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Auf falscher Fährte

 

Argus–Kriminal–Bibliothek

 

Auf falscher Fährte.

 

Von

Walther Kabel.

 

1. Kapitel.

„Alles aussteigen! Schlesischer Bahnhof! Alles aussteigen!“ riefen die Schaffner und rissen die Kupeetüren auf, als der Schnellzug Amsterdam–Berlin zischend und fauchend in der mächtigen Halle zum Stillstand kam.

Die Gepäckträger rannten entlang der Wagenreihe, Rufe ertönten, die Reisenden drängten zum Ausgang.

„Aussteigen! Steigen Sie aus, Herr! Wir sind im Schlesischen Bahnhof! Endstation!“ rief ein Bahnbeamter in eines der leeren Kupees zweiter Klasse hinein, in dem ein Mann saß. Doch der Angerufene rührte sich nicht.

Als der Schaffner ihm an die Schulter griff und ihn wachzurütteln versuchte, verlor er das Gleichgewicht und drohte vom Sitz zu fallen wie eine Figur, die man angestoßen hat und die dadurch ins Schwanken gerät. Der Bahnbeamte rief einen Kollegen:

„Du, Karl, schnell, komm mal her, aber mach ein bißchen fix. Ich glaube, hier ist ein Toter im Abteil!“

Der Angerufene eilte so schnell als möglich herbei, und im Handumdrehen hatte sich auch ein neugieriges Publikum, durch das Rufen des Schaffners herbeigelockt, vor dem betreffenden Wagen angesammelt.

„Steigen Sie aus, Herr! Wir fahren nicht weiter!“ rief ihm Karl ziemlich laut ins Ohr und wollte den Fahrgast gerade mit einem etwas energischen Rütteln den Freuden dieser Welt wieder zurückgeben, als sich aus dem immer größer werdenden Kreis der Zuschauer ein Herr hervordrängte und rief:

„Rühren Sie ihn nicht an! Ich bin Arzt!“

Die beiden Beamten traten sofort zurück und machten dem zu so rechter Zeit erschienenen Mediziner Platz. Dieser, ein etwas korpulenter, aber lebhafter, kleiner Herr mit einem freundlichen, runden Gesicht, untersuchte den Erstarrten und stellte sofort fest, daß man es mit keinem Toten zu tun hatte, denn das Herz arbeitete, wenn auch nicht besonders stark, und die atmende Brust hob und senkte sich ziemlich regelmäßig. Auch von Trunkenheit konnte keine Rede sein, denn von Alkoholgeruch war keine Spur zu bemerken. Und doch es war ein sonderbarer Zustand, in dem sich der Mann befand. Auch die Lage des Körpers war merkwürdig, irgendwie starr, fast stocksteif. Er saß nicht, sondern er lehnte vielmehr seitlich verrutscht an der Lehne der Bank, so daß es aussah, als ob man eine große Puppe hätte hinsetzen wollen.

Die schnell angestellten Wiederbelebungsversuche Dr. Bleis, dies war der Name des Arztes, blieben vorderhand ohne Resultat. So befahl er den anscheinend Erstarrten auf eine Bank im Wartesaal zu legen, um ihn dort noch einmal eingehend untersuchen zu können.

Es hatte sich noch ein zweiter Arzt gefunden, der sich bereit erklärte, seinem Kollegen beizustehen, und die beiden Herren folgten den Bahnbeamten, die den Besinnungslosen nach dem Wartesaal transportierten.

Dr. Blei öffnete die Kleidungsstücke des seltsamen Patienten, aber es zeigte sich keine Wunde am Körper, die auf eine Gewalttat hätte schließen lassen können. Am Hals waren keine Strangulationsmerkmale zu bemerken, Herz und Lunge funktionierten ziemlich normal, der Puls ein wenig vermindert – kurz, es war durchaus nichts Außergewöhnliches zu entdecken.

„Wissen Sie, Herr Kollege,“ meinte Dr. Blei, „ich will ja keine feste Behauptung aufstellen, aber ich gewinne immer mehr den Eindruck, als wäre der Mann hypnotisiert worden. Meinen Sie nicht auch? Ich wüßte wenigstens nicht, um was es sich sonst handeln könnte. Diese seltsame Starrheit des Körpers trotz regelmäßiger Funktion der inneren Organe – ich kenne derartiges nur von meinen hypnotischen Experimenten her, wo ein solcher Zustand sehr leicht bei dem Hypnotisierten zu finden ist.“

Während sich zwischen den Herren ein kleiner Disput über Hypnose im allgemeinen und diesen Fall im speziellen entwickelte, lag das ‚Streitobjekt‘ noch immer starr und steif auf der Bank. Der Herr war zirka dreißig Jahre alt, gut gekleidet und anscheinend den besseren Klassen angehörend. Er war schlank und mittelgroß, das blasse, ziemlich schmale Gesicht hatte einen intelligenten Ausdruck. Das Haar war schwarz und einfach gescheitelt. Der ganze Mann machte den Eindruck eines Bankbeamten etwa.

Dr. Blei setzte gerade ziemlich heftig, mit beiden Händen gestikulierend, irgend eine Theorie auseinander, als mit dem Körper des Bewußtlosen eine Veränderung vorzugehen schien. Die Starrheit der Glieder löste sich allmählich, das eine Bein und der Arm fielen schlaff an der Seite der Bank herunter. Das Bewußtsein des Fremden schien allmählich wiederzukehren. Dann öffnete er die Augen, erhob etwas müde den Oberkörper, aber ein traumähnlicher Zustand umfing ihn noch. Sein Blick war trübe, schien verschleiert, wie bei einem Menschen, der aus einem tiefen, schweren Schlaf erwacht. Mit hastender Unsicherheit versuchte er sich emporzurichten, stand endlich aufrecht und sah sich verwundert um, als ob ihn seine neue Umgebung überraschte ja verunsicherte. Seine Augen waren noch immer verschleiert und blickten fast furchtsam. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, wie um unangenehme Bilder zu verscheuchen.

„Wo ist Heubner?“ fragte er leise.

„Sie sind in Berlin, vor wenigen Minuten mit dem Amsterdamer Zuge hier angekommen,“ versuchte der liebenswürdige Dr. Blei seinen Patienten beruhigend aufzuklären. Der aber schien ihn nicht zu verstehen, sondern blickte ihn ratlos an und fragte nur noch eindringlicher:

„Ja, aber wo ist Heubner? Und wo der Diamant?“

Dr. Blei faßte den seltsamen Fahrgast am Arm und rüttelte ihn ein wenig.

„Sie scheinen noch zu träumen, Herr! Sie sind soeben allein in Berlin angelangt. Sie haben fest geschlafen, erwachen Sie doch!“

Der Angeredete wich ängstlich zurück.

„Allein?“ fragte er und begann sich zu besinnen. Dann schüttelte er den Kopf, wie wenn er das nicht glauben wollte. Er dachte nach, und allmählich schien es in ihm zu dämmern. Sein Gesicht bekam einen erschrockenen Ausdruck, und er fragte noch einmal fast verzweifeltem Tone:

„Allein? Allein? Aber das ist ja nicht möglich. – Das ist ja unmöglich!“

Er griff sich an den Kopf und sah fassungslos drein.

„Schrecklich! Oh Gott, das ist ja schrecklich!“ stieß er plötzlich verzweifelt hervor, „ich muß zur Polizei, muß augenblicklich zu Polizei. Die Polizei muß augenblicklich benachrichtigt werden!“

Dr. Blei, der sofort ahnte, daß es sich um etwas Wichtiges, vielleicht sogar um ein Verbrechen, handeln könne, nahm den hoffnungslos Dreinschauenden am Arm und zog ihn mit sich fort.

„Kommen Sie, schnell, wir fahren mit einem Automobil zum Polizeipräsidium, dort können Sie Ihre Anzeige machen. Herr Kollege, wenn es zufällig Ihre Zeit erlaubt, wäre es mir sehr angenehm, wenn Sie so liebenswürdig wären, uns zu begleiten.“

Der nickte bejahend, und der Fremde entfernte sich nun, eskortiert vom rundlichen Dr. Blei und von dem würdigen Dr. Weiler.

Ein Polizeikommissar Hoffmann vernahm auf dem Präsidium die drei Herren, deren Aussagen zu Protokoll gebracht wurden.

„Ich bin bestohlen worden, ich bin auf der Reise bestohlen worden,“ begann der Fremde sehr aufgeregt zu erzählen, aber der Kommissar unterbrach ihn:

„Vor allen Dingen nicht so hastig, mein Herr. Sie sind es also, der eine Anzeige zu machen hat? Bitte, weisen sie sich zuerst einmal aus. Wer sind Sie?“

„Mein Name ist Stahl, Franz Stahl,“ stellte sich der Angeredete, der einen recht günstigen Eindruck machte, vor. Er hatte gute, gewandte Umgangsformen und schien nicht ungebildet zu sein. Deutsch sprach er fließend und fehlerfrei, nur mit etwas fremdländischem Akzent.

„Machen Sie uns bitte erst einmal nähere Angaben über Ihre Person.“

„Ich bin Angestellter der Diamantenschleiferei Blijdenstein & Co. in Amsterdam. – –“

„Nach mündlichen Aussagen können wir uns aber allein nicht richten,“ warf Hoffmann ein. „Ihre Angaben mögen ja richtig sein, aber haben Sie nicht irgendein Papier, einen Pass oder irgend ein andere Legitimation, um sich auszuweisen? Sie müssen doch etwas derartiges besitzen.“

Stahl griff in die Brusttasche seines Jacketts und zog eine Brieftasche heraus, um ihr das gewünschte Papier zu entnehmen. Aber er suchte vergebens darin. Er drehte jeden Zettel um, ohne das Gesuchte zu entdecken, und je mehr er suchte, umso erschrockener wurde sein Gesichtsausdruck.

„Nicht da,“ stieß er endlich hervor. „Mein Paß ist gestohlen und ebenso alle anderen wichtigen Papiere. Der Auftrag meines Chefs an die Bank – –“

Hoffmann sah Stahl prüfend an, als ob er das nicht recht glaubte und empfahl ihm, alle Taschen noch einmal genau zu durchsuchen. Aber es war alles vergebens, und die vermißten Dokumente fanden sich zu Stahls größter Verzweiflung nicht.

