Arktische Reizbarkeit. – Wie die Tropen unter bestimmten Bedingungen den sogenannten „Tropenkoller“ erzeugen, der sich einmal in völligem Versagen des moralischen Verantwortlichkeitsgefühls, oft auch in einer lächerlichen Selbstüberschätzung äußert, Erscheinungen, die den Betreffenden völlig ungeeignet zu weiterer Verwendung in der heißen Zone machen, so gibt es auch in den Gebieten des ewigen Eises eine gefährliche Gemütskrankheit, die „arktischen Reizbarkeit“, über die fast sämtliche Polarfahrer berichten haben.
Es handelt sich um einen Zustand krankhafter Erregbarkeit, der sich häufig bis zu förmlichen Wutanfällen, selbst bis zum Wahnsinn steigert. Als Ursachen der Erkrankung sieht man hauptsächlich die völlig veränderte Lebensweise an Bord der Expeditionsschiffe und das Bedrückende des Polarlandschaftsbildes mit seiner schaurigen Stille und Eintönigkeit an. Es gibt dagegen nur ein Mittel: stete Arbeit und Zerstreuungen.
Man lese in Nansens „In Nacht und Eis“ nach, durch wie verschiedenartige Mittel der kühne Forscher immer wieder den Geist seiner Gefährten zu beschäftigen, sie zu erheitern wußte, um das Gespenst der nervösen Gereiztheit zu bannen. Ihm glückte dies. Andere Leiter von Nordpolreisen, die sich für den Seelenzustand ihrer Mannschaft weniger besorgt zeigten, wissen von wilden Schreckenszenen zu erzählen, die aus der nichtigsten Veranlassung entstanden.
So entwickelte sich im Mai des Jahres 1832 an Bord der vom Eise eingeschlossenen „Victory“, deren Führer der Engländer John Roß war, eine Schlägerei, bei der drei Leute den Tod fanden. Der Matrose Booth war auf Deck ausgeglitten, über die Reling in einen Schneehaufen gefallen und darob von seinen Kameraden ausgelacht worden. Wutschnaubend ergriff er eine Walfischharpune und stieß sie dem Nächststehenden in den Leib. Schnell bildeten sich zwei Parteien, und wenige Minuten später gab es drei Tote.
Ähnliche Vorfälle haben sich bei sehr vielen Polarreisen abgespielt. Wohl am schrecklichsten erging es den Leuten des Robbenfängers „King Edward“, der 1897/98 sieben Monate lang an der grönländischen Küste im Eise lag. Das Schiff hatte reiche Vorräte, und die Mannschaft lebte herrlich und in Freuden. Der Kapitän, ein Trunkenbold, kümmerte sich um nichts, sondern ließ jeden nach Belieben schalten und walten.
Am 4. Dezember 1897 brach in der Mannschaftskajüte beim Kartenspiel Streit aus, der indes durch den Steuermann beigelegt wurde. Trotzdem holte der anscheinend wieder völlig ruhig gewordene Matrose Perkins einen Revolver und schoß den Steuermann, den Schiffsjungen und den Koch kaltblütig über den Haufen. Die beiden ersteren starben noch am selben Tage, der Koch, der nur an der Schulter verletzt war, genas nach längerem Krankenlager. Der Mörder wurde in Eisen gelegt. Zwei Tage darauf schlug ein anderer Matrose dem Kapitän mit einer Eisenstange über den Kopf, weil er angeblich einen zu kleinen Anteil Tabak erhalten hatte, und entfloh dann in die Eiswüste. Er wurde trotz eifrigen Suchens nicht wieder gefunden.
Am Weihnachtsabend beschuldigte der Bootsmann, ein Deutscher, einen Matrosen, absichtlich ein Licht seines kleinen, aus Besenreisern hergestellten Weihnachtsbäumchens ausgelöscht zu haben. Der Matrose griff, ohne ein Wort zu sagen, zum Messer und stieß es dem Deutschen ins Herz.
Kurz bevor der „King Edward“ dann vom Eise freikam, brach bei dem inzwischen wiederhergestellten Schiffskoch der Wahnsinn aus: er versuchte das Fahrzeug in Brand zu stecken und mußte, da er in Tobsucht verfiel, in einer kleinen Kabine gefesselt mit nach der Heimat genommen werden. Als der Walfischfänger im Juni 1898 in London eintraf, hatte er außer dem Kapitän nur noch drei gesunde Leute an Bord.
Das Seegericht nahm eine strenge Untersuchung vor. Die beiden Mörder wurden jedoch freigesprochen, da der Verteidiger geltend machte, die bisher unbestraften Angeklagten hätten im Wahnsinn die Verbrechen verübt: arktische Reizbarkeit. Dem Kapitän aber entzog man dagegen das Patent als Schiffsführer mit der Begründung, er habe seine Pflicht, sich auch um die seelische Verfassung seiner Leute zu bekümmern, in sträflichster Weise vernachlässigt.
[W. K.]
Anmerkung: