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Das Paradies der Enterbten

 

 

Olaf K. Abelsen

Abenteuer

Abseits vom

Alltagswege

 

Das Paradies der Enterbten

 

Einzig berechtigte

Bearbeitung a. d.

Schwedischen von

M. Schraut

 

– Band 4 –

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 16

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1929 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16.
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16.

 

1. Kapitel.

Das namenlose Schiff.

Chuburs braune Gaunervisage lockt mit verheißungsvollem Grinsen …

„Große Brigg, El Gento …“ wiederholte er eindringlich. „Schon lohnen Fahrt dorthin … Liegen an Westseite von Satans-Insel hinter Klippen … Fahren mit, El Gento?“

Was soll ich mich sträuben?! Das Leben den Lebenden! Ich werde Coy auch betrauern können, wenn mir der Wind um die Ohren heult und die Spritzer über Bord fliegen.

„Ich komme …“

Vieler Vorbereitungen bedarf es nicht. Ich hole Büchse, Pistole, Fernglas und Gummimantel … Der Gummimantel sieht aus wie ein vielfach geflickter Luftschlauch. Hier an der einsamen Gallegos-Bucht inmitten meiner Araukaner-Kolonie treiben wir keinen Luxus. Die südlichste Ecke Südamerikas ist fernes Land. Wer kümmert sich um Steppengras, Felsen und Inseln?!

Das Boot gleitet davon, das Großsegel knallt im Winde, bläht sich, und ich lege das Steuer herum.

Wir sind acht Mann an Bord. Chubur, reinblütiger Indianer, dazu sechs andere, sämtlich meine Freunde. Ich habe ja nur noch diese Heimat hier: Die einsame Siedlung am Gallegos.

Das große, plumpe Boot schießt rauschend durch grüne Wogen. Die Sonne brennt, und der schmale Schatten des Fahrzeugs läuft neben uns her.

Kanal auf Kanal zwischen hohen Felsenmauern entschwindet. Auf den Riffen liegen die Seehunde, plumpsen ins Wasser, tauchen wieder auf. Möwenschrei begleitet uns, und die Stunden zerrinnen zu ungewisser Zeitspanne. Der Sonnenball sinkt, rote Lohe färbt die Felszacken, und der Wind schläft ein.

Noch ein letzter Kanal, und vor uns liegt die Unendlichkeit des Stillen Ozeans, dessen milde Luftmassen uns die braunen Wangen streicheln. Links, nach Süden, eine steile zerklüftete Insel mit vorgelagerten Klippenreihen, die ungeheuren Zaunpfählen gleichen, oben weiß betupft vom Unrat der Seevögel … Eine Insel mit einem seltsamen Berge, der einem Menschenkopfe gleicht – eine höllische Fratze: Mephisto mit Zickelbart und Hörnern!

Zwischen Steilufer und den granitenen Zaunpfählen eingeklemmt eine große, graue Brigg, die Masten stolz gereckt, die Segel regelrecht beschlagen.

Meine sieben Araukaner rudern wie die Teufel. Sind Fischer, Schafzüchter, Strandpiraten, sind Männer mit eisernen Muskeln und Nerven, denen Kugel und Messer locker sitzt, und doch Kinder in ihrer urwüchsigen Unbefangenheit.

Chubur stößt den schrillen Jagdruf seines Volkes aus, und der Schrei weckt vielfache Echos.

An Bord drüben keine Seele.

Ich spähe durch das Fernglas, ich freue mich des Anblicks des schnittigen Schiffes.

Wir nähern uns. Das Heck ist uns zugekehrt. Eine Strickleiter baumelt herab, und plötzlich erscheint über der Reling ein schwarzer, langhaariger Hundekopf. Das Tier blafft kläglich und verschwindet.

Ich klettere langsam empor. Chubur hält die Strickleiter straff. Meine Zähne beißen in den Kolben der entsicherten Pistole.

Aber sie ist hier überflüssig. Im roten Wiederschein des Abendhimmels sehe ich den schwarzen Pudel auf den Deckplanken liegen, zum Sterben matt. Er bewegt freudig die Rute, will sich erheben, fällt zurück. Er ist nach Löwenart geschoren, und seine Rippen drängen sich durch die Haut wie die Spanten eines Leinwandkanus. Er hat gehungert, gedurstet – wie lange schon?!

Chubur erscheint neben mir, und die anderen Gefährten eilen hierhin, dorthin. Eine halbe Stunde drauf ist der Hund gesättigt und getränkt und weicht mir nicht von der Seite.

Die Brigg ist festgeklemmt zwischen den Klippen. Die haushohe Brandung tobt draußen am vorderen Riffkranz. Hier plätschern nur träge kleine müde Wellen.

Das Schiff ist leer. Es hat keinen Namen, keine Papiere, keine Besatzung. Der Name am Bug ist ausgekratzt. Sorgfältig hat man alles entfernt, was auch nur auf die Nationalität der Brigg hinweisen könnte. Im Laderaum nur Ballast, aber die Kajüten, das Mannschaftslogis vorn tadellos sauber und behaglich.

Wir acht sitzen in der Kajüte des unbekannten Schiffes und schmausen und zechen und werfen dem Pudel leckere Happen zu.

Der schwarze Pudel trägt ein Lederhalsband mit Messingplatte mit der Gravierung:

G. R. – s. l. E. 1926.

Auch das besagt nichts.

Chubur ergeht sich in seinem unmöglichen Kauderwelsch von Spanisch, Englisch und Französisch in phantastischen Vermutungen über die verlassene Brigg, die tadellos imstande ist.

Ich rauche eine der noch tadelloseren Zigarren des Kapitäns und sinne vor mich hin.

„Wir werden die Brigg nach Valdivia bringen,“ schlage ich vor.

Meine indianischen Freunde machen Gesichter wie Masken aus Stein. Ihre Strandpiratennatur wünscht die Reichtümer des Schiffes für die Siedlung am Gallegos. Für die Araukaner sind die Möbel der Kabinen, die Herde der Kombüse, die Aluminiumkessel und alles andere ein Vermögen. Obwohl sie über Schätze verfügen könnten, die, anderer Art, nun in den eisigen Höhen und Höhlen naher Gebirgskämme ruhen, für immer versperrt für fremde menschliche Hände. Dabei starb mein Coy, und was ich vor diesem Buche schrieb, hieß „Mein Freund Coy“. Heute schreibe ich nicht mehr auf elendem fasernden Papier, das durch lange Tagesritte beschafft werden mußte, heute habe ich echte gute Tinte und sogar mehrere Schreibmaschinen und ich sitze in einem der Wundergemächer der Insel von Stahl, und durch das dicke Glasfenster glotzen bunte Fische herein, zuweilen auch ein neugieriger riesiger Menschenhai, der seine Nase an der Glasplatte reibt und auf mein Manuskript zu blicken scheint. Und zu meinen Füßen liegt Ramses, der schwarze Pudel, wieder einziger Gefährte meiner Einsamkeit, nachdem das Glück mir wie ein Nebelreif entwichen ist.

… Abseits vom Alltag lebe ich wieder, mehr denn je … Einsamer bin ich, mehr denn je, und die Insel ist meine neue Heimat geworden. Aber bis zu dieser Insel hin ist’s ein weiter, seltsamer Weg voller Hindernisse, und meine Feder streikt, wenn ich daran denke, daß all diese weißen Bogen mit dem in der linken Ecke schimmernden blaßroten Druck noch gefüllt werden sollen … –

Chubur erklärte im Namen der anderen, nachdem er ihre ablehnenden Züge flüchtig studiert hatte:

„El Gento, Brigg Strandgut sein. Strandgut gehören uns … So sein. Wozu Valdivia, wozu lange Reise?! El Gento in Valdivia nur finden Polizei, Soldaten. Das nicht gut sein.“

Er grinste vielsagend.

Ich verstand seine Anspielung. Ich, Olaf Karl Abelsen, Ingenieur einst, aber noch immer belastet mit der Tücke eines Steckbriefes, als geflüchteter angeblicher Mörder, würde vielleicht in Valdivia die Mauern einer Zelle wieder kennenlernen mit Wanzen und Flöhen und Gefängniskost.

„Mich hat die Welt vergessen, Chubur, und diese neue Brigg aus Eisen ist ein Vermögen wert. Sie zu zerstören oder hier ausgeplündert verrosten zu lassen, widerstrebt mir. Wir werden für das Geld, daß sie uns einbringt, mehr kaufen können, als ihr ahnt, ein anderes Schiff und alles, was euer Herz sich wünscht. – Wir segeln …!“

Chubur knurrte ärgerlich. „Wann fahren?!“

„Sofort …! – Einer von uns kehrt mit dem Segelboot zum Gallegos zurück und meldet, daß wir anderen etwa drei Wochen fernbleiben werden.“

Dabei bleibt’s … Samsor, fast ein Greis, verabschiedet sich. Unser Boot gleitet mit ihm davon.

Wir bringen dann das kleinste der drei Boote der Brigg zu Wasser und legen eine Stahltrosse um die äußerste Klippe. Die Ankerwinde mit ihrem Motor pufft, die Trosse spannt sich straff, und als eine Woge das Schiff rüttelt, löst es sich durch die Kraft der Trosse aus seinem steinernen Dock und erreicht offenes Meer.

Die Brigg hat einen Sechszylinder-Hilfsmotor, amerikanisches Fabrikat. Brennstoff ist in Fülle da, und die peitschende Schraube führt uns durch die Brandung hinaus in die Weite des Pazifik.

Meine sechs Araukaner spielen Matrosen. So bin ich nun Kapitän eines namenlosen Schiffes, dessen Segel im matten Wind die Treibkraft der Schraube unterstützen.

Nach Norden geht’s. Immer nach Norden. Um Mitternacht lege ich mich schlafen. Chubur steuert. Zwei Mann wachen. – Um sieben, als längst die Sonne über der Brigg gleißt, trete ich verschlafen an Deck. Mein Blick irrt gen Osten. Dort müßte die Küste sichtbar sein. Ich sehe nichts. Ringsum ist nur offenes Meer, die freie, endlose See und die milde Wärme dieses Riesenteiches, der zwei Kontinente trennt.

Am Steuer hinter dem Kajütaufbau finde ich Chubur. Er hockt auf den Planken und schnarcht. Neben ihm liegt eine leere grünliche Flasche mit verlockender Etikette. Chubur verbreitet um sich einen intensiven Duft nach Schnaps. Das Steuer ist festgebunden, und der Kompaß belehrt mich, daß die Brigg nordwestlichen Kurs läuft …

Ein Fußtritt … Chubur schnellt hoch, taumelt, stiert mich aus rotgeäderten Augen an. Schuldbewußt, aber kopfschüttelnd löst er das Tau vom Steuer und redet allerlei, das mein Zorn nicht besänftigt.

Ich gehe mit dem Pudel, der mir auf Schritt und Tritt folgt, nach vorn, während Chubur mit einem riesengroßen moralischen und physischen Kater seine Pflicht als Steuermann erfüllt und die Brigg wieder gen Norden führt.

Und hier am Bug neben der Ankerwinde?!

Die Zornesröte steigt mir heiß ins Gesicht. Die beiden Wachen liegen betrunken am Boden …

Meine Stimme überschrillt die braunen Köpfe. Blöde Blicke starren mich an. Die beiden Araukaner haben mich von der Seite noch nie kennengelernt. Meine Vorwürfe sind berechtigt. Wenn auch diese Meeresbreiten wenig besucht sind, so hätte uns doch der dreckigste Guanodampfer in den Grund bohren können. Die Positionslaternen brannten nicht. Wer hatte sie gelöscht?! Wann haben Chubur und diese beiden Pflichtvergessenen die Whiskybuddeln geleert?!

„Wer löschte die Lichter?!“

Aber Chubur, Bild des Elends, kämpft gegen den rebellischen Magen, springt zur Reling, und sein Magen krempelt sich um. Dann sackt er hilflos in sich zusammen. Ein flehender Blick trifft mich, sein Gesicht ist aschgrau, und der Schweiß läuft ihm unter dem verwitterten Filz hervor. Er gleicht einem Sterbenden, und seine blauen Lippen, das Zittern seines Unterkiefers und das gräßliche Klappern der Zähne deutet auf mehr als nur Folgen überreichlichen Alkoholgenusses.

Ich schleppe ihn in die Kajüte, und er, der noch nie in seinem Leben Medikamente geschluckt, macht Bekanntschaft mit dem Inhalt des Medizinschranks der Brigg. Den beiden anderen geht’s ähnlich, aber ihre Pferdenaturen überwinden die bedrohliche Herzschwäche, und nach zwei Stunden schlafen sie und röcheln nicht mehr …

Chubur hat mir noch versichert, er habe lediglich die halbe Flasche ausgetrunken, und die beiden anderen schwören bei allerhand Heiligen, daß auch sie nicht so viel Feuerwasser sich eingepumpt, um in solchem Zustand zu geraten. Bestimmt hätten sie die Positionslaternen nicht gelöscht, und es sei mitten in der Nacht gewesen, als unüberwindliche Schlafsucht sie niederzwang.

Wir vier, die wir frisch und munter geblieben, haben alle Hände voll mit der Brigg zu tun. Der Wind bläst scharf, und das Schiff beweist, daß es seine vierzehn Knoten schafft.

Ich lehne am Steuer, und langsam gewinnt das Mißtrauen bestimmtere Formen und wird zum Verdacht.

„Chanaf!“ rief ich den Jüngsten herbei. „Chanaf, geh’ in den Raum hinab und durchsuche jeden Winkel, vergleiche auch die Dicke der Zwischenwände, ob irgendwo Platz für eine Geheimkammer. Es muß noch jemand außer uns und dem Hunde an Bord sein.“

Chanafs schlanke sehnige Gestalt taucht in der Vorderluke unter, deren Deckel er hochgestützt hat. Der Pudel schnüffelt auf dem Deck umher, zeigt seltsame Unrast, macht an der Luke halt und bellt hinab.

Oben in den Wanten hängen meine anderen beiden Matrosen, und knallend entfalten sich neue Segelflächen, die Brigg neigt sich, das Bugwasser schäumt und lärmt, und der Luftzug glättet meine faltige Stirn.

Vielleicht, sage ich mir, ist mein Verdacht doch unbegründet … Vielleicht war der Whisky eine Sorte jenes Teufelsgesöffs, das die Spritschmuggler den ausgedörrten Kehlen der trocken gelegten Yankees andrehen …

Dann überlasse ich das Steuer dem Riesen Manik, und beim Frühstück in meiner Kapitänskajüte überdenke ich das Rätsel der namenlosen neuen Brigg. Daß sie absichtlich von der Besatzung verlassen wurde, ist wohl gewiß. Weshalb aber?!

Mein Blick hängt an dem tadellosen Schiffschronometer, der leise tickt – ein Kunstwerk: Er zeigt auch Tage, Monate und Mondphasen an.

Darunter hängt das Barometer an der polierten Wand.

Die Uhr geht noch. Schiffsuhren pflegen für acht, vierzehn, auch dreißig Tage Gang eingerichtet zu sein. Ich erhebe mich und nehme den Uhrschlüssel und ziehe den Chronometer bedächtig auf. Ich kann den Schlüssel fünfzehn Mal drehen. Wann mag die Uhr vorletzt aufgezogen worden sein? Wie lange kann ein Hund ohne Wasser und Nahrung bestehen? Wann hat die Besatzung das Schiff preisgegeben?

Ich streichele den Kopf des Pudels, der soeben durch die offene Tür hineingekommen ist und sich an meinen Knien gescheuert hat.

Chanaf erscheint. „Nichts, El Gento,“ meldet er. „Nichts … Nicht einmal Ratten …“

Mittags stehe ich mit Chubur, der wieder bei Kräften, am Steuer …

„Chubur, wir müssen nachts sehr weit nach Westen abgetrieben sein. Die Küste ist noch immer nicht wieder in Sicht.“

Er nickt. Sein zerknittertes wildes Gesicht zuckt. Seine Wangenmuskeln spannen sich, entspannen sich. Wenn Chubur diese Freiübungen sich leistet, pflegt er scharf zu überlegen.

„El Gento,“ platzt er heraus, „ich nicht haben festgebunden nachts das Steuer … Ich schwören. Sein noch Mann an Bord … Sein versteckt … Werden nachts aufpassen, wir beide …“

Bis zur Dunkelheit geschieht nichts. Die Brigg segelt wie der Teufel. Aber die Küste ist noch immer nicht in Sicht.

Ich verteile die Wache. Von elf ab übernehme ich das Steuer, und Chubur wird vorn wachen.

Die Stunde ist da. In meiner Tasche des Lederrocks steckt die entsicherte Pistole. Der Mond leuchtet, und der Pazifik beschert mir eine traumhaft schöne Stunde. Ich lehne am Rade, zu meinen Füßen liegt der Pudel und schläft. In Lee gleitet ein Dampfer vorüber. Seine Rauchfahne zerflattert, seine Lichter grüßen und entschwinden.

Und mir kommen die Erinnerungen an Coy Cala, den die meuchlerische Kugel dahinraffte – an Nächte mit ihm in der Pampas auf jagenden Pferden … an Lagerfeuer, über denen eine Hirschkeule brozelte, an Coys kühne, herrische Augen … Mein Herz wird schwer. Zwei Wochen – da begruben wir ihn, den letzten Sproß des königlichen Geschlechts der Araukanerherrscher – ihn, den schlichten ehrlichen stinkenden Fischer und Jäger.

Wie Nebel umwölkt’s meinen Blick, der auf den erleuchteten Kompaß gerichtet ist.

Tiefe Müdigkeit löst mir die Glieder, eine unwiderstehliche Macht drückt mich zu Boden …

Als ich erwache, ist Chanafs Gesicht dicht über mir, und die Sonne scheint, und ich fühle mich zum Sterben elend.

Stundenlang kämpfe ich gegen immer wiederkehrendes Schwindelgefühl, und Chubur geht’s nicht anders. Dann schlafe ich ein, werde mittags munter und ziehe mich an und taste mich matt an Deck.

Chanaf deutet auf unseren Hund, der im Schatten der Reling liegt – mit offenem Maul, heraushängender Zunge und keuchender Brust.

„Steuer wieder festgebunden war,“ sagt Chanaf. „Hund auch krank … Lichter waren gelöscht.“

Ich nickte nur. Jetzt weiß ich: Wir sind nicht allein an Bord! Hier ist außer uns noch jemand, der ein höllisches Gas benutzt. Wir sind betäubt worden. Und der es tat, hatte die Brigg nachts wieder nach Nordwest gesteuert.

Wohin?! Wozu?! Wer?!

 

2. Kapitel.

Baron Sajo Hiruto.

„Chubur,“ sagte ich zu dem braunen Freunde, der auf dem Sofa der Kajüte sitzt und so schrecklich jämmerlich dreinschaut, „Chubur, wir müssen schlau sei … Der, der uns betäubte, strebt einem bestimmten Ziele zu. Fassen wir ihn ab, so werden wir dieses Ziel nie kennenlernen …“

Er schlürft seinen Tee und kaut ohne Appetit an dem Bratenstück. Die Brigg ist glänzend verproviantiert. Der Trinkwasserbehälter noch halb voll. All das reicht noch für Monate.

„Was tun, El Gento?“

„List gegen List … In der kommenden Nacht müssen die Wachen und der Steuermann, sobald sie das Gas spüren, sobald die Müdigkeit beginnt, langsam umsinken, bevor sie das Bewußtsein verlieren. Dann werden sie ja sehen, wer hier die Possen treibt, aber sich nicht rühren.“

Chubur grinst tückisch: „Ich dabei sein, El Gento …“

„Gut … Um elf Uhr werden wir beide wieder die anderen ablösen.“

Auch der Pudel hat sich erholt. Dennoch – er liegt in der Kajüte und verweigert Speise und Trank und schläft. Ihm ist die Nacht noch schlechter bekommen als uns.

Nun senkt sich neue Dämmerung über den Pazifik. Im Westen glüht der Horizont in feuriger Lohe, die Sonne schwindet, und die grellen Farben am Himmel mildern sich zu tiefem Violett. Die Nacht ist da.

Wir sieben, die wir hier auf dem namenlosen Schiff unbekanntem Ziele entgegensteuern, fühlen den Nervenkitzel des fremdartigen Abenteuers bis in die Fingerspitzen. Meine Araukaner sind aus dem Dämmerdasein ihres Alltags am Gallegos aufgepeitscht und wittern Blut, als ob es in den Pampas zur Pumajagd ginge. Ihre Nüstern vibrieren, sie gehen einher mit zugekniffenen Augen und angespannten Muskeln. –

Diesmal steht Chubur um elf Uhr am Steuer, und ich hocke vorn auf dem Deckel der Großluke und rauche und spüre mit geschärften Gedanken diesen dunklen Dingen nach.

Wolkenfetzen fegen über die Gestirne. Der Mond scheint matt durch ziehendes Gewölk.

Was wird geschehen?!

Wir haben tagsüber den Nordwestkurs beibehalten, nur jetzt steuert Chubur wieder Nordost, um den zu täuschen, der … kommen wird.

Der Wind pfeift unheimlich hohl in der Takelage. Drückende Schwüle treibt Schweiß aus den Poren, beengt die Brust und läßt das Herz hämmern. Wir müssen in diesen drei Tagen recht weit nördlich gelangt sein – wie weit, ist kaum abzuschätzen. In diesen Breiten gibt es jedenfalls keine Schiffsroute. Den ganzen Tag sahen wir auch nicht ein einziges Fahrzeug.

Ich bin allein, nicht einmal der Hund ruht neben mir. Armer Kerl – ihm geht’s in Wahrheit hundeelend.

Im Westen schiebt sich eine schwarze Wolkenwand hoch. Greller Schein leuchtet über sie hinweg, und bald zeigen die Blitze ihre zackige Feuerbahn, tiefes Grollen faucht über die See, und die Finsternis verschluckt alles. Nur die Wogenkämme nahen wie weiße Striche … gleiten vorüber … neue kommen … ein Spiel ohne Unterlaß.

Wir fliehen vor dem Gewitter, das langsam verklingt.

Und da – es mag Mitternacht sein – spüre ich wieder die Nebel vor den Augen …

Also doch!!

Ich rutsche vom Lukendeckel, täusche Anstrengungen vor, mich aufzurichten, wälze mich auf die Seite, halte den Atem an und liege still. Wenn Chubur ebenso gut Komödie spielt, werden wir heute wohl den Burschen zu Gesicht bekommen, der uns das geruchlose Gas irgendwie ins Gesicht bläst. Nur schade, daß diese Finsternis so wenig erkennen läßt … Ich blinzele durch die vorsichtig zugekniffenen Lider und atme behutsam. Ich höre das Gleiten eines Körpers, höre Stimmen …

Und beiße mir auf die Lippen …

Täuschung?! Ein Weib?

„… Erst ihn, Hiruto … Wo hast du die Stricke?“

Oho – – Stricke?! – Das ist gegen das sonstige Programm!

Dieselbe Stimme flüstert:

„Er ist der letzte, Hiruto … Wir haben gewonnenes Spiel …“

Ich begreife sofort: In dieser Nacht soll es uns ernsthaft an den Kragen gehen! Wir müssen also dem Ziele wohl recht nahe sein.

Eine Hand fährt mir den Arm hinab, eine andere will mich auf den Rücken legen …

Wenn ich nicht ein volles Jahr mit Coy Cala die Pampas durchstreift und im schwankenden Boot gegen Sturm und Wogen gekämpft hätte, wären meine Fäuste kaum zu Schmiedehämmern geworden.

Ich schnellte empor, zwei Schreie, zwei blitzschnelle Schläge, der eine gegen ein menschliches Kinn, der andere gegen eine weiche Brust – – noch zwei Hiebe, und zwei Gestalten poltern auf die Planken.

„Chubur!!“

Er kommt herbei …

Er bückt sich … Ich bücke mich, schnüre dem einen die Hände zusammen, schleife meine Beute in die Kajüte …

„Chubur – zurück ans Steuer!!“

Die Brigg schlingert, die Segel knallen, aber sie kommt wieder in Fahrt, und ich hole mir den zweiten Burschen, mache in der Kajüte Licht und mustere die Gefangenen.

Herr Hiruto ist ein kleiner, magerer Japaner im blauen fleckigen Heizeranzug, ein älterer Kerl mit einem von Falten zerkerbten Gesicht. An seinem Kinn rinnt Blut herab, seine Unterlippe ist eine dicke blaue Pflaume geworden, über der ein halb herausgeschlagener Zahn an einem Gaumenfetzen baumelt.

Dann der zweite …

Wenn ich die helle, weiche Stimme nicht gehört hätte, würde mich dieses mit Kohlenruß und Öl beschmierte Gesicht, diese dreckige, fest ins Genick gezogene Kappe und dieser Heizeranzug, der viel zu weit, wohl getäuscht haben, da auch die Hände ebenso schwarz hergerichtet waren.

Ich ziehe ihr die Kappe ab, und blondes Haar quillt hervor, Frauenhaar, natürlich gewellt, kurz geschnitten, ein reizender Bubikopf.

Meine Freunde am Gallegos haben mich El Gento getauft, haben das Wort Gentleman auf ihre Art verstümmelt und mich so geehrt: El Gento!

Ich besinne mich auf Kavalierspflicht auch einer Feindin gegenüber, hebe die Blonde auf das Sofa und empfinde etwas wie Reue, daß ich so derb zugeschlagen habe.

Chubur taucht da in der Tür auf. Die Neugierde hat ihn das Rad festbinden lassen. Er wirft einen Blick über den Japaner und stiert die Blonde erstaunt an. Dann verschwindet er wieder, macht nur eine Handbewegung, die mir andeuten soll, daß er zwei gutsitzende Messerstiche in diesem Falle für das einzig richtige Verfahren hielte.

Chuburs kurzer Besuch erinnerte mich rechtzeitig an die fünf Gefährten im Vorschiff, die doch im Schlaf zuerst betäubt worden waren und die in ihrem immerhin engen Logis das Gas vielleicht zu lange einatmen mußten. Mich packte die Angst. Ich überzeugte mich rasch, ob die Fesseln der beiden in Ordnung und eilte zum Vorschiff, fand, was ich befürchtete, trug sie einzeln nach oben und nahm ihnen die sehr eng geschnürten Stricke ab. Dem Riesen Manik hatte das Gas am wenigsten geschadet, er kam in der frischen Luft sehr bald zu sich, erbrach sich nur einmal und löste Chubur am Steuer ab.

Chubur brachte Wasser, Seife, einen Schwamm und Handtücher herbei. So wurde denn zunächst das Gesicht der bewußtlosen Frau gründlich gesäubert. Was unter der Schicht von Ruß und Fett und Staub zum Vorschein kam, war das liebliche junge Antlitz eines jungen Mädchens …

Ich lehnte am Tische. Ich schaute in diese weichen Züge, und in meinem Herzen wurde das Bild einer anderen lebendig, die mir einst Jugendgespielin gewesen und die mir dann Gefährtin jener abenteuerlichen Fahrt ins Ungewisse wurde, mit der mein Daseinsweg den Ausgangspunkt an der Gallegosbucht fand …

Es war nur eine Ähnlichkeit, und doch rührte sie meine Seele bis ins Tiefste auf.

Das Mädchen öffnete plötzlich die Augen. Ein ratloser Blick rundum, ein schmerzliches Stöhnen und ein leiser, leiser Schrei des Schrecks, als ihr klar wurde, daß das Spiel für sie verloren.

„Wer sind Sie?“ fragte ich in englischer Sprache, die auch sie dem Jap gegenüber benutzt hatte. Meine Stimme mochte Chubur wohl zu nachsichtig geklungen haben.

Er lachte hart. In seiner braunen Faust blinkte das breite Jagdmesser.

„He – wer sein?!“ rief er drohend. „Reden – – sonst!!“

Seine grimmen Züge ließen die Blonde noch tiefer erbleichen. Ein Beben ging über ihre Gestalt hin. Ihr Blick suchte den meinen. Ich lächelte ein wenig, und sie flüsterte mit langem Aufatmen:

„Oh, fragen Sie nichts, mein Herr …! Wir waren in einer Notlage …“

Ein schmerzliches Zucken lief über das feine Gesichtchen.

„Haben Sie Schmerzen?“ – ich beugte mich über sie, – hinter mir stampfte Chubur wütend mit dem Fuße auf.

„Ja … Schmerzen …“ hauchte sie …

„Wo?“

Sie errötete und schloß die Augen.

Unter dem blauen Heizerkittel wölbte sich die junge Brust, … und ich wußte, wo ich leider getroffen hatte.

„Verzeihen Sie …“ sagte ich. Ich konnte nicht anders. Diese wundervollen Augen waren für mich erneute Qual der Erinnerung.

„Verzeihen Sie mir …“ und ich knotete ihr die Fesseln auf und richtete sie sanft empor.

Hinter mir stampfte Chubur zur Tür hinaus und warf sie ins Schloß.

Das Mädchen tastete nach meinen Händen … Ihr Atem traf mein Gesicht, und der Duft ihres Haares war wie eine feine Wolke der Sehnsucht um mich und meine Gedanken an die andere.

Sie schaute mich groß an, ihre Augen umkrampften die meinen, und ihre Stimme bat in rührendem Schluchzen:

„Fragen Sie nichts … Wir mußten so handeln … Wir … wir …

Sie schwieg, und ihr Blick glitt zu dem Japaner hin, der mit einem Male emporgeschnellt war.

„Hiruto …!“ rief sie befehlend …

Der kalte Haß in den Augen des kleinen sehnigen Jap erlosch, seine zusammengeknickte, angriffslustige Gestalt sank auf den nächsten Stuhl.

Tiefe Stille folgte, und nach einigen Minuten zweideutigen Schweigens, in denen ich mich zu mir selbst zurückgefunden, sagte ich, jede Rücksicht ausschaltend:

„Ich bedauere, Miß – Sie werden sprechen müssen. Die Dinge hier auf der Brigg liegen so, daß ich selbst eine Frau nicht schonen kann. Ihre nächtlichen Gasattentate, Ihre ebenso kühne wie schlaue Art, das Schiff nachts gen Nordwest zu steuern, erheischen restlose Klärung. Bedenken Sie, daß ich der einzige Weiße an Bord bin und daß meine Gefährten halbwilde Indianer aus der südlichsten Ecke von Chile sind, die ein sehr primitives Gerechtigkeitsgefühl besitzen und …“

Hiruto warf in merkwürdig fließendem Englisch, das kaum einen fremden Akzent verriet, und mit vollendeter Höflichkeit ein:

„Mein Herr, wir werden uns einigen. Gewiß, wir haben Sie und Ihre Freunde wenig angenehm behandelt.“ Das Sprechen fiel ihm sichtlich schwer. Der Unterkiefer war zweifellos nicht ganz intakt. „Es gibt jedoch Verhältnisse, mein Herr, die stärker sind als wir selbst. Betrachten Sie uns nicht als Ihre Feinde. Die Miß und ich wünschen mit Ihnen im guten auszukommen …“

Er blickte das Mädchen an, und bevor ich noch die Heimtücke durchschaute, hielt mir die Blonde eine kleine schwarze Pistole entgegen …

Ihr Gesicht war seltsam verändert, die weichen Linien waren wie weggewischt …

„Rühren Sie sich nicht …!“ flüsterte sie hastig. „Bei Gott – ich schieße Sie nieder! Ich schone Sie nicht!“

Der Japaner hatte mit verblüffender Gelenkigkeit seine Hände aus den Schlingen gedreht und ebenso rasch eine Pistole hervorgezogen, schlich zur Tür, schob den Riegel vor und wandte sich mir zu.

„Mein Herr, das Blatt hat sich …“

Diesmal unterbrach der Pudel, der bisher matt und teilnahmslos in seiner Ecke gelegen hatte, die weitere Aussprache. Er hatte sich erhoben und näherte sich leise winselnd und mit freudig pendelnder Rute dem Sofa, war mit einem Satz auf dem Schoße des Mädchens, legte ihr die Vorderpfoten auf die Schultern und schmiegte seinen Kopf an ihre Wange, wobei er ganz sonderbares dumpfes Knurren hören ließ.

Das Mädchen schien alles ringsum zu vergessen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, sie umschlang den Hund, preßte ihn an sich und rief schluchzend:

„Ramses, Ramses, vielleicht haben sie unseren Gorry getötet!“

Ihr Schluchzen ging in ein besinnungsloses Weinen über.