„Dann machen Sie also Ihre Angaben erst einmal so, wir werden uns schon überzeugen, ob sie richtig sind,“ meinte der Kommissar, worauf Stahl zu Protokoll gab, in Amsterdam wohnhaft, ebendort geboren und zweiunddreißig Jahre alt zu sein, seit zwei Jahren im Dienste der bereits genannten Firma zu stehen, in deren Auftrag er nach Berlin gekommen sei.

„So, nun erzählen Sie uns sachgemäß und genau, um was es sich handelt,“ sagte endlich der Kommissar, nachdem all die Punkte zur Person erledigt waren.

„Mein Kollege Heubner, H – e – u – b – n – e – r,“ buchstabierte er, „und ich bekamen von unseren Chefs den Auftrag, einen sehr kostbaren Diamanten nach Berlin zu bringen, weil dieser Weg der Überführung ihnen am sichersten erschien, um einem Verlorengehen des Steines vorzubeugen. Nun – – oh, Gott, hätte ich doch bloß den Auftrag nicht übernommen!“

„Der Diamant ist Ihnen auf der Reise gestohlen resp. geraubt worden? Nicht wahr?“

Stahl nickte.

„Und wo ist denn Ihr Kollege Heubner?“

„Ich weiß es nicht – ich bin allein hier angekommen.“

„Und wo ist er dann ausgestiegen?“

„Das weiß ich auch nicht.“

„Also schön,“ sagte der Kommissar ruhig und ließ seine prüfenden Augen auf Stahl ruhen, „Sie bestreiten, in irgend einer Weise mit dem Diebstahl in Verbindung zu stehen, Mitwisser zu sein, oder sonst über ihn orientiert zu sein?“

Stahl beteuerte seine Unschuld.

„Ja. Ich weiß nichts, absolut nichts,“ antwortete er, der dem Weinen bei diesen Anschuldigungen nahe war.

„Nun erzählen Sie uns den Verlauf der Eisenbahnfahrt.“

„Wir stiegen gestern abend 6.45 Uhr in den Schnellzug, der nach Berlin direkt durchfährt. Mit uns im Kupee befand sich nur noch eine junge Dame, die bald nach uns, kurz vor der Abfahrt des Zuges, in das Abteil einstieg. Ich kannte sie nicht, und Heubner anscheinend auch nicht. Anfangs sprachen wir nicht miteinander, nach und nach jedoch entwickelte sich ein Gespräch, wie das auf einer langen Fahrt eben so ist, und wir unterhielten uns sogar recht angenehm. Aber nur über gleichgültige Dinge; über Reisen, über Berlin zum Beispiel. Von unserer Mission sprachen wir natürlich nicht.“

„Stellten Sie sich der Dame vor? Sagten Sie ihr vielleicht, wo Sie angestellt wären? Machten Sie Andeutungen irgendwelcher Art, daß Sie in einer wichtigen Angelegenheit nach Berlin führen, daß Sie einen großen Wertgegenstand mit sich führten?“

„Nein. Wir hatten strenge Vorgaben, nichts derartiges irgendwie verlauten zu lassen. Vorgestellt haben wir uns natürlich, aber wo wir angestellt wären, davon sprachen wir nicht.“

„Haben Sie vielleicht beobachtet, daß Heubner der Dame irgendwie Zeichen machte oder umgekehrt?“

„Nein. Sie schienen einander nicht zu kennen.“

„Dann erzählen Sie also weiter.“

„Hinter Hannover bekam Heubner starke Kopfschmerzen, weshalb die Dame ihm ihr Riechfläschchen anbot. Es half und Heubner wurde es bald wieder besser und er legte sich hin, um ein wenig zu schlafen. Ich unterhielt mich mit der Dame derweil weiter. Aber dann wurde auch ich immer müder und müder, ich wollte mich aufrechterhalten, doch meine Augenlider wurden so schwer, als ob sie von Blei wären. Ich fühlte deutlich, ich müsse einschlafen. Da wollte ich noch Heubner wecken. Dazu war ich aber nicht mehr imstande. Ich wollte die Hand nach ihm ausstrecken, doch es war mir nicht möglich, sie zu erheben. Es war mir, als ob sie starr geworden wäre.“

„Das klingt ja sehr seltsam,“ sagte der Kommissar, „ganz unwahrscheinlich klingt das.“

Dr. Blei wollte etwas einwerfen, aber Hoffmann wehrte mit der Hand ab.

„Was meinen Sie denn, was da vorgegangen ist?“

„Die beiden Herren da, die Ärzte sind, sagten mir, daß ich wahrscheinlich hypnotisiert worden bin.“

„Vermutlich doch von der Dame, obgleich das durchaus nicht so wahrscheinlich ist. Und Sie sagen, Heubner schlief während diese Hypnose geschah. Ist Ihrem Kollegen etwas derartiges zuzutrauen?“

Stahl zögerte mit der Antwort, so daß der Kommissar fortfuhr.

„Eigentlich doch nicht, denn es wäre schwer verständlich, wenn Ihr Chef einen solchen Auftrag nicht nur ganz vertrauenswürdigen Angestellten übertragen hätte, oder …? – Beschreiben Sie doch einmal möglichst genau das Äußere der Dame, die mit Ihnen gefahren ist.“

„Sie war mittelgroß, schlank und sehr elegant. Sie hatte einen brünetten Teint, tiefdunkles, fast blauschwarzes Haar. Ihr Gesicht war ziemlich scharf und energisch geschnitten, der Mund mit auffallend guten Zähnen versehen. Die Augen waren, wenn ich mich recht erinnere, hellgrau. Ich schätze sie auf zirka vierundzwanzig Jahre.“

„Worin trugen Sie denn den Diamanten mit sich?“

„In einem kleinen eisernen Kästchen mit zwei Schlössern, deren Schlüssel Heubner und ich besaßen. Es befand sich in meiner schwarzen Lederhandtasche, die auch verschwunden ist.“

„Wo hatten Sie Ihren Schlüssel?“

„In meinem Portemonnaie, das gleichfalls fort ist. Es war nur ein wenig Silbergeld darin.“

„Nun erzählen Sie uns mal etwas von Ihrem Kollege Heubner. Wie alt er ist, ob er schon lange im Geschäft mit Ihnen zusammenarbeitet. Beschreiben Sie sein Äußeres genau.“

„Heubner ist etwas größer als ich, zirka 1,75, schlank. Er ist zwei Jahren jünger als ich, dreißig Jahre also. Er trug einen dunklen Reiseanzug, schwarze Stiefel und einen runden, steifen Hut. Er hat braunes, ein wenig gewelltes Haar, einen Scheitel und ein kleines Schnurrbärtchen. Im Geschäft ist er seit seinem sechzehnten Lebensjahr, also seit vierzehn Jahren. Die Chefs haben sehr großes Vertrauen zu ihm.“

„Wissen Sie vielleicht, ob er zu irgend jemanden vorher über Ihre geplante Reise sprach? Wann erfuhren Sie denn überhaupt, daß Sie und Heubner den Auftrag bekämen?“

„Ungefähr vor einer Woche. Ob Heubner zu jemandem gesprochen hat, weiß ich natürlich nicht.“

„Haben Sie vielleicht Verdacht, Herr Stahl, wer der Täter sonst eventuell sein könnte? Oder wissen Sie, wer möglicherweise die Dame sein könnte. Hatte Heubner in Amsterdam eine Geliebte?“

„Ich wüßte nicht, und ich habe auch keine Ahnung, wer die Dame war. Sie sah mir am ehesten nach einer Schauspielerin aus. Ja, sie war geschminkt.“

„Sprachen Sie mit ihr deutsch oder holländisch?“

„Holländisch.“

„Nun sagen Sie mir noch, welchen Auftrag hatten Sie in Betreff des Diamanten hier in Berlin?“

„Ein Herr Doktor Wendland, der hier in Berlin wohnte, gab den Stein, der weit über eine Million Mark wert sein soll, zu uns zum Schleifen, was nach seinen eigenen genauen Angaben geschehen sollte. Vor zirka einem Monat ist, wie wir erfuhren, Doktor Wendland hier gestorben, und der Stein sollte bis zur Entscheidung der Erbschaftsstreitigkeiten im Safe der Deutschen Bank in Berlin aufbewahrt werden, wohin Heubner und ich ihn bringen sollten.“

„Erinnern Sie sich noch, wann und wo ungefähr Heubner und Sie eingeschlafen sind?“

„Es muß meiner Meinung nach gegen Ende der Fahrt gewesen sein, wir waren schon hinter Stendal.“

„Zwischen Stendal und Berlin hielt der Zug nicht mehr. Folglich kann weder die Dame noch Heubner vorher ausgestiegen sein, sie müssen also in Berlin sein. Sie gaben aber vorhin an, Sie wären allein am Schlesischen Bahnhof im Kupee aufgefunden worden. Wie ist das möglich?“

„Das weiß ich nicht. Aber vielleicht sind sie beide früher in Berlin ausgestiegen. Der Zug hält ja auch auf anderen Berliner Bahnhöfen. Ich sollte mit Heubner ursprünglich auch am Bahnhof Friedrichstraße aussteigen.“

Er lehnte sich erschöpft zurück und stützte den Kopf in die Hände. Der Kommissar wandte sich jetzt an die beiden Herren, die bisher ohne ein Wort zu sprechen dem Verhör beigewohnt hatten, was besonders dem lebhaften, kleinen Dr. Blei schwergefallen war.

„Was haben die Herren mit der Angelegenheit zu tun?“ fragte Hoffmann.

Dr. Blei und Dr. Weiler stellten sich vor und wiesen sich aus. Dann nahm Dr. Blei das Wort und erzählte, in welchem Zustand er Stahl gefunden, welche Beobachtungen er gemacht habe und sprach zuletzt die Ansicht, die bei ihm zur festen Überzeugung geworden war, aus, daß Stahl während der Fahrt hypnotisiert worden sei und vom Hypnotiseur dabei in kataleptische Starre versetzt wurde, während welcher man den Diebstahl dann ausführte.

Der Kommissar erhob sich.

„Ich danke Ihnen, meine Herren, vorderhand für Ihre Auskunft. Wir werden Sie vermutlich noch einmal in Anspruch nehmen müssen. Wir werden den Fall natürlich der Staatsanwaltschaft übergeben und werden auch umgehend alle Schritte tun, um uns genau zu informieren und der Täter habhaft zu werden.“

Er wandte sich noch einmal an Stahl.

