dann auf. Der Fremde hatte eine Wachskerze in Brand gesetzt. Offenbar mutiger schritt er nun auf die Mauer zu, in deren Spalt die Krawattennadel steckte, wie Schaper nur zu gut wußte.

Die Finger des Mannes griffen in die Mauerritze, holten einen kleinen Gegenstand hervor. Mit widerlichem Auflachen ließ der noch verhältnismäßig junge Bursche den Lichtstrahl auf den Diamanten der Nadel fallen. Der Brillant sprühte plötzlich in tausend Lichtern. Strahlenbüschel schossen daraus hervor, feine Lichtgarben wie das Glühen einer überhitzten Kohle im Dunkeln.

Und dann – dann. – Ein heller Kegel, ein weißes, blendendes Leuchten hüllte den Fremden urplötzlich ein – Schaper richtete seine elektrische Laterne auf ihn.

Wie ein Blitz fuhr der Bursche herum.

Zu spät. In der rechten Hand des Mannes, der ihm gegenüberstand, blinkte der Lauf einer Pistole.

„Keinen Laut, keine Bewegung!“ zischte Schaper.

Zitternd, bleich, mit weit offenem Munde, ein Bild des Entsetzens, verharrte der Mensch regungslos.

Nach wenigen Sekunden schon war Hiller, der das Aufblitzen der Lampe, das vereinbarte Signal, bemerkt hatte, bei ihnen. Lederriemen umschnürten die Handgelenke und die Füße des Gefangenen, ein Knebel schob sich zwischen seine Zähne.

„Setzen Sie sich nieder – aber leise. Und – keine Bewegung – nichts! Sonst –“

Der Bursche gehorchte augenblicklich. Dann erlosch der Lichtkegel wieder.

Im Turme der Ruine war es still wie zuvor. –

Nein – nicht ganz so – der wilde Herzschlag des abgefaßten Mannes klang als dumpfes Pochen bis an das Ohr der beiden Berliner Geheimagenten, die nun der weiteren Entwicklung der Dinge harrten.

Denn auch der zweite mußte ja kommen.

Halb eins hatte es soeben vom Turme der Dorfkirche geschlagen.

Edgar v. Polnitz stand unter den Bäumen und suchte mit den Augen jeden Fleck des alten Gemäuers ab. Erst als er sich vergewissert hatte, daß nichts Verdächtiges in der Nähe war, schlich er weiter.

Jetzt stand er am Eingang des Turmes. Unwillkürlich zauderte er.

War’s nicht eben, als ob er da drinnen in der Dunkelheit schwere Atemzüge gehört hatte? –

Regungslos stehen bleibend, lauschte er. Alle seine Sinne waren gespannt. –

Nein, er mußte sich getäuscht haben. Und doch – eine ungewisse Angst hielt ihn noch immer an demselben Fleck. –

Unsinn – er mußte – mußte dort hinein! Wer wußte, ob er in den nächsten Tagen wieder eine Gelegenheit fand wie die heutige. Der Detektiv schlief sicherlich, vom Burgunder halb benebelt, den Schlaf des Gerechten.

Er hob den Fuß, wollte eben um die Ecke in den Turm eintreten, als eine blendende Helle ihm ins Gesicht schoß

So überraschend zuckte die Lichtgarbe auf, daß er ein paar Schritte zurücktaumelte.

Da stand auch schon Schaper – kein anderer als Schaper, den er im Bette wähnte – vor ihm und sagte leise:

„Herr v. Polnitz – gehen Sie heim und erwarten Sie mich in meinem Zimmer. Und – seien Sie außer Sorge. Wir haben soeben einen der zwei des Mordes Verdächtigen gefaßt. Ihre Angelegenheit erledigen wir auch sofort – in diskretester Weise, darauf mein Wort. –

So, und nun lassen Sie uns allein. Es ist nicht nötig, daß der Bursche, der da drinnen geknebelt liegt, Sie sieht.“

Der Gutsbesitzer entfernte sich. Wie im Traum schritt er dahin. Nur ein Gedanke irrte unablässig durch sein abgehetztes Hirn. Was würde die nächste Stunde ihm bringen, was? –

Kein Zweifel, der Detektiv kannte sein Geheimnis! Und wie würde der sich zu alldem stellen, wie würde er der Gerechtigkeit zum Siege verhelfen wollen, der er doch mit allen Mitteln seines scharfen Verstandes diente?!

Zusammengesunken saß er dann in Schapers Logierzimmer auf dem Diwan und starrte trübe in das Licht der Petroleumlampe, die auf dem Mitteltische brannte und die er erst angezündet hatte, nachdem er die Vorhänge und die Fensterläden geschlossen hatte.

So verging eine gute halbe Stunde. Dann draußen leichte Schritte. Der Detektiv trat ein.

„Ich dachte mir, daß Sie die Tür der Terrasse für mich auflassen würden, Herr v. Polnitz – besten Dank.“

Damit legte er Hut und Paletot ab und setzte sich an den Tisch.

„Den einen Täter hätten wir also,“ begann er dann, sich die Hände reibend. „Wir haben ihn in ein Zimmer der ‚Goldenen Krone‘ eingesperrt, wo mein Gehilfe ihn bewacht. Morgen – oder besser heute früh – bringen wir ihn dann nach Bernburg ins Amtsgerichtsgefängnis. Der brave Grunwald wird Augen machen. Wissen Sie, wer sein Komplice ist? Ein gewisser Blomke, ein Hausierer.“

Polnitz zeigte für diese Dinge jedoch nicht das geringste Interesse.

Schaper, der merkte, wie beklommen dem Gutsbesitzer zu Mute war, schlug jetzt einen anderen Ton an.

„Lieber Herr v. Polnitz – ich denke, nun sprechen wir mal wie ein Paar Freunde miteinander. Die Sache mit den 823000 Mark muß doch schleunigst ohne Aufsehen eingerenkt werden, nicht wahr?“

Der Gutsbesitzer hatte das Gesicht in beide Hände vergraben. Sein Körper wurde wie im Krampf hin und her geschüttelt. Er weinte.

Der Detektiv wartete geduldig. Er wußte – heute würde sein Gegenüber endlich beichten.

Polnitz wurde ruhiger. Dann richtete er sich entschlossen auf.

„Sie sollen die Wahrheit hören, Herr Schaper, alles – alles. –

Es war am Montag vormittag. Von einem Geldverleiher war ich zum andern geeilt. Der Erfolg blieb stets derselbe; man schlug meine Gesuche um ein größeres Darlehn ab. Dann ging ich zu der Bank, von der ich seinerzeit Draken kaufte und die mir das Restkaufgeld – fünfzigtausend Mark – zum ersten Januar gekündigt hatte. Ich bat, mir die Hypothek noch auf ein Jahr zu belassen. Der Direktor war höflich, aber – sagte nein. Da wußte ich, daß mein Ruin besiegelt war. Wo sollte ich wohl bei den jetzigen Geldverhältnissen diese Summe auftreiben. Wie ein Wahnsinniger verließ ich das Gebäude der Bank, irrte ziellos durch die Straßen.

Vor dem Brandenburger Tor rief ich schließlich ein Auto an, um mich nach dem ‚Centralhotel‘ bringen zu lassen, wo, wie ich wußte, zur Zeit ein früherer Regimentskamerad von mir, ein sehr reicher Herr, abgestiegen war. Dem wollte ich mich anvertrauen, obwohl ich nicht ganz sicher war, ob ich bei ihm offenen Ohren begegnen würde.

Gleich beim Einsteigen in das Auto bemerkte ich eine Tasche, die auf dem Sitz lag. Sie war offenbar mit verschiedenen Päckchen gefüllt, wie ich durch das Leder hindurchfühlte. Halb unbewußt öffnete ich das Schnappschloß, schaute mir den Inhalt an, indem ich eines der in Papier gehüllten und leicht verschnürten Päckchen öffnete. Es enthielt – Tausendmarkscheine –“

Polnitz stöhnte leise auf.

„Beim Anblick der Banknoten war’s plötzlich, als ob durch meine von Sorgen zermürbte Seele ein Riß ginge, als ob etwas Fremdes, bisher nicht Gekanntes sich meiner bemächtigte. Im Moment war mir alles klar. Die Tasche war hier im Auto vergessen worden – und es mußte ein Leichtes sein, den Inhalt so an sich zu bringen, daß man vor Verfolgungen sicher wäre. –

In rasender Hast stürmten meine Gedanken, formten Pläne, wie sie mein normaler Geist nie geboren haben würde.