Hiruto hüstelte mahnend. Es half nichts. Seine Pistole hatte andauernd die Richtung auf meine Stirn.

„Mein Herr,“ sagte er mit derselben Höflichkeit, „ich hoffe in der Tat, wir werden zu einer gütlichen Verständigung gelangen. Meine Bedingungen sind durchaus annehmbar. Ich zahle Ihnen und Ihren Freunden sofort 50 000 Dollar in Banknoten, wenn Sie umgehend mit dem Großboot, das ebenfalls einen Motor hat und ein Deck besitzt, das Schiff verlassen. Weigern Sie sich, so sehe ich mich zu meinem Bedauern gezwungen, Sie niederzuschießen, und meine Leute, die noch unten im Raum unter den Ballastsäcken stecken und vielmehr bereits auf der Lauer liegen, werden Ihre sechs Araukaner durch Gas unschädlich machen und ins Meer werfen. Ich bin durchaus kein Freund von derartigen Gewaltmaßnahmen, aber wie gesagt: die Miß und ich haben Eile, ohne Sie unser Ziel zu erreichen. Uns ist jede Stunde kostbar. Entscheiden Sie sich schnell. Ich gebe Ihnen genau eine Minute Zeit, dann drücke ich ab.“

Seine Züge bewiesen, daß er nicht scherzte und daß mein Leben ernstlich bedroht war.

Er begann leise zu zählen, ohne mich aus den Augen zu lassen, und in seine geflüsterten Zahlen mischte sich das Weinen des Mädchens und des Hundes freudetolles Knurren.

„… fünfunddreißig … sechsunddreißig …“

Ich überlegte …

Sieben Menschenleben standen hier auf dem Spiel. Ich war wehrlos … Meine Pistole steckte in meiner Lederjacke.

„… einundfünfzig … zweiundfünfzig …“

Ich sah in des Gegners Augen eisige Entschlossenheit …

„… sechsundfünfzig …“

Gab es kein Mittel, die Lage zu unseren Gunsten zu ändern?!

„… achtundfünfzig …“

Seine Hand krallte sich fester um die Waffe … Er kniff die Augen noch kleiner …

„… neunundfünfzig …“

Urplötzlich fuhr ein Blitz durch die weit offene Oberlichtscheibe herab …

Chuburs Jagdmesser traf das Handgelenk des Japaners, fuhr durch die Fleischteile, zerschnitt die Adern, der Schuß knallte, die Kugel schlug in die Wand, und ein blitzschneller Sprung und Fausthieb schleuderte Hiruto gegen den Schreibtisch … Eine Gestalt glitt durch das Fenster, fiel elastisch auf den Tisch vor dem Sofa und riß dem Mädchen die Waffe aus der Hand.

Chubur stierte mich an. „El Gento, Sie Narr sein …“ sagte er mit jener frischen Grobheit, die auch Coy stets besessen hatte.

Dann nahm er den Jap beim Genick, riß ihm das Messer aus der Wunde und drehte dessen Arm so, daß das wie eine Fontäne spritzende Blut gegen die Wand rieselte.

„He, du … wie heißen Miß, he?! Du reden, du!! Sonst sterben!“

Das Mädchen stieß Ramses vom Schoße herab und bat zitternd:

„Mein Herr … mein Herr … ich … ich heiße – … ich … ich … darf nichts sagen – ich …“

Hirutos Stimme fiel ein:

„Miß Ellen, ich denke, wir schließen mit den Herren Frieden … – Die junge Dame ist Ellen Duncam, ich selbst Baron Sajo Hiruto … – Bitte, binden Sie mir den Arm ab, damit ich nicht verblute.“

 

3. Kapitel.

Eine Wendung.

Für Chubur waren Namen leerer Schall. Was wußte er von einem „Baron“?! Seine finstere Miene blieb. Er hatte auch keinerlei Verständnis dafür, ob jemand im dreckigen Heizerkittel die Umgangsformen eines feingebildeten Mannes verriet. Sein Wertmesser für Menschen war äußerst einfacher Konstruktion. Ein Weib, das die Haut eines Pampashirsches weich wie feinsten Wollstoff zu gerben und sauber genähte und verzierte Jagdanzüge, Decken und anderes daraus zu fertigen wußte, – die taugte was. Ein Mann, der vom Gaule fiel, der nicht seines Schusses sicher und das Jagdmesser nicht auf zwanzig Meter unfehlbar treffend schleudern konnte, war für ihn eine triefäugige Mamini, ein verblödetes Urgroßmütterchen. Er grinste Hiruto an und sagte:

„He, du – wie heißen Schiff? Wohin Schiff? Woher Schiff? Das wichtiger sein …“

Dennoch umspannten seine Finger des Japaners Unterarm noch fester, und die taktmäßig spritzenden Adern versiegten.

Ellen Duncam warf mir einen flehenden Blick zu.

„Chubur,“ befahl ich, „binde den Arm ab!“

Meine Freunde vom Gallegos haben ihr eigenes Strafvollzugsrecht. Chubur schüttelte den Kopf. „El Gento, Sie sein vor Weiberaugen selbst Weib,“ grollte er. Wenn er mit mir einig, nannte er mich du. Kamen Stunden gegensätzlicher Ansichten, wurde er offiziell. Dann nannte er mich Sie. Leicht zu behandeln waren sie alle nicht, diese freien Araukaner. Unter ihren tran- und blutbeschmierten Lederröcken schlugen stolze Herzen. Sie waren keine Diplomaten, und ihr Temperament ging nur zu oft durch. Dabei besaßen sie jenes instinktmäßige Hineinfühlen in die Gedanken und Seelenschwingungen anderer, das so vielen Naturvölkern eigen. Seine Anspielung auf den seltsamen Eindruck, den Ellen Duncams Ähnlichkeit mit dem Weibe meiner Liebe auf mich gemacht hatte, war ihm nicht entgangen. Ich merkte, daß ich rot wurde. Er deutete dies anders und lenkte ein.

„El Gento, du nicht vergessen, daß die hier uns beinahe getötet! Mann hier lügen werden, wenn Blut nicht spritzen wie heiße Quelle auf Wellington-Insel. Mann erst reden …“

Es war ein unverzeihlicher Fehler von mir, daß ich es zuließ, daß der Japaner in Gegenwart Ellens sein Geständnis vorbrachte. Hätte ich damals schon geahnt, was unserer noch wartete, würde ich mißtrauischer gewesen sein. Allerdings fiel mir auf, mit welcher Hast Hiruto nun die Sätze hervorsprudelte, was zu seiner bisherigen weltmännischen Ruhe in bedenklichem Gegensatz stand.

„Mr. El Gento,“ begann er ohne jede weitere Aufforderung, „unsere Erlebnisse sind im Grunde sehr einfach, wenn auch abenteuerliche Momente nicht fehlen. Ich bin Eigentümer einer Reederei in Yokohama. Mein Freund Harry Duncam besuchte mich dort mit Ellen, seiner Tochter, und da gerade die Brigg reisefertig, unternahmen wir einen Ausflug nach Honolulu, wurden aber durch Sturm weit nach Südost verschlagen, sichteten schließlich eine kleine Insel und ergänzten dort unser Trinkwasser. Als gerade nur Ellen und ich an Bord der Brigg waren, überfiel eine Schar gut bewaffneter Insulaner die übrigen und suchte die Brigg zu entern. Ellen und ich flüchteten mit dem Schiff, gerieten abermals in ein Sturmzentrum und wurden nachts dorthin verschlagen, wo Sie uns fanden. Wir verbargen uns im Laderaum, und … das Weitere wissen Sie …“

Daß mich dieser Bericht nicht befriedigen konnte, war selbstverständlich.

„Wer ist Gorry?“ fragte ich.

„Ellens Bruder Georg …“

„Wie heißt die Brigg?“

„Sajo Maru …“

„Weshalb haben Sie alle Schiffspapiere vernichtet und überall den Schiffsnamen entfernt?“

Hiruto lächelte dünn …

„Wir, Ellen und ich, wollten die Brigg im Boot verlassen. Mir lag daran, daß, falls sie entdeckt würde, nicht bekannt würde, welcher Unstern über dieser ersten Fahrt gewaltet hatte. Man ist sehr abergläubisch bei mir daheim. Ich hoffte, mich im Boot mit Ellen zu retten und die Brigg später in aller Stille abschleppen zu können.“

Mein Blick lag fest auf seinem künstlich verschmutzten intelligenten Gesicht. Er hatte eine hohe, eckige Stirn, und wenn man seine Züge zergliederte, mußte man den Eindruck gewinnen, daß in diesem kleinen sehnigen Japaner eine ungeheure Tatkraft stecke. –

Ich habe die Methoden eines Untersuchungsrichters genügend am eigenen Leibe erfahren. Meinem Ingenieurberuf lagen kriminelle Dinge völlig fern. Hier wurde ich Detektiv. Ich bohrte weiter.

„Wenn Ihre Angaben stimmen, Baron, – weshalb vertrauten Sie sich uns nicht offen an? Weshalb das Gas? Woher dieses Teufelszeug? Man schleppt doch Vergasungsapparate nicht mit auf eine Vergnügungstour?!“

Hiruto deutete eine Verbeugung an. „Ihre Zweifel, Mr. El Gento, sind begreiflich. Die Brigg war schon auf der Werft von Ratten verseucht. Wir brauchten die beiden Apparate gegen die Ratten.“

Jetzt lächelte ich. „Ratten vertilgt man nicht mit einem Gas, das im Grunde nur betäubt.“

Wieder verneigte er sich. „Die Stahlflaschen wurden vor der Ausfahrt leider verwechselt.“

Er hatte für alles eine Erklärung bereit. Aber – so leicht sollte er doch nicht durchschlüpfen.

„Der Pudel war halb verhungert, Baron. Weshalb haben Sie ihn nicht gefüttert?! Wie lange lag die Brigg dort zwischen Insel und Klippen festgeklemmt?“

„Ramses verweigerte jede Nahrungsaufnahme. Er bangte sich nach Georg Duncam, seinem Herrn.“

„So?! Merkwürdig nur, daß er aus meiner Hand jeden Bissen annahm – Baron, Sie lügen!“

Er wiegte mißbilligend den Kopf. „Ich lüge nie … Ihr Vorwurf ist eine Beleidigung, Mister El Gento. Fragen Sie doch Ellen … Im übrigen: Wir haben vier Tage an den Klippen gelegen … Fragen Sie Ellen …“

Er hatte gut reden! Ellen wußte nun, was sie zu sagen hatte. Ich blickte sie an, und sie … streichelte Ramses’ Kopf und nahm keine Notiz von mir.

„Sie wollten also mit der Brigg die kleine Insel wieder ansteuern, Baron?“ begann ich von neuem.

„Ja. Wir hätten uns Ihnen gezeigt, wenn wir Sie nicht für Strandräuber gehalten hätten. Verzeihen Sie, Ihr Äußeres wirkt ein wenig wild, Mr. El Gento.“

„Nun gut … Wie hofften Sie denn eine einzelne Insel im Pazifik zu finden, die Sie nur zufällig entdeckt haben wollen?!“

„Wir mußten es doch wenigstens versuchen … Unsere Freunde sind dort in der Gewalt der Insulaner. Es war Pflicht, ihre Befreiung mit aller Energie zu betreiben.“

„Ja – Energie haben Sie, das glaube ich.“

Sollte ich noch weiter fragen?! Hiruto gegenüber hieß es, mit gleichen Waffen kämpfen. Er log mit echt asiatischer Kaltblütigkeit. Er würde auch weiter die Tatsachen verschleiern. Es hatte keinen Zweck, ihn etwa zwingen zu wollen, die Wahrheit einzugestehen. Er würde dies niemals tun, selbst dann nicht, wenn wir sein Blut aufs neue die polierte Wand besudeln ließen.

Ich fügte hinzu: „Baron, Ihre Angaben erscheinen widerspruchsvoll, aber immerhin auch glaubwürdig, denn es läge ja für Sie kein Grund vor, uns zu täuschen. Wir werden Ihnen helfen. Die Insel muß doch auf einer Seekarte zu finden sein, und das Kartenmaterial Ihrer Brigg ist vorzüglich.“ Ich deutete auf den Kartenständer.

„Allerdings,“ nickte er. „Heutzutage gibt es keine Insel auf den Weltenmeeren, die nicht vermerkt wäre. Jede Klippe ist festgelegt. Aber … das Eiland dort im Westen ist nicht eingezeichnet, und das ist das sonderbare. Ich bin nicht nur Großreeder, ich bin auch Seemann, Mr. El Gento. Ich betone: die kleine Insel war bisher völlig unbekannt.“

„Dann kann es sich nur um ein Gebilde vulkanischen Ursprungs handeln.“

„Mag sein. Die Insel besaß keinerlei Pflanzenwuchs, war nur ein wüster Haufen von Felsen, faulenden Seepflanzen und verwesenden Fischen. Aber eine Quelle klaren Süßwassers fanden wir trotzdem.“

„Wir wollen später die Einzelheiten erörtern,“ lenkte ich ab. „Ich werde Sie nun verbinden …“

Freund Chubur hatte sich zuletzt auffällig schweigsam verhalten. Aus seinen ehernen Zügen war schwer herauszulesen, was er zu alledem zu sagen hatte. Seine scheinbare Gleichgültigkeit machte mich stutzig. Als ich aus der Schiffsapotheke das Nötige herbeiholte und nun auch Ellen Duncam sich erhob und mir geschickt half, verschwand er lautlos aus der Kajüte. Unbestimmte Sorge beschlich mich, daß er womöglich die Araukaner aufwiegeln und mir das Spiel verderben könnte.

Das Abbinden der Adern nahm eine reichliche halbe Stunde in Anspruch. Viel gesprochen wurde dabei nicht. Der Baron verzog keine Miene, obwohl es ohne Schmerzen nicht abging, und Ellen schien bedrückt und verlegen und zog sich nachher sofort in ihre Kabine zurück. Die Brigg besaß deren vier, außer der Kapitänskajüte und den Seitenkammern. All diese Räume lagen im Heckaufbau. Die Kabinen hatten ihren eigenen Zugang vom Hinterschiff aus. Der Baron, den Arm in der Schlinge, wollte mich an Deck begleiten. Ich riet ihm, sich besser auszuruhen. Seine Kabine lag der Ellens gegenüber.

Die Nacht war im Schwinden. Als ich das erhöhte Heck betrat, lehnte Chubur, eine Zigarre im Munde, am Steuer. Neben ihm saß Chanaf auf der Reling. Mein Blick überflog prüfend ihre Gesichter.

Chubur zog die Mundwinkel herab und begegnete meinen Augen mit einem hochmütigen Grinsen.

„Alles Lüge,“ knurrte er … „El Gento etwa Binde vor Augen haben?!“

„Ach nein, mein lieber Chubur,“ erwiderte ich leise. „Der Japaner log wie gedruckt. Wir tun jetzt dasselbe und geben uns den Anschein, als ob wir ihm glauben. Nur so werden wir hinter seine Geheimnisse kommen.“

In Chuburs schwarzen Augen blinkte es freudig. Er drückte mir die Hand. „El Gento, gut so … gut so …!! – Insel – – alles Lüge, – auch Namen Lüge …! Brigg nicht sein von Japan … Amerikanische Motoren, amerikanischer Kompaß, – – alles Lüge! Wir aufpassen, sein gefährlich die beiden!“

Ich setzte mich neben Chanaf. Im Osten wölbte sich schon über dem Horizont der helle Bogen des nahenden Tages. Das seltsam bleigraue Licht der ersten Dämmerung hatte etwas Beklemmendes.

„Der Japaner wollte, daß wir nach Westen steuern,“ sagte ich mit einer Handbewegung, die meine Zweifel unterstrich. „Steuere Nordwest, Chubur … Er lügt. Wenn es eine Insel hier in der Nähe gibt, liegt sie dort …“

„Kurs genau Nordwest,“ meinte Chubur nur und schob die Zigarre in den anderen Mundwinkel. „Wir nun schlafen, El Gento … Chanaf steuert, und Manik mit Büchsen vorn bleiben … Das genügen … Manik schießen und treffen.“

Ich gähnte. „Mögen Sie merken, daß wir mißtrauisch sind. – Wo sind die Gasapparate, Chubur?“

„Vorn, wo unsere Kojen, El Gento. Werden immer im Auge behalten … So was noch nicht kennen …“ Er krauste die mächtige Stirn. „Das gut sein, wenn wirklich Insel geben und Insulaner und Kämpfe …“ Er entblößte die Oberzähne, so stark zog er die Lippe im Vorgefühl ernster Zwistigkeiten hoch. „Vielleicht wirklich Insel vorhanden. Vielleicht …“ Er strich gewohnheitsgemäß die blaurote lange Narbe entlang, die von seiner linken Schläfe bis zum Kinnabsatz hinablief. „Narbe jucken, El Gento … Riechen Pulver …“ Er lächelte versonnen. Er dachte wohl flüchtig an die Kugel, die ihm im Liegen diese Furche durch die Visage gekerbt hatte.

Chanaf griff in die Radspeichen, und ich schritt der Hintertür des Deckaufbaus zu. Die vier Kabinen lagen rechts und links von einem schmalen Mittelgang. Geradeaus war eine fünfte Tür, Bad und Toilette. Bisher hatte ich in der Kapitänskajüte geschlafen. Sie war jedoch noch nicht von Hirutos Blut gesäubert worden, und so hatte ich einen guten Vorwand, mich neben Ellen für jetzt einzulogieren.

Ich hatte den Gang sehr leise betreten und die Gangtür ebenso leise geschlossen. Der Kokosläufer war dick, und meine Stiefel, Marke Araukania vom Gallegos, waren weicher als Morgenschuhe. Ich blieb stehen und horchte. Das Mißtrauen gegen Ellen und den Japaner war noch stärker geworden – nur dadurch, daß Baron Hiruto die Insel plötzlich nach Westen verlegt hatte. Dabei hatte er die Brigg doch nachts regelmäßig nach Nordwest laufen lassen. Wir sollten also die Insel nicht finden. An ihrer Existenz zweifelte ich nicht mehr.

Ich horchte. Rechts neben mir war Hirutos Kabinentür. Ein Wispern von Stimmen erreichte mein Ohr. Ich drückte den Kopf an das kühle Mahagoniholz, und ich verstand einige Brocken, die jedoch keinerlei Zusammenhang ergaben. Der Japaner sprach offenbar sehr eindringlich auf Ellen Duncam ein. Sie schien anderer Ansicht, ich vernahm ihr Schluchzen, dann rief der Baron halblaut:

„Ihr Vater würde lieber sterben als dieses Geheimnis preisgeben!!“

Pause …

Und nun Ellen – heiser, schrill, wie in quälender Angst:

„Ohne El Gento und die Araukaner erreichen wir nichts, wir beide! Und Gorry ist doch …“

Ihre Stimme sank, von Tränen erstickt, und mich trieb’s weiter in die Kabine 4. Ich hatte genug gehört.

Ich trat lautlos ein. Wir hatten auch diesen Raum schon gründlich durchsucht. Er enthielt zwei Klappbetten und gefällige Möbel. In dem eingebauten Schranke hingen verschiedene Herrenanzüge, lag Herrenwäsche, andere Kleidungsstücke. Der Waschtisch war mit Dingen belegt, die einem Kulturmenschen Bedürfnis: Tuben, Bürsten, Büchschen, Handspiegel, Rasierapparat. – Das Fenster ging nach der Steuerbordseite hinaus, hatte dicke, bleigefaßte Scheiben und außen ein Gitter von zierlicher Form.

Ich warf mich auf das Bett. Durch das Fenster fielen schräg die ersten Strahlen der Morgensonne herein. Ich war müde und abgespannt. Wir hatten schwere, unruhige Tage hinter uns und vielleicht würde die Zukunft noch höhere Anforderungen an meinen Körper stellen. Ich wollte einschlafen. Es wurde nur jener peinvolle Zustand von halbem Wachsein, in dem das geringste Geräusch die gereizten Nerven ins Schwingen bringt. Ich fuhr hoch. Nebenan bei Ellen bellte Ramses, der mich jetzt vergessen hatte. Ich vernahm des Mädchens Stimme, die den Hund zur Ruhe verwies. Es wurde wieder still.

Und … ich fuhr abermals empor, starrte auf die helle, berückende Erscheinung dort in der geöffneten Kabinentür

… Ellen in einem weißen Leinenkleide, um den Kopf einen golddurchwirkten Schleier gewunden, – – die Dame Ellen, Kind der großen, fernen Welt, die ich mied.

„Ah, – verzeihen Sie, Mr. El Gento … Ich wußte nicht, daß Sie …“

Ich stand vollends auf.

Sie ahnte nicht, weshalb ich sie wie ein Gespenst anstierte. Jetzt glich sie Gerda Arnstör, meiner großen Liebe, so überraschend, daß ich einen brennenden Schmerz in der Brust empfand. Jene Wunde war doch noch nicht vernarbt – trotz all der wilden, tollen Monate eines wechselvollen Erlebens an der Seite Coys …

Und Coy war tot. Wohl ihm. Und ich lebte. Und wieder führte mir das Schicksal hier höhnend eine Frau in den Weg, deren Tun und Lassen genauso zweifelhaft erschien wie das jenes schmierigen alten Weibes, hinter deren Maske sich Gerdas liebreizende Züge verborgen hatten.

Doch – die weiche, weichliche Regung wich, und Ellen Duncam war für mich nur noch ein bedrohliches Fragezeichen, Gefährtin eines Japaners, dem ich so ziemlich alles zutraute.

Sie prüfte mein Gesicht mit verlegenem Tasten. Ich sagte nur: „Was wollten Sie hier?!“

„Gorry … bewohnte diese Kabine …“

„Er muß ein sehr zärtlicher Bruder sein, Miß. In der Brusttasche einer seiner Jacken steckte Ihr Bild …“

Rote Lohe schlug ihr in die Wangen. Aber ihr Blick scheute den meinen nicht.

„Gorry … ist mein Verlobter, Mr. El Gento,“ erklärte sie leise. „Baron Hiruto hätte nicht nötig gehabt, dies zu verheimlichen … Es war eine Torheit von ihm. Georg heißt mit vollem Namen Lord Georg Kentville, und mein Vater Lord Duncam Sussex …“

Ich fuhr wie zerstreut mit der Hand über die Augen. Es war eine Bewegung, die eine trügerische Hoffnung verscheucht.

„Ich wünschte, dies wären Hirutos einzige Lügen,“ meinte ich angriffslustig. „Bitte, treten Sie ein, Miß … Sie werden mir die Wahrheit eingestehen, oder …“

Ihr tiefes Erblassen warnte mich. Um ihren Mund erschienen harte Linien.

„Von mir erfahren Sie – nichts!“ Ihre Stimme zitterte leicht. „Seien Sie klug … Hören Sie auf mich … Verlassen Sie die Brigg mit dem Großboot … Die Insel wird Ihnen das Leben kosten und … es ist wahrlich schon genug Blut geflossen …“ Die letzten Worte nur ein Hauch … Aber wie ein Eiseshauch, denn Ellens Züge drückten eine Angst aus, die nicht Komödie war.

Dann schloß sie leise die Tür – von außen, und ich war wieder allein.

 

4. Kapitel.

Der grüne Zweig.

Chubur stand neben meinem Bett und rüttelte mich.

„He – El Gento, du genug schlafen … Sturm kommen … Brauchen dich oben an Deck.“

Ich war also doch schließlich hinübergeglitten in das Land der Träume, und in diesem Reiche der Unwirklichkeit hatte ich mit Gerda Zwiesprache gehalten, und Gerdas und Ellens Gesicht waren ineinander verschmolzen.

Chubur wiederholte drängend: „Böser Sturm kommen … Japaner alle Segel reffen lassen … Er guter Kapitän …“

Ich sprang empor und taumelte. Die Brigg rollte schwer. Ich hörte Sturzseen über die Reling klatschen, ich hörte das Tauwerk im Winde pfeifen und die Masten mißtönend knarren.

Wir gingen nach oben. Der Himmel war pechschwarz. Die Dunkelheit täuschte tiefe Nacht vor, und doch war’s erst Mittag.

Am Steuerrade lehnte der Japaner im Ölrock und Südwester. Neben ihm packte Chanaf in die Speichen. Hiruto brüllte mir schrill zu: „Kümmern Sie sich um den Motor!! Setzt er aus, ist’s das Ende für uns!“

Ich warf einen Blick auf den Kompaß, dann auf die heranrollenden Wogen.

Ich schob den Jap brutal zur Seite …

„Weshalb steuern Sie gegen den Wind an?! Paßt Ihnen dieser Südost nicht?! Er könnte uns wohl zu früh zur Insel bringen?!“ Ich schrie’s ihm in das triefende Gesicht … Es wurde nur von der Kompaßlampe beleuchtet, verzerrte sich in ohnmächtigem Grimm. „Scheren Sie sich in Ihre Kabine hinab!! Sofort! – Chubur, schließe ihn dort ein. Mit diesem Wetter werden wir auch ohne ihn fertig.“

Chubur schob den Baron wie ein Kind vor sich her.

Kritische Minuten kamen … Das Wenden bei diesem Sturm war ein gefahrvolles Manöver. Es glückte. Nun flog die Brigg mit der Windsbraut gen Nordwest, und Hirutos erneuter Versuch, uns von dem Eiland fernzuhalten, war schnell genug durchkreuzt.

Der Orkan flaute gegen vier Uhr ab. Die Brigg hatte sich glänzend durchgekämpft, und die Sonne lag warm und wohlig über dem prächtigen Schiffe, das uns dem großen Geheimnis entgegenführte.

Ich ließ ein paar Segel setzen, ich schickte Chanaf mit einem Fernrohr ins Krähennest empor und überließ dem Riesen Manik das Steuer. Wir waren in mäßig bewegtem Wasser, wir hatten günstigen Wind, und ich konnte nun in Ruhe ein Wörtlein mit dem Jap reden. Chubur begleitete mich. Er schloß Hirutos Kabine auf. Der Baron lag auf seinem Bett, die Kabine war voller Zigarettenqualm, und Sajo Hiruto hatte sich inzwischen frisch rasiert und einen tadellosen Flanellanzug angelegt, dazu hellbraune Bordschuhe, Seidenstrümpfe, ein seidenes Oberhemd mit weichem Kragen und eine dunkelblaue Krawatte mit einem Brillant als Nadel. Er erhob sich höflich, verneigte sich und deutete auf das hochgeklappte Tischchen, auf dem eine Masse Dollarnoten aufgereiht lagen.

„Fünfzigtausend …“ sagte er nur. „Wann verlassen Sie die Brigg?“

Ich fegte die Lappen mit der Hand auf den bunten Bastteppich.

„Wenn wir die Insel erreicht haben werden, Baron!“ meinte ich barsch.

Er deutete ein Achselzucken an …

„Wie alt sind Sie, Mr. El Gento?“

„Was soll das?! – zweiunddreißig …“

„Dann sind Sie noch zu jung zum Sterben. Nehmen Sie das Geld … Ich will noch zehntausend hinzufügen …“

Ich lachte ihm ins Gesicht. „Versuchen Sie’s doch einmal mit der Ehrlichkeit, Baron! Damit kommt man am weitesten.“

Er wurde noch ernster. „Mit der Ehrlichkeit fahren Sie in diesem Falle in den Himmel oder in die Hölle. Ich meine es nur gut mit Ihnen …“

Sein Benehmen gab mir doch zu denken.

„Setzen wir uns, Baron … – Chubur, hole aus der Kajüte die Seekarte, die ich abseits gelegt habe.“

Kaum war der Araukaner hinaus, als Hiruto mir die Hand hinstreckte. „Ich kenne Sie nicht … Sie müssen aber mehr als nur ein Abenteurer sein. Ich bitte Sie: Nehmen Sie das Geld! Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich nur ein durchaus unverfängliches Interesse daran habe, Sie von der Insel fernzuhalten.“ Ich hatte nur zögernd meine Finger in die seinen gelegt. Er drückte mir fest die Hand … „Ich bin Baron Sajo Hiruto, und wenn Sie in Japan bekannt wären, würde jedes Kind Ihnen sagen: Hiruto ist der reichste Mann Japans! Ich bin auch kein dunkler Ehrenmann, ich habe Sie aus Not belogen … Ich beschwöre Sie: Verlassen Sie die Brigg!!“ Seine Augen ruhten mit zwingendem Ausdruck in den meinen.

Ich wurde schwankend. Er merkte es mir wohl an. Er flüsterte hastig: „Ellen wollte, daß wir Sie als Verbündete mit uns nehmen sollten … Wären Sie allein, hätten Sie nicht diese halbwilden Indianer bei sich, ich würde nachgegeben haben … Aber dieses Geheimnis so primitiven Leuten anzuvertrauen, deren Ideenwelt so eng ist, war unmöglich. Außerdem: Es ist Tatsache, Mr. El Gento, – – dort droht der Tod in mehr als einer Gestalt.“

Wieder preßte er meine Hand. Ich lächelte. „Das letzte hätten Sie nicht sagen sollen, Baron. Der Tod birgt keine Schrecken für mich. Vielleicht lockt er mich sogar, und was meine rotbraunen Freunde angeht: Es sind Männer, die vielleicht einen klareren Ehrbegriff haben als mancher Gentleman! Also – schließen wir ein Bündnis, Baron … Denn – ich würde die Brigg niemals verlassen, bevor ich nicht wüßte, daß Miß Ellen in Sicherheit ist – niemals!“

Er ließ meine Hand fahren und holte tief Atem. Ein melancholischer Zug erschien um seinen energischen Mund … Er murmelte ein paar Worte, die ich nicht verstand, und setzte sich dann in den einen der kleinen Rohrsessel, stützte das Kinn auf die Fingerspitzen seiner Linken und schien zu überlegen.

Chubur trat mit der Karte ein.

Ich rollte sie auf dem Tische auf. Sie stellte einen Teil des südöstlichen Pazifik dar, ein Quadrat, das etwa als Nordwestecke die berühmte Insel Sala y Gomez und San Felix hatte, nach Süden zu aber bis zum 63ten Breitengrad reichte. Mithin waren auf dieser Karte als einziges Landgebiet nur die beiden Inseln und Teile des Wellington-Archipels eingetragen, ferner die Meerestiefen, Strömungen und anderes, was zu einer erstklassigen Seekarte gehört.

Unsere Brigg mußte sich nach meiner Schätzung etwa in der Mitte dieses Quadrats zurzeit befinden, also in einer Gegend, die nie von Schiffen besucht wird, – wo es auf Hunderte von Meilen kein Land gibt …!

Und hier sollte die „Insel“ liegen?!

Ich zeigte auf die Karte. „Baron, würden Sie sich einmal herbemühen.“

Er blickte nicht auf. Er rührte sich nicht.

„Ebenso gut könnten Sie ein einzelnes Sandkorn in einer Düne suchen,“ meinte er. „Die Karte wird Ihnen nichts nützen … Und von mir werden Sie noch weniger …“

Die Tür war aufgerissen worden. Chanafs strahlendes Gesicht leuchtete auf wie eine Verheißung …

„El Gento, – – ein grünes Eiland mit hellem Strand …!!“ brüllte er und schwang sein Messingfernrohr …

Der Baron war mit einem Satz auf den Beinen … taumelte nach vorn, hielt sich an einem Stuhle fest. Sein Gesicht war wie Asche … Seine Lippen verzogen sich und gaben die goldplombierten Zähne frei … Ein pfeifendes Keuchen kam aus seiner Kehle. Ich drängte mich an ihm vorüber, ich stürzte nach oben, entriß Chanaf das Rohr, und hinter mir drein schwang sich Chubur in das Krähennest. Ich schaute erst mit bloßem Auge in die Ferne, stellte dann das Glas ein, suchte den nordwestlichen Horizont ab …

Chanaf, der in den Wanten hing, schrie:

„Mehr nach Westen, El Gento!“

Aber auch da nichts als Wasser … Meer – nichts als der leere endlose Pazifik, vergoldet von der bereits sinkenden Sonne.