„Gedenken Sie jetzt noch in Berlin zu bleiben oder nach Amsterdam zurückzukehren, Herr Stahl? Für alle Fälle bitte ich um Ihre hiesige Adresse.“

„Ich werde im ‚Zentral-Hotel‘ absteigen, das man mir empfohlen hat, ich möchte Berlin nicht eher verlassen, als bis man die Täter gefaßt hat.“

Nachdem sich die Herren entfernt hatten, und Kriminalkommissar Hoffmann sich wieder allein befand, saß er einige Augenblicke nachdenklich da. Der ‚Fall‘ schien ihm nicht besonders interessant. Schwerer Diebstahl während Besinnungslosigkeit des Bestohlenen. Solche Dinge passieren alle Tage.

Wer der Täter war, lag hier klar zutage – anscheinend wenigstens. Heubner, Stahls Kollege und Begleiter, hatte mit einer Komplizin, der von Stahl beschriebenen Mitreisenden, die Tat ausgeführt, nach dem Stahl mittels Hypnose unschädlich gemacht worden war.

Jetzt hieß es, vor allen Dingen rasch handeln.

An Blijdenstein & Co. in Amsterdam wurde telegraphiert, desgleichen an die Polizeidirektion Amsterdams, um genaue Auskunft über Stahls Kollegen Heubner einzuholen. Als das erledigt war, klingelte Hoffmann bei der Deutschen Bank an.

„Hier königliches Polizeipräsidium, Berlin,“ antwortete er auf die Frage des Beamten der Deutschen Bank. „Ich möchte feststellen, ob die Bank angewiesen ist von Blijdenstein & Co., Diamantenschleiferei, Amsterdam, einen Brillanten entgegenzunehmen, in Erbschaftssache des Doktor Wendland. Der Brillant sollte von zwei Angestellten nach Berlin transportiert werden. Wie? Jawohl, Blijdenstein & Co., Amsterdam. Der Name des Arztes war Doktor Wendland, hier in Berlin wohnhaft, ist vor zirka einem Monat verstorben.“

„Einen Augenblick – –“ schallte es zurück. Nach einigen Minuten, die aber Hoffmann viel länger schienen, sagte jemand:

„Hier Deutsche Bank, Berlin.“

„Hier Kriminalkommissar Hoffmann, königliches Polizeipräsidium Berlin.“

„Der Stein ist bereits avisiert und müsste bereits vor zwei Stunden eingetroffen sein, da ihn zwei Angestellte der Diamantenschleiferei bringen sollten.“

„Wissen Sie vielleicht die Namen der Herrschaften aus Holland?“ fragte Hoffmann.

„Ja, Stahl und Heubner. – Ist etwas passiert auf der Reise?“

„Ja, der Stein ist spurlos verschwunden und mit ihm einer der Überbringer.“

Der Bankbeamte wollte noch einige Fragen stellen, aber Hoffmann hatte schon den Apparat abgestellt. Jetzt war keine Zeit zu verlieren. Die Angaben Stahls schienen ja auf Wahrheit zu beruhen.

Am Abend kam auch die Antwort auf die Anfrage der Kriminalpolizei bei Stahls Firma Blijdenstein & Co. in Amsterdam. Sie war kurz in deutscher Sprache verfaßt und lautete:

Aussagen Stahls richtig. Stahl durchaus glaubwürdig.

Blijdenstein, Amsterdam

 

2. Kapitel.

Die Recherchen in Sachen des raffiniert ausgeführten Diamantendiebstahls wurden mit aller Energie betrieben. Die Staatsanwaltschaft eröffnete sofort ein Verfahren gegen den verschwundenen Angestellten der Amsterdamer Schleiferei Heubner und gegen die unbekannte Dame, in der man eine Komplizin Heubners vermutete. Hinter beiden wurden Steckbriefe erlassen, gestützt auf die Beschreibung Stahls, die ziemlich genau war.

Die Leitung der Untersuchung wurde von der Staatsanwaltschaft dem Amtsrichter Dr. Becker übertragen, und der Kriminalkommissar Hoffmann, der Stahl und die beiden Ärzte vernommen hatte, mit der Verfolgung der beiden Diebe beauftragt.

Hoffmann war nicht sonderlich von der ihm zugefallenen Aufgabe erbaut. Der Fall schien nicht interessant genug, und angenehm war nur, mit dem Amtsrichter Becker zusammenarbeiten zu können, den er persönlich gut kannte und schätzte. Er begab sich zu ihm nach Moabit, um über seine geringen bisher erzielten Resultate Bericht zu erstatten.

Der Amtsrichter blätterte gerade in dem ihm überwiesenen Aktenmaterial, als Hoffmann gemeldet wurde. Er erhob sich und reichte dem eintretenden Kommissar, mit dem er schon oft dienstlich und außerdienstlich zusammengekommen war, die Hand.

„Wissen Sie, Herr Hoffman,“ begann er dann, „ich sitze nun schon eine ganze Weile über den Akten und denke nach. Was meinen Sie, wer der Täter sei?“

Der Kommissar blickte überrascht auf.

„Ich denke, das ist doch klar, Herr Amtsrichter? Heubner und die mitreisende Dame. Wer käme denn sonst noch in Betracht?“

„Nicht wahr, Sie sagen, daß Heubner der Täter sei, sei sonnenklar? Nun, mir ist es eigentlich nicht so klar. Ich habe Bedenken bezüglich der Schuld Heubners.“

„Nun, daß er mit irgendeinem Mädchen, höchstwahrscheinlich einer Geliebten, den Diebstahl ausgeführt hat, ist doch sehr leicht möglich. Es wäre doch kein seltener Fall?“

Amtsrichter Becker hatte den Kopf in die Hände gestützt und dachte nach.

„Sicher ist es möglich, Sie mögen darin recht haben – – vielleicht. Es wird gut sein, in Amsterdam nachforschen zu lassen, ob Heubner mit vielen Frauen Umgang gepflegt hat und mit welchen.“

„Ich habe schon die nötigen Schritte diesbezüglich eingleitet. Hoffentlich kommen wir dadurch auf die Spur der Dame.“

Der Gegenüber des Kommissars nickte mit dem Kopf und blätterte in den vor ihm liegenden Akten.

„Ich werde,“ sagte er dann, „Stahl noch einmal vernehmen und desgleichen die beiden Ärzte. Ich muß mir besonders diesen Stahl genau ansehen. Ist es nicht möglich, daß er seine Hände im Spiel hat?“

Als Antwort zuckte Hoffmann nur mit den Achseln.

„Ich hatte auch erst diesen Verdacht, aber es fehlen jegliche Anhaltspunkte. Für alle Fälle werde ich ein waches Auge auf ihn haben hier in Berlin,“ meinte er dann und erhob sich zum Gehen.

„Also viel Glück,“ sagte Becker zum Abschied und ließ sich in seinen Stuhl fallen, nachdem die Tür hinter Hoffmann sich geschlossen hatte.

Die verschiedensten Kombinationen eilten in rascher Folge durch sein Hirn. Der Zustand, in dem Stahl von dem Bahnbeamten am Schlesischen Bahnhof gefunden worden war, beschäftigte die Gedanken des Richters unaufhörlich. Deshalb hatte er die beiden Ärzte vorladen lassen, und auch Stahl wollte er selbst vernehmen.

„Herr Dr. Blei und Herr Dr. Weiler?“ fragte er höflich, als später die beiden Herren eintraten.

Sie verneigten sich zustimmend.

„Nicht wahr, die Herren waren vorgestern auf dem Schlesischen Bahnhof anwesend, als Herr Stahl bewußtlos aus dem Amsterdamer Schnellzug getragen wurde. Wie ich aus dem im Polizeipräsidium aufgenommenen Protokoll ersehe, neigen sie beide zur Annahme, daß Herr Stahl während der Fahrt hypnotisiert worden ist. Der Fall ist nicht undenkbar und schon vorgekommen, wenn auch nicht häufig. Sind die Herren sich ganz sicher, daß Herr Stahl hypnotisiert worden ist?“

„Nun, mit absoluter Sicherheit läßt sich in solchen Fällen natürlich nichts behaupten,“ erwiderte Dr. Blei, „aber ich habe als Spezialist eine ziemlich große Erfahrung, und ich wüßte nicht, wie ich mir den damaligen Zustand Herrn Stahls erklären sollte.“

„Ist es denn das überhaupt möglich, jemanden so ohne weiteres im Abteil eines Wagens während der Bahnfahrt zu hypnotisierten?“ fragte nun Dr. Becker.

„Das hängt von der Geschicklichkeit des Hypnotiseurs und auch von dem zu Hypnotisierenden wiederum ab, einfach gesagt, ob sich die zu beeinflussende Person dazu eignet oder nicht. Und meines Dafürhaltens eignet sich Herr Stahl entschieden.“

„Kann man also jemanden beauftragen, etwas zu tun oder zu sagen nach der Hypnose?“

„Zweifellos ist das möglich.“

„Wäre es aber auch möglich, daß die von Herrn Stahl gemachten Angaben falsch sind?“

Die beiden Ärzte sahen sich einen Augenblick erstaunt an. Diese eigentlich ganz einfache gegensätzliche Folgerung hatten sie nicht erwartet.

„Nun, Herr Dr. Weiler,“ wandte sich der Richter an diesen, „Sie hüllen sich gänzlich in Schweigen. Haben Sie nicht wenigstens einen kleinen Widerspruch bei der Hand?“

„Nein – ich muß mich ersteinmal mit den Ausführungen meines Herrn Kollegen durchaus einverstanden erklären. Und was Ihren letzten Einwurf, Herr Amtsrichter, betrifft, so haben Sie sich ja bereits von der teilweisen Richtigkeit der Aussagen des Herrn Stahl überzeugt, und inwieweit eine unbewußte Verdrehung der Tatsachen, hervorgerufen durch hypnotischen Einfluß, im Gedächtnis Herrn Stahls stattgefunden hat – das festzustellen sind wir natürlich außerstande,“ ließ sich Dr. Weiler auf die Aufforderung des Richters vernehmen.

„Wie lange mag Herr Stahl schon hypnotisiert gewesen sein, als Sie hinzukamen?“

„Als ich Herrn Stahl erblickte, vielleicht eine halbe Stunde. Aber man kann das nicht mit Bestimmtheit behaupten. Vielleicht hat seine Hypnose nur fünfzehn Minuten, vielleicht aber auch eine Dreiviertelstunde gewährt. – Eventuell auch noch länger.“

„Jedenfalls meinen Sie also, daß es nicht vielmehr und nicht viel weniger gewesen sein dürfte?! Ich danke Ihnen für Ihre Auskunft. Wenn es Ihre Zeit erlaubt, wäre es mir angenehm, Sie noch etwas hierbehalten zu dürfen, während ich Herrn Stahl vernehme. Es kann sich noch diese oder jene Frage ergeben, bei der ich um Ihre Meinung bitten möchte.“

Er klingelte und befahl dem eintretenden Diener, Stahl, der bereits im Vorzimmer wartete, hereinzuführen.

„Mein Name ist Stahl,“ stellte sich dieser mit einer leichten Verbeugung vor. „Ich habe eine Vorladung für heute erhalten in Sachen des Diebstahles, der im Schnellzug Amsterdam-Berlin an mir begangen wurde.“

„Sehr richtig,“ erwiderte der Untersuchungsrichter nach einem grüßenden Neigen des Kopfes.

„Sie gaben im ersten Protokoll an, hypnotisiert worden zu sein, nachdem Ihr Kollege Heubner eingeschlafen war. Erinnern Sie sich – denken Sie einmal genau nach – wo es gewesen ist, als Heubner einschlief.“

„Ich weiß es nicht genau! Aber es kann meiner Meinung nach nicht mehr weit vor Berlin gewesen sein, wir hatten Stendal schon hinter uns.“

„So? Aber Herr Dr. Blei sagte mir soeben, daß Ihre Aussagen vielleicht Folgen der Suggestion und damit unzutreffend wären?“

Stahl zuckte mit den Achseln und wich dem fast starren Blick des Untersuchungsrichters aus.

„Kannte die Dame, mit der Sie gefahren sind, auch Berlin? Sie sprachen doch mit ihr darüber.“

„Ich nicht. Heubner erzählte ihr davon und gab ihr mehrere Ratschläge. Sie teilte uns mit, zum ersten Mal nach Berlin zu reisen, um dort Verwandte zu besuchen.“

„Erinnern Sie sich an den Namen der Dame?“

„Nein. Ich habe ihn nicht verstanden, als sie sich vorstellte.“

„Sie geben an, hypnotisiert worden zu sein. – Dr. Blei erklärte mir soeben, daß das so ohne weiteres gar nicht geht und im allgemeinen nicht beim ersten Mal gelingt, daß man es sogar bis zu Dutzenden Malen wiederholend versuchen muß. Sie bleiben dennoch bei ihrer Behauptung?“

„Ja, denn ich bin schon oft hypnotisierte worden. Es ist bei mir nicht schwer. Ich bin voriges Jahr in Amsterdam von einem Nervenleiden durch Hypnose geheilt worden. Da wurde ich sehr oft hypnotisiert.“

Er nannte den Namen des Arztes, der zu Protokoll gebracht wurde.

„Können Sie sich entsinnen, was die Dame zu Ihnen kurz vorher oder während Sie schliefen, sagte? Sie hat Ihnen doch wahrscheinlich irgend etwas suggeriert! Wissen Sie vielleicht was?“

Stahl zuckte nur wieder mit den Achseln. Er konnte sich auf nichts besinnen, so sehr er auch sein Gehirn anzustrengen schien.

„Wußte Heubner, daß Sie schon öfters hypnotisiert worden waren und sich dazu eigneten?“

„Ja. Wir waren ja täglich im Geschäft beisammen, und da erzählte ich natürlich auch davon, als ich damals behandelt wurde.“

„Hat Sie Heubner vielleicht einmal hypnotisiert?“

„Ja, einmal, aber nur zum Ulk im Geschäft in der Mittagspause. Es waren auch noch andere Angestellte dabei.“

„Gelang denn das Experiment?“

„Ja. Ich zeigte ihm, wie er es machen soll, so wie ich es von meinem Arzt gesehen hatte.“

„Da Sie so genau mit Hypnose Bescheid wissen, müßte es Ihnen doch bekannt sein, daß man niemanden gegen seinen Willen hypnotisieren kann. Oder waren Sie vielleicht – einverstanden?“

„Nein – wie konnte ich damit einverstanden sein?“

„Haben Sie denn gefühlt oder gewußt, daß Sie hypnotisiert werden?“

„Nein, ich hatte nur so ein Gefühl der Wehrlosigkeit.“

„Herr Stahl, ich will durchaus nicht Ihre Glaubwürdigkeit in Zweifel stellen,“ sagte nach einigen Sekunden des Schweigens Amtsrichter Becker, während welcher Zeit er Stahl fortwährend ansah, „aber wir Juristen sind stets mißtrauisch. Und daher stelle ich eine Frage, die aber keine Verdächtigung sein soll. Spielen Sie bei diesem Diebstahl nur die Rolle des Bestohlenen?“

„Wie meinen Sie das, Herr Amtsrichter?“ brauste Stahl auf, aber der feste Blick Beckers hielt ihn in den Schranken, so daß er unsicher wurde und zur Seite blickte. So blieb es einige Augenblicke.

Dann Beckers harte Frage:

„Sie benehmen sich ja wie der Schuldige.“

Stahl schreckte bei dem Ton der Stimme zusammen und sah Becker fast verständnislos an. Der streckte den markanten, scharfgeschnittenen Kopf vor und seine stahlharten blauen Augen bohrten sich schier in die Augen des blaß werdenden Stahl.

Da geschah plötzlich etwas ganz Merkwürdiges. Stahls Blick wurde auf einmal wie verschleiert, starrte geistesabwesend den Richter an, dann schlossen sich seine Augen, der Körper dehnte sich ein wenig, der zum Sprechen geöffnete Mund blieb halb offen, die erhobene Hand steif in ihrer augenblicklichen Lage stehen.

Die beiden Ärzte, die den Vorgang beobachtet hatten, sprangen zu gleicher Zeit von ihren Stühlen auf und eilten zu Stahl. Sein Körper war starr wie damals, als Dr. Blei ihn im Bahnkupee vorfand.

Becker war vor Überraschung über diese unerwartete Wendung aufgesprungen und in seinem Gesicht prägte sich eine Mischung von Schrecken und großem Staunen aus. Auf diese Wirkung seiner Worte und seines Blickes war er nicht vorbereitet gewesen.

„Ja, was ist denn mit dem Mann plötzlich los, um Gottes willen,“ fragte er fast ängstlich, die beiden Ärzte forschend anblickend.

Dr. Blei schaute von seinem Patienten auf:

„Er wollte anscheinend nur den Wahrheitsbeweis für seine Aussagen antreten,“ sagte er mit einem Anflug von Ironie um den Mund, „er ist durch Ihren starren Blick, Herr Amtsrichter, hypnotisiert worden.“

 

3. Kapitel.

Kriminalkommissar Hoffmann war nicht müßig gewesen, trotzdem er vorderhand keinen greifbaren Erfolg hatte. Die Steckbriefe zeitigten weiter keinen Effekt, als daß eine ganze Menge Leute festgenommen wurden, die mit der Sache nichts zu tun hatten, und die man, nachdem sie bewiesen, daß sie mit den gesuchten Personen nicht identisch wären, auf freien Fuß setzte.

Hoffmann hatte Befehl gegeben, alles, was an der Bahnstrecke Stendal-Berlin gefunden wurde, unverzüglich der Polizei in Berlin zu melden, aber das war ein ziemlich hoffnungsloser Schritt, von dem sich Hoffmann selbst wenig oder gar nichts versprach. Er hatte den Auftrag nur gegeben, um nichts unversucht zu lassen.

Es war so schwer, ohne jeden Anhaltspunkt zwischen den vielen Möglichkeiten, die sich darboten, zu wählen. Vielleicht waren die zwei Verschwundenen während der Fahrt auf den Zug gesprungen! Möglicherweise waren sie ganz ruhig bis Berlin gefahren und irgendwo zum Beispiel Bahnhof Friedrichstraße oder Alexanderplatz vor dem Schlesischen Bahnhof ausgestiegen. –

Hoffmann durchkreiste erregt sein Dienstzimmer.

In diesen Reflexionen wurde er durch Klopfen an der Tür gestört. Man meldete ihm einen Herrn Erich Stangen, der ihn in Sachen der Dr. Wendlandschen Erbschaftsangelegenheit zu sprechen wünsche. Vielleicht gab es jetzt einen Fingerzeig. Er ließe bitten, sagte er, und im nächsten Augenblick trat ein schlanker, junger Mann ein, der sich als Erich Stangen vorstellte.

„Ich bitte um Verzeihung,“ sagte der Eintretende höflich, „ich wollte mir nur erlauben, nachzufragen, ob Ihre Bemühungen in Sachen des gestohlenen Diamanten, der der Erbschaft meines Onkels Dr. Wendland entstammte, irgend einen Erfolg gezeitigt haben. – Sie werden ja mein Interesse an der Angelegenheit begreifen – –“

„Ich kann Ihnen leider noch nichts Erfreuliches mitteilen. Sie sind der Erbe des verstorbenen Dr. Wendland, nicht wahr?“

„Der Erbe nicht, sondern nur einer der Erben. Und gerade dieser gestohlene Stein machte einen großen Teil der Erbschaft aus, und nun kann durch diese fatale Geschichte die Erbschaftsangelegenheit nicht zum Abschluß gebracht werden. Und der andere Erbe, der aus Amsterdam extra hierher gekommen ist, wird wohl jetzt auch unverrichteter Sache abziehen müssen.“

Plötzlich begann sich das Interesse Hoffmanns zu regen. Vielleicht entwickelte sich da ein Weg, der zum Ziele führte.

„So, aus Amsterdam? Ist der Herr schon sehr lange hier in dieser Angelegenheit?“

Die Frage war in der Zerstreutheit Hoffmanns so dumm ausgefallen, daß der andere ihn erstaunt anblickte und seinen Mund zum Lächeln verzog.

„Nein, erst seit einigen Tagen.“

„So, so? Ja, natürlich!“

„Wie ist der Name dieses zweiten Erben. Vielleicht ergibt es sich, daß wir diesen Herrn einmal vorladen.“

„Ernst Dekker – mit zwei k bitte, er wohnt Kantstraße 26 bei Schmidt.“

Der Kommissar notierte sich die Adresse und starrte sie noch eine ganze Weile an, nachdem der junge Mann gegangen war. Es war doch eigentlich nichts dabei, daß der zweite Erbe gerade aus Amsterdam kam. Das war ein Zufall, wie er täglich vorkam.

Dann nahm Kommissar Hoffmann die Mitteilungen aus Amsterdam über Heubner vor. Diese Angaben entwarfen ein ziemlich deutliches Bild vom Charakter und der Lebensweise des verschwundenen jungen Mannes.