So wurde ich zum – Diebe –!“

Da er einen Augenblick schwieg, sagte Schaper sanft:

„Das Weitere weiß ich, Herr v. Polnitz. Sie ließen sich dann vom ‚Central‘ nach dem Hotel ‚Bristol‘ fahren und stiegen dort aus. Die Tasche hatten Sie wohl unter Ihrem Mantel verborgen?“

Polnitz nickte.

„Ja, und dann ließ ich mich, nachdem ich einen Augenblick in der Vorhalle des ‚Bristol‘ gewartet hatte, durch einen Taxameter nach dem billigen Pensionat an der Weidendammer Brücke bringen, wo ich aus Sparsamkeit abgestiegen war. Hier verbarg ich die Banknotenpäckchen in meiner Reisetasche, während ich die Aktenmappe in kleine Stückchen zerschnitt und in den Abort warf. Dann bezahlte ich meine Rechnung und fuhr nach dem Anhalter Bahnhof, wo ich drei Züge abfahren ließ, ohne sie zu benutzen.

Ich saß im Wartesaal und kämpfte mit mir. Und doch war das Fremde, das der Anblick der Banknoten in mich hineingezaubert hatte, stärker als ich. Ich gab das Geld nicht ab, sondern – fuhr heim. In der Nacht trug ich dann die Geldscheine, die ich in ein Stück Glanzleinwand gehüllt und mir unter den Rock geknöpft hatte, nach der Ruine und versteckte sie dort.

Ich glaubte, daß meine Frau damals bereits schliefe. Heute kurz vor dem Abendessen hat sie mir endlich erzählt, wo sie sich so schwer erkältet hat. Sie war mir nachgeschlichen und stand frierend auf der Terrasse, bis sie mich zurückkommen sah. –

Was sollte ich ihr sagen? Ich log, redete mich damit heraus, daß mich die Sorgen ins Freie getrieben hätten. Ihre Antwort: ‚Das ahnte ich, du Ärmster!‘ –

Wenn sie die Wahrheit geahnt hätte, die entsetzliche Wahrheit!“

Wieder entrang sich des Gutsbesitzers Brust ein qualvolles Stöhnen. – Und dann fuhr er fort:

„Der Turm der Ruine birgt ein Geheimnis, Herr Schaper, das auch Sie noch nicht kennen.“

„Pardon,“ unterbrach ihn der Detektiv, „doch, ich kenne es – seit heute. Im oberen Gemach muß es ein verborgenes Gelaß geben, und zwar kann sich dieses nur in dem Kamin befinden, der sich an den mächtigen gemauerten Pfeiler anlehnt. Ich habe nicht die Zeit gehabt, die Sache heute noch näher zu untersuchen. Verraten wurde mir die Existenz des Versteckes durch vier Handabdrücke Ihrer Linken, die dicht neben dem Kamin an der staubigen Wand gefunden wurden. Dort haben Sie sich angelehnt, wenn Sie den verborgenen Zugang öffneten.“

Polnitz nickte. „Unter dem Sims des Kamins ragt ein Hebel hervor. Drückt man darauf, so bewegt sich dessen Rückwand nach unten, und man kann auf eine Steintreppe gelangen, die in die Tiefe führt. Früher lief ein unterirdischer Gang von dort bis zu einem nahen Steinbruch. Der Gang ist aber längst eingestürzt. Immerhin gab das Gelaß unter dem Kamin einen vorzüglichen Schlupfwinkel. Der Mechanismus, der die Rückwand bewegt, ist ebenso einfach wie sinnreich und hat all die Jahrhunderte standgehalten.