Und auf meine Augen war doch Verlaß! Sie waren geschärft in der klaren dünnen Luft der Pampas …

„Nichts!“ und ich gab Chubur das Fernrohr und brüllte Chanaf an: „Du hast dich getäuscht … Es war vielleicht eine Fata Morgana, eine Luftspiegelung …“

Er schüttelte den Kopf … „War kleine Insel. Rohr gut sein … Chanafs Augen noch besser … War grünes Eiland mit hellem hohem Strand …!“

Dabei blieb er, auch als Chubur nichts finden konnte. Er kam näher, drängte sich mit in den Ausguck und … suchte … suchte … Sein Gesicht wurde grimmig, seine Lippen sprudelten Flüche …

„War Insel!“ beharrte er … „Genau dort. Mit viel Grün, El Gento …“

Wir stiegen enttäuscht herab. Auf dem Deck am Vordermast lehnte Hiruto mit rätselvollem Lächeln.

„Nun?!“ fragte er …

Ich pflanzte mich dicht vor ihm auf. „Ich danke Ihnen, Baron … Ohne Ihr Lächeln hätte ich Chanafs Meldung unbeachtet gelassen … Triumphieren Sie nicht zu früh! Welche Teufelei hinter alledem steckt, werde ich … nachts ermitteln.“

In seinen Zügen ging eine blitzschnelle Veränderung vor sich, – er biß sich auf die Unterlippe, und jener Blick kalten Hasses, der mich schon einmal getroffen, enthüllte mir seine geheimsten Gedanken.

„Chubur, bindet ihn!!“

Hiruto streckte die Arme vor. „Ja, bindet mich, ihr Narren: Ihr werdet die Morgensonne nie wieder sehen!“

Er wurde in eine enge Kammer des Vorschiffs gebracht, und die Araukaner bewachten ihn abwechselnd.

Als er abgeführt wurde, erklang vom Heck ein heller angstvoller Ruf. Dort stand Ellen … Ich schritt auf sie zu. Sie wandte sich jäh um und zog sich in ihre Kabine zurück.

Chubur fand mich in der Kajüte über den großen Tisch gebeugt. Ich hatte den ganzen Kartenständer nochmals durchsucht – umsonst. Ich hatte gehofft, irgendwo eine Seekarte zu entdecken, die man vielleicht versteckt hatte, – eine, in die die Insel doch eingezeichnet wäre. Dann hatte ich die Karte aus des Barons Kabine geholt, studierte sie nun von neuem. Mich interessierten die Tiefenangaben.

Chubur fragte bedächtig: „El Gento, Chanaf meinen, wir Kurs ändern, mehr westlich … Er am Steuer, Manik bei Japaner …“

Ich nickte. Meine Augen kamen von dem einen Fleck der Karte nicht los … Es war kein Fleck, es war ein winziges Loch, wohl durch eine Stecknadel hineingebohrt in das Papier und die untergeklebte Leinwand. Und dort, wo dieser Nadelstich saß, war eine Untiefe vermerkt, der schmale Grat eines unterseeischen Berges …

Nur dreißig Meter Tiefe …!!

Chubur war wieder gegangen. Ich warf mich in die Sofaecke.

Wie konnte man ein Eiland unsichtbar machen – darüber grübelte ich nach.

Ich hatte einmal irgendwo, irgendwann einen Seeroman gelesen, von einer Piratenjacht in den chinesischen Gewässern … einer Motorjacht ohne Masten, und deren Kapitän war jedem Verfolger entkommen … Torpedoboote hatten ihn eingekreist – man wußte, daß es sich um kein U-Boot etwa handelte … Immer verschwand der Pirat rechtzeitig wie weggewischt, bis ein Zufall ihn an den Galgen brachte: Er hatte seine kleine Jacht im Augenblick der Gefahr stets mit einer riesigen Ölleinwand, die genau die Farbe des Meereswassers in heller und dunkler Schattierung hatte, vollständig bedeckt. Und jeder hatte diesen blaugrünen Buckel für eine Welle gehalten … jeder …!

Sollte etwa hier mit gleichen Mitteln gearbeitet worden sein?! Ließ sich ein Inselstrand verhüllen, daß er mit dem Horizont in eins verschmolz?!

Ich ging an Deck, stellte mich neben Chubur an die Ankerwinde, hob das Fernglas … Noch war’s Tag. Noch immer hätte ich das finden müssen, was nicht zu finden war: die Insel!

Chubur sagte und sog schmatzend an seiner Zigarre: „El Gento, Brigg jetzt dort sein etwa, wo Chanaf Eiland sehen … Nichts da!!“ Und er spuckte den Stummel ins Wasser.

Ein Gedanke kam mir.

„Rasch – hole das Lot!“

Ich lief nach achtern … Der Motor stoppte, die Brigg machte kaum mehr vier Knoten.

Das Lot sank über Bord, die Trommel mit der aufgewickelten Leine surrte, die weißen Knoten der Leine, die Metermarken, flitzten ins Wasser …

Ich zählte …

„… einhundert … zweihundert … dreihundert …“

Plötzlich wurde die Leine straff, spannte sich wieder …

Das Lot hatte Grund gefunden, schleppte …

Wenige Minuten drauf zogen wir die Leine ein – Meter für Meter – bis das Lot nur noch fünfzig anzeigte.

Aus den fünfzig wurden nur noch vierzig, dreißig …

Wir befanden uns über der Untiefe!!

Wir fuhren langsam darüber hinweg.

Die Leine ward zum Reißen straff, das Lot mußte sich verfangen habe …

Dann – ein Ruck, und es hing beinahe wieder senkrecht. Wir holten es vollends ein, und an dem Stahlzylinder oben im Ringe war ein frischer grüner Zweig eingeklemmt.

Chubur betrachtete die Bruchstelle des Zweiges.

„Frisch!“ sagte er mit merkwürdigem Gesicht. „Chanaf richtig sehen … War Insel da … Insel versunken … Das kennen, El Gento: Kein Erdbeben, – Seebeben, – Meeresgrund sich senken, Eiland mit hinab …“

Ich starrte in das grüne Wasser.

Mir tat Ellen leid …

Armes Mädel! Mit der Insel war ihr auch der Verlobte für immer entschwunden.

„Bringe den Baron her,“ befahl ich Chubur. „Die Geschichte ist aus … Es gab eine Insel. Jetzt gibt es keine mehr. Wir kehren zum Gallegos zurück. Der Jap und Ellen mögen mit dem Großboot nach San Gallas fahren.“

Chubur tauchte im Vorschiff unter.

Hinter mir da ein Schluchzen … Ich drehe mich um. Ellen Duncam hat den grünen Zweig in der Hand und preßt ihn gegen ihr Herz. Ihre Tränen fließen. Neben ihr steht der Pudel und blickt zu ihr auf und wedelt traurig. – Ich finde keine Worte des Trostes. Ich reiche ihr nur die Hand, und ihr Antlitz, rot überflammt vom Abendsonnenschein, zaubert mir wieder die Vergangenheit vor: Gerda Arnstör!

Mit einem Male ist der flinke, kluge Hiruto neben uns. Seine dunklen Augen streicheln Ellen. Seine Stimme ist fast Musik …

„Ellen, ich weiß, daß die, die wir lieben, noch am Leben sind … Kommen Sie, Ellen …“

Er legt den Arm um ihre schlanke Hüfte und führt sie davon.

Chubur meint wegwerfend. „Wieder Lüge das! Wenn auf Insel waren, sein ertrunken …!“

Gleich darauf wendet die Brigg und steuert wieder der Heimat zu – meiner Heimat am Gallegos-Fluß, – – im südlichsten Chile.

 

5. Kapitel.

Ballast.

Wir sitzen in der Kapitänskajüte, Chubur und ich. Auf dem Tische stehen die Reste des Abendbrots und vier Weinflaschen, Gläser … Wir rauchen, und Chubur spricht in seinem zuweilen recht unklaren Telegrammstil über ein Erdbeben, das er als Kind im Wellington-Archipel mitgemacht hat … Ganze Felseneilande glitten in unbekannte Schlünde, und nur geringe Dampffontänen begleiteten die Vernichtungsarbeit der unterirdischen Gewalten.

Einer der Araukaner kommt und trägt in den Armen eine große lange Zinkkiste, die wie mit Sand bepudert ist.

Der Mann berichtet, wir horchen erstaunt auf.

Für den Pudel war auf dem Vorschiff eine viereckige kastenartige, mit Sand gefüllte Box vorhanden, damit das Tier dort seine Notdurft verrichte, was es auch regelmäßig tat. Der Sand der Box hatte bereits üble Düfte verbreitet, war lange nicht erneuert worden. Ich hatte befohlen, neuen Sand einzufüllen und diesen den Ballastsäcken zu entnehmen. Der Araukaner hatte also einen der Säcke nach oben geschleppt und einfach aufgeschnitten. Als der Sand in die Box rieselte, kam inmitten des Sackes die Zinkkiste zum Vorschein.

Sie hatte einen Deckel mit Scharnieren und Gummileisten und einen Riegel. Ich öffne sie und finde einen in Papier vorsichtig verpackten Fünfröhrenempfänger neuester Konstruktion. Ich finde ihn genau eine Stunde nach dem grünen Zweig, den das Lot heraufbefördert hat.

Chubur sagt: „Was das sein?!“

Rundfunk ist am Gallegos fremd.

Wir steigen in den Laderaum hinab. Der Araukaner zeigt, an welcher Stelle er den Sack weggenommen hat.

Unsere Jagdmesser arbeiten. Die umliegenden Säcke speien Sand. Manche enthalten nur Sand. Andere sind wertvoller. Schließlich haben wir alles beisammen, was zur Funkeinrichtung eines Schiffes gehört, selbst Antenne, Trockenbatterien – – alles! Es ist nur ein kleiner Schiffssender, den ich dann in der Kajüte sachgemäß aufbaue, während Chubur mir hilft und die dienstfreien Kameraden das andere nach oben schaffen, was die bisher geleerten Säcke verbargen: Karabiner, Maschinengewehre, Pistolen, Munition, ein Schnellfeuergeschütz.

Chubur und Chanaf spannen unter meiner Aufsicht die Antenne zwischen den beiden Masten. Mond und Sterne geben genug Licht, und Chanaf findet die Haken, in denen die Eierketten der Antenne und diese selbst gehangen haben, bevor der Baron sie abmontiert hatte – natürlich an der Satansinsel zwischen den Klippen.

Ich arbeite mit fieberhaftem Eifer. Es ist genau elf Uhr abends, als ich als Erdung einen isolierten Draht, unten mit sechs leeren Konservenbüchsen, angelötet, zur besseren Ableitung beschwert, über die Reling werfe. Mit einigem Herzklopfen schalte ich zuerst den Empfänger ein. Die Lampen glühen, und das Rauschen im Kopfhörer beweist mir, daß ich Empfang haben werde. Ich drehe den Abstimmkondensator – ein leises Pfeifen … Ich betätige die Rückkopplung, stelle das Potentiometer nach, und mit einem Male höre ich Musik …

Ich fühle, daß ich blaß werde. Die große Welt meldet sich mit hinreißendem Schwung einer Jazzkapelle …

Chubur bückt sich … Der Empfang ist so laut, daß er die Kajüte mit zarten Klängen füllt.

Chubur rüttelt meine Schulter. Seine Augen quellen … Und die braunen Gefährten stehen mit offenem Munde.

„El Gento, was das sein?!“

Ich versuche diesen Halbwilden das moderne Wunder der Äthermusik zu erklären. Gewiß – ein Grammophon kennen sie. Dies hier bleibt ihnen unheimlich.

Ich suche andere Wellen. Und als ich etwa die Welle um 300 Meter herum einstelle, die überlaut pfeift, vernehme ich gerade noch die letzten Worte irgendeines Ansagers …:

„… dann meldet euch. – Wir kommen um elf Uhr fünfzehn wieder …“

Der Ansager hat englisch gesprochen, und das ist sehr merkwürdig. Wo gibt es hier zwischen Asien und Südamerika einen englischen Rundfunksender von solcher Stärke?! Der nächste wäre der in Hongkong, überlege ich mir, – und wo liegt Hongkong …! – Ein Blick nach dem Schiffschronometer … Noch fünf Minuten bis ¼12. Ich werde warten.

Chanaf mahnt bescheiden: Er will wieder die Zaubermusik hören! – Ich winke ab … „Nachher! – Die Zeit ist um …“

Ein Anruf …: Fünf seltsame Töne wie aus einer Kindertrompete, dann:

„Hallo, hier der Sender Ellerduc …! Hallo, hier …“

Dreimal …

„Habt ihr uns gehört? Hier wieder alles in Ordnung. Meldet euch auf 300. Wir wollen vorsichtig sein. Wir warten. Wir kommen jede halbe Stunde wieder.“

Stille … Das Rauschen verstummt. Der Sender Ellerduc schweigt.

Was bedeutet das?!

Es muß sich um eine geheime Station handeln, wahrscheinlich an der chilenischen Küste, die uns am nächsten liegt.

Ich rücke den Stuhl weiter, schalte den Sender ein …

Ich morse …

Aber auch ich bin vorsichtig. Als Anruf fünfmal „Lang lang lang lang lang.“ Dann:

„Hallo, hier das Schiff … Wir haben euch gehört. Bitte sofort nähere Angaben.“

Wieder stülpe ich den Kopfhörer über und lausche.

Nichts …

300 schweigt.

Ich morse noch dreimal denselben Wortlaut. 300 bleibt stumm.

Allmählich geht mir ein Licht auf. Der Sender mit dem seltsamen Namen Ellerduc hat mit dem, den er anrufen will, ein bestimmtes Erkennungszeichen vereinbart, und mein Anruf „fünfmal Lang“ hat Ellerduc gewarnt, war eben falsch. Ich weiß, daß die Leute nun auch weiter schweigen werden. Sie sind mißtrauisch geworden.

Um meinen Araukanern eine Freude zu machen, kehre ich zu der Jazzmusik zurück und schließe den großen Lautsprecher an. Er hat ungeahnte Klangfülle, und die Musik schallt hinüber bis in die nahen Kabinen. Plötzlich steht Hiruto in der offenen Tür. Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit er Ellen tröstend hinwegführte.

Der Baron ist aschfahl. Seine Goldzähne blinken …

Ich gehe auf ihn zu, und in meinem Hirn wird es Licht …

Ellerduc!!

Ich Tor!! Daß ich nicht sofort darauf kam. Es ist ein verstümmeltes Ellen Duncam!!

„Baron,“ sage ich, und hinter mir drängen sich vier braune Kerle mit Eisenmuskeln, „ich bin Ramses zu großem Dank verpflichtet. Nun haben wir die Apparate und die Waffen, und die übrigen Säcke werden wir mit langen dünnen Nadeln untersuchen.“

Auf seiner hohen klugen Stirn erscheinen dicke Schweißperlen.

„Ellerduc hat angerufen, Baron …“

Sein Gesicht verzieht sich wie im Krampf.

„… Es ist dort alles wieder in Ordnung,“ füge ich hinzu …

Er schließt die Augen einen Moment. Dann lächelt er …

„Ellerduc?! Was ist das?!“

Mein Geduldsfaden reißt. „Sie wissen’s!!“ brülle ich ihn an …

Er schüttelt mißbilligend den Kopf, verneigt sich.

„Bedauere … – Mr. El Gento, wollen Sie mir nicht erklären, was …“

Ich beherrsche mich. „Baron, Lügen haben kurze Beine … – Gut, die Insel versank, aber Ihre Freunde schwimmen hier irgendwo auf einem Fahrzeug mit Funkeinrichtung in der Nähe … Sie sahen die Brigg, erkannten die Brigg, waren vorsichtig … Der Anruf kam mit solcher Stärke, daß der Sender Ellerduc – feiner Name! – kaum zehn Meilen entfernt sein kann … Ich werde dieses Fahrzeug finden, Baron … Wir werden es suchen, nach Nordwest in langen Schlägen kreuzen … – Chubur, sage Manik, daß er den früheren Kurs halten soll …“

Sajo Hiruto lächelt … wischt sich mit dem Seidentuch den Schweiß von der Stirn, markiert ein Achselzucken und will gehen …

„Sie bleiben …!!“

Chanaf hat ihn schon gepackt.

Er lächelt weiter … „Mr. El Gento, Sie geben mir Rätsel auf … Ellerduc?! Was soll das?!“

„Setzen Sie sich! …“ – Chanaf drückt ihn in die Sofaecke. Ich stelle den Empfänger ab. Jetzt stört die Musik. „Baron, es gibt Zwangsmittel … Wenn Sie mir nicht augenblicklich mitteilen, welchen Anruf Sie mit Ellerduc vereinbart haben, seilen wir Sie an und lassen Sie achtern schleppen. Es sind fünf Haie um das Schiff …“

Er blinzelt in das Licht der elektrischen Deckenlampe …

„Bitte – töten Sie mich!“

Seine Gleichgültigkeit und Entschlossenheit sind nicht geheuchelt. Sajo Hiruto ist ein Sohn jenes Volkes, das noch heute den Ehrbegriff bis zum schmerzhaft-grausigen Harakiri treibt. Es ist zwecklos, ihm zu drohen. An ihm prallt alles ab. Flüchtig geht mir wohl der abscheuliche Gedanke durch den Kopf, Ellen gegen Hirutos eisernen Willen irgendwie auszuspielen. Aber – was kümmern mich im Grunde die Geheimnisse dieser beiden?! Nichts! Es ist ja nur das unruhige Abenteurerblut in mir, der heiße Wunsch, Dinge abseits des Alltags zu erleben, die mich hier zu unberechtigter Einmischung drängen.

„Baron, Sie und Miß Ellen werden den Kabinenteil des Heckaufbaus nicht mehr verlassen,“ entscheide ich kurz. „Die Fenster werden sofort von außen mit Decken vernagelt werden. Jedes Signal, das Sie etwa nach draußen zu geben suchen, wird bestimmt mit einer Kugel beantwortetet.“

Hiruto verbeugt sich und geht. Chanaf übernimmt die erste Wache vor der Tür. Zwei andere Araukaner vernageln die Fenster der vier Kabinen. Ich höre die Hammerschläge dröhnen, während ich am Steuer das Segelmanöver überwache. Die Brigg beginnt zu kreuzen, und ich beschäftige mich in der Kajüte wieder mit dem Empfänger. Aber Welle 300 schweigt, nur andere Sender fange ich ein, darunter den der französischen Strafkolonie Neukaledonien, der am Schluß der Musikdarbietungen Tagesneuigkeiten gibt und … Steckbriefe von fünfzehn Sträflingen, die vor zwei Wochen entwichen sind. Mögen sie sich ihrer Freiheit freuen, denke ich, – und ich drehe die Abstimmung versuchsweise wieder auf Welle 300.

Nichts …

Da schalte ich den Empfänger aus und nehme das Nachtglas und klettere die Wanten empor in das Krähennest. Chubur wollte mit hinauf. Ich lehne ab, ich möchte allein sein … Mein Hirn fiebert, mein Herz fiebert. Ich höre noch immer die Klänge der fernen großen Welt, die Stimmen der Kultur – einer Welt, die ich verachte. Und doch hat sich seltsame Sehnsucht durch die Ätherwellen in meine Seele eingeschlichen … Und doch spüre ich die Nähe dieser Welt, verkörpert durch Hirutos gepflegte Erscheinung, mehr noch durch Ellens zarten Liebreiz.

Über mir im Weltall funkelt der Kerzenflimmer der Unendlichkeit, schräg über mir lächelt des Mondes blanke Sichel. Es ist, als lächelte Vater Mond so ironisch … Kennt er meine geheimsten Gedanken?! Bin ich, El Gento, Pampasjäger, Strandpirat, steckbrieflich verfolgter Mörder und gewesener Zuchthäusler, etwa dieses Lebens inmitten wahrer Freiheit überdrüssig geworden?!

Gedankenlos hebe ich das Fernglas an die Augen, und das halbdunkle Meer mit seinem verschwommenen Horizont rückt mir näher …

Der träge Wind schläft immer mehr ein. Die Segel flattern, nur die Schraube treibt die Brigg noch vorwärts. Chuburs Stimme klingt schrill, und seine Befehle genügen mir. Er läßt die Segel beschlagen – – flinke Gestalten schwingen sich hierhin, dorthin, – und wieder schaue ich durch das Glas …

Ich weiß genau, daß das Suchen nach dem anderen Schiffe, das hier in der Nähe war und jetzt vielleicht schon irgendwo in der Ferne die langen Wogen zerteilt, ein Lotteriespiel ist mit vielleicht fünf Prozent Gewinnaussichten. Aber ich habe allzeit einen Eisenkopf gehabt, und ich … hoffe …

Das Schiff hat die Brigg angerufen. Das Schiff wird sich nicht entfernen, wird uns belauern, und – – es wird uns entern, wenn die Gelegenheit günstig. Denn die Freunde Hirutos, sage ich mir, dürften wohl ahnen, daß der Baron und Ellen in unserer Gewalt. Sie werden nichts unversucht lassen, sie zu befreien und die Brigg zurückzugewinnen.

Meine Wacht hier oben ist also doch nicht ganz zwecklos. Vielleicht wäre es sogar nur angebracht, uns rechtzeitig auf die Verteidigung einzurichten. – Als Chubur nun doch neben mir auftaucht und der wohlbekannte Duft von Tran und Schweiß und Leder mich umgibt, bespreche ich mit ihm diese wichtige Frage. Chubur begreift schnell.

„Du klug sein, El Gento …“ meint er und reibt seine lange Narbe, „wenn Schiff etwa Dampfer ist und schneller fahren als Brigg, große Gefahr für uns … Du besser gehen an Deck und Kanone zusammenschrauben und große Karabiner … (Er verstand darunter das Schnellfeuergeschütz und das Maschinengewehr.) Wir gegen Leute mit Kanonen nichts ausrichten … Gehen gleich, El Gento.“

Unten an Deck ruft mich Chanaf sofort an. Ellen möchte mich dringend sprechen. – Ich bin unschlüssig. Vielleicht ist es nicht klug von mir, ihr zu verraten, wie groß ihr Einfluß auf mich ist. Sie hat Macht über mich, das fühle ich, denn in ihr ist mir Gerda Arnstör wieder erstanden, der ich so unendlich viel Dank schulde, die ich über alles geliebt habe und die zu den wenigen Menschen gehört, die ich nicht vergessen kann. Meine schöne, heitere Mutter mit dem leichten Berliner Blut, die dort in meinem nordischen Vaterlande dahinsiechte, – mein Hund, den ich als Student besessen und der mir Mensch war, dann Gerda und schließlich Coy Cala, Königssproß mit europäischem Lebenssaft in kraftstrotzenden Adern, er, der Treueste der Treuen, er, ein Mann wie keiner, Mann der freien Pampas und der gurgelnden Kanäle und tobenden Brandung!

Soll nun auch Ellen Duncam in mein Leben sich eindrängen und vielleicht noch stärker die Sehnsucht nach dem anderen Dasein wecken, dem ich voller Verachtung den Rücken gekehrt habe?! Was will sie?! Natürlich hat Hiruto ihr alles erzählt. Will sie nur aus meinem Munde bestätigt haben, daß „alles in Ordnung“, wie der Sender Ellerduc meldete?! Den Gefallen kann ich ihr schließlich tun.

Ich besichtige zuerst die vernagelten Fenster. Die Wolldecken stammen aus dem Mannschaftslogis der Brigg … Chanaf hat über jedes Fenster zwei nageln lassen. Sie wölbten sich nach außen, und man erkennt unter ihnen die Gitterstäbe.

Ich finde Ellen in ihrer Kabine mit einem Buche im Liegestuhl. Sie hat ein Morgenkleid aus Spitzen an – raffiniert …! Weiber bleiben doch immer Weiber. Die Teufelchen der Koketterie grinsen unter dem Rocksaum hervor. Und doch – – was wären die Frauen ohne die kleinen Schwächen?! Der moderne Typ, der blasiert tut, und dafür doppelt leicht nachgibt, ist verlogener.

Sie streckt mir die Hand hin, und das helle Licht der Kabine, Deckenlampe, Wandleuchter, Tischlampe, lassen ihre Nägel rosig blitzen und zeigen die Schönheit einer schmalen Hand.

„Setzen Sie sich bitte, Mr. Abelsen,“ sagt sie freundlich …

Abelsen?!

Meine Hand fährt aus ihren warmen, weichen Fingern.

„Abelsen?!“ – ich schaue ihr in die ernsten Augen, und ihr Blick weicht aus.

„Ja, Hiruto meinte, Sie seien der Ingenieur Olaf Karl Abelsen … Wenn Sie jetzt auch den blonden Spitzbart tragen, die Eigenart Ihrer Züge ist kaum zu verbergen. Hiruto hat Zeitungen in seiner Kabine.“

„So … so … – und in den Zeitungen steht wohl eine Erneuerung des Steckbriefes mit Bild …! – Ich möchte Sie von der Anwesenheit eines Mörders befreien, Miß Duncam.“

„Bleiben Sie!“ Sie sitzt aufrecht, und in ihren langen Wimpern, die ihrem Blick etwas Melancholisches geben, glitzern Tränen. Ihre Stimme schwankt, als sie hinzufügt: „Sie können doch kein Mörder sein … Ich gebe nichts darauf, was Behörden behaupten. Ich hasse diese starrköpfigen Beamten, die das Recht zu schützen vorgeben und sich dabei selbst ins Unrecht setzen. Glauben Sie, Mr. Abelsen, ich habe viel Leid hinter mir … Wenn Hiruto nicht wäre, würde ich noch unglücklicher sein. Er ist meines Vaters Freund. Ich weiß nicht, ob Sie je einen wirklichen Freund besessen haben und daher diese Bezeichnung richtig auswerten.“

Ramses, der Pudel, hat sich erhoben und mir seine Schnauze in die Hand gedrückt. Ich kraule ihm den Kopf und erwidere: „Ich hatte zwei Freunde, – einen Hund, der für mich starb, und einen Indianer namens Coy Cala, der ein Mann war.“

Sie nickt langsam … „Dann werden Sie begreifen, daß Hiruto lügen muß … Man verrät seine Freunde nicht.“

Und, indem sie mir wieder die Hand hinstreckt: „Ist es wahr, daß Ellerduc angerufen hat, daß alles in Ordnung ist?“

„Ja …“

Sie atmet hastiger. Tiefe Röte huscht über ihr Gesicht. „Gott sei Dank,“ murmelt sie. „Die Ungewißheit war furchtbar! – Mr. Abelsen …“

„Bitte – El Gento!“ verbessere ich …

„Ja, es klingt auch besser … Also, El Gento, Sie suchen nun das Schiff …“

„Wir werden es vielleicht nie finden …“ – Ich prüfe ihre Mienen. Aber ihr Gesicht verrät nur angestrengtes Nachdenken.

„Und – wenn Sie ihm begegnen?“ fragt sie zaudernd.

„Werde ich abwarten … Sollte es die Feindseligkeiten eröffnen, dann werde ich es kapern.“

Sie senkt etwas den Kopf und spricht wie zu sich selbst: „Wäre ich nur dabei gewesen, als der Sender sich meldete! Es ist noch so vieles unklar, es gibt zwei Möglichkeiten, und die eine wäre … bedrohlich …“

„Nur die eine, Miß?“

Sie schreckt leicht zusammen. „Was redete ich da soeben? … Vergessen Sie meine Worte … Ich trage schwer unter all diesen Dingen. Aber die Liebe überwindet vieles, sie ist eine Quelle der Kraft. Ich war ein verwöhntes Mädchen, ich war noch vor zwei Jahren so oberflächlich wie alle diese jungen Damen, denen das Geld keine Rolle spielt. Gorry sagte immer, ich sei entzückend oberflächlich. Und heute?!“ Ihr tiefer Blick ruht auf mir … „Heute, Mr. El Gento, belächle ich das Einst, weil es keine wahren Werte barg, heute habe ich erkannt, daß wir Menschen unserer Zeit hohler und kläglicher sind als je zuvor. Wir haben die Ideale mit Recht als lächerliche Götzen zerstört, wir haben jedoch in uns neue Götzen errichtet als einzigen Ersatz: Schrankenlose Selbstsucht! Das ist das Merkmal unserer Zeit! Wohl dem, der gezwungen wird, die eigene Persönlichkeit ohne Selbstsucht für etwas Großes einzusetzen. Freiwillig tut es niemand. Aus dem Blutrausch des großen Krieges ist nur ein Geschlecht egoistischer Feiglinge hervorgegangen. Man spielt mit trügerischen Worten – das ist alles. Der Dollar regiert die Welt. Amerika als Gläubiger der Erde hat auch England unter der Knute …“

„Entschuldigen Sie, Miß: Politik ist mir ein Kinderbilderbuch.“

Ich horche nach draußen. Chuburs Donnerstimme zwingt mich zu kurzem Abschied.

Ellen hat mir beide Hände gereicht.

„Vielleicht werden auch wir noch Freunde, El Gento …“

Als ich an Deck komme, schleppt Chubur gerade die Teile des Schnellfeuergeschützes in die erleuchtete Kajüte.

„Das Schiff, El Gento!! Und du schwatzest mit dem Weibe!!“

Ich renne dorthin, wo die Araukaner sich an der Reling zusammendrängen.

Das Nachtglas zeigt mir in Lee eine weiße Jacht mit dickem, schrägem Schornstein.

Frauen sind Ballast … Ich habe kostbare zehn Minuten vertan.

 

6. Kapitel.

Das Signal.

Die Jacht hält genau auf uns zu. Es ist keine Luxusjacht. Derartig schlanke, schlichte, flinke Schiffe pflegen die höheren Kolonialbeamten in der Südsee zu benutzen. Die Entfernung beträgt etwa achthundert Meter, aber sie verringert sich zusehends, obwohl Chubur umsichtig genug gewesen ist, sofort zu wenden und zu flüchten. Wir laufen genau nördlichen Kurs.

Ich eile in die Kajüte zurück. Das Maschinengewehr hat eine Sockellafette. Ich brauche nur das Schloß einzusetzen. Der Riese Manik schleppt die Patronenkästen und die Lafette nach achtern. Ich montiere schnell das Maschinengewehr, ich führe den Gurt ein, die ersten Probeschüsse knallen … ins Leere.

Chubur am Steuerrad schreit schrill und lang den Jagdruf der Pampas. Die Antwort kommt von drüben – – ein Hagelschauer von Kugeln … Die Brigg ist aus Eisen, und die eiserne Reling hoch und dick. Chubur wischt sich das Blut von der Nasenspitze. Das Stück Haut schmerzt ihn nicht, aber die frische Zigarre ist mit zerblättert. Außer Chubur hat noch einer meiner Freunde eine Schramme abbekommen. Was tut’s?! Wenn die dort auf der Jacht nur Gewehre haben, werden sie sehr bald mit üblen Wischern abziehen.

Ich schicke Chanaf, der sein Wächteramt eigenmächtig verlassen hat, zu den beiden Gefangenen. Sie sollen sich niederlegen. Der Heckaufbau schützt sie nicht, nur die Reling. Sie dürfen nicht aufrecht stehen. Ich bin in Sorge Ellens wegen. Auch die Kabinen haben Kugeln geschmeckt. Chanaf ist gleich wieder da und beruhigt mich. Der Baron ist bei Ellen. Sie liegen ganz flach in Bordstühlen und rauchen Zigaretten.

Mein Feuerspeier mit dem gespickten Gürtel schweigt noch. Ich kann warten. Irgend etwas hält mich davon ab, die Jacht mit Geschossen zu überschütten. Nur die Araukaner feuern zuweilen. Drüben beim Gegner spart man auch mit Munition. Die Entfernung der beiden Schiffe hat sich auf fünfhundert Meter verringert.

Chuburs Nase tropft. Die roten Perlen klatschen auf den Kompaß. Wenn Chubur den Feind sehen will, muß er den Kopf drehen. Er blickt nur geradeaus, und Manik hat ihm eine neue Zigarre geben müssen. Umsonst rede ich ihm zu, daß er sich ducken soll. Er bietet seinen breiten Rücken voll dem Gegner, seine braunen Pranken spielen mit dem Rade, dessen Messingbeschläge sanft im Mondschein leuchten. Wenn eine der surrenden Bleiwespen von drüben an seinem Kopf vorüberpfeift, schreit er jedesmal den wilden Jagdruf der Pampas.

Die drüben rücken immer mehr auf. Sie fahren ohne Lichter, aber helle Gestalten gleiten über das Deck … Vielleicht sind es zehn, vielleicht zwanzig!

Ich knie neben dem Heckanker, der meinen rechten Ellenbogen stützt. Meine Hand liegt am Abzug. Nervöse Hitze brennt mir die Wangen. Zwischen uns und der Jacht schießen Haie hin und her wie matt strahlende Streifen, riesige Leuchtquallen täuschen wandernde Spiegelbilder des Mondes vor, und mitunter entquillt ein Schwarm fliegender Fische auf der Flucht vor einem armseligen Katzenhai der Tiefe und schwirrt über die Wogen wie seltsame Schwalben, – – fällt zurück in das feuchte Element ihres ureigenen Daseinskampfes. Die Luft ist mild und angenehm wie in einer warmen Augustnacht in meiner Vaterstadt Göteborg. Alles ringsum scheint zum Frieden zu mahnen. Aber die zischenden bleiernen Wespen zerstören den Traum der Tropennacht.

Urplötzlich von der Jacht her ein wildes Geknalle … Das Mündungsfeuer der Gewehre flackert dort überall am Bug auf … Sie knien wie wir hinter der Reling, aber die Kugelsaat meines Bleispuckers muß sie auf diese zweihundert Meter im Nu dezimieren.

Ich zaudere. Wir haben keine Verluste … Ich schiele nach Chubur hin. Er raucht und blickt geradeaus. Chanaf meint verächtlich, die drüben seien Sauschützen …

Trotzdem war’s Zeit …

Ich stelle das Visier … drücke ab … Ziele zunächst auf die Reling und die Gallionsfigur der Jacht, anscheinend ein nacktes Weib …

Die Kugeln spritzen, – der erste Gurt ist leer … Chanaf reicht mir den zweiten, schiebt den Kasten näher. Aber die Jacht schwenkt plötzlich herum, zeigt die Breitseite, wendet in kurzem Bogen …

Chubur ruft grimmig:

„El Gento, Schiff fliehen …!“

Ja – sie flüchten …

Sie sollen merken, daß sie klüger tun, uns zu meiden …

Meine Kugelspritze faucht tackend, – – drüben an Deck völlige Leere …

Die trübe ferne Dämmerung im Süden verschluckt die Jacht. Selbst mit dem Glase ist sie nicht mehr zu finden.

Das war kein Sieg, das war nicht einmal ein Kampf, das war nur das Vorspiel …

Denn Chuburs grellender Baß peitscht uns hoch, zwingt unsere Köpfe gen Norden …

„Die Insel!!“ brüllt Chubur, und sogar die Zigarre entfällt ihm … „Die Insel, El Gento …!! Die Insel!!“

Wir starren halb gen Westen …

Über dem schillernden Meere liegt ein graues, helles Land, darüber Büsche, niedere Bäume, Kokospalmen, Fächerpalmen …

Das, was kein Kampf war, hat uns die Insel finden lassen, die wir für versunken hielten.

Chanaf tanzt wie ein Verrückter neben mir … Seine Stimme schnappt über:

„Die Insel, – – sein die Insel, El Gento – – sein bestimmt die Insel!!“

Unwillkürlich gleitet mein Blick über die Kabinenfenster hin.

Und – aus den aufgeschlitzten Decken des einen reckt sich ein weißer Arm hervor … eine Handrakete zischt hoch, pufft eine grüne Leuchtkugel aus.

Bevor ich’s noch hindern kann, hat Manik gefeuert …

Ein leiser Schrei dort drinnen …

Ich stürze hinein … Unter dem Fenster liegt Ellen, und die Totenblässe ihres Gesichts und das Winseln des Hundes und Hirutos finsterer Blick lassen mich taumeln.

Hiruto hebt Ellen empor, trägt sie auf das Bett …

„Gehen Sie!“ sagt er kalt … „Ich werde Ellen verbinden. Ein Lungenschuß …“

Ich weiß nicht, was ich rede …

„Die … Insel …“ stammele ich nur … „Sie … ist … wieder aufgetaucht …“

„Aufgetaucht?! Sie war nie versunken … Sie war künstlich eingenebelt … Das ist das ganze Geheimnis. Gehen Sie und bringen Sie mir die Apotheke …“

Ich schicke Chanaf mit dem großen Kasten hinein, ich selbst bringe Schüsseln, Wasser …

Hiruto weist uns hinaus. „Wenn sie stirbt, sterben Sie auch!“ sagte er mit beängstigender Ruhe.

Ich lehne vorn an der Ankerwinde, und vor meinen Augen zerfließt das nahe Bild des kleinen Eilandes zu einem leichenblassen Gesicht … Chubur fragt sehr kaltschnäuzig: „Werden Miß sterben?“

Ich könnte ihm dafür an die Kehle springen. Aber man muß Chubur vieles nachsehen. Und auch Manik, der den verhängnisvollen Schuß abgefeuert hat, hört kein Wort des Vorwurfs.

Chubur fragt ebenso sachlich:

„He – wozu die hat Signal gegeben, El Gento?“

„Wenn ich das wüßte!“ – Ich finde mich allmählich wieder zu mir selbst zurück. Ich schicke Chubur zu Chanaf, der jetzt am Steuer steht. Wir wollen das Eiland erst einmal umrunden. Inzwischen wird die Morgendämmerung heraufziehen, und wir werden feststellen, ob die Insel verteidigt wird.

Die Brigg gleitet in hundert Meter Abstand am Ufer hin. Ich erkenne mit dem Glas zwei Holztürme, – es können nur Antennenmasten sein. Ich sehe helle Felsgebilde zwischen den Büschen, ich kann sehr bald die Größe des Eilandes abschätzen, auch die ungefähre Form, ein unregelmäßiges Viereck, größte Länge von Nord nach Süd vielleicht vierhundert Meter, größte Breite von Ost nach West vielleicht sechshundert. Die Ufer sind stellenweise ziemlich steil, an der Nordseite, die wir nun erreichen, schneidet eine kleine Bucht tief ins Land.

Was mich wundert, ist die merkwürdig hellgraue Färbung des Gesteins. Auch der flache Uferteil zeigt keinerlei Sand – alles nur derselbe Fels …

Chubur deutet auf die Bucht, die durch eine Reihe Klippen wie durch eine Mole geschützt ist. „Dort ankern, El Gento … Nachher, wenn erst Tag …“

Die Brigg umkreist weiter das Inselchen. Ich spähe nach Hütten oder Häusern aus … Ich bin ein Stück in die Wanten gestiegen, und der Morgen spendet bereits erstes Licht. Die Sterne verblassen. Die Mondsichel blinkt matter. Ich kann das Eiland überschauen, – nur am Ufer gibt es Bäume, Büsche, im Innern nur Felsen … kein Haus, kein Dach, kein lebendes Wesen … – nur die beiden hölzernen Antennenmasten, zwischen denen eine Eindrahtantenne im Morgenwinde leicht pendelt.

Meine Araukaner hängen jetzt wie ich in den Wanten, Chubur steckt oben im Krähennest, wir tauschen unsere Ansichten über das Inselchen aus. Viel ist da nicht zu sagen, wenn man eben von dem hellen Gestein absieht, das ich in dieser Art noch nie irgendwo vorgefunden habe, und ich kenne doch so ziemlich die ganze Welt, habe überall der Technik gedient, habe meinen Ingenieurberuf über alles geliebt und war stets ein Mann, der den praktischen Sinn hoch über die leere Theorie stellte.

Als wir so zum zweiten Male vor der Nordbucht anlangten, schiebt sich im Osten der Sonnenball über den dunstigen Horizont hinweg, die ersten Strahlen schießen über das Meer, und – ein Zufall?! – Baron Hirutos offenbar befehlsgewöhnte Stimme ruft nach oben:

„Ich möchte Sie einen Augenblick sprechen, Mr. El Gento. Ellens Verletzung ist zum Glück nur leichter Natur.“

Ich danke ihm, daß er diesen wertvollen Nachsatz sofort hinzugefügt hat. Der schwere Seelendruck schwindet, und ich reiche ihm froh die Hand, in die er die Spitzen seiner Finger legt, denn das Übrige ist weiß bandagiert.

Man merkt ihm die durchwachte Nacht nicht an. Sein Anzug ist tadellos, seine gepflegte Erscheinung, sein kluges, rosiges Gesicht und diese Stimme, die genau so beherrscht ist, verraten abermals den Mann von Rang und Stand. Seine dunklen kleinen Augen prüfen meine Züge, dann schwenkt sein Blick flüchtig über das Eiland hin, und mir scheint’s, als ob in den Tiefen dieser Augen ein schwaches Lächeln dämmert.

„Die Kugel,“ sagt er, „traf als matter Querschläger die Rippen und lag dicht unter der Haut. Ich habe sie entfernt.“

Er hebt seine Linke und öffnet sie. In der Handfläche liegt ein Nickelmantelgeschoß, das kaum deformiert ist. Die Züge des Laufes sind schwach in den Mantel eingedrückt wie breite, gewundene Kratzer.

„Dies ist die Kugel.“

„Gott sei Dank, daß es so abging …“ und ich nehme die Kugel, betrachte sie und verfärbe mich in den Gedanken, daß dieses Stückchen Blei ein junges Leben hätte auslöschen können.

Hiruto beobachtet mich. „Ellen trägt Ihnen nichts nach,“ meint er. „Sie hat ja gegen Ihren ausdrücklichen Befehl gehandelt. Die Jacht wird Sie nicht mehr belästigen.“

„Infolge der Rakete?“ frage ich schnell.

Er schweigt und deutet sein gewohntes Achselzucken an.

Dann: „Werden Sie hier landen?“

„Ist es die Insel?“ forsche ich gespannt.

„Ja – die eingenebelte Insel – allerdings.“

„Und der grüne Zweig, den das Lot heraufbrachte?“

„Irgendein Strauch, ein Baum, die in die Tiefe gesunken waren …“

Ich hätte noch vieles zu fragen. Hiruto kam mir zuvor. „Mr. El Gento, ich bedauere, das Thema „Insel“ und „Jacht“ nicht weiter erörtern zu können. Ich kam in Ellens Auftrag zu Ihnen. Falls Sie ein paar Tage hier auf der Insel bleiben wollen, läßt sie Sie bitten, in einem Zelt am Strande zwischen den Büschen ihre Genesung abwarten zu dürfen. Die frische Luft wird ihr gut tun. Den Platz werde ich aussuchen.“

Dieses Ansinnen war unverfänglich. Verfänglich war dagegen Hirutos klug verschleierte Absicht, wir sollten eine Weile auf dem Eiland uns aufhalten – auf demselben Eiland, von dem er uns bisher mit allen Mitteln hatte fernhalten wollen.

Er spürte wohl mein Mißtrauen. Er meinte gleichgültig: „Natürlich will ich Sie in Ihren Entschlüssen keineswegs beeinflussen. Uns ist es ebenso lieb, wenn Sie Ellen und mich etwa nach Valdivia bringen.“

Jetzt log er wieder. Es wäre ihm sicherlich nicht lieb gewesen, wenn wir sofort davongesegelt wären.

„Ich will es mir überlegen, Baron. Das Eiland bietet wenig … Was sollen wir hier tagelang?! Anderseits möchte ich Miß Ellen nicht den unberechenbaren Zwischenfällen einer Seereise aussetzen, so lange sie nicht völlig wieder bei Kräften. Wie gesagt, – ich werde mich heute im Laufe des Tages entscheiden …“

„Sehr liebenswürdig …“ Er verneigte sich und ging.

Die Kugel schob ich in die Tasche. Ich freute mich dieses Andenkens.

Ohne Schwierigkeiten brachten wir die Brigg in die Bucht und vertäuten sie an einer steil abfallenden Uferstelle, die eine tadellose natürliche Mole darstellte.

Dann begannen die vielfachen Überraschungen.

 

7. Kapitel.

Die Insel.

Sie begannen eigentlich schon in dem Moment, als wir die Brigg in die Bucht hineinbugsierten und ich nun aus nächster Nähe feststellte, daß das ganze Eiland nichts als ein ungeheures Stück Bimsstein war.

Fälschlich wird dieses vulkanische Produkt zumeist „Bimmstein“ genannt. Es heißt jedoch richtig, Bimsstein und ist eine schaumige Ausscheidung glasiger vulkanischer Gesteine. Die luftdicht abgeschlossenen Blasenräume des Bimssteines übertreffen die Schwere der porösen Glasmasse derart, daß Bimsstein bekanntlich schwimmt.

Diese Bimssteininsel hier war durch eine seltsame Laune der Natur entstanden. Nur vulkanische Ausbrüche von grandioser Stärke konnten ein solches Riesenstück Bimsstein zusammengeschmolzen haben.

Diese hellgrauen, im Sonnenschein leicht silbern glänzenden Gestade waren ein Naturwunder, wie ich noch keines geschaut hatte. Gewiß, Vulkanausbrüche auf Java, den Sundainseln, in Japan hatten wohl zuweilen Bimssteinblöcke von mehreren Metern Umfang erzeugt. Besonders auf den Sundainseln werden solche leicht zu bearbeitenden Bimssteinblöcke auch zum Häuserbau verwandt, während die europäische Industrie den „Pumex“ (lateinische Bezeichnung) nur in pulverisierter Form als Schleifmittel oder in kleinen Stücken zum Reinigen der Hände und in der Gerberei benutzt.

Ich war als erster an Land gesprungen. Nicht ohne Vorsichtsmaßregeln. Zwei von uns standen für alle Fälle am Maschinengewehr bereit. Es war überflüssig. Wir wurden durch niemand gestört, nicht einmal durch Seevögel. Und dieses gänzliche Fehlen von gefiederten Geschöpfen gab mir zu denken. Die kleine Insel wäre doch ein idealer Nistplatz gewesen. Die zerrissenen Ufer boten übergenug passende Plätzchen. Ich sah nicht ein einziges Nest. Möwen und Albatrosse kreisten über dem Eiland, ließen sich aber stets nur für wenige Minuten auf den Felszacken nieder.

Nachdem die Brigg sicher vertäut war und zwar an zwei säulenartigen Blöcken, deren tief eingekerbte Rillen bewiesen, daß hier bereits Stahltrossen den Bimsstein zerscheuert hatten, ließ ich zunächst durch Chanaf die Wolldecken von den Fenstern der Kabinen entfernen – eine Rücksicht, die ich Ellen schuldete.

Chubur und ich, gut bewaffnet, begannen dann einen Rundgang um die Insel, durchquerten sie auch nach allen Seiten hin und … fanden nichts irgendwie Bedrohliches, dafür aber sehr viel Merkwürdiges.

Das Eiland besaß nirgends eine Schicht fruchtbarer Erde. Die Büsche und Bäume wurzelten in Spalten, in deren Tiefen sich freilich Humus wie in riesigen, oben fest geschlossenen Blumentöpfen befinden mußte. Die Palmen waren klein, die Sträucher wucherten desto üppiger. Gras oder Blumen fehlten vollkommen.

Der Baron hatte von einer Quelle gesprochen. Wir entdeckten sie nicht. Es gab hier nur kleine Lachen von Seewasser, ferner halb verweste Quallen, Fische und Krebstiere, die übel stanken. Seltsam war, daß zwischen den beiden Antennenmasten die meisten toten Quallen lagen.

Diese Antennentürme aus Holz standen auf Sockeln von Beton, waren mit Ölfarbe gestrichen und hatten jeder schmale Leitern und oben eine kleine Plattform. Die Ableitung der Antenne hing zerrissen unten auf dem Boden.

Wie genau wir auch nach Anzeichen uns umschauten, ob die Insel bewohnt gewesen: Nirgends fanden wir Anzeichen dafür.

Chubur meinte, vielleicht gäbe es in den Steilufern Hohlräume, Verstecke. Auch ich hatte daran gedacht. Wir riefen Manik und Chanaf herbei, und sie mußten die Ufer sorgfältig auf etwa vorhandene Verstecke durchstöbern. Diese hohen Ufer verliehen dem Eiland das Aussehen einer viereckigen Schüssel mit grünen Rändern. Das Innere war kahl, voller Bimssteinblöcke jeder Größe.

Die Sonne stieg höher, und Chubur und ich kehrten zur Brigg zurück. Wir frühstückten im Schatten der Büsche, und Chubur war durchaus meiner Ansicht, daß diese Insel uns kaum zu längerem Verweilen reizen könnte. Auch darin waren wir uns einig, daß die weiße Jacht die Leute der Insel mit sich genommen hatte und daß sie sich mit uns nicht mehr auf ein Gefecht einlassen würde. Sie würde zurückkehren, wenn wir davongesegelt waren, und die ganzen Geheimnisse würden so dunkel bleiben wie bisher. Was gingen sie uns an, wozu sollten wir uns in Dinge einmischen, die meiner Meinung aufs engste mit der verlogenen „Friedenspolitik“ der wehrhaften Großmächte verknüpft waren. Wir beschlossen allen Ernstes, morgen früh heimzukehren, falls Ellens Befinden dies zuließ.

Während wir so auf dem harten Gestein lagen und viel Whisky mit wenig Tee tranken und nun als Abschluß der Frühmahlzeit die Zigarren an die Reihe kamen, erschien Chanaf ganz atemlos zwischen den Büschen und brüllte wie besessen:

„El Gento, Insel großer Schwindel sein … Sein nur alles zusammengeschraubte Bimssteinblöcke. Ritzen sein verkittet mit Mörtel von gleicher Farbe. Manik hat losgerissen großen Block … Lange Schrauben liegen bloß … Alles Schwindel …!“

Ich starrte ihn fassungslos an.

Mein Blick glitt von seinem erregten Gesicht abwärts … Ich musterte den Boden, und da erst sah ich bei genauem Prüfen auch hier eine Rille, die mit Mörtel ausgefüllt war. Ich zog mein Messer, – der Mörtel war hart wie Beton, aber fast von der Farbe des hellgrauen Bimssteins. Ich verfolgte die Rille weiter, und sehr bald konnte ich die Umrisse verschiedener Stücke der Bodenplatten unterscheiden.

Wenn man Ingenieur ist, und wenn auch mein Spezialfach der Tiefbau war, so hat man doch auf verwandten Gebieten genügend Kenntnisse, um sich ein Urteil über technische Dinge, also auch über diese künstliche Insel bilden zu können. Als ich dann Chanaf zur Ostküste begleitet und mir die langen eisernen Schrauben angesehen hatte, wußte ich genug: Die Annahme, das Eiland sei ein Naturwunder, zerrann in nichts! Leute von hervorragendem Unternehmungsgeist hatten hier auf einer Untiefe eine Insel gleichsam aufgemauert. Wahrscheinlich hatten sie zuerst Betonklötze versenkt und auf diesem Fundament aus Bimsstein das Eiland richtig „zusammengeleimt“ – eine an sich so großartige Idee, ein so gelungenes imposantes Werk, daß man doch wieder vor einem Wunder stand – einem technischen Wunder höchster Vollkommenheit!

Ich wußte genau, daß man drüben auf der anderen Seite der Erdkugel Ähnliches seit langem plante. Die Amerikaner wollten im Atlantik schwimmende Flugzeughäfen errichten, wollten ungeheure Stahlkästen bauen, an Ort und Stelle zusammennieten und so ebenfalls künstliche Inseln schaffen als Zwischenlandungsplätze für den transozeanischen Luftverkehr.

Hier dieses Eiland mit Büschen und Palmen übertraf selbst den phantastischen Mut der amerikanischen Kollegen, übertraf die Hirngespinste eifriger Romanschreiber, denn – es war eine Insel, kein bloßes schwimmendes Riesendock, – es war künstliches Land an entlegenster Stelle des Pazifik!!

Welch’ immense Arbeit stellte dieses Inselchen dar!! Wie lange mochten hier wohl Hunderte von verschwiegenen Leuten in aller Stille geschafft haben, wie zahllos mußten die Schiffsladungen Bimsstein und Beton gewesen sein, bevor ein solches Werk zustande kam! Nur ein Genie, hinter dem ein Riesenvermögen und ein Heer von treuen Helfern stand, durfte sich an derartiges heranwagen.

Nur – – der Baron Sajo Hiruto konnte der Schöpfer des Eilandes sein! Wer den glühenden Patriotismus der Japaner kennt, kennt auch ihre Verschwiegenheit, sofern es um das Staatswohl geht.

„Hole den Baron!“ sagte ich zu Chanaf.

Chubur, Manik und ich setzten uns auf die Felsen. Vor uns ragten die enormen Schrauben aus dem Bimssteinboden.

Aber meine Araukaner zeigten keinerlei Interesse mehr für dieses Wunder der Technik. Ihnen genügte Chanafs Urteil: „Schwindel!!“

Chubur kaute seine Zigarre breit, und der Riese Manik, der die Kräfte eines Elefanten besaß, rüttelte an einem der runden, daumendicken Eisenstäbe, die oben Gewinde und Muttern hatten, und bog ihn wie ein Rohr zur Seite, ohne ihn aus seinem Betonlager herausreißen zu können.

Hiruto erschien. Er hatte eine weiße Mütze auf, im Munde eine Zigarette, und schaute sich immer wieder um, als ob ihm dieses Eiland fremd wäre. Er nahm die Zigarette zwischen die Finger, grüßte und starrte die vier meterlangen Schrauben an.

„Lassen Sie doch das Theater, Baron!“ sagte ich gereizt. „Sie haben diese Insel erbaut, nur Sie – Wozu?!“

Er markierte wieder sein Achselzucken.

„Mr. El Gento, mein Wort: Ich habe die Insel nicht … erbaut! – Wie meinen Sie das übrigens: erbaut?! Ich verstehe Sie nicht recht.“

Wenn er auch jetzt log, dann log er in der Vollendung. Aber er wiederholte sehr ernst: „Mein Wort, daß ich Sie nicht verstehe …! Wie kann man eine ganze Insel erbauen, mag sie noch so klein sein – mitten im Pazifik! Das ist ja Unsinn, verzeihen Sie.“

Er log nicht. Ich merkte es, und die Geheimnisse wurden noch dunkler.

„Baron, es wäre wirklich zweckmäßiger, Sie würden endlich Farbe bekennen,“ sagte ich mit allem Nachdruck. „Was wissen Sie von diesem Eiland?“

„Zu wenig, wie ich jetzt einsehe,“ erwiderte er nachdenklich. „Leider zwingen mich die Verhältnisse, auch weiterhin über gewisse Dinge zu schweigen. Aber ich versichere Ihnen, daß ich die Insel noch nie betreten hab – jetzt zum ersten Mal, – – beim Andenken meiner Ahnen!“ – und er nahm die Mütze ab und verneigte sich tief vor diesen Ahnen, die im Leben der Japaner wichtiger sind als alles andere. Ihr Ahnenkult ist das starke Gerüst ihrer Religion.

Ich wußte nicht, was ich sagen sollte.

„Kennt Miß Ellen die Insel genauer?“

„Nein. Sie hat ihren Fuß noch nie auf dieses Gestein gesetzt. – Erklären Sie mir bitte, weshalb Sie von „Erbauen“ sprachen. Mich interessiert das außerordentlich.“

„Mich wahrhaftig!“ – und ich zeigte ihm die Mörtelrinnen, zeigte ihm, daß all diese Blöcke künstlich durch Schrauben aneinander gehalten wurden.

Daß er von Technik nicht viel verstand, bewiesen mir seine ferneren Fragen und seine immer wieder auflebenden Zweifel. Er verstellte sich nicht, er hatte von dem wahren Wesen des Eilandes keine Ahnung. Schließlich kletterten wir zum Strande hinab. Hier mußte sich ja der Beweis, daß die Insel lediglich auf einer Untiefe regelrecht aufgebaut war, am leichtesten führen lassen. Ich ließ Chanaf einen Bootshaken und das Lot holen, und dann gingen Hiruto, ich und Chubur stark entblößt ins Wasser. Der Bimssteinstrand senkte sich etwa zehn Meter von der Flutgrenze ziemlich flach in die Tiefe, dann fiel er plötzlich ganz steil ab, und obwohl wir nur bis zur Brust im Wasser standen, fanden wir mit dem Bootshaken keinen Grund mehr. Erst als wir das Lot auswarfen, sank es genau bis auf dreißig Meter Tiefe, die Leine lief allerdings etwas schräg abwärts.

Das genügte dem Baron. Der Konstrukteur der Insel hatte eben mit dem Material doch gespart und den bei Flut unter Wasser liegenden Teil des Strandes nur etwa zehn Meter breit gemacht. Bei Ebbe mußte also dieser Strandstreifen noch schmaler sein, weil die Wasserhöhe dann geringer war.

Den zweiten Beweis lieferte Chubur als vorzüglicher Taucher. Er warf auch seine Lederjacke ab, gab sie mir und sprang kopfüber in die Tiefe. Als er nach zwei Minuten wieder erschien und neben uns den festen Bimssteinboden erreichte, sagte er mit einem Gesicht, wie ich es an ihm noch nie bemerkt hatte, und dieses Gesicht war das eines Menschen, dem das Grauen die Kehle zuschnürt, und die Stimme klang wie eingerostet:

„Dort … dort unten Fels wie vorspringendes Dach nur … Und unter Dach hocken auf dicker Kette große Meerspinne mit Lassoarmen und Laternenaugen … Chubur nie mehr hier tauchen … Chubur kennen große Meerspinnen … Da –“ – und er zeigte auf seine vorgewölbte Brust, und über der linken Brustwarze hatte er eine handgroße Narbe mit zackigen Rändern, die ich bereits kannte – „da haben Zange von große Meerspinne Fleisch herausgerissen am Kanal an Wellington-Inseln …“

Er schüttelte sich vor Grauen …

„Chubur kämpfen mit Puma, mit viele Feinde. Chubur nie mehr kämpfen mit Meerspinne …“

Hiruto schaute ihn verständnislos an.

„Er meint einen Kraken, einen Riesentintenfisch, Baron,“ erklärte ich, und wir drei begaben uns ziemlich eilig zurück aufs Trockene.

Hier zog Chubur schweigend seine Jagdkluft wieder an. Als ich ihn fragte, ob er denn wirklich eine Kette dort unter Wasser erkannt hätte, nickte er nur … „Laternenaugen von Spinne waren hell genug …“ und dann ging er am Strande davon der Bucht zu. Seine Schritte waren unsicher, und als wir nachher an Bord kamen, hatte Chubur seinen Schreck mit Whisky betäubt und war total betrunken und schlief.

Nachher …

Denn Hiruto und ich blieben noch auf der Insel, durchquerten sie und prüften überall die einzeln herumliegenden Bimssteinblöcke. Sie waren sämtlich an den eigentlichen Bodenplatten des Eilandes festgeschraubt, und dort, wo die Schraubenmuttern vertieft saßen, waren die Löcher mit dem hellgrauen Mörtel unauffällig ausgefüllt.

„Mr. El Gento,“ sagte der Baron, „bisher habe ich Ihnen allerlei Rätsel aufgegeben. Nun tut das gleiche dieses Inselchen mir gegenüber – und Ihnen gegenüber. Immerhin – um ehrlich zu sein –, ich glaube den Konstrukteur dieses Wunders zu kennen, – – oder besser, ich kenne ihn. Ich bin es nicht. Es ist ein Mann, der …“

Er brach mitten im Satz ab, deutete wieder sein Achselzucken an und fügte hinzu: „Nein, ich darf nicht einmal darüber sprechen … Niemand darf es … – Wir wollen nun, wenn es Ihnen recht ist, für Ellen ein Zelt errichten …“ – So lenkte er das Gespräch über den „Mann“ ab und lenkte es auf die Frau, auf das Mädchen, deren Ebenbild in meiner Seele haftete – – für immer.

 

8. Kapitel.

Ellens Wünsche.

Still ging ich neben Hiruto her. Das Verhältnis zwischen uns hatte sich vollkommen geändert. Meine bisherige Annahme, der Baron sei ein Verbündeter der Leute, die sich nun auf der Jacht im Pazifik irgendwo umhertrieben und nicht wagten, ihr Eiland vorläufig aufzusuchen, war verfehlt gewesen. Hiruto kannte diese Männer, aber er kannte ihre Geheimnisse nur zum geringsten Teil. Er hatte mich belogen, getäuscht, –jetzt log er nicht mehr. Im Grunde waren wir nun Verbündete geworden … durch die Bimssteininsel.

Und Ellen Duncam?! Wie weit war sie eingeweiht?! Wußte sie mehr als Hiruto?!

Ich mochte ihn nicht danach fragen. Er hätte ja doch nicht geantwortet. Fraglos hatte er sein Wort verpfändet.

Zu meinem Erstaunen sagte er da ganz von selbst, als wir zur Bucht hinabstiegen: „Ellen hat mir vieles verheimlicht, merke ich … Die Rakete zum Beispiel war für mich eine völlige Überraschung, Mr. Abelsen.“

Zum ersten Male redete er mich mit meinem eigentlichen Namen an – „In der Tat – eine völlige Überraschung … Ich hätte es sonst ja nie zugelassen, daß sie sich der Gefahr aussetzte, erschossen zu werden.“ Er sprach das in sehr nachdenklichem Tone. „Im Vertrauen, Mr. Abelsen, Ellen hat mir auch die Stelle bezeichnet, wo das Zelt errichtet werden soll, sogar sehr genau … Und doch ist sie bestimmt noch nicht auf dieser Insel gewesen, das könnte ich beschwören. Die Instruktionen, die sie erhalten hat, sind also viel genauer als die, die ich empfing, … empfing, in des Wortes wahrer Bedeutung: durch den Radioapparat!“

„Den auf der Brigg, den Sie nachher abmontierten?“

Er schwieg und warf seine Zigarette weg.

Wir kamen an Bord. Chubur lag vorn im Schatten der Reling und schlief – betrunken. Meine Araukaner standen unweit davon um Chanaf herum, und ihre Gesichter verrieten deutlich eine gewisse stille Feindseligkeit. Während der Baron zum Achterschiff ging, trat ich zu meinen braunen Freunden. Nur der Riese Manik fehlte. Ich fragte nach ihm. Chanaf erwiderte finster:

„Er sein bei blonde Miß, El Gento … Blonde Miß haben wieder Signal gegeben …“

Ich erschrak. „Ein Signal?! Wie das?!“

„War am Fenster, zweites nach Backbord … Hat mit rotem aufgespanntem Sonnenschirm herausgewinkt, hat Sonnenschirm gedreht und … so … geschwenkt … so …“

Er deutete die Bewegungen an …

„… Manik das sehen, Manik sehr wütend und werfen Jagdmesser …“

Ich fühlte, daß ich bleich wurde.

Chanaf verzog die Lippen. „El Gento es halten mit blonde Miß … Sein nicht mehr Freund von Araukaner … Miß sein Feindin.“

„Chanaf!!“ – Aber mein Grimm verpuffte …

„Hat Manik … getroffen?“ – Ich war verlegen … Chanaf besaß das klare Gerechtigkeitsgefühl der freien Männer, die dort am Gallegos hausten, und auch ich besaß es. Ich fühlte mich schuldig. Ich hatte zuviel Rücksicht auf Ellen genommen, ich tat es noch.

„Schirm getroffen … und dann hinlaufen,“ erwiderte der schlanke junge Araukaner einfach. „Ich gleich in Krähennest klettern und mit Glas sehen, ob Jacht etwa zu sehen, aber Meer sein ganz leer …“

Ich eilte davon. Wer konnte wissen, was Manik mit Ellen angestellt hatte?!

Als ich ihre Kabine betrat, lag der Baron gefesselt auf dem Teppich, Ellen in ihrem kostbaren Morgenkleid sehr bleich in einem Bordstuhl, und Manik lehnte an der Wand und musterte mich mit offener Auflehnung, sagte rauh:

„Insel sein Lüge … Keine Insel sein … Japaner auch lügen, blonde Miß Verräterin, und El Gento nicht mehr Freund von Araukaner … Coy Cala war Häuptling. Er tot. Ich hier befehlen …!“

Also so standen die Dinge!! Rebellion – gegen mich, der vor Monaten feierlich in den Stamm aufgenommen worden war, der sich als Bruder dieser braunen Pampassöhne betrachtete!! Und all das – – eines Weibes wegen, – des Mädchens wegen, die dort vor mir ruhte und deren Augen mich flehend anschauten …!!

Aber auch andere Augen schauten mich an, und die waren schwarz wie Kohlen und glühend wie Kohlen … – Eines hatten all diese Araukaner an sich: Sie konnten in ihren Blick einen solch’ verächtlichen Hochmut legen, wie ich dies bei Naturvölkern nur noch bei den Somalis gefunden habe, die sich ja überhaupt durch tadellosen Wuchs und zuweilen fast edlen Gesichtsschnitt auszeichnen.

Manik, der Riese blickte mich so an und spielte dabei mit seinem Jagdmesser, das ganz außergewöhnliche Länge besaß. Manik wartete auf meine Antwort.

Sollte ich dieser beiden Fremden wegen die Freundschaft treuer erprobter Gefährten hingeben?!

Und dann: Durfte ich diese Anmaßung Maniks ruhig durchlassen?!

Also dann zuerst … Manik! Ich wußte, wie diese großen Kinder zu nehmen waren.

„Wenn du meinst, du hättest hier zu befehlen, Manik, – nun gut, tu’s! Und wenn ich nicht mehr zu euch gehöre, ihr mich also ausstoßt, nur, weil ich gerecht bin – auch gut! Ich bin gerecht. Die Frau und der Japaner haben ihre Geheimnisse, wir haben die unseren. Denke an Coy Calas Grab. Würdest du etwas davon verraten, würdest du nicht lügen und kämpfen, sein Grab zu schützen?! Uns gehen diese Fremden nichts an … Die Insel gehört denen, die ich mit Kugeln auf ihrer Jacht überschüttete. Habe ich sie geschont?! Ich habe nur getan, was mein weißes Blut mir gebot: Unnötiges Morden zu verhüten, und ein Mädchen, daß für die Ihrigen eintritt, zu schützen. – Du hast das Band der Freundschaft zwischen uns zerschnitten. Lebte Coy noch, wäre dies nie geschehen. Also – – befiehl, was soll geschehen?“

Maniks Augen erloschen. Seine harten Züge entspannten sich, und halb verlegen prüfte er mit dem Zeigefinger die Schärfe seines Messers. Was er in der ersten Erregung ausgesprochen, reute ihn. Er suchte nach Worten, er war unbeholfen in der Kunst, seine Gedanken für andere Ohren zu formen, er trat unruhig von einem Bein auf das andere und brummte:

„So das nicht gemeint waren, El Gento … Du unser Bruder … Nur … nur zu viel Freundschaft für junge Miß …“

Ich sah zu Ellen hin. Sie errötete, und mir ging’s nicht anders.

„Miß mit Schirm winken …“ fuhr Manik grollend fort … „Wem winken, he?! Wem?! Jacht nicht da sein. Meer sein leer … Wem winken, he?! Insel sein Lüge, Felsen sein Lüge, in Felsen können sein Leute und schießen …“

„Dann hätten sie es wohl längst getan, Manik … Sie hätten uns einzeln niederknallen können. Die Leute sind auf der Jacht, und die weiße Jacht fürchtet uns. Vergiß nicht, daß sie nachts umkehrte, als die Miß das Feuer gen Himmel fliegen ließ. Hat die Rakete uns geschadet?! Wird der rote Schirm uns schaden?! Fürchtest du dich vor einer Frau?!“

Er überlegte. Sein Hirn arbeitete langsam.

„Du recht haben, El Gento … Wir Araukaner undankbar … Du Coy schützen, du Bruder von uns … Das so bleiben.“

Er hielt mir die Hand hin, und ich nickte ihm zu und er lächelte bescheiden und preßte meine Hand und ging hinaus.

Der Zwischenfall war erledigt – und auch nicht. Ein Riß läßt sich wohl zusammenleimen und überpinseln, daß äußerlich wieder alles glatt erscheint wie ehedem. Aber im Innern bleibt doch die Trennung des Grundstoffes bestehen, und so war es hier: Ich hatte meine braunen Freunde für immer verloren, Maniks Messer hatte – hier ein Symbol –tatsächlich das enge, feste Band zwischen uns zertrennt, und was einmal gewesen, würde niemals wiederkommen. Ich fühlte es: Ich hatte meine Heimat am Gallegos eingebüßt, ich war wieder genau so weit wie damals, als ich auf schwankenden Drähten dem staatlichen Pensionat der Enterbten Lebewohl sagte: ein Einsamer, Ausgestoßener!

Vielleicht empfand Ellen mit dem verfeinerten Instinkt des Weibes für seelische Vorgänge, was sich jetzt in mir abspielte, obwohl mein Tun meine Gedanken überschattete, denn ich nahm Hiruto die Fesseln ab und sagte sogar mit einem Anflug von nachsichtigem Lächeln:

„Es sind eben halbwilde Burschen, aber …“ – und ich wollte hinzufügen: „… aber goldtreu!“ Ich verschluckte den Nachsatz, denn wieder begegnete Ellens Blick dem meinen, und … in ihren Augen schimmerten Tränen, die mich erschreckten.

Wie sollte ich wohl diesem Mädchen gegenüber mit der durch die Umstände bedingten Energie auftreten, wenn sie so offensichtlich tief bedauerte, meine Araukaner mir entfremdet zu haben?!

Der Baron rieb sich sein linkes Handgelenk, wo die Stricke rote Striemen erzeugt hatten. Das andere war durch den Verband geschützt worden. Er überhob mich zum Glück der peinlichen Aufgabe, von Ellen über den roten Schirm Aufschluß zu fordern.

„Ellen,“ meinte er ungewohnt scharf, „zu meinem Bedauern habe ich vorhin erkannt, daß Sie selbst mir gegenüber vieles verschwiegen haben, was die Insel betrifft. Sie ließen mich bei dem Glauben, es handele sich um eine vulkanische Schöpfung, während nun feststeht, daß das Eiland ein wunderbares Kunstprodukt ist, eine geniale Schöpfung, die …“ – er hüstelte, … „Nun, jedenfalls: Auch Sie haben Geheimnisse vor mir, und weshalb Sie den roten Schirm als Winkerflagge benutzten, werden Sie Mr. Abelsen wohl erklären müssen … Sie dürfen nicht allzu stark auf seine Nachsicht rechnen. Er hat sich als Gentleman gezeigt. Auch das hat seine Grenze. Also …“

Sie hatte verstohlen die Tränen weggetupft. Sie hielt die Hände im Schoße verschlungen, und um ihren blassen Mund zeigten sich wieder die geringen Falten unbeugsamer Entschlossenheit.

„Nehmen Sie an, ich wollte den Schirm nur abstäuben,“ erwiderte sie mit einer gewissen unverkennbaren Gereiztheit und Ironie. „Nehmen Sie an, was Sie wollen … Vielleicht fürchtete ich ein neues Gefecht zwischen der Jacht und der Brigg und wollte dies verhüten.“

Hirutos intelligente Züge wurden steinern. „So fertigt man Mr. Abelsen nicht ab,“ sagte er schroff. „Schon die Höflichkeit verlangt eine klare Antwort und nicht derartige Ausflüchte.“

„Diese Antwort verweigere ich …“ Sie richtete sich ein wenig auf, und jetzt zuckte es schmerzlich um den bleichen Mund. „Hiruto, wollen Sie sich von mir abwenden?! Sie kennen mein Leid … Ich habe nur einen Wunsch: Ich möchte an Land, ich möchte Mr. Abelsen hier nicht mehr belästigen. Lassen Sie nur das Zelt aufschlagen …“

Und diese Bitte galt mir.

„Wie Sie befehlen, Miß … Mag der Baron mir die Stelle zeigen, wo das Zelt stehen soll … Oder haben Sie inzwischen einen anderen Platz gewählt?“

Ihr Blick suchte von meinem Gesicht abzulesen, wie diese Worte gemeint waren.

„Nein …“ entgegnete sie etwas verwirrt. „Es mag bei der Stelle zwischen den Büschen dicht an der Halbinsel bleiben … Es liegt dort ein Felsen, der …“

„… Der festgeschraubte Bimssteinblock,“ verbesserte ich, und helle Glut schlug ihr in die Wangen.

Aber kühl fuhr sie fort:

„… Ein Felsen, der ungefähr die Gestalt eines Frauenkopfes hat …“

Wieder fiel ich ein: „Ich denke, Sie haben die Insel noch nie betreten … Woher kennen Sie den Kopf, Miß Duncam?“

„Das … ist meine Sache, Mr. Abelsen … Verzeihen Sie schon …“

„Und wenn ich nun das Zelt anderswo aufstellen lasse?! Wenn ich vielleicht vermute, gerade der Platz dort könnte eine besondere Bedeutung haben? – Jedenfalls werde ich ihn mir erst sehr genau ansehen, was Sie mir kaum verargen dürfen. Unsere Sicherheit erfordert das. Die Leute auf der Jacht haben die Feindseligkeiten eröffnet, und …“

Sie hatte eine gleichgültige Handbewegung gemacht. „Ihr Mißtrauen ist berechtigt … Die Stelle dort, Mr. Abelsen, ist von der Brigg hier keine vierzig Meter entfernt, und ich bin dort am leichtesten zu überwachen … Tun Sie, was Sie für richtig halten. Meine Wünsche sollten Ihnen das Peinliche ersparen, mich von Wächtern umgeben zu müssen.“

„Ich begreife Sie nicht, Kind …“ meinte Hiruto. „Kommen Sie, Mr. Abelsen … Unsere blonde Prinzessin ist außerordentlich rücksichtsvoll …“

Ich verneigte mich, ich suchte Ellens Blick, aber sie schaute vor sich hin. Wir gingen an Deck. Im Laderaum befand sich ein vollständiges Zelt aus doppelter Leinwand mit zwei Abteilungen, Zeltstangen, Kokosmatten, Klappstühle, Tischchen, ein Schränkchen, Kleiderhalter und ein Feldbett.

Meine Araukaner, die mich durch verdoppelten Diensteifer zu versöhnen suchten, trugen all das an den freien Platz zwischen den Büschen. Der Kopf-Felsen war leicht zu finden gewesen. Er war offenbar von einem Künstler in ein Frauenhaupt verwandelt worden. Diese Bildhauerarbeit an dem porösen Material mochte nicht einfach gewesen sein. Ich untersuchte den Platz äußerst sorgfältig, entdeckte jedoch nichts irgendwie Verdächtiges. Das Zelt hatte dort gerade genügend Raum, so daß vor dem nach Norden zugekehrten Eingang noch eine buschfreie Fläche übrig blieb.

Dann trugen zwei Araukaner Ellen samt dem Liegestuhl an Land. Hiruto erwartete sie vor dem Zelte, ich selbst war mit Manik nach den Antennenmasten gegangen, um von deren Plattform mit dem größten Fernrohr der Brigg Ausschau nach der Jacht zu halten. Wir sahen nichts als das leere, weite Meer ringsum. Manik blieb auf der Plattform. Ich selbst wanderte allein zum Südstrand und setzte mich hier zwischen zwei schroffe Bimssteinzacken und hing meinen Gedanken nach.

Ich wollte allein sein.

Ich hatte heute unendlich viel verloren. Ich hatte mir eine neue Heimat dort am Gallegos gewonnen gehabt und hatte sie wieder verloren. Die Araukaner waren mir wahre Freunde gewesen, – und auch sie hatten sich von mir innerlich losgesagt. Mir war schwer ums Herze, unendlich schwer, und ich sehnte den morgenden Tag herbei, an dem wir wieder in See stechen würden … Ich haßte diese kleine Insel … Ich war ohne Heimat, ohne Freunde … Ich war einsamer denn je. Und mein Entschluß stand fest, wieder irgendwohin in die ferne Fremde zu ziehen, wo niemand mich kannte.

Und doch …

Ellen Duncam drängte sich immer aufs neue in meine schleppenden Gedanken ein.

Eine unklare Vorahnung sagte mir, daß, selbst wenn ich Ellens Geheimnissen ausweichen würde, das Schicksal mich doch wieder mit diesem Mädchen zusammenführen müßte.

Ich schreckte empor …

Maniks Stimme brüllte suchend meinen Namen.

„Hallo, El Gento – – hallo!!“

Ich meldete mich, er kam herbeigestürmt mit flinken Sätzen, sein Gesicht war kittgrau und sein Unterkiefer flatterte, zerbiß seine Worte zu halb unverständlichem Stammeln …

Ich starrte ihn an.

„Du mitkommen, El Gento … Du mitkommen … Sein drei Tote, El Gento … Drei Weiße …“

Wir rannten zur Nordbucht, zur Brigg. Der Bimsstein knirschte unter unseren Füßen.

An Deck der Brigg lagen drei Ballastsäcke – aufgeschnitten … Die Hälfte des Sandes war verschüttet. In den Säcken steckten drei Leichen, drei Männer, die Beine eng an den Leib gezogen … Sie waren mit weißem Chlorkalk bestreut, aber der Verwesungsgeruch hatte trotzdem einen der Araukaner gerade auf diese Säcke aufmerksam gemacht.

 

9. Kapitel.

Ramses und die Haie.

Es war nicht weiter wunderbar, daß sogar Manik beim Anblick dieser Toten die Herrschaft über seine Nerven verloren hatte. Dieser Anblick war grauenvoll … Jeder der drei hatte entsetzliche Wunden, jedem war die Brust aufgerissen, so daß Herz und Lunge frei lagen, – jeder hatte ähnlich gräßliche Verletzungen am Kopfe. Dem einen fehlte die Hirnschale fast vollständig.

Und dann der Gestank! – Ich wich zurück …

Neben mir erzählte der Araukaner, der sie entdeckt hatte, wie er unten im Raum sich umgeschaut habe, weil ihm, als wir das Zelt holten, der Leichengeruch aufgefallen war. Ich hörte kaum hin.

Wer waren die Toten – Hiruto mußte es wissen.

„Holt den Japaner!“ befahl ich.

Manik goß sieben Eimer Seewasser über die Leichen, das Wasser schwemmte Chlorkalk und Sand hinweg, und … Chanaf kam mit der Whiskyflasche.

Mit angehaltenem Atem durchsuchte ich die Reste der Kleidung dieser Europäer. Sie trugen gestreifte Leinenhosen und Leinenjacken als Unterzeug, darüber graue Anzüge aus einem wolligen, derben Stoff. Ihre Schuhe – ohne Strümpfe – waren plump und hatten genagelte Sohlen. Zwei der Leute mochten etwa dreißig Jahre alt gewesen sein, der dritte sicherlich um die Sechzig herum.

Ihre Taschen waren leer.

Als ich mir gerade die Hände wusch, erschien Hiruto, die Zigarette in der Linken, – vornehm, elegant, geschmeidig …

Er blickte flüchtig hin und sagte zu mir, auf die drei deutend:

„Ich hätte Ihnen diese traurige Ladung nicht verheimlichen sollen, Mr. El Gento.“

Ich war nicht in der Stimmung, mich vielleicht abermals belügen zu lassen.

„Wer hat die Leute getötet?“ – und meine Pistole und meine Miene mahnten den Baron, Ausflüchte besser zu vermeiden.

„Ich,“ erklärte er einfach.

„Weshalb?!“

„Weil sie sich an Ellen vergreifen wollten.“

„Würden Sie mir das gefälligst näher schildern, Baron …!!“

„Aber bitte – gern … Wofür halten Sie die drei?“

„Es sind Weiße, Europäer …“

„Ja … Es sind Sträflinge, aber keine Europäer, sondern Chilenen … Ist Ihnen bekannt, daß die Republik Chile die berühmte Robinsoninsel Juan Fernandez als Sträflingskolonie benutzt?“

„Gewiß …“

„Diese drei sind entflohene Sträflinge, Mr. El Gento. – Ich sagte Ihnen schon zu Beginn unserer Bekanntschaft, daß wir hier an diesem Eiland überfallen wurden, als wir kaum erst die Brigg vertäut hatten – hier in der Bucht, wo sie jetzt liegt. Diese drei Chilenen kamen an Bord, als ich gerade den Motor anwarf, um mit Ellen zu flüchten. Die Kerle wußten mit dem Motor nicht umzugehen, und die Brigg fuhr davon, während Ellen und ich uns in der Kajüte verteidigten. Es war Nacht, und morgens kam es zwischen uns zu einem Friedensschluß, denn die Sträflinge hatten eingesehen, daß sie mit der Brigg nicht fertig wurden. Ich betrog sie und steuerte nach Osten anstatt zurück zur Insel. Dann trieb uns ein Orkan bis zum Wellington-Archipel. Die drei Chilenen waren Tiere, nicht Menschen. Sie ließen Ramses hungern und mißhandelten ihn. Als die Brigg sich festgeklemmt hatte, betranken sich die drei und … spielten Würfel um … Ellen. Sie saßen auf einer Klippe dicht an der Reling. Ich nahm eine Handgranate, und leider flogen die Leichen hier auf das Deck. Wenige Minuten später sah ich Ihr Boot nahen, Mr. El Gento. Da ich die Leichen nicht mehr über Bord werfen konnte, packte ich sie rasch in die Säcke, reinigte das Deck, und Ellen und ich verbargen uns unten im Raum, wo wir dann gefunden wurden. – Ich schwöre Ihnen bei meinen Ahnen: Dies ist die volle Wahrheit.“

„Ich zweifele nicht daran. Nur – die Wahrheit hat Lücken, Baron.“

„Gewiß. Es tut mir aufrichtig leid, diese Lücken nicht ausfüllen zu dürfen. Vielleicht hätte ich Ihnen nicht einmal dies alles mitteilen dürfen.“

Er rauchte sich eine frische Zigarette an und lehnte sich an die Reling. Seine Kaltblütigkeit war erstaunlich.

„Würden Sie mir noch eine Frage beantworten?“ meinte ich genau so höflich.

„Es käme darauf an, wie die Frage lautet. Mein Ehrenwort zieht den Kreis dessen, was ich sagen darf, sehr eng.“

„Also … – wie waren die Sträflinge hier auf das Eiland gelangt?! Etwa mit der weißen Jacht?“

Er schüttelte den Kopf …

„Die Frage muß ich wirklich ablehnen, Mr. El Gento.“

Ich war machtlos. – „Ich danke Ihnen, Baron … – Wie fühlt sich Miß Duncam in ihrem Zelt?“

„Ausgezeichnet …“ Er lächelte fast glücklich. „Sie wollte Sie gern sprechen und …“

„Später, Baron, später … – Sind wirklich keine weiteren Toten an Bord?“

„Nein.“ Er blickte mir offen ins Gesicht. „Ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt: Es waren nur drei … Und es ging um Ellen. Die Handgranate war unbedingt nötig.“

Er schritt davon und kehrte an Land zurück – zu Ellen.

Wir beschwerten die Leichen mit Steinen und versenkten sie draußen in See, indem wir sie mit dem kleinsten Boot der Brigg hinausruderten. Manik, Chanaf und ich erledigten dies. Der Laderaum wurde nachher gründlich gelüftet und das Deck abgeseift. Inzwischen hatte einer der Araukaner das Mittagsmahl fertig gestellt, und Chanaf trug für Ellen und Hiruto ein großes Tablett zwischen die grünen Büsche. Manik und wir anderen saßen in der großen Kapitänkajüte. Das Wetter war wundervoll, die See fast spiegelglatt und die Hitze nicht allzu arg.

Manik entwickelte mir beim Essen seine Ansicht über die Sträflinge.

„Es sein gewesen mehr als drei, El Gento … Japaner das auch andeuten. Drei kamen auf Brigg, die übrigen haben überfallen auf Insel Besatzung von Brigg … – das klar sein …“

„Allerdings … Und weiter?“

„Hm –, du weiterreden, El Gento,“ bat er dann. Er war mit seinem Latein zuende.

Meine noch immer so ein klein wenig schuldbewußten, braunen Kameraden, die alle außer ihrem spanisch-indianischen Mischidiom auch ein wenig englisch verstanden, schauten mich erwartungsvoll an.

Ich sollte reden. Was ich vorbringen konnte, waren Vermutungen. „Ich glaube, die Sträflinge kamen mit der weißen Jacht hierher, die sie entführt haben. Während die Brigg nachts hier in der Bucht landete, müssen die Sträflinge bereits die Insel besetzt gehabt haben. Die Leute der Brigg gingen an Land bis auf Hiruto und Ellen. Ahnungslos wurden sie überfallen, und der Kampf endete zunächst mit einem Siege der geflüchteten Chilenen. Später gelang es der Besatzung der Brigg – diese war inzwischen längst davongefahren, wie wir wissen –, der Sträflinge Herr zu werden. Tage vergingen. Dann erschien die Brigg, also wir in Sicht des Eilandes. Die Freunde Ellens nebelten die Insel ein, und um Ellen und Hiruto zu befreien, folgte die Jacht uns, auf der sich nun die Hiruto-Partei befand. Das kleine Seegefecht endete mit dem Abzuge der Jacht, das Eiland selbst war menschenleer und wir sind jetzt hier die Herren. – Dies alles kann so gewesen sein … Es besteht jedoch auch die Möglichkeit, daß ich mich in manchen Punkten gründlich irre.“

Chanaf trat mit dem leeren Tablett ein. Er, der jüngste der Araukaner, dabei fraglos der intelligenteste, erklärte gleichgültig:

„Miß sein traurig, daß El Gento nicht kommen. Miß sehr freundlich zu Chanaf. Ich merken, sie guter Mensch, aber viel Herzeleid.“ Er setzte sich zu uns. Nach den ersten Bissen fügte er hinzu:

„Wir alle etwas vergessen … Sein schade um schwarzen Hund. Hund weg, seit hier landen. Hund gleich an Land springen. Haifische um Insel sehr viel … Miß Ellen ein wenig weinen …“

Er hatte ganz recht: An Ramses hatten wir überhaupt nicht mehr gedacht. Ramses war tatsächlich verschwunden. Sehr wahrscheinlich hatte er schon seiner Flöhe wegen ein längeres Bad genommen, und dabei hatte ihn ein Hai geschnappt. Armer Kerl!! Er war mir ans Herz gewachsen, er hatte mich so sehr an meinen eigenen vierbeinigen Freund erinnert.

Ich saß so, daß ich durch das Kajütenfenster die etwas gekrümmte Bucht entlangblicken konnte. Ich sah die Rückenflossen von vier Haien durch die spiegelglatte Flut ziehen. Sie schwammen in Reihe, und der vorderste mußte ein Bursche von mindestens vier Meter Länge sein, wie die Größe der Flosse verriet. „Du könntest die Bestien abschießen,“ sagte ich zu Mischko, der bereits zur Zigarre griff. „Wir wollen die Bucht von ihnen säubern. Ich möchte nachher baden …“

Mischko nickte und trat ans Fenster.

„Hallo,“ rief er plötzlich … „El Gento – – da – – Schwertfisch erledigen Haie … Da … sehen, sehen …!!“

Wir alle eilten hinaus an die Reling. Aber der Kampf zwischen Haien und Schwertfischen war bereits erledigt. Selbst die kleinere Art der Schwertfische, die eigentlich im Atlantik sehr selten ist, aber stets hordenweise wie ihre Verwandten, die Delphine, auftreten, wird mit dem stärksten Hai fertig. Es gibt kaum einen Fisch, der so flink ist wie diese Ungeheuer mit den meterlangen Schwertern, – man müßte besser Lanzen sagen.

Jeder von den Haien hatte mindestens drei der Schwerter im Leibe. Sie wälzten sich dicht an der Oberfläche hin und her, wälzten sich, schlugen mit den Schwänzen, daß es wie das dröhnende Klappern stürzender Bretterstapel klang, und wirbelten ihre Peiniger oft genug in die Luft, die aber hingen fest … Die Bucht schäumte, das Wasser färbte sich blutig, die Haie ermatteten bald, dann rissen die Schwertfische ihre Waffen aus den Bäuchen der verendenden Feinde, die Haie zeigten die weiße Bauchseite, das Blut spritzte aus den Stichwunden wie aus Fontänen, und … Manik rief mir zu, ihn zu begleiten. Wir kletterten in das Boot hinab, das noch am Heck auf dem Wasser schaukelte, Manik machte die Harpunen fertig, von denen es auf der Brigg ein ganzes Dutzend gab, und ich ruderte mitten zwischen die Bestien hinein, deren müde Bewegungen kaum noch gefährlich waren.

Der Riese Manik als Harpunier hätte jeden Bildhauer entzückt. Er hatte die Lederjacke, die er auf dem bloßen Leibe trug, abgeworfen. Seine vollendete Muskulatur, das Ebenmaß seiner Glieder im hellen Sonnenschein, der wurfbereite, nach hinten gerichtete Arm … Dann die blitzschnelle Bewegung – eine wilde, bezaubernde Schönheit lag in dem allen!

Nacheinander spießte er die vier Haie auf, die Widerhaken faßten, die Leinen der Harpunen strafften sich unter den letzten krampfhaften Versuchen der Meeresbestien, in der Tiefe zu verschwinden. Unser Boot wurde hin und her gezerrt, dann zog Manik den ersten Hai ganz nahe heran und jagte ihm eine Pistolenkugel in das kleine Schweinsauge.

Das Jagdfieber hatte auch mich gepackt. Ich sah einen Schwertfisch in der Nähe, sprang von der Ruderbank empor und ergriff eine Harpune, warf, traf nicht … Die Harpune schoß fast senkrecht abwärts, die Leine flog mit, aber das Ende der Leine war an einer Dolle festgebunden. Zu meinem Erstaunen sah ich, daß die Leine kaum ganz lang abrollte, also war die Bucht sogar hier in der Mitte sehr flach. Sollte etwa der Grund der Bucht auch aus Bimsstein bestehen?!

Als ich Manik meine Vermutung mitteilte, zögerte er einen Moment, streifte dann doch Hosen und Schuhe ab und tauchte, das Messer für alle Fälle zwischen den Zähnen. Er tauchte sehr bald wieder empor, schüttelte das Wasser aus dem langen Haar …

„Sein Bimsstein,“ nickte er.

„Wollen nachher loten, wie weit der künstliche Grund sich seewärts hinzieht,“ meinte ich.

Die Haie wurden an Bord gehißt und abgehäutet. Gegerbte Haifischhaut liefert den Araukanern am Gallegos die besten Schuhe. Die Kadaver wurden ins Boot verfrachtet, und Manik und ich fuhren mit dem Lot die Bucht entlang und ließen es einfach schleppen. So stellten wir fest, daß der künstliche Grund der Bucht sich noch fünf Meter über die äußerste Spitze der Halbinsel erstreckte. Erst hier glitt das Lot auf sechzig Meter Tiefe hinab. Hier warfen wir die eklen Kadaver in die See. Als wir umkehrten, schossen bereits ein paar Haie herbei, um ihre toten Artgenossen als Diner zu verspeisen.

Ich blickte nach den grünen Büschen hin. Dort stand Ellen, neben ihr Hiruto, der sie stützte. Sie hob den Arm und winkte. Ich tat, als sähe ich nichts. Es war besser für mich, Ellen zu meiden. Anderes erfüllte auch meinen Sinn mit unbegrenzter Hochachtung. Dieses Eiland war ein Wunderwerk – mehr als das, sie war ein Triumph der Technik, mit ihr hatte ein genialer Kopf sogar dem Ozean einen Possen gespielt und ihn gezwungen, diese Gebilde aus porösem Gestein als Festland anzuerkennen.

Wir vertäuten das Boot wieder am Heck, und ich nahm die Büchse und das Fernglas und wanderte nach Osten zu am Strande dahin. Es war jetzt zwei Uhr nachmittags. Die Sonne hatte sich ein wenig verschleiert, von Süden zogen Wolkenfetzen herauf.

Es trieb mich zu der Stelle hin, wo Chubur, der noch immer seinen Rausch ausschlief, in der Tiefe den Kraken an der Kette hängend gesehen hatte. Wir hatten jetzt Ebbe, der Wasserstand war anderthalb Meter geringer, und ich konnte bequem bis zum Unterwasserrand des künstlichen Strandes waten. Das Wasser reichte mir nur bis zu den Hüften. Als ich, mit dem Fuße tastend, den Rand fühlte, beugte ich mich herab und schaute in die dämmerige Tiefe. Etwas wie ein milder Lichtschein glastete da unten. Das konnten nur die phosphoreszierenden Telleraugen des Riesenpolypen sein. Ich bückte mich und befühlte den Rand … Ich … fühlte hier nicht Bimsstein, sondern schleimiges Metall. Ich kratzte mit dem Fingernagel. Es mußte Stahl sein, rostfreier Stahl – er hatte eine hochgewölbte Kante, die über die Bimssteinplatten übergriff.

Der Techniker in mir staunte mehr denn je. Mehr als bisher quälte mich der Wunsch, den Erbauer dieses Wunders kennen zu lernen.

Sollte ich die Insel wirklich verlassen?! Sollte ich diese Geheimnisse, die so weit, so unendlich weit abseits alles Alltäglichen lagen, nur deshalb meiden, weil ich für meine Seelenruhe fürchtete?!

Ich wandte mich um, ich tat ein paar Schritte dem Strande zu.

Auf einem Bimssteinblock saß Ellen Duncam und blickte mir ernst entgegen.

 

10. Kapitel.

Die Versucherin.

… Vielleicht hatte sie noch nie so sehr Gerda Arnstör geglichen wie jetzt. Sie trug ein weißes Leinenkleid, ganz schlicht gearbeitet, dazu einen leichten Korkhelm mit Schleier, als Gürtel einen breiten gelben Riemen mit Pistolentasche, in der Linken hielt sie einen leichten Bootshaken, den sie wohl als Stütze benutzt hatte. Sie mußte geweint haben, ihre Augenlider waren gerötet, aber der Blick ihrer seelenvollen Augen erschien noch vertiefter.

Sie hatte sich zwischen den Steiluferfelsen niedergesetzt, und dieser hellgraue Hintergrund hob ihre Gestalt eigentümlich plastisch hervor. Als ich mich ihr näherte, lächelte sie müde und sagte leicht verlegen: „Nun werden Sie mich gewiß für aufdringlich halten, Mr. Abelsen. Aber ich muß Sie sprechen. Setzen Sie sich bitte zu mir … Ihre eifersüchtigen Araukaner sind ja zum Glück nicht da.“ Eine kaum merkliche Koketterie klang in dem letzten Satze mit. Ein peinliches Gefühl beschlich mich. Was wollte sie?! Irgend etwas in mir warnte mich.

Sie rückte zur Seite und machte mir Platz. Ich zauderte noch. Ihre Nähe war … gefährlich. Ich spürte den zarten Duft irgendeines exotischen Parfüms, ich spürte in diesem Wohlgeruch das Wehen des Atems der fernen Kulturwelt. – Ich wollte nicht unhöflich sein. Ich nahm neben ihr Platz. Es war so viel Raum zwischen uns, daß wir uns einander zuwenden konnten, ohne uns zu berühren.

„Der Baron,“ sagte sie leise, „blieb im Zelte … Er sah wohl ein, daß nur ich bei Ihnen etwas erreichen könnte.“

„Was?“ fragte ich hart, und ich schaute zu Boden – auf ihre weiße Leinenschuhe und die weißseidenen Strümpfe, die eine dünne Fessel schmeichelnd umspannten.

„Ich hätte eine Bitte, Mr. Abelsen … Der Baron und ich möchten auf der Insel bleiben … Hiruto will den Araukanern den Kutter der Brigg schenken. Dieser ist völlig seetüchtig …“

„Das weiß ich …“

Ellen wurde unsicher. „Er will auch jedem fünftausend Dollar und eine Büchse und Pistole nebst Munition schenken …“

„Sehr großmütig … Und mir?!“ Ich blickte auf. Ich schrak zurück vor dem gereizten Ausdruck ihrer Augen.

„Ist das der Ton, mit einer Dame zu verkehren, Mr. Abelsen?!“

„Es ist der Ton der Ehrlichkeit, und Sie sind nicht ehrlich. Sie wollen Ihre Freiheit verkaufen … Sie wollen Ihre Geheimnisse durch Geschenke schützen. Wäre ich nicht Ingenieur gewesen, hätte mich diese Zauberinsel wenig gekümmert. So aber will ich ergründen, wer …“

„Ah, das können Sie alles, das sollen Sie! Nur die Araukaner müssen von hier verschwinden. Sie sollen bleiben … Ihnen vertrauen wir.“

„Wer vertraut mir?! Sie und Hiruto! Und die anderen – Ihr Vater, Ihr … Verlobter und all die, die nun irgendwo mit der weißen Jacht kreuzen und nur warten, daß Sie sie herbeirufen?! Wie werden die sich zu mir stellen?!“

Sie prüfte meine Miene, Ihre Blicke schienen mir die Gedanken entblößen zu wollen. Ein Anflug von Lächeln verzog ihre Lippen.

„Die anderen werden in Ihnen genau so den Gentlemen sehen wie ich, Mr. Abelsen,“ sagte sie schlicht. „Unsere Geheimnisse den Araukanern anvertrauen, hieße uns selbst verderben. Schicken Sie sie zur Rückkehr nach dem Gallegos.“

„Niemals! Jedenfalls nicht, bevor ich alles weiß – alles!“

Sie war sichtlich enttäuscht. Sie seufzte, ihre Hände glätteten nervös ihren Rock.

Ein Windstoß fauchte über das Meer … Ein zweiter folgte … Das Gewölk hatte sich verdichtet. Über den Horizont schob sich eine fahlgelbe Wolkenwand.

„Da … kann nicht sein,“ meinte sie schmerzlich. „Das … kann niemals sein … Bleiben Sie doch Gentleman, quälen Sie mich nicht.“ Sie weinte leise … Sie hatte plötzlich die Hände vor das Gesicht gedrückt …

Und undeutlich flüsterte sie: „Vielleicht später … später … das wird von Gorry abhängen …“

„Gorry!!“ Ich lachte … „Von Gorry hängt nichts ab …!“ Mein heftiger Ton erschreckte sie. Ihre Hände sanken … Ihr Gesicht beugte sich mir zu … Wieder dieses Prüfen, dieses Abtasten meiner Züge. Unsere Augen ruhten ineinander …

Ich Narr!!

Helle Röte rann ihr bis zur Stirn.

Sie hatte erkannt, wie’s um mich bestellt war …

„Mein Gott!!“ – und sie erhob sich, setzte sich aber sofort wieder und wurde sehr bleich.

Ich schämte mich. Ich, Olaf Karl Abelsen – – und nicht einmal die Kraft hatte ich gefunden, mein Herz zu hüten!! Manik hatte schon recht: Ich war doch nur ein Fremder geblieben unter den harten Herzen dort am Gallegos, ich blieb ein Kind jener Welt, in der die Empfindungen die Taten ersetzen und die Phrase das offene Wort verdrängt.

Ich wollte mich erheben. Was sollte ich hier noch neben Ellen Duncam?!

Ihre Hand berührte meinen Arm …

„Nicht doch, … nicht so wollen wir uns trennen …“

Sie zitterte … In ihrem Blick war eine unklare Angst.

„Sie … müssen nachgeben, Mr. Abelsen … Ich flehe Sie an … Ersparen Sie mir doch …“

„… Sparen Sie sich doch jedes weitere Wort …!“

Ich war aufgesprungen. „Ich verrate meine Kameraden nicht!! Der Kutter könnte …“

Oh – es war alles sehr schlau vorbereitet …. Unversehens flog mir von hinten eine schwere Decke über Kopf und Brust. Fäuste packten mich, in denen die Kraft von Eisenklammern lag. Meine Arme wurden mir an den Leib gepreßt … Ich fühlte, daß man mich emporhob … Es mußten drei Männer sei … Ich spannte meine Muskeln bis zum äußersten an, schlug mit den Füßen nach hinten. Eine wilde Wut gegen Ellen ließ mich zwecklos brüllen – – irgendein Schimpfwort.

Dann – – irgendwoher Maniks Trompetenorgan:

„El Gento – – die weiße Jacht!!“

Nochmals derselbe Ruf …

Ich erhielt einen Stoß, flog vornüber, stolperte, fiel zwischen Geröll, raffte mich auf, riß die Decke herunter, riß die Pistole aus dem Futteral …

Die Stelle, wo ich mit Ellen gesessen, war leer, und droben am Rande des Steilufers stand Manik und winkte …

„Die Jacht – – die Jacht!!“

„Manik, wo blieb Ellen?“ schrie ich wie ein Besessener …

„Miß Ellen in Zelt sein …!“

„Unsinn – sie war hier, und man hat mich niederträchtigerweise von hinten überfallen … Sie muß noch in der Nähe sein … Suchen wir! Ich werde mit ihr abrechnen, ich …“

Manik blickte ringsum. „Hier kein Mensch, Gento … du schlafen, träumen … Ich sehen müßten, jeden – jeden … – Kommen auf Brigg … Chanaf schon großes Gewehr bereitmachen … Jacht von Norden sich nähern … Schnell!!“

Seine vollkommene Gleichgültigkeit gegenüber einem Zwischenfall, der mir den letzten Rest von Vertrauensseligkeit geraubt hatte, änderte sich erst, als ich die Uferhöhe erklettert und ihm die wollene Decke gezeigt hatte. Es war dies eine sehr weiche, feine Kamelhaardecke von dunklem Muster, mit braunem Leder eingefaßt. Auf der Brigg hatten wir bisher nicht eine einzige Decke dieser Art gefunden. – Manik war jetzt überzeugt, daß Ellen von vornherein mich an diese Stelle gelockt hatte, wo man mich am bequemsten von hinten beschleichen konnte.

Wer waren die Angreifer?

Diese Frage ließ sich angesichts der Tatsache, daß Ellen und die drei Kerle mit den Bärenkräften im Nu verschwunden waren, vorläufig nicht beantworten. Ich nahm an, und Manik stimmte mir zu, daß es hier in den Uferfelsen ein Versteck gäbe, wo die drei bisher verborgen gewesen. Die Insel war also doch nicht „leer“, wie wir bisher geglaubt.

Ein Blick nach Norden zeigte mir in weiter Entfernung die Jacht. Nun, bevor sie heran war, konnte ich noch Baron Hiruto einige Liebenswürdigkeiten unter das Stupsnäschen reiben.

Wir eilten zur Bucht. Links von den Büschen erhob sich das Zelt. Auf einer Kokosmatte vor dem Eingang saß der Baron mit untergeschlagenen Beinen und rauchte in aller Gemütsruhe seine Zigarette. Er legte warnend den Zeigefinger auf die dünnen Lippen.

„Sie schläft.“

Mit meiner Geduld war’s vorbei.

Ich schlug den Zeltvorhang hoch, ich packte Hiruto mit der Linken und zeigte ihm das leere Zelt.

„Wo ist Ellen?!“ Mein Gesicht war wenig gemütlich und der Baron merkte wohl, daß die schöne Zeit, wo ich mich hatte verführen lassen, vorüber war. Er blickte mich entsetzt an. Ich schüttelte ihn wie einen Sack Lumpen …

„Raus mit der Sprache!! Wo ist Ramses geblieben!! An die Haifische glaube ich nicht mehr!!“

Meine Grobheit erregte bei Manik ein wohlgefälliges Grunzen.

„Aufhängen!!“ schlug er vor.

Hiruto deutete auf einen langen Riß in der Rückwand des Zeltes. Seine Stimme klang trocken und verlegen.

„Ich schwöre bei meinen Ahnen, daß ich Ellen nicht gesehen habe. Sie schlief seit einer Stunde … Sie hat das Zelt heimlich verlassen, und ich weiß nicht, wo sie ist.“

„Ihre Ahnen können mir gestohlen bleiben, Sie … gelber Affe!!“ Mein Grimm schäumte über. „Haben Sie etwa Ellen nicht zu mir geschickt und mir die feinen Vorschläge unterbreiten lassen – den Kuhhandel um meine Araukaner?!“

Ich ließ ihn los und zeigte ihm sehr eindeutig meine Pistole.

Hiruto blickte mit einer in der Tat unnachahmlicher Gelassenheit in das schwarze Mündungsloch der Waffe. „Es wäre kein gewöhnliches Zusammentreffen von widrigen Umständen, das mir hier den Tod brächte,“ sagte er mit der heroischen Todesverachtung seines Volkes. „Die Rätsel und Widersprüche häufen sich, Mr. El Gento, und nur ein Schwächling würde anders handeln als Sie. Im Grunde sind Sie noch sehr langmütig. Ich glaube, ich hätte bereits abgedrückt, denn die Tatsachen sprechen so sehr gegen mich, daß Ihnen niemand eine rasche Strafjustiz verübeln könnte.“ Seine bedächtigen Worte bewiesen, wie sehr sein Hirn sich abmühte, den Dingen die Maske vom unbegreiflichen Antlitz zu reißen. „Ich habe allerdings mit Ellen vereinbart,“ fuhr er in gleicher Weise fort, „Ihnen gewisse Vorschläge zu unterbreiten, jedoch erst abends. Ellen hat mir mit keiner Silbe mitgeteilt, daß sie Sie aufsuchen würde. Sie hat sich heimlich entfernt. Natürlich werden Sie dies bezweifeln. Und doch lüge ich nicht.“

Er verneigte sich höflich. „Sie würden mich zu Dank verpflichten, wenn Sie das Geschehene mir kurz schildern wollten, Mr. El Gento … Diese Bitte bedeutet nicht etwa, daß ich Ihre Entschließungen hinsichtlich meiner Person …“ – er schaute wieder in die Pistolenmündung – „hinausschieben möchte. Wir alle müssen sterben, und mein Lebenswerk ist getan. Ich habe erwachsene Söhne, die meine Reederei weiterführen werden. Meine Frau kam vor zwei Jahren bei dem großen Erdbeben um. Doch das interessiert Sie kaum. Wir Menschen von heute leben aneinander vorbei, nicht miteinander. Wenn es uns von Vorteil, nehmen wir vielleicht diesen oder jenen ein Stück Weges mit und lassen ihn dann wieder zurück. Freilich liegen die Verhältnisse hier mit Ellen anders. Ich hätte mich nicht in dieses Abenteuer zu stürzen brauchen. Freundschaft geleitete mich hierher. Sie, Mr. El Gento, suchten dieses Abenteuer. Und Sie gewinnen das Spiel, und ich verliere es. Alles ist Schicksal.“

Er verbeugte sich abermals, jetzt wie entschuldigend dieser Abschweifungen wegen. Und doch hatte er vielleicht ungewollt eins erreicht. Mein Grimm war verpufft. Diesem Manne gegenüber sich unbeherrscht zu zeigen, war eine Blamage. Ich steckte die Pistole weg. Ich erzählte ganz eingehend, obwohl Manik immer deutlichere Zeichen von Ungeduld sehen ließ und sehr verfänglich mit seinem Jagdmesser spielte.

Hiruto hörte wortlos zu. Sein Gesicht blieb unbewegt. Nur als ich den Überfall schilderte und erklärte, nur Maniks Erscheinen hätte mich gerettet, öffneten sich seine kleinen Augen ein wenig weiter, und ein sanftes Kopfschütteln verriet sein Erstaunen.

„Das ist alles sehr merkwürdig,“ sagte er dann. „Ich habe keine Ahnung, wohin der Hund verschwunden ist, – noch weniger könnte ich angeben, wer die Männer waren, durch die Sie überfallen wurden. – Verzeihen Sie, daß diese Worte Ihnen wie leere Ausflüchte klingen müssen. Ich schätze Sie, Mr. El Gento, und Ihre Zweifel an meiner Glaubwürdigkeit sind mir peinlicher als Ellens Geheimniskrämerei, die mich letzten Endes vor Ihnen herabsetzt.“

Was sollte ich demgegenüber tun?! Ich fühlte abermals: Er log nicht! –Ich sagte daher nur: „Begleiten Sie uns … Die Jacht naht, und es wird wohl kaum ohne Kampf abgehen. Ich will nicht warten, bis die Leute der Jacht etwa landen, da wir somit die Vorteile der Überlegenheit unserer Waffen, des Maschinengewehrs und des Schnellfeuergeschützes einbüßen könnten. Ich will vielmehr mit der Brigg auslaufen, und auf dem Meere soll die Entscheidung fallen.“ – Ich hatte Hiruto bei den letzten Sätzen scharf gemustert. Es wäre doch nur zu begreiflich gewesen, daß er dieses drohende neue Gefecht irgendwie zu verhindern suchen würde. Es handelte sich ja um seine Leute, seine Freunde. Aber ich irrte mich wiederum.

„Ich werde völlig neutral bleiben,“ erklärte er. „Ich überschaue die Verhältnisse zu wenig, um Ihnen etwa eine Niederlage zu wünschen. Vielleicht weicht die Jacht auch aus, sobald die ersten Granaten von der Brigg über sie hinwegfegen. Blut ist ein kostbarer Saft, Mr. El Gento, und Menschenblut lediglich eines unbestimmten Geheimnisses wegen zu vergießen, dürfte Ihnen widerstreben.“ Das war lediglich seinerseits eine Mahnung, die ich dann auch beherzigte. – Der Baron wurde an Bord in eine der Kammern neben der Kajüte eingeschlossen. Er hatte dies selbst gewünscht. Meine Achtung vor seiner in vielen Punkten ungewöhnlichen Persönlichkeit stieg immer mehr.

Inzwischen hatte die bedrohliche fahle Wolkenwand den halben Himmel in ein düsteres Gewölbe verwandelt. Im Osten und Süden erschien das Meer von Sturmstößen gepeitscht. Die Wogen, die die Insel erreichten, wuchsen beständig. Der Lärm der Brandung an den Ufern steigerte sich zu einem ungeheuren Brausen, die Spritzer der anrennenden Wasserberge flogen über den Rand der hellen Felsen hinweg, und nur hier an der Nordseite hatten wir noch leidlichen Schutz gegen den aufziehenden Orkan.

Auf der Brigg gab es zehn Minuten lang ein eifriges Hin und Her, dann lösten wir die Trossen und fuhren der Jacht entgegen, die kaum noch drei Seemeilen entfernt war. Unsere Sturmsegel und der mit voller Kraft laufende Motor führten uns in wenigen Minuten auf Schußweite heran. Das Schnellfeuergeschütz fauchte seinen ersten Gruß hinüber. Die Granate ging durch den Schornstein, war jedoch ein Versager und krepierte nicht. Aber das Loch in dem weißen Schlot war mit bloßem Auge zu erkennen, ebenso die Leute an Deck, die zu meinem Erstaunen jetzt eine weiße Flagge hißten. Ich zählte zwölf Mann. Sie alle trugen Matrosentracht bis auf einen einzigen, der in einem blauen Anzug steckte. Die Gesichter freilich ließen sich selbst durch das Fernrohr nicht so weit unterscheiden, daß man sagen konnte, wer von ihnen Europäer oder Japaner war.

Mir kam das Hissen der Parlamentärflagge äußerst ungelegen. Ich witterte dahinter lediglich eine Kriegslist, und auch Chanaf warnte davor, diese Aufforderung, das Feuer unsererseits einzustellen, irgendwie zu befolgen.

Außerdem wurde es jetzt so rasch dunkel, daß die Jacht uns entschlüpfen konnte. Sie war nur halb so groß wie die Brigg, dafür aber weit schneller, und allzu leicht konnten die Freunde Hirutos uns hier einen bösen Streich spielen. Gelang es ihnen, etwa die Insel zu besetzen, so konnten wir unverrichteter Sache abziehen, denn das Eiland auf die Gefahr hin, meine Araukaner abschießen zu lassen, mit Gewalt zu stürmen, wäre mir niemals eingefallen. Die ganzen Umstände verlangten mithin einen raschen Entschluß. Bisher war von der Jacht kein Schuß abgegeben worden, und von uns wieder wäre es offene Piraterei gewesen, unser Geschütz weiter feuern zu lassen. Ich befahl daher, jeder solle hinter der Reling Deckung nehmen. Ich selbst bediente das Steuerrad mit Chanafs Hilfe im Liegen, und wir hielten nun direkt auf den Gegner zu, der in den hochgehenden Wogen schwer schlingerte und nur noch halbe Fahrt lief.

Mit einem Male tauchte da neben mir ein braunes Gesicht auf: Chubur, den der Kanonenschuß endlich geweckt hatte!

Das Licht der Kompaßlampe traf sein Gesicht, das unglaublich verkatert aussah. Chubur schämte sich seines tollen Rausches wegen in seine braune Seele hinein, seine trüben roten Augen flehten um Vergebung seiner alkoholischen Sünden, und seine heisere Stimme winselte rührselig:

„War eine halbe Flasche zuviel, El Gento … Zwei Flaschen gut sein … Drei mein Magen nicht vertragen …“

Diese Entschuldigung erinnerte mich an den Bauer, der zu einem Stadtherrn sagte: „Eine Gans ist ein komischer Vogel … Für zwei langt sie nicht, für einen ist sie zu viel!!“

Chubur grinste jetzt. Wenn er grinst, verzieht sich die Lederklappe, die er über der leeren Augenhöhle trägt. Er hat nur ein Auge. Das andere verlor er bei dem „Loch im Ozean“.

Er grinste und fügte hinzu: „Feiner Kampf das werden … Drüben Loch in Schornstein … Schießen Loch in Bordwand von Jacht, El Gento, dann alle versaufen – sehr einfach!“

„Zu einfach,“ meinte ich nur …

Chanaf brüllte von der Reling:

„Ha – – Regenbö kommen!! Jacht schon wenden!“

Ich richtete mich auf.

Ja – da kam sie herangezogen wie eine gläserne, streifige Wand, die Regenbö. Und dann erreichte sie uns … Alle Schleusen des Himmels öffneten sie … Wir schwammen förmlich weg … Man sah kaum die Hand vor Augen. Der Orkan wuchs, und eines unserer Sturmsegel knallte und riß und flog davon.

Wir hatten übergenug mir der Brigg zu tun. Um den Gegner kümmerten wir uns nicht mehr. Er war verschwunden … Verschwunden war die Insel … Um uns her war nur die tobende See und die Finsternis und der klatschende Regen …

Trotzdem wagte ich zu wenden. Es gelang, wenn auch unglaubliche Sturzseen über Bord kamen. Bisher hatten wir den Sturm im Rücken gehabt. Nun traf er uns von vorn. Wir kämpften gegen ihn an, wir wollten nicht aus der Nähe des Eilandes abgetrieben werden, auch Chubur, der Nüchterne, war der Meinung, die Leute der Jacht würden das Unwetter benutzen, und vor uns die Insel, ihre Insel besetzen.

Wo war die Insel?!

Bei diesem Wolkenbruch sie finden, war Glückszufall. Bei diesen haushohen Wogen blindlings mit der Brigg ins Ungewisse zu steuern, war halber Selbstmord. Erlitten wir an der Steilküste Schiffbruch, rannten wir gegen den Strand mit seinem unterseeischen Stahlrand, so würden selbst die eisernen Planken der Brigg wie Blechscheiben auseinanderplatzen, die Nieten würden springen, und das Schiff mit seinem Sandballast mußte versacken wie Blei.

Es war halber Selbstmord, aber ich rechnete auf Göttin Fortuna, die dem waghalsigen Spieler lächelt. Ich steuerte selbst, und vorn am Bugspriet hockte Chanaf mit seinen Luchsaugen und Luchsohren und hatte von mir allerlei vorteilhafte Winke erhalten. Ich war mir klar darüber, daß wir uns vorhin kaum fünftausend Meter von dem Eiland entfernt hatten. Der Sturm kam aus Südost. Wenn wir also die Nordwestseite der Insel fanden, mußten wir dort unter Wind ruhiges Wasser haben.

Wenn …!

Aber die Insel war ja so lächerlich klein. Auch nur ein Achtel Strich falscher Kurs, und wir glitten entweder an ihr vorüber oder rannten auf das künstliche Ufer auf.

Chubur kauerte neben mir und hielt sich am Kompaßstock fest. Alles triefte vor Nässe … An Deck schlappte das Wasser zwischen Reling und Reling hin und her wie in einer Wellenbadewanne. Die kritischen Minuten kamen. Nun mußte es sich entscheiden, ob … – und dieses „Ob“ barg eben dreierlei: Landung in der Bucht, Strandung und Tod oder grausiges Umherirren in der Wasserwüste des Pazifik!

Es wurde das letztere …

Die kritischen zehn Minuten waren in die Vergangenheit entglitten. Wir hatten die Insel verfehlt, und wie zum Hohn erblickte ich da im Osten ein Stückchen blauen Himmels, einen Riß im Gewölk, durch den das Sonnenlicht des Nachmittags hereinbrach in Regen, Gischt und Wogenbraus.

Der Regen hörte auf. Der Sturm flaute ab. Der Himmel klärte sich auf, und Chanaf und Manik stiegen in die Wanten und krochen ins Krähennest und hielten Ausschau. Der Wind sprang um, die Wogen beruhigten sich, wenn sie auch noch weiße Kämme hatten. Ich überließ Chubur das Rad und kroch zu den beiden in den schwankenden, pendelnden Ausguck, eine bedrohliche Schaukel, die keinem zur Seekrankheit Neigenden zu empfehlen ist.

Wir steuerten abermals Nordwestkurs. Die Insel mußte vor uns liegen …

Es war auch nicht ein grünes Bäumchen sichtbar, es war nur das endlose, grollende Meer und die höhnende Sonne und ein paar Vögel … Es war ein Wunder und zugleich für mich ein eisiger Schreck, der mir das Herz zusammenpreßte: Wenn der Orkan nun doch einmal mit diesem Gebilde von Menschenhand gründlich aufgeräumt hatte?! Wenn diese Riesenwellen Insel und Jacht und alles Lebende in Trümmer geschlagen und vernichtet hatte?!

Denn – das Fernglas zeigte mir nirgends auch nur die Spur von Nebelbildung. Also konnte das Eiland nicht etwa durch künstliche Rauchmassen dem Blick entzogen sein!

Ellen Duncam war tot.

Meine Seele war wie erstorben. Weshalb mich selbst belügen?! Ich liebte dieses Mädchen, ich liebte in ihr Gerda Arnstör von neuem, ich hatte Ellen alles verziehen, mein Herz schrie nach ihr, und mein Herz weinte um sie.

Manik sagte rauh: „Insel sein zerstört … Jacht sein zerstört … Alles ersoffen … Sein schade um den Pudel, war gutes Tier …“

Das war Maniks Standpunkt, und er schielte mich von der Seite an und fügte hinzu: „Nun unser Bruder El Gento wieder ganz unser Bruder … Weiberröcke sein Pest … – nach Hause also zu Gallegos-Bucht …“

„Nein!“ Meine Stimme schrillte. „Nein! Wir werden die Untiefe suchen, auf der die Insel aufgebaut war … Wir werden loten … Wir lassen das Lot schleppen auf hundert Meter Leinenlänge … So finden wir die Untiefe. Wir werden kreuzen …!“

Manik lachte brutal. „El Gento, du … du … immer noch hoffen!! Worauf?! Auf weißes Mädchen?! Mädchen sein verlobt …!“

Er spuckte in die See.

Ich verließ das Krähennest. Hinter mir drein kletterten Chanaf und Manik. Die Entfremdung war wieder da, und ihr Name war Ellen!

Ich sprach mit Chubur. Aber der Einäugige, O-Beinige sagte: „Guten Wind zur Heimfahrt, El Gento … Wir segeln zum Gallegos.“

Neben ihm standen die anderen Araukaner. Sie mochten ihm alles erzählt haben, was geschehen, als er seinen Rausch ausschlief.

„Ich befehle, daß wir kreuzen!“ entschied ich und holte zunächst Hiruto aus der Kammer. Als ich ihm berichtete, daß die Insel vernichtet sei und daß auch die Jacht dasselbe Schicksal ereilt haben müsse, schaute er mich lange an und nahm dann eine Zigarette, deutete ein Achselzucken an, meinte kühl: „Es ist bedauerlich … Sie wollen also kreuzen. Und wenn Sie die Untiefe wirklich finden?“

Da erst sah ich ein, wie sinnlos es war, noch irgendeine törichte Hoffnung zu hegen.

„Gut – also nach Osten zum Gallegos,“ sagte ich wie ein ertappter Sünder und ging wieder zu Chubur zurück.

Ich sah, daß die Brigg bereits nach Osten lief und daß Chubur mir finster entgegenblickte. Er war aufgehetzt worden, meine Befehle wurden mißachtet, ich bedeutete meinen Araukanern nichts mehr.

Der Baron war mir gefolgt. Ich hatte Chubur nur scharf angesehen und mich wieder weggewandt. Der Baron sagte höflich:

„Ich schenke Ihnen die Brigg, Mr. El Gento, Ihnen und Ihren Freunden …“

„Es waren meine Freunde!“ fiel ich gereizt ein.

„Desto besser … Ich schenke also die Brigg den Araukanern und bitte nur, den Kutter zu Wasser zu bringen, reichlich zu verproviantieren und mir einige Waffen zu belassen.“

Ich war kaum überrascht. Hiruto hatte gemerkt, daß mein Einfluß auf meine bisherigen halbwilden Kameraden im Schwinden begriffen war, und unter diesen Umständen zog er es vor, sich ihren Launen nicht zu überliefern.

„Sie wollen nach Valdivia?“ fragte ich ihn.

„Ja …“ Er sog an seiner Zigarette, und seine polierten Fingernägel glänzten in der Sonne. „Ich will die kürzeste Route wählen, in vier Tagen bin ich dort … Bis Yokohama wären es zehn, und das Risiko wäre zu groß. Wollen Sie mich begleiten?“

Ich zauderte …

Chubur, Chanaf, Manik belauerten meine Lippen. In ihren Gesichtern zeigte sich Bestürzung. Sie bereuten wieder, sie fürchteten, ich könnte mich wirklich von ihnen trennen, und da war die alte Anhänglichkeit doch wieder erwacht.

Chubur hustete, quälte dann verlegen hervor: „El Gento, du doch bei uns bleiben … du doch …“

„Nein!! – Macht den Kutter fertig!!“

Chubur wurde aschgrau, Chanaf ergriff meine Hand, Manik drängte sich zwischen mich und Hiruto.

„Nein – wir trennen uns!“ beharrte ich eisern, obwohl mir die Seele blutete. „Als Coy Cala starb, und er war euer König, sollte ich die Siedlung am Gallegos für ihn regieren. Ihr habt mir stets gehorcht und alles war gut. Coy ist tot, und keiner von euch ist Coy!“

Sie schwiegen. Sie kannten mich. Wie geprügelte Hunde taten sie ihre Arbeit. Die Ölplane ward vom Kutter gestreift. Da erst sah ich, welch’ herrliches Schifflein es war: Eisen, völlig gedeckt, geräumige Kajüte, ein riesenstarker Motor, Luftkästen, elektrisches Licht, Notsegel, – nichts fehlte.

Meine Uhr und die Uhr in der Kutterkajüte zeigten genau acht Uhr, als ich Chubur als erstem die Hand zum Abschied reichte. Ich sprach kein Wort. Er auch nicht – die anderen erst recht nicht. Aber in ihren Zügen waren Reue und Abschiedsschmerz als krampfhaftes Zucken.

So schieden wir. Die Brigg lief nach Osten, wir nach Nordwest, – wir, Hiruto und ich, und Hiruto steuerte.

Ich sagte und blickte der Brigg nach:

„Nordwest, Baron?! Valdivia liegt im Nordosten …“

„Aber die Trümmer der Insel liegen dort …“ Und er deutete in die sinkende Sonne, die unsere Köpfe kupferrot färbte.

 

11. Kapitel.

Der neue Anruf.

Ich setzte mich neben ihn auf die erhöhte Heckbank. Der Motor schnurrte, die Wasser purzelten hinter uns im Quirlen der jagenden Schraube, und ich schaute immer nach dorthin, wo die Brigg mir ein Stück meiner Vergangenheit entführte. Ich hatte sie wie Brüder geliebt, diese braunen Söhne eines einst so mächtigen Reitervolkes, und es wäre für mich ein übler Beweis von Oberflächlichkeit gewesen, wenn ich ihnen nicht diese Minuten weihte, bis die weißen Segel der Brigg unter den Horizont tauchten.

Hiruto beobachtete die Leine des Lotes, die vom Heckgeländer schräg in die Tiefe lief. Er ehrte meinen letzten stummen Abschiedsgruß an die braunen Kameraden durch zartfühlendes Schweigen.

Dann verschwanden auch die Mastspitzen der Brigg, und das Kapitel „Gallegos“ schien für das Buch meines Lebens endgültig abgeschlossen.

Ich drehte mich halb um, und Hiruto drehte das Steuerrad mit jähem Schwung …

„Eine Leiche, El Gento …! Nehmen Sie den Bootshaken …“

Er manövrierte so geschickt, daß ich den Toten emporhissen konnte. Es war ein Japaner in weißem, beschmutztem Matrosenanzug.

Der Baron schaute starr in das verzerrte Gesicht. Mitten in der Stirn zeigte sich ein blauroter, kleiner runder Fleck.

„Erschossen …“ sagte Hiruto. „Es ist einer meiner Matrosen. – Wollen Sie bitte das Steuer bedienen. Ich möchte Otake persönlich die letzte Ehre erweisen.“

Er holte eine japanische Flagge aus der Kajüte, hüllte die Leiche in die siegreiche Sonnenflagge ein, umwand das traurige Bündel mit Stricken und band an die Füße ein Stück Ballasteisen. Dann sprach er die Totengebete seines Volkes und ließ die Leiche in die Tiefe gleiten, schaute ihr nach, wandte sich um und setzte sich und bot mir eine Zigarette an.

„Die Sträflinge waren auf der Jacht,“ erklärte er mit seiner erhabenen Ruhe. „Ihre Vermutung, El Gento, daß meine Freunde die Jacht besetzt hätten, war irrig. Es muß einen neuen Kampf auf der Insel jetzt während des Orkans gegeben haben. Otake war noch keine vier Stunden tot.“

Er reichte mir sein Feuerzeug und beobachtete die Lotleine.

„Ich bin nicht befugt,“ sprach er weiter, „Ihnen alles mitzuteilen. Aber ich will die Schleier trotzdem ein wenig mehr lüften, die Ihnen die Dinge in unwahrer Verzerrung zeigen. Mein Freund, der Lord, und Ellen hatten mich um Beistand gebeten, die Insel aufzusuchen. Dies mußte insgeheim geschehen. Deshalb machten wir mit der Brigg eine … Probefahrt, die uns dann bis zum Eiland brachte, wo wir erwartet wurden. Wir sichteten es um Mitternacht. Die Jacht lag an der Südseite, und wir bemerkten sie nicht. Die Sträflinge hatten die Insel erobert, und als meine Leute und Ellens Vater an Land eilten, wurden sie beschossen. Alles weitere wissen Sie. Ellen und ich waren in der Gewalt der drei Chilenen, und nachher kamen Sie an Bord, El Gento. Als dann der Anruf von „Ellerduc“ erfolgte, der drahtlose Anruf, fiel ich zunächst demselben Irrtum anheim wie Sie: Ich wähnte meine Leute und den Lord und Gorry auf der Jacht. Jetzt weiß ich, daß dies nicht der Fall war, daß die Sträflinge von der Insel verjagt worden waren und meine Freunde Herren der Insel geblieben. Wir landeten dort, und Ellen hat das Zelt so aufstellen lassen, daß es über einer beweglichen Bimssteinplatte aufragte – neben dem Riesenkopf der Frau, der ebenfalls Ellen darstellen soll. Sie benutzte den Zugang, sie entschwand mir, sie suchte Sie auf und hatte vorher mit Gorry alles verabredet. Der Überfall sollte dazu dienen, auch Sie, nachdem Sie das Angebot Ellens abgelehnt hatten, gewaltsam in die unterirdischen Räume der Insel zu entführen, wohin man auch mich dann hinabgeleitet hätte. Daß das Eiland teilweise hohl, wußte ich nicht. Gorry ist auch mir gegenüber sehr vorsichtig gewesen. Seine Funksprüche in verabredetem Geheimkode sagten mir nur Halbes.“

„Und jetzt?!“

Hiruto lächelte unmerklich. „Ich glaube, El Gento, – Sie gestatten doch, daß ich Sie weiter so nenne, es paßt für Ihre Persönlichkeit –, ich glaube, wir beide unterschätzen noch immer das Genie Ihres Kollegen Kentville …“

„Ich verstehe … Er hat ein U-Boot zur Verfügung, und Sie nehmen an, daß Ihre Freunde, soweit sie bei dem Kampf auf der nun zerstörten Insel mit dem Leben davonkamen, sich mit dem U-Boot gerettet haben.“

„Der Gedanke wäre nicht von der Hand zu weisen … Wodurch kam Ihnen diese Vermutung?“

„Durch einen Lichtschein, den ich im Wasser an der Ostseite des Eilandes beobachtete. Erst dachte ich an den Riesenkraken, nun erscheint mir dies widersinnig, denn die Leuchtkraft eines Polypen ist denn doch nicht so stark, einen weiten Umkreis zu erhellen.“

Der Baron nickte schwach. „U-Boot, – vielleicht … Aber ich vermute anderes …“ Sein Blick wanderte von der Lotleine zum Kompaß … Er ließ den Kutter in kurzem Bogen mehr nach Norden laufen. Die Sonne war nur noch als Halbkreis, als halbe feurige Scheibe am Horizont sichtbar. „Nehmen Sie das Fernrohr, El Gento … Wenn meine Vermutung richtig ist, müßten Sie etwas sehen … finden … Suchen Sie nur das Meer ringsum recht genau ab. Wir wollen alle müßigen Erwägungen ausschalten. Es kann ein U-Boot vorhanden gewesen sein … kann …“

Aber es wurde Nacht, und der Pazifik blieb leer. Die Dunkelheit schlich herbei, die Sterne erschienen, und wir beide kreuzten noch immer dort, wo die Untiefe nach unserer Berechnung liegen mußte. Wir saßen am Heck und aßen mißmutig und enttäuscht Zwieback und Konserven, tranken dazu Tee, den ich aufgebrüht hatte, und sahen immer mehr ein, daß wir Hoffnungen hegten, die sich nicht erfüllen würden.