Heubner stammte von recht gebildeten und wohlhabenden Eltern, die sich eines außerordentlich guten Rufes erfreuten und beide noch lebten. Heubner war dreißig Jahre alt, hatte bis zum sechzehnten Lebensjahre gute Schulbildung auf einem Gymnasium genossen und war dann, da er keine Lust zum Studieren zeigte, in das Geschäft von Blijdenstein & Co. eingetreten, wo er die vierzehn Jahre seiner Dienstzeit sich nichts zu schulden hatte kommen lassen. Die Firma sandte ihn wegen seiner geschäftlichen Tüchtigkeit und Gewandtheit öfter auf Reisen und betraute ihn dabei auch mit schwierigen Missionen, bei denen er nie das ihm entgegengebrachte Vertrauen enttäuscht hatte.

Sein einziger Fehler war, daß er ein wenig zum Leichtsinn neigte, aber doch immer im Rahmen seiner Verhältnisse. Er befand sich so öfter in Geldverlegenheit, so daß sein Vater auch einmal Schulden für ihn bezahlen mußte. Aber im Geschäft war er die Ehrlichkeit selber.

In letzter Zeit sollte er allerdings verschiedentlich in Geldnot gewesen sein.

Über seinen Verkehr mit Frauen konnte nichts weiter festgestellt werden, als daß er vor einem Jahre eine Geliebte hatte, eine Tänzerin, die sich für eine Spanierin ausgab und unter dem Namen ‚La belle Rositta‘ auftrat, in Wirklichkeit aber ein Mädchen niederer Abkunft war, die im Armenviertel von Amsterdam die unfreundlichen Tage ihrer Jugend verlebt hatte. Sie hieß Anna Snyders. Ihr Alter wurde auf dreiundzwanzig Jahre angegeben. Sie war nicht gerade gut beleumundet, hatte sogar bereits eine Freiheitsstrafe wegen Betrugs hinter sich. Auch sonst dürfte sie wohl manches ‚hinter sich‘ haben.

Ihr Verkehr mit Heubner hatte zirka zwei Monate gewährt, sie wären jedoch später noch, wenn auch seltener, zusammengekommen. Zuletzt war sie bei einem Varietee in Amsterdam engagiert, aber bereits seit zwei Wochen von dort entlassen. Ihr augenblicklicher Aufenthalt war unbekannt. Den einen hatte sie angegeben, sie beteilige sich an einer Tournee nach Amerika, anderen erzählte sie, sie hätte einen schwerreichen Verehrer, der sie nach Paris mitnähme. Einer Kollegin gegenüber hatte sie erwähnt, daß sie vielleicht nach Deutschland ginge.

Man nehme an, so endete der Bericht, daß sie sich augenblicklich in Deutschland befände, wo sie jedoch zur Zeit vermutlich kein Engagement hätte.

Es folgte noch eine Personalbeschreibung der Tänzerin, die mit der von Stahl abgegebenen so ziemlich übereinstimmte.

Hoffmann hatte aufmerksam gelesen. Über Heubner wurde eigentlich nicht Positives berichtet aber eben auch kaum etwas Ungünstiges. Und daß er mit der Tänzerin durchgegangen war, das hatte genau so viel für wie wider sich. Denn selbst wenn diese Rositta sich wirklich in Deutschland befand, so war das durchaus noch kein Beweis dafür, daß sie mit Heubner hierher gekommen war.

Aber daß man dennoch auch diese Spur verfolgen müsse, darüber war sich Hoffmann klar.

Als er an diesem Punkt seiner Gedankenreihe angelangt war, wurde er noch einmal gestört. Verärgert blickte er auf, aber sein Unmut legte sich und an seine Stelle trat lebhaftes Interesse. Man meldete ihm den Sohn des Bahnwärters, der an der Strecke Stendal-Spandau kurz vor Spandau den Dienst versah. Ein frischer Bursche mit lachenden Augen trat ein, ein dickes Paket in der Hand.

„Vater schickt das. Das haben wir gefunden.“

„Wir? Wer ist ‚wir‘?“ fragte Hoffmann.

„Na ich! Wer sonst?“

Der Kommissar packte das säuberlich verschnürte Paket aus, und über sein Gesicht huschte es wie eine freudige Überraschung.

„So, so. Das ist ja sehr schön. Hast du – – haben Sie sich auch die Stelle gemerkt, wo Sie das gefunden haben, junger Mann?“

Der ‚ jungen Mann‘ lächelte selbstbewußt und sagte:

„Na ob.“

Hoffmann entschloß sich sofort, den Fundort persönlich aufzusuchen, denn der vorgelegte Gegenstand rief wieder Hoffnungen in ihm hervor. Es war ein vom Regen etwas mitgenommener schwarzer Damenhut mit blauen Straußfedern.

Von dem Jungen des Bahnwärters geführt, war der Kommissar bald an der Stelle, wo der Hut gefunden worden war. Es lag ihm daran, festzustellen, ob der Hut aus dem Wagenabteil geworfen worden war oder ob die Flüchtigen sich seiner entledigt hatten, nachdem sie aus dem fahrenden Zug gesprungen waren. Aber das ließ sich so leicht nicht entscheiden. Der Fundort war wohl ziemlich weit vom Gleis entfernt, doch konnte ihn auch ein kräftiger Windstoß eventuell dorthin getragen haben. Fußspuren, aus denen sich hätte etwas schließen lassen, waren nicht zu finden, der Regen, der unterdessen niedergegangen war, hatte wohl alles verwischt.

Der Bahnwärterjunge, der Hoffmann begleitete und mit gespannter Aufmerksamkeit dessen Tun verfolgte, steckte seine Nase in den Busch und zeigte jenen enthusiastischen Eifer, den eine Mark Trinkgeld bei bescheidenen Gemütern zu erzeugen pflegt. Als er einige Sträucher, die an der Böschung wuchsen, absuchte, stimmte er plötzlich ein Freudengeheul an:

„Herr Kommissar! Herr Kommissar! Schauen Sie bloß – daraus macht sich Mutter noch ’n Sonntagsstaat!“

Er schwenkte einen Frauenrock, der an den Zweigen gehangen hatte, hoch in die Luft. Als Hoffmann näher kam, wurde auch sein Interesse wach. Und dann erkannte er ihn – ja, das mußte er sein. Der Rock war aus leichtem englischen Herrenstoff und auf Taft gearbeitet. Einige Verzierungen aus blauem Samt waren aufgesteppt. Das konnte nur der von Stahl beschriebene Rock sein. Hoffmann untersucht ihn genauer. Er mußte einer schlanken, nicht zu großen Dame gehören, die, nach der Qualität und Machart des Rockes zu urteilen, auch elegant war.

„Brav, du …“ sagte er, aber der Junge kroch bereits wieder auf allen Vieren, bald auch platt auf dem Bauch im Gebüsch umher, von wo er mit einem zerbrochenen Gegenstand hervorrutschte.

„So,“ sagte er, „’ne Sparbüchse haben wir auch, weiter ist aber nichts da.“

Er reichte Hoffmann den Gegenstand, der lebhaft danach griff. Diese neueste Entdeckung war – ein gewaltsam erbrochener kleiner, eiserner Tresor. Es blieb kein Zweifel, das mußte derjenige sein, den Stahl als das Behältnis des Diamanten beschrieben hatte.

Damit war aber auch ihre Ausbeute beendigt und obwohl sie jeden Stein umdrehten und jedes Blatt aufmerksam betrachteten, war doch nichts Auffälliges mehr zu entdecken.

Hoffmann dachte nach. Sein Geist beschäftigte sich jetzt fortwährend mit dem eigenartigen Fall, der durch die Funde des heutigen Tages durchaus nicht klarer, sondern höchstens komplizierter wurde.

Sinnend war Kriminalkommissar Hoffmann mit den gefundenen Gegenständen zurückgefahren und sinnend stieg er die Treppen zu seinem Arbeitszimmer im Polizeipräsidium empor.

Hoffmann unterzog nun beim Schein der Lampe den Tresor einer genauen Untersuchung. Dieser war in einer Weise gewaltsam mit Brechwerkzeugen geöffnet worden, wie es Einbrecher zu tun pflegen. Aber weshalb war er nur erbrochen worden? Heubner besaß doch beide Schlüssel, da er den zweiten Stahl entwendet hatte. Das war doch höchst sonderbar.

Es klopfte in diesem Augenblick und ein Geheimpolizist, der von Hoffmann beauftragt worden war, nähere Erkundigungen über Dekker, den zweiten aus Amsterdam stammenden Erben, einzuziehen, trat auf Hoffmanns ‚Herein!‘ ein.

„Ach, Sie sind es, Lehnert,“ sagte der Kommissar, „es ist gut, daß Sie kommen. Haben Sie etwas herausbekommen?“

„Nichts von Bedeutung,“ meldete der Kriminalbeamte Lehnert. „Auf dem zuständigen Polizeirevier, wo Herr Dekker wohnt, ist er noch nicht angemeldet worden. Im Hause konnte mir niemand genau den Tag angeben, an dem Herr Dekker eingezogen war, und die Frau Schmidt habe ich nicht angetroffen.“

„Es ist gut, Lehnert, ich werde mich noch heute selber darum bekümmern. Es ist ja erst sechs Uhr.“

Der Geheimpolizist, der schon seit Jahren unter Kommissar Hoffmanns Leitung arbeitete, trat interessiert näher.

„Ich verstehe nur nicht,“ fuhr Hoffmann fort, „warum der Dieb sich die schwere Arbeit mit dem Brechwerkzeug gemacht hat, wenn er doch die Schlüssel besaß.“

Beide schwiegen.

„Ich weiß ja nicht, Herr Kommissar,“ sagte Lehnert endlich, „warum der Heubner das getan hat, oder ob er es überhaupt getan hat. Vielleicht sind alle Wege, die man bisher begangen hat, falsch gewesen. Vielleicht ist der Täter ein Vierter, der ursprünglich gar nichts mit der Angelegenheit zu tun hatte – irgend ein internationaler Verbrecher möglicherweise, an den wir überhaupt nicht denken.“

Während Lehnert so sprach, hatte Hoffmann das gefundene Kleid betrachtet, und wie er es mechanisch hin und her drehte, indem er über die Worte Lehnerts nachsann, fiel sein Auge auf etwas, was ihn angenehm überraschte.