Daß ich diese geheime Vorrichtung entdecke, war kein Zufall. Gleich im ersten Jahre, nachdem ich Draken gekauft hatte, erzählte mir ein alter Schäfer, daß von der Ruine ein Gang unter der Erde entlanglaufen solle. Eines Sonntags vormittags habe ich dann mit Helinde eigentlich mehr zum Scherz den Turm nach dem Eingang zu diesem unterirdischen Wege abgesucht. Meine Frau war es, die den Hebel fand. Wir haben niemandem etwas davon gesagt, weil es uns eine unsinnige Freude bereitete, diesen Schlupfwinkel allein zu kennen. –

In der betreffenden Nacht begab ich mich also nach dem Turm, ließ die Kaminwand herabgleiten und stieg in das Gelaß hinab, wo ich – meine Beute mit Ausnahme von sechzigtausend Mark, die ich in meinem Arbeitszimmer versteckt hatte, unter Mauertrümmern des eingefallenen Ganges vergrub. Als ich dann wieder leise das Versteck verlassen wollte, hörte ich plötzlich im unteren Turmgemach leise Stimmen.

Erschreckt blieb ich regungslos stehen. Dann vernahm ich Schritte, die sich eilig entfernten. Ich atmete auf. Noch einige Minuten wartete ich, worauf ich die Kaminwand wieder hochsteigen ließ und die Turmtreppe hinabeilte. Mit einem Mal stieß ich im Dunkeln mit dem Fuß an etwas Weiches, taumelte und streckte die Hand aus, um einen Haltepunkt zu gewinnen. Dann zündete ich ein Streichholz an –“

Polnitz Gesicht wurde noch jetzt bei der Erinnerung an diese furchtbare Szene um einen Schatten bleicher.

Da kam Schaper ihm zu Hilfe.

„Und vor sich sahen Sie dann die Leiche liegen. Halb irre vor Schrecken stürmten Sie davon, überquerten die Chaussee und – wurden hier von Pfarrer Heinz gesehen. – Nun rückten Sie die Annonce nach dem Gewinnlos ein, kauften dem Rentier Zingerle das –“

„Sie wissen aber auch wirklich alles,“ unterbrach Polnitz ihn ehrlich erstaunt.

„Zum Glück! Denn Zingerle hätte Ihnen sehr leicht gefährlich werden können! Würde er das, was er wußte, der Polizei mitgeteilt haben, so wären Sie – verloren gewesen. Zingerle hat Ihnen nämlich nachspioniert. Er hörte, wie Sie ein Billet bis Bernburg forderten, sah Sie ohne Brille – und nach seiner Beschreibung Ihrer Person war es mir ein Leichtes, in Bernburg zu erfahren, wer den angeblichen Steuerrat vorgestellt hatte.“

„So sind Sie also meinetwegen hierher nach Draken gekommen?“ fragte Polnitz verwirrt.

„Allerdings. Zuerst, um Sie zu entlarven und dem Strafrichter zu überliefern – jetzt, nachdem ich Sie kennengelernt habe, um Sie zu – schützen! – Doch lassen Sie uns zu Ende kommen. Die Nacht ist bald vorüber. –

Weswegen hatten Sie nun gestern die Ruine aufsuchen wollen, als wir Sie dann verfolgten und Sie, um uns zu entgehen, doch fraglos in Ihrem Schlupfwinkel verschwanden?“

„Ich wollte das Geld aus seinem Versteck hervorholen und es durch eine Vertrauensperson nach Berlin bringen lassen, wo es durch die Post als Paket der Bank zugestellt werden sollte. Denn inzwischen war ich ebenso plötzlich, wie ich mich zu dem Diebstahl, besser der Fundunterschlagung hatte verleiten lassen, wieder in den Besitz meines wahren Ichs gelangt. Mit Entsetzen bemerkte ich, daß ich an einem Abgrund entlangwandelte, daß ich – ein Verbrecher geworden war. Diese Umwandlung, diese Erkenntnis erfolgte in dem Augenblick, als ich nach dem ersten Verhör durch den Amtsrichter nach Hause zurückkehrte und der Sanitätsrat mir mitteilte, daß es um meine Frau besser stünde. Da, in der Freude des Augenblicks, geschah das Wunder. –