Hiruto sagte dann, als das Schweigen zwischen uns lästig wurde: „Wie wär’s, wenn Sie die Funkanlage instand setzten, El Gento. Die Antenne ist rasch gespannt. Richten Sie den Notmast auf, befestigen Sie vorn als zweiten Mast den langen Bootshaken … Eine Dreidrahtantenne würde vielleicht genügend Kraft auffangen …“

„Und was versprechen Sie sich davon?!“

„Oh – man kann nicht wissen … Von einem U-Boot aus könnte gefunkt werden …“

Ich räumte das Geschirr weg. Ich tat es mit verdächtiger Eile. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn Hiruto seine dünnen Lippen ironisch verzogen hätte, aber dazu war er viel zu höflich und taktvoll, obwohl er längst ahnen mußte, daß ich meine braunen Kameraden nur der Braut eines Anderen geopfert hatte! Ich arbeitete dann wie besessen, in mir war eine Stimme erwacht, die mir dauernd zuraunte: Ellen lebt – – Ellen lebt!! – Ich befand mich wie in einem Rausch. Ich hämmerte, kletterte, entwirrte Drähte, ich baute eine Antenne, wie sie noch kein Kutter gehabt, ich war sorgfältig wie ein Pedant, ich wollte den Erfolg nicht durch Pfuscherkram in Frage stellen. Die Sehnsucht nach dem Weibe war die Peitsche, und meine geheimsten Gedanken waren Niedertracht und Gemeinheit. Konnte nicht Georg Kentville längst tot sein?! Konnte nicht Ellens Herz aller Fesseln ledig sein?! Hatte Ellen nicht ebenso die heiße Röte gegenseitiger Wünsche in den Wangen gespürt wie ich?! – – Ich baute Empfänger, Sender, Batterien in der Kajüte auf. Ich hatte dieselbe Arbeit auf der Brigg geleistet, ich war wieder firm in allen Kleinigkeiten. Dann – die Kopfhörer übergestülpt, – – eingeschaltet die Lampen, Hand am Abstimmkondensator …

Welle 300! – – Hier etwa mußte sie liegen.

Ein Pfeifen – – ein Aufheulen, so laut, daß ich zusammenschrak … Zurück mit der Rückkopplung, bis nur das Rauschen blieb, und dann …

Ich wurde totenbleich, meine Hände flatterten. Bei Gott, – das war dieselbe Stimme, wie damals, eine Männerstimme … genau dieselbe …

… Wir kommen alle zehn Minuten wieder … Meldet euch!

Ich hatte gerade noch die letzten Sätze erhascht.

Wem galt der Anruf?!

Ich reiße den Hörer herab … Die Tür steht offen. Die kleine Treppe mündet im erhöhten Heck. Ich stürze die Stufen hinan. „Baron, der Sender Ellerduc!!“

Hiruto blinzelt in das Licht, das aus der Kajüte seine Beine bescheint … Er nimmt die Zigarette aus dem Munde, er sagt nur: „Also doch!!“

„Wie meinen Sie das?!“ Ich beuge mich vor. Sein Gesicht ist sphinxhaft wie stets.

„Ich wollte Sie nicht stören, El Gento … Ich hatte soeben das Nachtglas benutzt und glaubte dort im Westen im Mondschein etwas zu bemerken.“

Das Glas liegt neben ihm auf der Bank. Ich greife danach, ich presse es an die Augen, aber es flimmert mir vor diesen unzuverlässigen Augen wie Funkensprühen … Dort im endlosen Pampas nordwärts vom Gallegos habe ich solche Anzeichen von höchster Erregung nie gespürt. Erst seitdem ich die Brigg betreten, ist alles so anders geworden. Die große Welt hat ihre Arme wieder nach mir ausgestreckt, und diese Arme sind wie Fangarme eines eklen Polypen – mit Saugwarzen, die aus Männerseelen die Kräfte rauben und das Lächeln eines Weibes zum Götzen umformen! Ich war einmal El Gento!! Ich war’s!! – Und die Wut packt mich Narren, der ich einem Phantom nachjage! Meine Zähne knirschen, und die Muskeln straffen sich. Ich fühle die Kräfte, die mir die goldene Freiheit dort am Gallegos beschert haben, ich würge hinunter, was mir bitter auf der Zunge liegt … Ich sehe … sehe dort vor uns auf dem dunklen Ozean einen grauen Strich, darüber dunklere Tupfen: Bäume!!

Es ist die Insel!!

Keine Fata Morgana – – die Insel!!

Und ich kaue die Worte wie Eisen:

„Baron, sie ist’s!!“

Die abgeklärte Stimme neben mir sagt ohne merkliche Änderung des Tones: „Ich wußte es!“

Ich drehte mich um. „Sie hatten nie an ein U-Boot geglaubt?!“

„Sie!! – Was hörten Sie von Ellerduc?“ – und er hebt die Hand, und der Motor läuft halbe Kraft. „War es dieselbe Stimme wie damals?“

„Dieselbe … Ich fing nur noch die letzten Sätze auf, daß Ellerduc in zehn Minuten wiederkäme.“

Hiruto stellte den Motor völlig ab. „Ich möchte die Stimme erst prüfen, bevor wir dem Eiland uns nähern. Noch können wir nicht bemerkt worden sein.“

Hiruto wirkt wie Brom. Es gibt solche Menschen, die uns zur Ruhe zwingen. Es geht ein besonderes Fluidum von ihnen aus. Sie sind Magnetopathen wider Willen.

„Sie haben recht,“ und ich bin hundeschnäuzig wie er. „Es kann immerhin einer der Sträfling sein … Es kann …“ Ich setzte mich zu ihm, die Uhr in der Hand. „Baron, wie erklären Sie es sich, daß die Insel plötzlich wieder vorhanden ist?“

„Sehr einfach: Wir waren während des Orkans sehr weit abgetrieben worden … Die Insel ist da. Es gibt kaum eine natürlichere Erklärung …“

Wir bleiben stumm und warten. Dann hockt der Baron vor dem Empfänger. Unser Kutter tanzt auf den Wellen ohne Steuermann. Ich stehe hinter Hiruto. Er lauscht … Ich bücke mich. Vielleicht erlausche ich den Anruf. Laut genug war er vorhin. – Und ich horche … höre …

„Hier Ellerduc … Hallo, hier Ellerduc …“

Vorher auch wieder die fünf seltsamen Trompetentöne …

„… Hallo … hier Ellerduc … Hier wieder alles in Ordnung … Bringen Sie El Gento und die Araukaner mit, Baron … Wenn Sie uns gehört haben, melden Sie sich wie vereinbart …“

Hiruto schaltete die Lampen aus.

„Es war Georg Kentville,“ sagt er und erhebt sich vom Schemel.

Kentville!! Er lebt!! Ich … Narr!

Hiruto prüft den Sender … Er versteht damit umzugehen. Er beginnt zu morsen … Ich kann die Zeichen dem Gehör nach zu Worten zusammenfügen. Er funkt:

„Hallo – hier der Kutter der Brigg, an Bord El Gento und Hiruto. Wir haben euch gehört. Wir kommen …“

Dann zum Schluß die besonderen Zeichen, die er mit Gorry vereinbart hat.

Er lächelt mich zufrieden an. „Jetzt bin ich völlig beruhigt … Vorwärts also … In einer Viertelstunde können wir an Land sein, auf Gorrys Insel!“

Zehn Minuten! Meinetwegen können es Jahre dauern! Was soll ich auf der Insel?! Ellen wiedersehen, Gorry kennenlernen und vielleicht gar liebenswürdig sein müssen?! – Oh – ich habe Eile. Ich fühle aber Hirutos prüfenden Blick, und ich reiße mich zusammen. Kultur – – Komödianten!! Mit der Kultur in Berührung kommen, heißt wieder Schauspieler werden, heucheln, eine Maske vor das Gesicht ziehen … ekelhaft!!

Der Baron ist schon oben am Steuer, der Motor springt an, das Bugwasser schäumt, – – und ich starre auf den Empfänger, der mir Gorrys Stimme vermittelte, – ich hasse diesen Apparat …

Und ich blicke auf … Dort der Wandschrank, mein Bild im langen Spiegel …: ein Kerl wie ein Waldläufer aus den Lederstrumpfgeschichten, ganz in schmierigem Leder, das mit Muscheln, Zähnen, Perlen verziert ist … Es fehlen nur noch am Gürtel die Skalpe …!! Und das Gesicht?! Braun, ein schlecht gestutzter Spitzbart, ein verwitterter Filzhut, ein paar blanke, scharfe Augen unter buschigen Brauen …

Das bin ich!! Nein – das ist nicht Olaf Karl Abelsen, das ist El Gento: Pampasjäger, Strandpirat, Heimatloser …!

Ich lache bitter mein Spiegelbild an.

Und Gorry?!

Ein Lord!

Lord Georg Kentville, Erbauer des größten Wunders der Welt, einer künstlichen Insel im Pazifik mit Bäumen und Büschen und einer Bucht und Antennenmasten! Lord Kentville, ein Gentleman, der etwas unerhörtes geleistet hat, der in aller Stille Neuland schuf, der ein Genie ist, den Ellen anbeten muß, wie ich ihn bewundere! – Was habe ich denn in meinem Leben geleistet?! Nichts! Nur das, was jeder Durchschnittsingenieur fertig bringt! Was habe ich in meinem Leben mir selbst verpfuscht? Alles – alles!! Habe einen Menschen in blinder Wut erschlagen – – mit dieser braunen, rissigen Faust, – habe dafür im Zuchthaus gesessen, habe mir die Freiheit erobert und bin meiner Wege abseits des Alltags gewandert – – und wurde Abenteurer!

Noch immer stiere ich dem da in die blanken Augen, der El Gento heißt … Und der Kerl da im Lederwams lächelt plötzlich so frei und selbstbewußt … Der Kerl erinnert sich an die tollen Fahrten in den eisigen Kanälen um Feuerland, an die tollen Ritte durch die Pampas, an die weißen Schneehäupter der Anden, an Nächte, in denen der Tod ringsum lauerte und die Nerven nicht zuckten – – und an Coy, den Unvergeßlichen, den letzten König von Araukanien …

Und ich, El Gento, ducke mich schon vor Seiner Lordschaft und einem genialen Einfall?!

Ich lache … und wende dem Spiegel den Rücken und gehe an Deck.

Dort ist die Insel. Mein Entschluß ist fertig: Hiruto wird sie allein betreten, El Gento wird heimlich sofort wieder davonjagen auf diesem flinken Boot – – irgendwohin, wo niemand ihn kennt!

 

12. Kapitel.

Kapitän Gadarros.

„Sie könnten vorn den kleinen Scheinwerfer einschalten,“ bittet der überhöfliche Hiruto, der immer wieder auf die Gestalten zeigt, die sich oben auf der Steilküste bewegen und uns zuwinken. Sogar ein paar Raketen werden abgebrannt. Es fehlt nur noch die Musikkapelle, um Hiruto mit einem Tusch zu begrüßen.

Der Mond verkriecht sich zuweilen hinter ziehenden Wolken, zuweilen wetterleuchtet es im Westen … Ich gehe nach vorn, ich stöpsele den Stecker der elektrischen Leitung in die Buchse und drehe den Kontakt. Aus der Linse schießt die grelle Lichtbahn über die Wogen, beleuchtet die Spitze der Halbinsel, die Bucht und den Kopf-Felsen, der über die Büsche hinausragt.

Ich lege die Leinen zurecht, den Bootshaken, – – ich schaue absichtlich nicht nach der Stelle hin, wo die natürliche Mole sicheren Liegeplatz bietet. Dort lag die Brigg, dort habe ich mit Ellen den Kampf um die Wahrheit ausgefochten und bin besiegt worden, – nichts habe ich erfahren, gewonnen, nur unendlich viel verloren: Meine Heimat am Gallegos, meine braunen Kameraden – – und vielleicht mich selbst!

Wir nähern uns der Mole … Von Land her eine helle Stimme:

„Willkommen – – willkommen!!“

Sie – – sie!!

Ich packe das Gestein mit dem Bootshaken, der Motor ist verstummt, ich ziehe den Kutter an die graue Bimssteinwand, rufe Hiruto zu: „Gehen Sie nur voraus an Land … Ich will mir nur noch die Hände waschen … Ich vertäue den Kutter schon allein …“

Der Baron ist mit flinkem Satz oben auf der Mole … Ihm steigt kein Argwohn auf …

Ich blicke nun doch hinüber …

Dort vor den Büschen steht Ellen in ihrem weißen Kleide, neben ihr sitzt der Pudel, und ein Mann hält sie umschlungen … und beide winken … winken.

Ich will mich abwenden … Das Licht des Scheinwerfers jedoch zeigt mir schattenhaft in den Büschen zwei Gesichter, zwei Hände …

Gesichter, die so unverkennbar sind, – keine Europäer, keine Japaner, sondern Chilenen mit ihren typischen erdigen Visagen … Und die Hände, die ich sehe, halten irgend etwas Dunkles …

Pistolen …

Wie ein Blitz durchfährt es mich da …

Ist’s nicht seltsam, daß Ellen und Lord Gorry die einzigen sind, die Hiruto begrüßen – noch dazu aus solcher Entfernung! Ist’s nicht mehr als verdächtig, daß das Paar dicht vor den Büschen steht und scheinbar … bewacht wird – – von Chilenen!!

Dann knallt auch schon ein Schuß … Die Linse des Scheinwerfers zersplittert … Hinter nahen Blöcken schnellen fixe Kerle hervor … Hiruto wird gepackt … Drei stürmten auf den Kutter zu …

Also so ist’s gemeint!!

El Gento, – – das ist Arbeit für dich!!

El Gento schiebt den Kutter von Land …

Die drei springen … wollen an Deck …

Chilenen …

Kommen auch auf den Kutter, haben Pistolen …

Ich auch …

Und El Gento drückt rascher ab … Die Schufte schießen vorbei … Ich nicht … Zwei kollern in die Bucht, der dritte schlägt nach hinten über …

Ich renne nach achtern … Der Motor knattert, der Kutter beschreibt einen Bogen, – von Land her Kugeln – – Kugeln … Ich werfe mich nieder … Ich jage zur Bucht hinaus … Jeder Nerv fiebert an mir. Mein Hirn brennt, meine Gedanken rasen, stolpern … und reimen doch das Richtige zusammen: Die Sträflinge sind wieder Herren der Insel, die Sträflinge haben Gorry Kentville gezwungen, den Sender zu bedienen und die trügerische Nachricht ins Weite zu schicken, die Sträflinge konnten ihn zwingen, denn Ellen ist in ihrer Gewalt, und Ellen ist schön und jung und die Chilenen hungern nach Weibern!!

So ist’s gewesen!

Und der Anruf für Hiruto von Ellerduc: Die Banditen wollten auch uns und die Araukaner gefangen nehmen, damit keiner mehr da sei, der die Existenz der Insel verraten könnte!! Deshalb lockten sie uns hierher, deshalb das ganze heuchlerische Spiel: Keiner sollte die Kunde von der Insel in die Ferne trage – keiner!!

Und nun bin ich dennoch entronnen, ich allein, – ich allein kann die da drüben retten: Ellen, Gorry, Hiruto, Lord Duncam Sussex! Ich allein!

Wie aber?! Valdivia ist die nächste Hafenstadt, hat einen Sender. Soll ich sie anrufen, damit sie Hilfe schicken – einen Kreuzer, ein Torpedoboot … Wird mein kleiner Schiffssender bis Valdivia reichen, werde ich gehört werden?! Und werden nicht Tage vergehen, bevor von dort ein Schiff eintrifft?! Kann inzwischen nicht diese Brut von wilden, verwegenen Gesellen bereits Ellen Duncam seelisch und körperlich vernichtet haben?!

… Um mich her summen noch immer die zischenden bleiernen Hornissen … Die Oberlichtfenster der Kajüte gehen in Scherben … Geschosse prallen auf, pfeifen grollend ins Weite oder zerspritzen an eisernen Deckplatten zu Brei. Die Kerle da lassen nicht locker … Die Kerle feuern mit einem Maschinengewehr, – – und ich schmiege mich ganz tief, ich will hier nicht abgetan werden wie ein elendes Pampaskaninchen, ich will leben und befreien und Mann der Tat sein, wie ich es an der Seite Coys war!

Dann läßt der bleierne Hagel nach. Die Dämmerung des nächtlichen Meeres verschluckt mich und den Kutter. Ich stehe auf und trockne mir die Stirn … Ich glaubte, es wäre Schweiß. Es ist Blut … Ich habe ein Splitterchen in der Stirn, und ich habe es nicht gemerkt. Die Blutung läßt sehr bald nach, ich habe ja auch an anderes zu denken. Ich muß zunächst einmal feststellen, ob die Sträflinge etwa die Jacht irgendwo an einer anderen Stelle der Küste verankert haben oder ob sie womöglich in der Nähe der Insel kreuzt. Allerdings ist mit letzterem kaum zu rechnen, sonst hätten die Chilenen wohl klüger operiert und die Jacht vor den Eingang der Bucht beordert, um dem Kutter den Rückweg abzuschneiden. Es war wohl überhaupt wahrscheinlicher, sagte ich mir, daß die Jacht überhaupt nicht mehr existierte. Sie konnte sehr gut an der Insel gescheitert sein, und die Sträflinge konnten sich trotzdem gerettet haben. Jedenfalls, ich mußte mir Gewißheit hierüber verschaffen. Ich begann wie ein hungriger Wolf eine gut behütete Herde das Eiland zu umschleichen. Ich hatte alle Lichter an Bord gelöscht. Da der tadellose Motor sehr geräuschlos arbeitete, konnte mich auch die arbeitende Maschine nicht verraten. Im übrigen fürchtete ich auch die Chilenen trotz ihrer Anzahl und trotz des Maschinengewehrs sehr wenig. Der Kutter war aus Eisen, besser aus Stahl, und die Reling immerhin etwa vierzig Zentimeter hoch. Sie bot genügend Schutz.

Nachdem ich das Eiland umkreist und nichts von der Jacht bemerkt hatte, benutzte ich die Verdunkelung des Mondes durch eine größere Wolke zur Montierung des Maschinengewehrs, das wir genau so von der Brigg mitgenommen hatten wie die Funkeinrichtung. Ich stellte es am Heck auf, baute aus den würfelförmigen Ballasteisenstücken eine Art von Schutzschild und gedachte nun die Insel offen anzugreifen, wobei ich den Vorteil hatte, weit besser gegen Kugeln geschützt zu sein wie die Chilenen, Bimsstein ist gegen moderne Nickelmantelgeschosse ein sehr mäßiges Bollwerk.

Der uralte Erfahrungssatz, daß man sich jeden Entschluß gründlichst überlegen sollte, bewahrheitete sich auch bei mir. Die Redensart vom „schnell entschlossenen“ Manne erweist sich sehr oft als ziemlich fadenscheinig. Impulsive Naturen werden denen, die sich, wie zum Beispiel Hiruto, niemals aus einem scheinbaren Phlegma herausbringen lassen, stets unterlegen sein. – Während ich nun das Eiland von Osten ansteuerte, indem ich die noch immer andauernde Dunkelheit benutzte, stiegen mir allerlei Bedenken auf. Ein Angriff meinerseits mußte den Chilenen Verluste bringen. Sie würden dadurch nur gereizt und vielleicht zu Akten der Brutalität gegen ihre Gefangenen aufgestachelt werden. Außerdem sprach noch etwas anderes mit: War ich berechtigt, hier so auf eigene Faust gleichsam Polizei zu spielen?! Hatten die Sträflinge nicht während des Orkans die weiße Flagge gehißt?! Wußte ich, ob Ellen und den Gefangenen wirklich ernste Gefahr drohte?! Wenn diese etwa nur wegen politischer Vergehen nach Juan Fernandez deportiert worden waren, konnten es Leute ohne Makel sein, vielleicht nur Verzweifelte, Enterbte des Schicksals, die aus Not, aus begreiflichem Selbsterhaltungstrieb zu Piraten geworden. Wären sie in der Tat rücksichtslose Mordgesellen gewesen, hätten sie vorhin sowohl Hiruto als auch mich schon beim Einlaufen in die Bucht überraschend niederknallen können. Sie hatten abgewartet. Erst als ich floh, suchten sie mich zu beseitigen, auszulöschen, was zu entschuldigen war. Sie waren Flüchtlinge, sie mußten vielleicht damit rechnen, bei ihrer Wiederergreifung standrechtlich erschossen zu werden. Mithin: War es nicht richtiger, erst einmal mit ihnen zu verhandeln?!

Ich änderte meinen Entschluß. Der Kutter war vielleicht noch dreihundert Meter von jener Stelle entfernt, wo Chubur sich in die Tiefe hinabgewagt hatte und den Kraken gesehen haben wollte. Ich stoppte den Kutter, ließ ihn rückwärtslaufen und kroch in die Kajüte, um ein weißes Tischtuch als Parlamentärflagge zu holen. Als ich es dann am Flaggenstock hißte, peitschte ein Hagel von Kugeln vom Eiland herüber. Ich war also doch bemerkt worden. Das Feuer brach jäh ab, als der Wind das weiße Friedenszeichen entfaltete und lustig knallen ließ. Fast gleichzeitig kroch der Mond hinter der Kante der Wolkenwand hervor und gab genügend Licht, die Vorgänge auf der Insel zu beobachten. Ich erkannte durch das Glas drüben am Rande der Steilküste etwa zehn Leute, von denen einer nun mit einem weißen Hemde oder dergleichen eifrig winkte.

Plötzlich geschah etwas, das mir das Blut aus den Wangen trieb. Links neben dem Kutter bäumte sich das Meer unter dumpfem Grollen zu einer Blase, die dann platzte und eine ungeheure Rauchwolke gen Himmel schleuderte. Dieselbe Erscheinung, immer begleitet von unterseeischem Grollen, beobachtete ich auch an anderen Stellen, – offenbar schossen auch an der Westküste ähnliche Rauchmassen hoch, denn der Wind drückte mit einem Male breite Qualmstreifen auf das kleine Eiland und entzog es so fast vollkommen meinen Blicken. Ich sah nur noch die Leute auf der Uferhöhe, sie rannten wie in wilder Angst hin und her, während neue Ausbrüche des Seebebens – es konnte sich ja nur um ein solches handeln – die Luft immer mehr verfinsterten.

Dann verjagte ein stärkerer Windstoß die Qualmschwaden, und ich stierte mit weit aufgerissenen Augen auf das unselige Wunderwerk von Menschenhand … Ich umkrallte das Steuerrad, ich beugte mich vor, ich glaubte an eine Sinnestäuschung, mein Herzschlag setzte aus – –

… Die Insel versank!!

Die Wassergrenze schob sich zusehends immer höher an den grauen Uferwänden … immer höher.

Die Chilenen brüllten vor Entsetzen … Ihre schrillen Rufe ließen mich fiebern …

Sie benahmen sich wie die Tollhäusler … Sie winkten mir zu … ihr Brüllen weckte mein Mitleid … Sollte ich sie elend versaufen lassen?!

Und Ellen?!

Ich biß mir in die Unterlippe … Ich spürte, daß mir die Tränen heiß in die Augen stiegen …

Ellen … – – und – blitzschnell zwei Griffe … der Kutter jagt vorwärts … Ich zittere … ich rase mit dem Boot gerade auf die Stelle zu, wo die Sträflinge jetzt dicht zusammengedrängt auf einer hohen flachen Zacke knien … knien … und brüllen … wie wilde Tiere … aus Angst vor dem Meere, das beständig höher leckt, das bereits das schüsselförmige Innere des Eilandes überflutet haben muß … Nur noch die höchsten Blöcke des Uferkranzes sind sichtbar – nur die!

Wahnwitz ist mein Tun … Wie will ich Ellen retten?! Es gibt hier keine Rettung …

Die Insel versinkt, und die Gefangenen in den Hohlräumen des Bimssteingestades ringen bereits mit dem Tode … Meine Phantasie zeigt mir Szenen unerhörten Grauens … Ich sehe die Wassermassen in die Hohlräume eindringen, ich sehe die Verzweiflung der Gefesselten, ich sehe alles, was … sein kann, sein muß …!

Mein Kutter schießt zwischen zwei Blöcken hindurch … Ich befinde mich bereits über der Insel, aber da ist nur das Meer, das gierige, erbarmungslose Meer … Da sind nur noch einige Zacken der Steilküste – einsame Riffe – – und die beiden Antennenmasten, an denen vier Menschen ganz oben hängen …

Die Holzmasten neigen sich plötzlich, sinken langsam um, versinken, – vier Schwimmer heulen um Hilfe, – – hinter mir erschallt das Gebrüll der Knieenden – – und Erbarmen wirft alle Bedenken beiseite …

Ich stoppe, wende … die vier kommen an Bord, fallen zu Boden wie Trunkene, ihre Kräfte sind verbraucht durch die Todesangst, – – ich steuere auf den flachen Block zu, auf dem nun die zehn Leute – zehn sind’s – aufrechtstehen und sich aneinanderkrallen, denn auch diese Kuppe wird bereits von den Wogen überspült, gleitet tiefer hinab – – das Meer belächelt mit rauschenden Wogen die jähe Katastrophe, der Pazifik frißt die künstliche Insel, die man ihm aufgezwungen hat, wie einen elenden Happen. Die zehn schwingen sich an Deck, einer, der im blauen Seemannsanzug, taumelt auf mich zu mit verzerrtem Gesicht … fällt halb über mich, stammelt Dankesworte, gleitet auf die Bank, stützt den Kopf in die Hände und … weint wie ein Kind …

Der Kutter treibt, schaukelt, Spritzer kommen über Bord …

Ich schaue dorthin, wo die Insel war … war!!

Nichts mehr … Nur noch eine einzige Bimssteinzacke zeigt an, wo die Nordküste sich noch vor wenigen Minuten mit der Halbinsel den Wogen entgegenstemmte. Ich bin wie gelähmt … Ich stiere jene Klippe an … Ich weiß, dicht daneben erhob sich der Frauenkopf …

Ellen ist tot … Der Frauenkopf ist nur noch ein unterseeisches Riff …! –

Und der Mann neben mir preßt meine Hände … stottert, jammert:

„Das … haben wir nicht gewollt, – – das war Schicksal, höhere Macht …!“

Er spricht ein tadelloses Englisch, und seine Uniform kenne ich: Es ist die eines chilenischen Kapitäns der Kriegsmarine.

Er hat recht: Höhere Macht!! – Davor beuge auch ich mich … Ich frage nur:

„Wer sind Sie?“

„Kapitän Jose Gadarros, Kommandant des chilenischen Kreuzers „Los Andes“, zurzeit in besonderer Mission abkommandiert …“ Er sagt es wie etwas auswendig Gelerntes. Er spricht wie ein Automat … Das Grauen sitzt ihm noch im Nacken. „Wir … sollten … das Rätsel dieser Insel aufklären …“ fügt er hinzu. „Bitte – – geben Sie mir und meinen Leuten Alkohol … Sonst … werden wir … verrückt … Wir haben Entsetzliches hinter uns.“

 

13. Kapitel.

Das nie gelöste Rätsel.

Der Wind ist gegen Morgen völlig eingeschlafen. Wir kreuzen noch immer über der versunkenen Insel, und Kapitän Gadarros, der Schiffsleutnant Pedro Amato und ich sitzen in der Kajüte beim Frühstück. An Deck liegen die Matrosen und schlafen, so weit sie nicht dienstlich in Anspruch genommen sind. Mein Kutter lernt die strenge Disziplin der Kriegsmarine Chiles kennen.

Gadarros erzählt. Ich habe mich El Gento vor ihm genannt, habe mich als Abenteurer aufgespielt, der am Gallegos haust, und Jose Gadarros hat nichts weiter gefragt, obwohl sein Benehmen verrät, daß er mich höher einschätzt, als ich es wünsche.

„Mr. El Gento, die Sache begann vor drei Jahren …“ beginnt er und schiebt die Teetasse weg und greift nach einer von Hirutos Zigaretten, von denen in den Wandspinden noch ganze Päckchen liegen. „… Sie begann mit der Meldung eines unserer kleinen Kreuzer, der hier in der Nähe Scharfschießen abgehalten hatte, wobei ihm ein Floß begegnete, das aus zehn gewaltigen, stählernen Tonnen bestand. Es wurde von einem alten verrosteten Dampfer geschleppt, der unter japanischer Flagge fuhr und außerdem noch die Reedereifahne Hiruto-Yokohama zeigte. Der Dampfer war mit Bimssteinblöcken über und über beladen. Tonnen und Bimsstein waren für Valdivia bestimmt, wie die Papiere besagten. Der Kreuzer kümmerte sich um den Transport nicht weiter, und erst nach Monaten kam zufällig heraus, daß Floß und Schiff ihr Ziel nie erreicht hatten, daß aber auch niemand in Valdivia Brauereitonnen oder Bimsstein bestellt hatte. Trotzdem hatte unsere Regierung keinen Anlaß, die Angelegenheit irgendwie zu untersuchen. Erst als ein Regierungsdampfer etwa an derselben Stelle einen ähnlichen Transport traf – das war wieder Monate später, – wurde unser Marineamt aufmerksam und fragte bei Hiruto drahtlos an, denn auch dieses neue Floß nebst Schlepper sollte nach Valdivia gehen und kam nie wieder zum Vorschein. Hiruto, der größte Reeder Japans, antwortete, es müsse ein Irrtum vorliegen. Er könne nachweisen, daß die beiden Transporte mit ihm nichts zu tun hätten. Damit war die Sache abermals abgetan, und ein volles Jahr verstrich, bevor unser Vermessungsschiff „Präsident Origo“ nachts hier in dieser Gegend eine bisher völlig unbekannte kleine Insel sichtete, die jedoch plötzlich in starken Nebelmassen verschwand und nicht wieder entdeckt werden konnte. Dasselbe Schiff kam zufällig vor zwei Monaten abermals an dieselbe Stelle. Eine scharf abgegrenzte Regenbö, die mit dem Winde dahinzog und den Dampfer einhüllte, ermöglichte es diesem, sich der wiederum gesichteten Insel unbemerkt bis auf dreihundert Meter zu nähern. Hier stoppte der Kapitän, da er Riffe befürchtete. Die Besatzung sah zu ihrem Erstaunen von den Wanten aus ganz deutlich ein schüsselförmiges Eiland mit Bäumen, Büschen, zwei Antennenmasten – und …“ – Der Kommandant Jose Gadarros machte eine Pause und blickte mich ernst an – „– vielleicht werden Sie, Mr. El Gento, das Weitere genau so anzweifeln wie ich, wie alle, – also die Besatzung sah auf der Insel eine Menge Menschen, Männer, Frauen und Kinder, die sich bei den Klängen eines Riesenlautsprechers und beim Lichte einer Unzahl bunter Lämpchen um die Antennenmasten fröhlich bewegten und ein Fest zu feiern schienen. Es war Nacht und das Spukhafte des Ganzen wurde noch erhöht durch eine Gruppe von Tänzerinnen, die in Schleiergewändern eine moderne Tanzschöpfung vorführten. An drei langen Tafeln saßen an die vierzig Leute, andere gingen hin und her, Kinder und Hunde tollten ringsum, und – – mit einem Schlage war der ganze Spuk verschwunden. Die Regenbö gab den Dampfer frei, rings um das Schiff schossen unter donnerähnlichem Grollen riesige Rauchfontänen aus dem Meere, eine dichte Nebelmasse hüllte die Insel ein, und als die vulkanischen Gewalten sich nach zehn Minuten beruhigt hatten, war von der Insel nichts mehr übrig geblieben. Unser Vermessungsschiff setzte sofort Boote aus, um womöglich noch ein paar Überlebende der Katastrophe herauszufischen, die Boote kreuzten stundenlang, fanden jedoch nicht einmal einen einzigen Toten, nicht einmal Bretter oder Tische oder Stühle – – nichts! – Der Kapitän entwarf ein Protokoll über das Beobachtete, ließ es von allen Zeugen unterzeichnen und lotete nachher ringsum das Meer ab und fand so eine Untiefe in etwa fünfundzwanzig Meter, die sich genau von Nordwest nach Südost in einer Länge von etwa tausend Meter erstreckte und die bisher völlig unbekannt gewesen. – Unser Marineamt verheimlichte die Meldung des Kapitäns der Öffentlichkeit, da man den Dingen erst einmal in aller Stille auf den Grund gehen wollte. Man entsandte Kreuzer, – sie fanden die Untiefe, sonst nichts. Man ließ Schleppanker über die Untiefe hinweggehen. Sie förderten Bimssteinbrocken empor – sonst nichts. Das Marineamt gab nun die Beobachtungen des Vermessungsschiffes bekannt. Die Zeitungen verhöhnten Kapitän und Besatzung und sprachen von Trunkenheit und Seemannsmärchen. Da meldete sich wieder nach Wochen ein Seehundsfängerkapitän und beschwor, er habe die Insel gesichtet. Sie sei ihm und seinen Leuten jedoch im Nebel aus den Augen gekommen, und er habe sie auch bei klarem Wetter nicht wieder auffinden können. Unser Marineamt rüstete daraufhin eine Privatjacht aus, unterstellte sie meinem Befehl, und zum Schein wurde die Besatzung in Sträflingsanzüge gesteckt. Die Vorbereitungen der Expedition hielt man streng geheim, ich bekam genaue Instruktionen, und so verließen wir dann mit der weißen Jacht in aller Stille Valdivia und … suchten die geheimnisvolle Insel. Tagelang kreuzten wir in der Nähe der Untiefe, näherten uns ihr stets nur nachts mit abgeblendeten Lichtern und endlich hatten wir während eines starken Gewitters das Glück: Wir kamen bis auf hundert Meter an das Eiland heran! Es existierte also!!“

Jose Gadarros winkte seinem Leutnant. „Nun erzählen Sie weiter, Amato, damit Sennor El Gento mich nicht für einen Lügner und Aufschneider hält.“

Der Leutnant, ein junges, schneidiges Kerlchen, lächelte erst, sagte dann jedoch ungewohnt düsteren Tones:

„Unsere Jacht schickte zwei Boote und zwanzig Mann in die Bucht. Der Regen hüllte uns ein, Kapitän Gadarros war mit dabei, auch ich. Wir hatten die Jacht zur Vorsicht sich wieder entfernen lassen. Wir landeten, fanden das Eiland völlig leer, bemerkten dann eine Brigg, die auf die Bucht zuhielt, verbargen uns und die Boote und überfielen die Leute der Brigg, als sie kaum die Insel betreten hatten. Es waren Japaner und ein Europäer, ein älterer vornehmer Herr. Die Brigg selbst flüchtete, nur drei unserer Leute hatten noch an Bord gelangen können. Die Leute der Brigg hatten sich ohne Widerstand ergeben. Wir hielten sie unweit des einen Felsens an der Bucht, der einem Frauenkopfe glich, unter Bewachung. Acht unserer Matrosen mit Karabinern und Pistolen genügten hierzu, glaubten wir. Wir anderen verteilten uns über die Insel, um sie genau zu durchforschen. Plötzlich ereignete sich genau dasselbe, was schon das Vermessungsschiff gemeldet hatte: Unterseeische vulkanische Ausbrüche von unerhörter Stärke begannen, die Insel sank sehr schnell, und als wir die Bucht erreichten, fanden wir dort keine lebende Seele mehr vor: Die Gefangenen und unsere acht Leute waren verschwunden! – Die beiden Boote retteten uns vor dem Ertrinken, die Insel tauchte ins Meer, wir ruderten zur Jacht und waren damals in einer seelischen Verfassung, als ob wir einen Blick in die Hölle geworfen hätten. – Mehr brauche ich nicht zu erklären, Mr. El Gento. Was ferner geschah, wissen Sie: Unser Angriff auf die Brigg, den wir schleunigst aufgaben, um keine Verluste zu erleiden und um besser durch List diesem Rätsel näherzukommen, – dann unser zweites Erscheinen vor der Insel, unser Hissen der weißen Flagge, – der Orkan, der die Jacht an dem Eiland scheitern ließ, und …“ – er zuckte die Achseln – „endlich die Teillösung des Rätsels: Vierzehn von uns, die wir hier auf Ihrem Kutter sind, überlebten den Schiffsbruch. Wir konnten auch noch aus dem Wrack Waffen bergen, bevor es völlig versank. Wir hatten hier nur zwei Leute vorgefunden, einen jüngeren Mann und eine Frau, eine Dame. Vorgefunden ist doch nicht der richtige Ausdruck: Wir überraschten sie, als sie gerade dort in der Bucht eine der Bimssteinplatten lüfteten. Unter diesem falltürartigen Schlupfloch entdeckten wir zwei große Räume. Der eine – beide waren fast elegant möbliert – enthielt eine Funkanlage. Das von uns gefangen genommene Paar verweigerte jede Aussage. Erst als Kapitän Gadarros den Mann zu erschießen drohte, erklärte der Europäer, daß er Engländer sei und daß, falls wir auch die Brigg in unsere Gewalt bekommen wollten, er bereit sei, sie anzurufen. Diese Zugeständnisse erzwangen wir von ihm auch nur dadurch, daß die blonde Sennorita sich einmischte, die seinetwegen sehr in Angst war. Im übrigen erfuhren wir nichts. – Es erfolgte dann unter unserer Aufsicht der Anruf auf Welle 300. Wir wollten unbedingt auch die Brigg erobern, da wir dort endlich den Schlüssel zu all den Geheimnissen zu finden hofften. Der Engländer hat uns denn auch wenigstens den Kutter herangelockt, aber – Sie wissen das am besten, Mr. El Gento – es wurde ein Fehlschlag, wir fingen nur den Reeder Sajo Hiruto, und aus dem Japaner ließ sich erst recht nichts herauspressen. Unsere drei Gefangenen blieben verschwiegen, und auch die genaueste Durchsuchung der beiden Räume förderte nichts von Wichtigkeit zu Tage. Immerhin: Wir hatten drei Eingeweihte erwischt, und wir hofften zuversichtlich, schließlich doch noch einen von ihnen zum Reden zu bringen. Betonen mochte ich, daß die beiden großen Gemächer Holzwände und Holzfußböden besaßen und daß kein weiteres ähnliches unterirdisches Gelaß vorhanden war. Als Sie dann mit dem Kutter sich wiederum der Insel näherten, sperrten wir die drei, die wir gefesselt und auch geknebelt hatten, denn Rücksichtnahme wäre wohl verfehlt gewesen, unten ein und wollten Sie abfangen. Wir begingen hierbei den Fehler, keinen Wächter bei den dreien zurückzulassen. Es folgten die bekannten Explosionen unter Wasser, ich selbst stürmte noch zu der Bimssteinfalltür, die wir hochgeklappt hatten, – sie war geschlossen, sie hatte außen keine Handgriffe, aber unten Gummifalzen, – – die drei mußten sich befreit haben, die Insel sank, versank, wir sahen den Tod vor Augen, wir waren dem Wahnsinn nahe, denn das bisher Erlebte hatte unseren Nerven schon arg genug zugesetzt, – Sie retteten uns, aber auch Sie, Mr. El Gento, sind bisher in Ihren Äußerungen vorsichtig gewesen, daß wir nur aus Dankbarkeit davon absahen, von Ihnen nun endlich völligen Aufschluß über dieses unheimliche Rätsel einer Insel zu fordern, die scheinbar ganz nach dem Willen des jungen Engländers verschwindet und wieder auftaucht – eine technische Leistung von unerhörter Art!“

Der Leutnant füllte sein Whiskyglas und trank … Seine Hand zitterte leicht.

Kapitän Gadarros nahm das Wort, und seine Stimme verriet, daß ich nunmehr kaum noch mit den bisherigen Ausflüchten mich aus der peinlichen Lage befreien könnte. Man vermutete in mir ebenfalls einen Eingeweihten, man glaubte mir nicht, daß ich zufällig mit in diese dunklen Dinge hineingezogen worden sei. Gadarros schaute mich scharf an. „Mr. El Gento, zu meinem Bedauern muß ich jetzt mit allem Nachdruck ein rückhaltloses Geständnis fordern. Leugnen Sie nicht mehr, Sie gehören mit zu diesen Fremden, die hier im Pazifik ein technisches Wunder geschaffen haben. Zunächst: Wo sind unsere drei Matrosen, die auf der Brigg mit Hiruto und der Sennorita davonfuhren?“

„Tot!“

„Ah – dann hat Hiruto nicht gelogen. Er behauptete, die drei hätten sich an der Dame vergreifen wollen …“

„So sagte er …“

„Sagte?!“

„Ja, denn ich war nicht dabei, als sie starben. Ich will Ihnen mitteilen, was ich weiß … Verlangen Sie jedoch keine Namen von mir …“

Ich erzählte … wie Chubur die Brigg an der Satansinsel beim Fischen entdeckt hatte, wie er uns holte, wie wir die Brigg wieder flott machten, den Pudel fanden, wie wir Hiruto und die junge Dame endlich erwischten, nachdem sie uns mehrmals betäubt hatten …

Kapitän Gadarros merkte, daß ich nicht log … Er schüttelte nur immer wieder den Kopf.

Und ich schloß mit den berechtigten Worten: „Sie sehen, ich weiß im Grunde nicht mehr als Sie! Ich habe sogar niemals die unterirdischen Gemächer der Insel betreten, ich ahnte nur ihr Vorhandensein. Ich gebe Ihnen aber darin vollkommen recht: Diese künstliche Insel versinkt, erscheint, und hinter alledem steckt die überragende Intelligenz eines einzelnen Mannes, der die scheinbaren vulkanischen Eruptionen einfach durch Minen hervorruft, der die Insel einnebelt, der hier, wo wir jetzt mit dem Kutter noch immer kreuzen, tief unter dem Wasser weiterlebt, atmet, – – wartet, bis wir davongefahren sind und er das Eiland wieder auferstehen lassen kann …!“

Gadarros drückte mir die Hand. „Es hieße Sie beleidigen, Ihre Angaben irgendwie anzuzweifeln … Und wenn wir die Sache nun einmal rein vom Standpunkt des internationalen Seerechts betrachten wollen, worauf ich übrigens das Marineamt schon hingewiesen habe: Kein Staat hat die Befugnis, irgend jemandem zu verbieten, auf offenem Meere, das niemandes Eigentum ist, sich eine Insel zu erbauen. Für die Einmischung Chiles fehlt hier jede rechtliche Grundlage – jede! Eigentlich sind wir sogar bereits zu weit gegangen. Ich habe mich leider dazu hinreißen lassen, die Brigg Hirutos damals anzugreifen. Wir haben das Feuer eröffnet, wir haben auch nachher in blindem Übereifer uns schwere Übergriffe erlaubt, für die sowohl England als auch Japan von uns Rechenschaft fordern könnte. Handelte es sich bei diesem Eiland etwa um ein Piratennest, wäre bewiesen, daß die Leute der Insel irgendwie sich vergangen haben, so wäre ich freilich geschützt. Doch davon ist keine Rede, – es sind weder Piraten noch Verbrecher, – zu ihnen gehört ein Mann wie Sajo Hiruto, Baron und Günstling des Kaisers von Japan, der reichste Mann Japans noch dazu, – wo würde der sich mit Verbrechern verbünden! Ich befinde mich also in einer äußerst unangenehmen Lage, Mr. El Gento. Diese Expedition kann mich Kopf und Kragen kosten, falls Japan und England sich einmischt, und man weiß ja, wie energisch die beiden Großmächte für ihre Untertanen eintreten!“

Er wehte den Zigarettenrauch mit der Hand weg … „Am besten wäre es, die Geschichte totzuschweigen. Das werden auch meine Vorgesetzten einsehen. Zum Beispiel wäre jede politische Brüskierung Japans für uns Chilenen äußerst gefahrvoll. Japan schielt längst nach den unserer Küste vorgelagerten Inselgruppen. Die Japaner würden jeden Vorwand benutzen, diese Inseln zu besetzen. Mit einem Wort, Mr. El Gento, – ich möchte mich geschickt wieder aus der Affäre ziehen. Wir Überlebenden der Jacht werden heimkehren und uns um das Eiland nicht weiter kümmern. Ich bitte Sie also, uns den Kutter zur Verfügung zu stellen.“

Gadarros hatte mit vollendeter Höflichkeit gesprochen. Seine Beurteilung der Sachlage war auch durchaus richtig. Er hatte seine Befugnisse in der Tat weit überschritten. Anderseits: Wie sollte ich mich seinem Wunsche gegenüber verhalten, ihm den Kutter zu überlassen?! Gewiß, er hatte alle Ursache, das Eiland einfach ans seinem Gedächtnis zu streichen. War es aber nicht von ihm durchaus verfehlt, seine impulsive Handlungsweise nicht wenigstens vor denen zu entschuldigen, die er wie Piraten gefesselt und geknebelt hatte?! Hatte er mir nicht sogar verschwiegen, daß er die Insel doch nicht ohne Blutvergießen erobert hatte?! War nicht die Leiche des Japaners, die der Baron feierlich dem Meere übergeben hatte, Beweis genug für ein Feuergefecht?!

Ich erwiderte, – und ich konnte mich sehr wohl in seine Lage hineinversetzen:

„Ich möchte Ihnen etwas Besseres vorschlagen, Kapitän. Wir wollen hier nicht länger über der Insel kreuzen, sondern uns scheinbar entfernen. Sobald die Nacht da ist, wird das Eiland sicherlich wieder auftauchen. Ich werde es dann anrufen. Ich hoffe bestimmt, daß ich mit dem Herrn des Eilandes Verbindung bekomme. Ist dies geschehen, können Sie sich drahtlos in aller Form bei dem Engländer und dem Baron entschuldigen und bitten, die Angelegenheit begraben sein zu lassen, wogegen Sie versichern, die Existenz des Eilandes und seine Eigenart zu verschweigen – auch im Namen Chiles. Ich bin überzeugt, Sie werden bei den Leuten der Insel hierbei größtes Entgegenkommen finden. Es wird ein Friedensschluß erreicht werden, mit dem beiden Parteien gedient ist.“

Gadarros sprang auf. „Ihr Vorschlag ist glänzend! Ich danke Ihnen, Mr. El Gento …! Wir werden also gen Osten steuern und nachher weit außer Sicht dieser Wunderinsel bleiben und die Nacht abwarten. Ich gebe sofort die nötigen Befehle. Nur eine Frage: Was wird mit Ihnen?!“

Ich lächelte. Dieses Lächeln mag sehr melancholisch ausgefallen sein. Der Kapitän schaute mich etwas überrascht an.

„Ich?!“ erklärte ich fast bitter … „Ich habe hier ebensowenig zu suchen wie Sie, Kapitän … Was ich suchen könnte, werde ich nie finden, – was ich verloren, gibt mir niemand zurück: Meine Heimat am Gallegos! Ich … begleite Sie nach Valdivia!“

 

14. Kapitel.

Die Stimme Ellens.

Jose Gadarros ist ein Mensch von Taktgefühl. Er fragt nichts mehr. Vielleicht – vielleicht ahnt er, weshalb ich das Eiland meiden will. Er reicht mir nur stumm die Hand, und dann gehen wir an Deck …

Ich überblicke das Meer, die blaugrünen Wogen, unter denen Ellen Duncam wohlgeborgen ihre Zärtlichkeit dem Manne schenkt, der Lord Georg Kentville heißt und der hier ein technisches Wunder vollbrachte, das nirgends seinesgleichen hat.

Ich fühlte, daß in meiner Seele zwei Empfindungen stritten: Die Freude, weil Ellen lebt, und ein heißer Abschiedsschmerz von dieser Stätte, die in ihren Tiefen meines Herzens stille Sehnsucht gegen den gierigen Pazifik mit stählernen Wandungen schützt.

Von der Insel ist nichts mehr vorhanden. Auch jenes hohe Riff, jene hellgraue Bimssteinzacke ist hinabgetaucht. Ich ahne, daß gerade diese breite, mächtige Zacke ihre besondere Bedeutung besitzt: Sie wird hohl sein, sie wird eine stählerne Röhre verbergen und Fenster und vielleicht auch eine Tür nach außen mit Gummileiste – wasserdicht … –

Wir steuern ostwärts. Ein wundervoller Vormittag blaut mit Sonnenglanz über der See. Ich sitze am Heck, habe mich umgewandt und starre dorthin, wo die Untiefe sich unsichtbar hinzieht, wo Gorry, das Genie, die riesigen Stahltonnen zusammenschweißte und über ihnen dann die Insel erbaute, die wie ein Schwimmdock versinken und wieder aufsteigen kann. Ich denke an so vieles … Ich bin wieder einmal vom Alltagswege abgewichen, und wieder hat mir das Schicksal nur Disteln auf den engen Pfad geworfen. Eine Pumajagd kostete mich den besten Freund, Coy Cala, den Unvergeßlichen, und die Fahrt zur Satansinsel kostete mich noch mehr, führte mich hinein in die Endlosigkeit des Pazifik und würde mich nun wieder in Valdivia stranden lassen – ärmer, einsamer denn je …

Schicksal eben!! Und der Mensch hat sich damit abzufinden. Wohl denen vielleicht, die die ausgetretene breite Straße des Alltags wandeln. Ihre Sorgen sind klein und mager, ihre Gefühle drehen sich im Kreise wie arme Schäflein, denen der furchtbare Giftwurm in den Pampas das Gehirn zernagt …

Was wird mir bleiben von den Erregungen der letzten Tage?! Erinnerungen an Hiruto, an den Zwist mit meinen eifersüchtigen Araukanern … All das wird immer verschwommenere Konturen annehmen, bis nur noch ein Antlitz mir im Gedächtnis erstrahlt: Ellen!

Nun ist die Stätte dort im Westen unter dem Horizont versunken, nun bin ich wieder frei …

Ich weise all das, was meine Gedanken so schwerblütig, so schwermütig fließen läßt, von mir, – ich erhebe mich und steige die kleine Treppe hinab und werfe mich in der Kajüte auf eins der Wandsofas. Die Müdigkeit besiegt mich, ich schlafe ein – – ein Schlaf ohne Träume – bleiern, tief, totengleich.

Als der Leutnant mich weckt, ist die Nacht bereits da. Das Licht brennt und beleuchtet den gedeckten Tisch. Wir drei essen und reden über die Hoffnung der nächsten Stunde. Wir verbergen unsere Nervosität voreinander, wir trinken über Gebühr, und dann hocke ich vor dem anderen Tischchen und bediene den Sender und funke Morsezeichen ins Weite …

Aber niemand meldet sich.

Welle 300 schweigt.

Ich stelle den Empfänger auf die Welle von Valdivia ein. Ich will’s um Mitternacht nochmals versuchen. – Valdivia spendet uns im Lautsprecher Jazz und dann Tagesnachrichten. Wir haben Verbindung mit der großen Welt, wir hören Dinge, die mir lächerlich gleichgültig sind, bis ich plötzlich aufhorche …

„Aus Paris wird gemeldet, daß die Regierung nunmehr auch Lord Georg Kentville und die übrigen vierzig von Neukaledonien entflohenen Deportierten amnestiert hat. Bekanntlich war Lord Kentville vor fünf Jahren zusammen mit achtzehn anderen Engländern zu lebenslänglicher Zwangsarbeit und Verschickung verurteilt worden, weil er in den Kämpfen in Französisch-Marokko den aufrührerischen Stämmen wirksame Hilfe geleistet und die Marokkaner besonders mit technischen Neuerungen versorgt hatte, wodurch er den Franzosen schwere Verluste zufügte. Ein Jahr nach seiner Verurteilung entfloh er aus Neukaledonien und soll dann insgeheim nach und nach vierzig weitere Sträflinge befreit haben. Sein jetziger Aufenthalt ist unbekannt. Lord Kentville war mit der Tochter Lord Duncam-Sussex verlobt, und diesem ist es zuzuschreiben, daß Frankreich nunmehr durch einen Gnadenakt diesen Heimatlosen die Rückkehr nach England möglich gemacht, wo sie bisher nicht geduldet wurden, da die englische Regierung des Lords Parteinahme für die Marokkaner aufs schärfste mißbilligt hat und den Lord zweifellos ausgeliefert hätte.“

Ich stierte auf den redenden, mit goldgelber Seide überzogenen Kasten, der mir hier mit einem Schlage das Geheimnis der Wunderinsel enthüllt hatte. Ich war so bleich geworden, daß Jose Gadarros meine Hand ergriff … „Was fehlt Ihnen, El Gento?!“

„Jetzt – – fehlt mir nichts mehr, Kapitän … Jetzt weiß ich alles, jetzt darf ich Ihnen auch die Namen nennen, die ich Ihnen bisher verschwieg. Das Geheimnis des Bimssteineilandes ist gelöst. Sie haben soeben diese Namen mitangehört. Der Erbauer der Insel ist der aus Neukaledonien entflohene Lord Georg Kentville, die blonde Sennorita ist Ellen Duncam, Tochter des Lord Sussex, und das Eiland ist … das Paradies der Enterbten, die in jener Nacht, als die Insel im bunten Lichterglanz erstrahlte, irgendein Fest feierten!“

Die beiden Chilenen schwiegen minutenlang.

Gadarros Zigarette erlosch … Der Leutnant trocknete sich die Schweißperlen von der Stirn. Es war sehr heiß in der kleinen Kajüte.

„Also … das war’s!“ sagte der Kapitän dann leise, während der redende Kasten schon wieder einen sentimentalen Fox säuselte. „Das also … Eine Zufluchtstätte von Sträflingen …!! Unglaublich!!“

„… Von Sträflingen nebst Frauen und Kindern,“ ergänzte ich, stand auf, schaltete den Empfänger aus und ließ den Sender seine Zeichen in das Weltall jagen …

Es war Mitternacht.

Und – jetzt kam auch Antwort. Ich hatte umgeschaltet, den Hörer ausgestülpt, – ich vernahm die fünf sonderbaren Trompetentöne – – und – – Ellens Stimme:

„El Gento, sind Sie’s wirklich?! Wir fürchten eine List … Melden Sie sich mit Ihrem richtigen Namen, den Sie den Chilenen wohl kaum verraten haben.“

Wieder morste ich …

„Keine Gefahr. Chilenen versprechen Verschwiegenheit. – Haben Sie Abendmeldung von Radio Valdivia gehört? Frankreich hat Lord Kentville und die anderen vierzig amnestiert. Freue mich, wünsche von Herzen Glück. Alle Schwierigkeiten hiermit beseitigt. Leben Sie wohl für immer, grüßen Sie Hiruto, Lord Gorry, Ihren Vater und den Pudel Ramses. Wir sehen uns nie wieder.“

Und nochmals schalte ich um …

Nochmals im Kopfhörer die fünf Merkzeichen.

Dann … Ellen …

„Hallo, El Gento …!! Sie müssen kommen, wir müssen Sie sprechen … Kehren Sie um! Wenn Sie mein Freund sind, werden Sie kommen! Gerade daß Sie mir diese Glücksbotschaft übermittelten, freut mich doppelt. Wir hatten sie nicht gehört. Kommen Sie!!“

Die Stimme schwieg …

Die Stimme …

Ich saß und kämpfte … War’s nicht Torheit, nochmals vor Ellen hinzutreten und zu heucheln und das Glück anderer heuchlerisch mitzuerleben?!

Ich … unterlag.

Der Kutter wendete … Nach Westen ging’s durch die Pracht der Tropennacht – zwei Stunden.

Und dann dort vor uns im Mondlicht der graue Streifen, die Palmen …

Immer näher rücken sie … Wir laufen in die Bucht ein … An der Mole Kopf an Kopf eine jubelnde Menge …

Aber – – an der Mole auch ein Segler mit zwei Masten: Die Brigg!! An der Reling braune freudige Gesichter … – meine Araukaner, die unterwegs umgekehrt waren, denen das Gewissen schlug, die mich zurückhaben wollten …

Auf der Mole Ellen Arm in Arm mit dem blonden Kentville, einem Manne mit einem Gesicht wie Stahl …

Man umdrängt mich … Ellen drückt mir stumm die Hand … Wir schauen uns an, und ich fühle ihre eiskalten Finger, das Beben ihrer Hand, und ich ahne dunkel, daß Ellen mich nie vergessen wird …

 

15. Kapitel.

… Als die Ketten brachen …

… Ich bin allein auf der Insel, ganz allein … Ich habe es so gewollt. Vor einer halben Stunde ist die Brigg davongesegelt, ist der Kutter mit meinen Araukanern ebenfalls unter dem fernen Horizont verschwunden.

Ich stehe noch auf der hohen Zacke neben der Bucht – neben dem Frauenkopf … Mein Blick ist nach Osten gerichtet. Dort tauchte die Brigg unter die Kimmung, dort liegt Valdivia, von dort wird Ellen heimwärts eilen – – zur Hochzeit …

Ich bin allein, – doch nicht ganz allein … Zu meinen Füßen kauert der Pudel Ramses, Ellens Geschenk.

Er winselt ganz leise … Er weint der Herrin nach …

Wer würde Ellen nicht nachweinen?!

Ich streichele ihm den zottigen Kopf, er blickt zu mir auf, in seinen braunen Augen liegt Schmerz und Hoffnung. Er soll nicht umsonst hoffen, ich werde ihm Ellen ersetzen, ich werde ihn lieben, wie Ellen ihn nicht lieben könnte … Denn ich habe niemand mehr – – nur ihn, Ramses!! Ich bin nicht allein.

Ich klettere die Zacke hinab und nehme Ramses in die Arme, setze ihn auf den Boden, und wir gehen langsam über unsere Insel und freuen uns des Sonnenscheins und des frischen Windes und der kreischenden Möwen.

Wir wandern hin und her, und allmählich fühle ich, weshalb ich mich nicht hinabwage in die Tiefe des Eilandes, in die weiten Gemächer und Säle mit den dicken Glasfenstern, um die die grüne Flut spielt – das Meer!

… Weil die Gemächer und Säle leer sind, weil die Enterbten davonzogen, weil … Ellen fehlt.

Aber es wird Mittag, und der Körper verlangt sein Recht und Ramses desgleichen.

So steigen wir hinab durch die große Falltür zwischen den Antennenmasten, die wie ein doppeltes Tor ist.

Und gehen dorthin, wo Ellen diese letzten anderthalb Tage wohnte … Ramses winselt wieder … Ellens zartes Parfüm weht noch in diesen beiden Gemächern, auch in der kleinen Küche.

Die elektrischen Kocher bereiten uns beiden die Mahlzeit, Ramses und mir, und wir sitzen an dem Tische, wo Ellen saß mit ihrem Vater und Gorry, Hiruto und mir.

Wir essen beide nicht viel. Wir lieben Ellen, und von Ellen ist nur noch der Duft holder Weiblichkeit in diesen Räumen. –

So beginnen wir unser einsames Leben auf dem Zaubereiland.

Abends fange ich noch einen Funkspruch von der Brigg auf …

Man grüßt mich herzlich – – alle, alle.

Hiruto hat gefunkt.

Ich lehne im Schreibsessel von Gorrys Schreibtisch. Vor mir liegt Papier … Ich will die Geschichte des Paradieses der Enterbten schreiben. Ich tauche die Feder ein … Mein Blick ruht sinnend auf dem dicken Glasfenster dort vor mir. Der Lichtschein der Lampen durchdringt das Wasser, und Fische kommen herbei und glotzen herein.

Ramses schläft neben mir und … winselt.

Ich schreibe …

„Chuburs braune Gaunervisage lockt mit verheißungsvollem Grinsen …“

Das ist der Anfang.

Ich denke nach …

Weshalb habe ich eigentlich auch meine Araukaner weggeschickt, weshalb war ich so hartherzig, ihre Reue und Treue so zu enttäuschen?!

Ich weiß es nicht.

Ich bin innerlich gebrochen. Ich bin nicht mehr El Gento. Ich jagte einst auf schweißigem Pferderücken durch die Pampas und war … ein ganzer Kerl, der Tod und Teufel nicht fürchtete und der auch sein Herz auf Kandarre ritt …

Was bin ich jetzt?!

Ballast – – mir selber!

Aber ich weiß: Das wird anders werden, ich werde mich wiederfinden – bestimmt!

Doch dazu brauche ich Einsamkeit.

Andere brauchen Ablenkung. Das sind die Schwächlinge, die mit fremden Kräften sich wieder gesund machen.

Ich werde aus eigenem genesen.

… Ich schreibe weiter …

„Große Brigg, El Gento,“ wiederholt er eindringlich. „Schon lohnen Fahrt dorthin … Liegen an Westseite von Satansinsel hinter Klippen … – Fahren mit, El Gento?“

Wieder mache ich Pause. – Ja, so begann die Geschichte des Paradieses der Enterbten.

Und – es ist ein Paradies, das Gorry hier erbaut hatte.

Fische glotzen herein …

Wo hat ein Schreibling solch ein Arbeitszimmer?!

Ich reibe ein Hölzchen an und rauche und sinne … sinne …

Die Kunde vom Paradies der Enterbten wird bald die Neugierigen herüberlocken über die Weltmeere …

Feiste Milliardäre mit eleganten Privatjachten werden erscheinen und mir ihre Aufwartung machen, Touristendampfer werden Scharen von Neugierigen herbeischleppen …

Natürlich …!! Das Wunder will jeder sehen.

Aber – niemand wird es sehen. Gorry hat es mir geschenkt. Ich bin Herr der Zauberinsel. Ich kenne all ihre technischen Einzelheiten und Einrichtungen. Hier links von mir steht ein großer Spiegel, und der Spiegel zeigt mir das Meer rund um die Insel, die ich in vier Minuten verschwinden lassen kann.

Ich danke für Besucher. Ich bin mir selbst genug … Nur Ramses soll ausgenommen sein.

Die feisten Visagen der Dollarschieber werden böse enttäuscht werden. Ich kann, wenn ich will, vier Wochen ganz unter Wasser leben … ganz …!

Ich schreibe weiter …

„Was soll ich mich sträuben?! Das Leben den Lebenden! Ich werde Coy auch betrauern können …“

Die Feder entgleitet meinen Fingern.

Ich horche …

Abends war Sturm aufgekommen … Nun ist er scheinbar zum Orkan geworden. Ich spüre das feine Beben der Insel … Sie zittert unter dem Anprall der Wogen …

Sie zittert, wie Ellens eiskalte Finger in meiner Hand gezittert haben – – auch beim Abschied heute früh.

Und dieses Schwanken nimmt zu. Ein Unwetter von gigantischer Macht muß dort oben toben … Mag es!! Die Ankerketten meiner schwimmenden Insel sind wie die der allergrößten Schlachtschiffe, mit denen die friedliebende Welt den Frieden garantiert.

Seltsam: Das war soeben wie ein scharfer Ruck, der durch dies Riesengehäuse von Stahl und Bimsstein ging. Meine Zigarette rollte aus dem Aschbecher … Der Federhalter rollt …

Da – wieder ein Ruck!

Ich springe auf.

„Ramses!!“

Er folgt mir.

Wir sind oben auf der Insel zwischen den Antennenmasten …

Wir erklettern die Westküste … Wir sehen … wir werden umgeweht, Ramses heult, fällt, ich klammere mich fest …

Nie sah ich solchen Orkan, solche Wogen. Der Sturm kommt von Osten … Herab von den fernen Andenwipfeln, von den Schneehäuptern des Bergskeletts Südamerikas.

Und wieder ein fühlbarer Ruck … Das Eiland schwankt … Ich stiere geradeaus … Die Brandung leckt zu mir empor mit brausenden, heulenden, geifernden Mäulern … Aber diese Brandung entweicht, schiebt sich weiter …

Ein Blitz im Hirn: Ich weiß, – – die Insel schwimmt davon, dreht sich …

Mein Eiland treibt …

Wohin … wohin?!

Ramses winselt … Und ich – – lache … lache: „Nun sucht mich, ihr Neugierigen!! Meine Insel fährt mit dem Orkan gen Westen, – – wohin – – wohin?“

 

Ende.