„Oho,“ rief er plötzlich freudig aus und beugte sich über den Rock, wo etwas seine ganze Aufmerksamkeit zu fesseln schien. „Na, Gott sei Dank, wenigstens etwas. Nun werden wir hoffentlich die Besitzerin des Kleides herausbekommen. Sehen Sie hier?“

Beide beugten sich über den Stoff und strengten ihre Augen an. In ganz kleinen Buchstaben glänzte die Firma auf den kleinen Druckknöpfen, die zum Schließen des Rockes dienten.

„Und so ein feines Kleid ist doch sicher nach Maß gemacht und nicht fertig gekauft worden; da wird man wohl dort, wo es bestellt wurde, auch erfahren können, für wen man es gearbeitet hat.“

„Lehnert,“ fuhr er nach einer Weile fort, „Sie werden gleich nach Amsterdam an dieses Geschäft die Beschreibung des Kleides telegraphieren, mit der Anfrage, wer der Besteller war. Wir müssen das so schnell als irgend möglich herausbekommen. Das kann uns eventuell schnell zum Ziele führen, und ich werde noch heute mich um Herrn Dekker bekümmern.“

*

Eine halbe Stunde später klingelte bei Frau Schmidt in der Kantstraße ein Herr, dessen langes blondes Lockengewirr von einem kühn geschwungenem Schlapphut gekrönt wurde. Die rundliche Frau Schmidt fragte äußerst freundlich, womit sie dem Herrn dienen könne.

„Ich hörte,“ sagte dieser, „daß Sie Zimmer zu vermieten hätten, ich wurde hierher empfohlen. Könnte ich eines ansehen?“

„Ach, das tut mir aber schrecklich leid,“ jammerte Frau Schmidt, der der Künstler sehr gut zu gefallen schien, mit einem schwärmerischen Augenaufschlag.

„Ja, das tut mir auch wirklich leid, Frau Schmidt, denn noch vor einigen Tagen sagte man mir, Sie hätten ein Zimmer frei.“

„Das stimmte auch – aber am Dienstag Vormittag ist nun gerade ein Herr eingezogen, der direkt von Amsterdam in der Frühe hier ankam –“

„Gerade Dienstag?“

„Ja, das ist nun schade. Ich weiß ja nicht, der Herr kann auch in einigen Tagen abfahren, er meinte, das sei sehr leicht möglich. Wenn Sie warten könnten! Bitte sehen Sie doch einmal das Zimmer an, ein prachtvolles, zweifenstriges Vorzimmer, Extraeingang und hochnobel möbliert.“

Der Herr trat ein und sah sich im Zimmer um.

„Vielleicht kommt der Herr in einigen Tagen wieder mal heran. Das Zimmer ist auch sehr billig, fünfunddreißig Mark mit Frühstück!“

„Also schön, Frau Schmidt, ich komme in einigen Tagen für alle Fälle noch mal vorbei. Guten Abend!“

„Ja, bitte schön, mein Herr! Guten Abend!“ sagte die Zimmervermieterin, in der angenehmen Hoffnung, einen netten neuen Mieter zu bekommen.

Dieser aber eilte fort, fuhr zum Polizeipräsidium, wo er sich seiner Lockenpracht und seines Künstlermantels entledigte und wieder zu seiner Alltagsbeschäftigung zurückkehrte – Kriminalkommissar Hoffmann zu sein.

Er war vom Erfolg seiner kurzen Exkursion über die Maßen zufrieden, und sagte schmunzelnd zu sich selbst: ‚Also geht eine Maus doch noch vielleicht in die Falle. Es ist doch ganz interessant zu wissen, Herr Dekker, daß Sie mit Stahl und Heubner im selben Zug gefahren sind, finden Sie nicht auch?‘

Schon anderen Tags kam die telegraphische Antwort der Amsterdamer Konfektionsfirma, deren Adresse die Innenseite des fraglichen Rockes gezeigt hatte, auf die Anfrage des Kommissars Hoffmann. Sie enthielt aber leider nicht die gewünschte Aufklärung, da man aus der groben Beschreibung nicht mit Sicherheit hatte entnehmen können, um was für ein Kleid es sich eigentlich handele und man auch wissen müsse, wann ungefähr das Kleid gearbeitet worden wäre. Man stellte Hoffmann anheim, das Kleid selbst einzusenden, mit dessen Hilfe man dann versuchen würde, sich zu erinnern, wer der Käufer gewesen sei. Natürlich beschloß Hoffmann die sofortige Absendung, da ja so viel von der Ermittlung der Persönlichkeit des Käufers abhängen konnte. Nur mußte vorher noch einmal durch Stahl die Identität der gefundenen Stücke mit der Kleidung der Dame und dem Tresor festgestellt werden.

Und jetzt hieß es auch bezüglich Herrn Dekkers die nötigen Schritte tun – soweit sich in dieser Angelegenheit etwas tun ließ. Denn nur die Tatsache, daß jemand im selben Zug fuhr, in welchem ein Diebstahl begangen wurde, berechtigt natürlich noch lange nicht zur Annahme, daß er der Dieb sei.

Hoffmann telegraphierte also an die Amsterdamer Polizeidirektion und bat um genaueste Auskunft über Dekker, auf den er jetzt sein Augenmerk zu richten gedachte.

Nachdem all dies erledigt war, begab sich Hoffmann nach Moabit mit der Ausbeute seines Spandauer Ausflugs und dem vorher gefundenen Damenhut.

Schon gestern hatte der Kommissar den Amtsrichter Becker von seinen Erfolgen telephonisch benachrichtigt, und dieser hatte nun seinerseits sofort Stahl eine Vorladung zukommen lassen, um mit dessen Hilfe eine Prüfung der Sachen vorzunehmen.

Der Hut, der Rock und der Eisenkasten wurden Stahl vorgelegt.

„Ich muß Sie noch bitten, Herr Stahl, diese Gegenstände zu rekognoszieren, die mit dem Diebstahl in Verbindung stehen dürften. Erkennen Sie dieselben?“

Stahl stieß einen Ruf der Verwunderung aus bei ihrem Anblick.

„Aber gewiß. Das sind der Hut und der Rock der Dame. Zweifellos – ich kann mich unmöglich irren.“

„Und diese Kassette?“

„Ja, es scheint mir – – –“ er betrachtete sie genau und sagte dann in bestimmtem Ton: „Ja, das ist auch die Kassette, in der der Brillant verwahrt war.“

Der Fund schien ihn sehr aufzuregen und er sah vom Kommissar zum Richter fragend:

„Ich verstehe nur nicht,“ bemerkte Richter Becker, „warum Heubner nicht die Schlüssel benutzte, sondern sich die schwere Arbeit mit dem Brechwerkzeug gemacht hat. Übrigens müßte er demnach die nötigen Werkzeuge bei sich geführt haben. Bemerkten Sie etwas derartiges bei ihm, Herr Stahl?“

„Ich habe nichts Verdächtiges bemerkt.“

Alle drei schwiegen. Amtsrichter Becker saß in seinem Stuhl, den Kopf schwer in die Handflächen gestützt.

Hoffmann erinnerte sich an die Worte des Geheimpolizisten Lehnert von gestern: ‚Vielleicht sind alle Wege falsch, die man bisher begangen hat, vielleicht war’s ein internationaler Verbrecher, an den wir gar nicht denken – –‘

Der Kommissar schüttelte den Kopf.

Richter Becker unterbrach die Stille.

„Vielleicht wollte der Dieb uns nur irre führen, uns auf eine falsche Fährte locken.“

„Das glaube ich nicht, wenn es auch denkbar wäre. Meine Ansicht geht dahin – der Dieb konnte den Tresor nicht öffnen.“

„Aber er hatte doch die Schlüssel.“

„Ja, wenn er sie hatte.“

Stahl und der Richter sahen ihn gespannt an bei diesen Worten.

„Der Dieb hatte eben nur Kenntnis von dem Schlüssel, den er Herrn Stahl gestohlen hatte und fand den andern nicht – –“

„Dann ist also nicht Heubner der Dieb?“ riefen beide wie aus einem Munde, und Richter Becker sagte in fast triumphierendem Ton zu Hoffmann:

„Ach, Herr Kriminalkommissar, kommen Sie zu meiner Anschauung zurück?!“

Und Stahl murmelte:

„Wäre es denn möglich, daß Heubner unschuldig ist? Ja, aber, was ist dann mit Heubner geschehen? Sollte er erm… – –“

Er sprach es nicht vollständig aus und erbleichte bei seinen eigenen Worten. Und er war noch immer blaß, als er mit Hoffmann zusammen nach dieser Unterredung die Treppen hinabstieg.

Richter Becker steckte sich eben, allein in seinem Arbeitszimmer zurückbleibend, eine Zigarette an und sah gedankenvoll in den aufsteigenden, dünnen, blauen Rauch.

Wenn der Dieb den Tresor nicht aufschließen konnte, dann war also Heubner nicht der Dieb, wie er es gleich geahnt, und Becker hatte ein triumphierendes Gefühl der Befriedigung. Aber das Rätsel war dadurch nur noch schwieriger und es kam wieder vollständig Unerklärliches hinzu: Das spurlose Verschwinden Heubners – – –

 

4. Kapitel.

Hoffmann hatte sich vorgenommen, sich in der Wendlandschen Erbschaftsangelegenheit noch näher zu orientieren und begab sich deshalb zum Rechtsanwalt des Verstorbenen, um sich die nötigen Informationen einzuholen.

‚Dr. Leuthold, Rechtsanwalt‘, las er auf dem Schild, das an dem eleganten Hause in der Kurfürstenstraße angebracht war. Er traf auf einen außerordentlich liebenswürdigen, eleganten Herrn. Dr. Leuthold war nicht nur der Vermögensverwalter sondern auch der Freund Dr. Wendlands gewesen und konnte daher am besten Auskunft geben.

„Ein Testament hat mein verstorbener Freund leider nicht hinterlassen,“ erwiderte er auf die Frage Hoffmanns.

„Hat denn dieser Herr Dekker überhaupt Aussicht auf einen Teil der Erbschaft?“

„Nachdem er mütterlicherseits ungefähr ebensoviel oder ebensowenig mit Dr. Wendland verwandt ist wie Herr Stangen väterlicherseits, so hat er vielleicht etwas weniger Aussichten als dieser.“

Hoffmann erhob sich. Er bedankte sich für die erteilte Auskunft und ging gedankenvoll von dannen.

So wanderte er in Gedanken versunken die Kurfürstenstraße entlang, bis dorthin, wo sie mit dem Kurfürstendamm zusammenstieß, ging bis zur Kirche und bog in die Kantstraße ein. Es war schon Abend geworden. Hoffmann ging bis zum dem Haus, das die Nummer 20 trug, und blickte sich um. Auf der anderen Seite vor einem Herrenmodengeschäft stand ein ziemlich großer, behäbiger Herr. Er sah aus wie ein gutmütiger Provinziale. Hoffmann trat zu ihm hinüber und stellte sich neben ihn.

„Nun, Lehnert, etwas entdeckt?“

„Nein, Herr Kommissar, absolut nichts. Herr Dekker ist noch zuhause,“ antwortete ruhig der Geheimpolizist, nicht im geringsten erstaunt, seinen Vorgesetzten so plötzlich neben sich zu sehen. Hoffmann betrachtete durch einen Spiegel, der im Schaufenster stand, das gegenüberliegende Haus. Zwei Treppen hoch in einem zweifenstrigen Erkerzimmer brannte Licht. Dort wohnte Dekker. Das wußte Hoffmann von seinem Besuch bei Frau Schmidt her. Da er nicht vor dem Schneidergeschäft stehen bleiben wollte, setzte er sich in eine kleine Konditorei nebenan, von deren Fenstern aus er das Haus, in dem Dekker wohnte, gut beobachten konnte.

So saß er vielleicht zwei Stunden. Dann erlosch das Licht im Zimmer Dekkers, und Hoffmann zahlte.

Nach wenigen Minuten öffnete sich das Tor, und Dekker trat heraus. Er wählte die Richtung auf den Bahnhof Zoologischer Garten zu und in einiger Entfernung hinter ihm ging der Geheimpolizist. Auch Kommissar Hoffmann schlug dieselbe Richtung wie die beiden ein und beobachtete von der anderen Straßenseite aus scharf, jedoch unauffällig. Der so Überwachte war eine ziemlich hohe schlanke Erscheinung, gut gewachsen und recht elegant gekleidet. Seine ganze Erscheinung machte den Eindruck eines selbstbewußten Mannes.

Dekker schien ziellos umherzuwandern.

Manchmal drehte er sogar und ging wieder ein Stück zurück, dann trat er in eins der Kaffeehäuser, die unter den Linden lagen und wo eine Kapelle einem dankbaren Publikum ihr buntes Repertoire darbot. Die beiden Beamten, Kommissar Hoffmann und der Geheimpolizist Lehnert, folgten ihm auch hierher und nahmen unauffällig in gehöriger Entfernung von ihm Platz, doch so, daß sie ihn bequem beobachten konnten. Es war nichts Auffälliges zu bemerken, und Dekker brach allein, wie er gekommen war, nach einer Stunde wieder auf und verließ das Lokal. Er mischte sich wieder in den Menschenstrom der Friedrichstraße, schritt sie entlang, bis er endlich in eine der Nebenstraßen einbog, die mehr interessant als sympathisch waren. Es trieb sich hier ein recht übles Publikum um die Nachtzeit herum, ein Gesindel, das um so unangenehmer war, als es nicht einmal die äußere Form zu wahren vermochte.

In eine wenig einladende Kneipe trat Dekker ein.

Lehnert kam von der anderen Seite der Straße zu Hoffmann herüber.

„Bleiben Sie draußen,“ sagte Hoffmann, „und behalten Sie das Lokal im Auge. Kommen Sie nur im äußersten Notfall hinein, es wird schon genügen, wenn ich eintrete. Ich werde hier kaum bekannt sein. Ich bin nur neugierig, ob Herr Dekker sich nur Berlin ansieht, oder ob er hier vielleicht ‚zu tun‘ hat.“

Er betonte das ‚zu tun‘ besonders. Lehnert zuckte mit den Achseln, und Hoffmann folgte Dekker ins Lokal ‚Zur schönen Emma‘. Ein widerlicher Geruch schlug dem Kommissar entgegen, der Dunst von Speisen, Tabak, Bier, Schnaps und schwitzenden, erhitzten Menschen.

Dekker ging ruhig durch die Reihen der dicht besetzten Tische, von denen aus man ihn neugierig betrachtete, auf einen leeren zu und setzte sich hin. Es war, als ob ihn diese seltsame Umgebung, in der er durch sein Benehmen und seine Kleidung abstach, nicht sonderlich berührte. Er bestellte etwas beim Kellner, steckte sich eine Zigarette an und sah prüfend im Kreis umher, wie wenn er jemand suchte.

Ein junges Mädchen mit dick aufgetragener Schminke im Gesicht und untermalten Augen trat jetzt ein, sah sich wie suchend um und setzte sich, als sie keinen ihr passenden Platz zu finden schien, an den Tisch Dekkers. Nicht gerade unverschämt aber mit der Ungeniertheit dieser Mädchen bat sie ihn, sie zu einem Glas Bier einzuladen. Er nickte zustimmend. Wenigstens schien es Hoffmann so, denn was an jenem Tisch gesprochen wurde, konnte er nicht verstehen. Der Lärm ringsumher war zu groß. Dekker gab sich mit dem Mädchen nicht weiter ab, obgleich es mehrfach versuchte, ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen.

Endlich bekam sie Gesellschaft. Ein junger Bursche von zirka fünfundzwanzig Jahren, der eben erst in das Lokal gekommen war und sich forschend umgesehen hatte, ging auf den Tisch Dekkers zu und setzte sich zu dem Mädchen, das er begrüßte und dessen ‚Bekannter‘ er anscheinend war. Er musterte Dekker mit frechen Blicken, doch dieser beachtete ihn überhaupt nicht.

Der Galan schien eifersüchtig zu sein und nahm vermutlich an, daß der Fremde ihm vorher schon Konkurrenz gemacht und mit seiner Flamme hierhergekommen sei. Dabei stieg wohl die Empfindung in ihm auf, daß er äußerlich diesem Nebenbuhler gegenüber stark im Nachteil war. Das hätte vielleicht den Burschen nicht so sehr verdrossen, wenn er nicht deutlich gefühlt hätte, daß auch dem Mädchen dieser Unterschied bewußt war, daß ihre Augen von einem zum andern wanderten und daß er bei diesen Vergleichen nichts gewann. Ja, sie schienen ihren Gefühlen ziemlich unverhohlen Ausdruck zu verleihen, was bald zu einem immer heftiger werdenden Wortwechsel führte. Dekker saß mit unbeweglichem, kaltem Gesicht dabei.

Dann folgte eine Szene, die sich mit sehr großer Schnelligkeit abspielte.

Das junge ‚Dame‘ fügte sich wohl nicht gleich den Wünschen ihres Liebhabers, was den ohnehin Aufgeregten nur noch mehr reizte. Er überschüttete sie mit einer Flut von Schimpfworten und als sie ihm trotzig antwortete, erhob er die Hand und ein roher Faustschlag traf das Gesicht des Mädchens. Sie schrie auf, und er erhob schon wieder die geballte Faust. Da stand Dekker auf, griff nach dem Handgelenk des Burschen, der einen Augenblick perplex war, dann aber mit der anderen Hand in die Tasche fuhr und im Nu ein offenes Messer gegen seinen Gegner zückte – aber er stieß nicht zu.

Hoffmann war aufgesprungen, doch das war eigentlich überflüssig. Dekker hielt noch immer das Handgelenk des jungen Menschen umschlossen. Sein Gesicht schien erstarrt und seine merkwürdig tiefen, dunklen Augen hefteten sich fest in die seines Gegenüber, ihn mit den Blicken festhaltend – – faszinierend – – bändigend. Der war wie willenlos unter diesen festen, stahlharten Augen, sank auf seinen Stuhl zurück und starrte dabei immer Dekker an, der ihn nicht losließ, weder mit der Hand noch mit den Augen.

Es war ganz seltsam. Das Mädchen stand dabei, ohne einen Laut von sich zu geben. Einige Gäste hatten sich lärmend erhoben, der Gatte der ‚schönen Emma‘, ein Hüne von Gestalt, nährte sich bereits, um Frieden zu stiften. Aber Dekker ließ seinen Gegner plötzlich los, griff seinen Hut vom Nagel, warf ein Geldstück dem herbeigeeilten Kellner auf den Tisch und schob sich auf den Ausgang zu. Sein Gesicht war noch immer unverändert von eisiger Entschlossenheit, und niemand wagte, ihn am Gehen zu hindern.

Unterdes hatte auch Hoffmann gezahlt und war bereit, Dekker zu folgen. Dabei mußte er an jenem Tisch vorbei, an dem die Szene, die eigentlich nur einen Zeitraum von einigen Sekunden gewährt, sich abgespielt hatte. Als er dort zwischen Tischen, Stühlen und Menschen hindurchdrängte und in das Gesicht des jungen Menschen blickte, war es ihm halb unheimlich und halb wie ein Triumph. Der Gegner Dekkers saß auf dem Stuhl, das Gesicht nach vorn gerichtet, die Augen geschlossen, wie schlafend.

Hoffmann eilte vorbei und hinaus aus dem Lokal, um Dekker nicht zu verlieren, der unterdes gemächlich die Straße entlang schritt. Lehnert folgte ihm auf der anderen Seite in einiger Entfernung. Hoffmann gab ihm ein Zeichen, und der Kriminalbeamte näherte sich seinem Vorgesetzten.

„Gehen Sie sofort zurück in die Kneipe, Lehnert,“ sagte dieser, „und erkundigen Sie sich, was sich eben dort abgespielt hat, merken Sie sich die Personen, die zugegen waren und suchen Sie auszukundschaften, ob Dekker dort bekannt ist, wenn ja, mit wem und was er wollte!“

Schnell begab sich Lehnert zurück, um den ihm erteilten Auftrag auszuführen, während Hoffmann Dekker im Auge behielt. Der aber hatte wohl von dem heutigen Abenteuer genug, denn er winkte eine Droschke heran und fuhr nach Haus, Hoffmann mit einem anderen Wagen hinterdrein. Als er endlich einsah, daß die Mission für heute beendigt war, drehte er sich um und wandte sich seiner Wohnung zu.

Kriminalkommissar Hoffmann war andern Tags schon früh auf dem Posten.

Und schon meldete sich Lehnert.

„Nun?“

Hoffmann sah gespannt auf.

„Eigentlich nichts, was einen bestimmten Anhaltspunkt böte, Herr Kommissar. Es kennt niemand Dekker im Lokal. Er war das erste Mal dort und man wußte auch nicht, wen er hätte erwarten können.“

Hoffmann schüttelte unwillig den Kopf.