Ich weinte wie ein Kind, und die Tränen waren es, die alle Schlacken, alles Schlechte von meiner Seele fortwuschen. Damals faßte ich den Entschluß, die Pflegerin meiner Frau durch einen Eid zum Stillschweigen zu verpflichten und ihr die Mission, das Geld nach Berlin zu bringen, zu übertragen, weil ich selbst ja mein Gut nicht verlassen durfte. Deshalb eilte ich in der Nacht nach der Ruine. Als ich Schritte hinter mir vernahm, tauchte ich in den Kamin unter. Aber ich wagte damals nicht, die Banknoten mitzunehmen. Fürchtete ich doch, mir könnte auf dem Rückwege aufgelauert werden. Aus diesem Grunde versuchte ich heute aufs neue mein Heil, nachdem ich Ihnen genug Burgunder –“

„So stimmen also alle meine Kombinationen. – Hören Sie mich nun an, wie ich auch diese Sache unauffällig zu regeln gedenke. Von den 823000 Mark fehlen nur die dreitausend, die Sie an Zingerle als Profit für das Los gezahlt haben. Als Finderlohn stehen Ihnen ohne Zweifel jedoch zehntausend Mark zu, die der Bankdirektor Gotheim sofort ausgesetzt hatte. Mithin sind 813 000 Mark zurückzugeben. Dies werde ich besorgen. Niemand wird erfahren, wer mir die Summe zu diesem Zweck ausgehändigt hat. –

So, und nun gute Nacht, Herr v. Polnitz. Einmal haben Sie gefehlt – ich weiß, daß dies nur in einem Zustande von Geistesverwirrung geschah und daß es nicht wieder passieren wird! – Keinen Dank! – Gute Nacht –“

Damit schob der Detektiv den anderen sanft zur Tür hinaus. –

Und doch sollten sie sich noch nicht trennen. Denn in demselben Augenblick wurde laut an der Vordertür geklopft. Beide eilten dorthin – ein Depeschenbote stand vor ihnen.

„Für Herrn Edgar v. Polnitz.“

Dieser riß das Telegramm auf, während Schaper ihm mit seiner elektrischen Lampe leuchtete.

Vater liegt im Sterben und verlangt nach dir. Sofort kommen. –

Deine Mutter.

Zur Zeit Berlin, Privatklinik Professor Reuber, Kantstraße 16.

Eine Stunde später jagte ein Wagen vom Gutshofe nach Bernburg zu, wo Edgar v. Polnitz noch gerade den Anschluß an den ersten Zug erreichte. Er kam noch zur rechten Zeit. Sein Vater verschied in seinen Armen, nachdem er sich mit dem Sohne versöhnt hatte. Helinde wurde danach von der Familie ihres Gatten endlich als Verwandte aufgenommen. Die Erbschaft aber befreite den strebsamen Gutsbesitzer von allen Sorgen.

*

Der Mörder des Händlers Bertold, ein mehrfach vorbestrafter Berliner Einbrecher namens Kleinschrot, und der Hausierer Blomke aus Bernburg legten ein umfassendes Geständnis ab. Danach hatte Blomke dem Viehhändler auf der Chaussee in der Nähe der Ruine aufgelauert und ihm gemäß des genau vereinbarten Planes mitgeteilt, daß er drüben an der Kirchhofsmauer einen bewußtlosen Menschen aufgefunden habe, dem zu helfen Christenpflicht sei. Ahnungslos war Berthold dem Hausierer gefolgt und dann von den beiden mit Wagenrungen, die sie einem auf dem Felde stehenden Ackerwagen entnommen hatten, erschlagen worden. Kleinschrot hatte wirklich beim Transport der Leiche nach der Ruine die Brillantnadel heimlich zu sich gesteckt und darauf in der Mauerspalte verborgen. Fritz Schapers Vermutung, daß die Mörder die Beute dann hinter dem Kirchhofe geteilt und hierbei die Zündhölzchen und den Schnupftabak verstreut hatten, stellte sich ebenfalls als richtig heraus. Beide erhielten die gerechte Strafe. –

Einen Monat nach dem Tode des alten Majoratsherrn v. Polnitz erhielt der Detektiv einen Geldbrief über fünfzehntausend Mark zugeschickt. Diesem lag ein Schreiben bei, in dem Edgar v. Polnitz seinen Retter bat, der Bank auch die fehlenden zehntausend Mark, die damals ausgesetzte Belohnung, zuzustellen, den Rest aber als ‚Entschädigung für seine menschenfreundlichen Bemühungen‘ freundlichst annehmen zu wollen.