„Es ist ja rein zum Verrücktwerden. Kann man denn zum Donnerwetter gar nichts Vernünftiges mehr herausbekommen?! Was war denn das mit dem Streit für eine Sache?“

„Der junge Bursche, den ich mir übrigens gemerkt habe, war eifersüchtig geworden, weiter nichts. Nur das eine war merkwürdig, daß er schlief – ich weiß ja nicht, wie das kam, bin nicht dabei gewesen. Aber als ich eintrat, schlief er noch und man hatte Mühe ihn zu wecken. Dann war er noch immer in einem so – – so taumelnden – – so traumatischen Zustand. Er war eigentlich auch, nachdem er schon wach war, doch nicht recht wach.“

„Und was denken Sie, Lehnert, wieso das gekommen ist?“

„Ja, ich weiß ja nicht recht, weil ich, wie ich schon sagte, den Vorgang nicht beobachtet habe, aber mir ist gleich Herr Stahl eingefallen, als man mir die Geschichte erzählte; und ich dachte – daß so wie Herr Stahl auch der Mann in der Kneipe hypnotisiert worden sein kann.“

Beide versanken in Stillschweigen. Wieder schossen alle bekannten Ereignisse Hoffmann blitzschnell durch den Kopf. Und schon setzte er seinen Scharfsinn daran, einen wahrscheinlichen Zusammenhang herzustellen.

Es war ja zweifellos; auch Dekker war verdächtig. Es sprach so vieles gegen ihn, seine Fahrt im selben Zug, in dem der Diebstahl begangen wurde, die Tatsache, daß er ein besonderes Interesse an der Erbschaft hatte, die zu erhalten für ihn nicht allzu viel Aussicht bot, endlich die Szene gestern, wo er den jungen Menschen hypnotisierte, eigentlich im Nu, im Handumdrehen. Das war alles so seltsam und ein so merkwürdiges Zusammentreffen.

„Wenn wir wenigstens schon genügend Beweise hätten, daß Dekker am Diebstahl beteiligt war, dann könnten wir den wenigstens verhaften, aber ich fürchte, wenn wir es zu früh tun, bekommen wir überhaupt nichts heraus. Passen Sie genau auf, Lehnert, wer ins Haus bei Dekker hineingeht, ob er Besuch empfängt usw. und wenn er ausgeht, photographieren Sie ihn. Machen Sie mehrere Aufnahmen! Man weiß nicht, ob man die Bilder nicht gebrauchen wird.“

Hoffmann blieb mit seinen Gedanken allein zurück. Er war nahezu verzweifelt, die eigene Unsicherheit irritierte ihn – einen Augenblick war er fest überzeugt, in Dekker den Täter gefunden zu haben, im nächsten Moment verwarf er wieder diese Kombination.

Man brachte ihm einen Brief – die längst erwartete Auskunft über Dekker. Wie gierig öffnete er das Kuvert, nach dem er den Stempel der Amsterdamer Polizeidirektion darauf entdeckt hatte. Vielleicht – –

Die Amsterdamer Behörde hatte eigentlich recht wenig ermittelt. Dekker war einundvierzig Jahre alt, deutscher Abkunft, aber in Holland geboren. Er war erst seit drei Jahren in Amsterdam seßhaft, wo er zwei möblierte Zimmer als Aftermieter bewohnte. Über seine Vorlieben war so gut wie nichts bekannt. Vorstrafen hatte er keine, und während seines Amsterdamer Aufenthalts hatte er sich nie etwas zu schulden kommen lassen. Er stammte aus guter Familie, seine Eltern waren tot. Näheres über seine Geschäfte und sein Tun und Lassen wußte man nicht. Er besaß etwas Vermögen und hatte keine regelmäßige Beschäftigung, war jedoch als Kaufmann gemeldet.

Soweit der Bericht. Eigentlich ergab die Nachricht nichts Greifbares. Mißmutig hatte sich Hoffmann erhoben, denn er hatte sich in den Gedanken verbissen, daß er über Dekker etwas Nachteiliges erfahren müsse. Er hatte eine instinktive Aversion gegen diesen Menschen mit dem eisernen Gesicht, das wie eine unbewegliche Maske sein Inneres zu verdecken schien.

Der Kommissar hoffte, daß seine Agenten in Amsterdam ihm nähere und nützlichere Angaben über Dekker machen würden, aber es waren von dieser Seite noch keine Nachrichten eingelaufen.

Für alle Fälle wollte Hoffmann noch einmal nach Amsterdam telegraphieren. Als er die Treppen hinunterstieg, begegnete er Stahl, der ihm entgegenkam.

„Ah, Herr Stahl, Sie wollen sich wohl nach dem Stand unserer Ermittlungen erkundigen,“ sagte er mit einem bitteren Lächeln, „Sie kommen noch etwas zu früh.“

„Aber doch endlich eine Spur, Herr Kommissar,“ meinte Stahl, „wenn Sie nur endlich einen Erfolg hätte; Sie können sich ja meine peinliche Situation vorstellen.“

„Ja, ja, natürlich,“ sprach etwas zerstreut der Angeredete, den irgendein Gedanke lebhaft beschäftigte. Und nur um etwas zu sagen, fragte er: „Bleiben Sie noch längere Zeit hier?“

„Eigentlich war das der Grund meines Kommens, Herr Kommissar, denn ich habe meine Adresse gewechselt, habe mir ein Zimmer genommen, da ich vorderhand Berlin nicht verlassen werde. Ich hoffe, abwarten zu können, bis der Täter ausfindig gemacht ist. Ich habe Urlaub von meiner Firma verlangt und auch bewilligt bekommen, da ich in der letzten Zeit durch Überbelastung sehr nervös geworden bin. Ich werde mich hier vielleicht einer Kur unterziehen. Da man mich vielleicht noch vorladen dürfte, wollte ich meine neue Adresse –“

„Ja, ich bitte um sie.“

Der Kommissar holte sein Taschenbuch hervor und notierte. Während sie dann zusammen auf die Straße traten, fragte Hoffmann, als sich Stahl schon verabschieden wollte, mit Nonchalance:

„Kennen Sie vielleicht durch Zufall einen Herrn Dekker in Amsterdam?“

„Dekker, Dekker?“ wiederholte Stahl und dachte nach.

„Ach, bitte strengen Sie sich nicht an, so wichtig ist es mir nicht,“ sagte Hoffmann nachlässig und knöpfte seinen Handschuh zu.

„Ich erinnere mich schon,“ fiel hier Stahl ein, „ich kenne den Herrn persönlich nicht, aber, wenn ich mich recht entsinne, nannte Heubner einmal die Namen.“

 

5. Kapitel.

„Also zieht sich das Netz doch endlich zusammen!“

Kommissar Hoffmann seufzte erleichtert auf. Man trug ja doch Punkt für Punkt zusammen, auch wenn es anfänglich so ausgesehen hatte, als ob die Arbeit vergeblich wäre. Natürlich – direkt Beweise hatte man noch nicht, aber immerhin schwerwiegende Anhaltspunkte und Verdachtsmomente. Immer drohender zog sich der Kreis um den Kopf Dekkers zusammen.

Hoffmann pfiff ein lustiges Lied vor sich hin, und durch das geöffnete Fenster drang als Antwort das lärmende, frech lustige Frühlingsgezwitscher des Spatzenvolkes. Schon lange hatte Hoffmann nicht so vor sich hin gepfiffen mit jener inneren Befriedigung, die wir stets empfinden, wenn der Erfolg für lange und ehrliche Bemühungen nahe scheint.

Er griff nach dem Brief der Amsterdamer Konfektionsfirma, der endlich gekommen war. Hoffmann hatte ihn schon ungeduldig erwartet, denn er konnte vielleicht etwas Aufklärung bringen. Er öffnete eilig den Brief und las:

‚An das

Kgl. Polizeipräsidium

Berlin

Zur Beantwortung Ihres Schreibens vom 17. März dieses Jahres teilen wir Ihnen erg. mit, daß der uns zugesandte Damenrock nicht nach Maß bei unserer Firma angefertigt wurde, sondern der Rock eines Modellkostüms ist. Leider konnte nicht festgestellt werden, wer der Käufer war, da das Kleid nicht in die Wohnung geschickt, sondern gleich aus dem Geschäft mitgenommen wurde. Eine unserer Damen glaubt, sich mit ziemlicher Sicherheit zu erinnern, daß das Kleid von einem einzelnen Herrn gekauft wurde, dessen Äußeres sie als schlank, gut mittelgroß und brünett angibt. Er dürfte einen schwarzen Schnurrbart getragen haben. Er nahm das Kleid in einem Wagen, in dem er gekommen war, mit sich. Inwieweit diese Angaben mit der Wirklichkeit übereinstimmen, vermögen wir nicht zu ermessen, und teilen wir sie Ihnen – trotz der glaubwürdigen Persönlichkeit unserer Verkaufsdame – mit einem gewissen Zweifel an ihrer Richtigkeit mit, da der Kauf bereits weit über einen Monat zurückliegt, und der große Verkehr in unserem Geschäft an und für sich schon nicht angetan sein dürfte, derartige doch eher gleichgültige Einzelheiten dem Gedächtnis einzuprägen.

Mit vorzüglicher Hochachtung

Gebr. Tellmann Nachf.‘

Hoffmann hatte den Brief mit Aufmerksamkeit gelesen. Er schob ihn jetzt ärgerlich von sich.

„Na, Gott sei Dank,“ brummte er wütend vor sich hin. „Es ist rein zum ‚Aus der Haut fahren!‘ Wenn man so etwas liest, wird einem das Einfachste wieder kompliziert und das Klarste unverständlich.“

Endlich beruhigte er sich halbwegs, nahm den Brief wieder vor und sah ihn noch einmal durch. Er schüttelte den Kopf, als ob ihm etwas unverständlich bliebe.

Welche Gründe hatte der Käufer, ein fertiges Kleid zu kaufen, ohne daß die Person, für die es bestimmt war, es anprobierte? Kleider passen doch nicht so ohne weiteres und bei einem so teuren wie das vorliegende gewesen sein mußte, legte man doch sicher Wert darauf, daß es passe! Vermutlich sollte doch die Dame, für die es bestimmt war, nicht gesehen werden – Man hatte wohl triftige Gründe dazu. Oder? Ja, was ‚oder‘? – –

Hoffmann kam auf einen ganz neuen Gedanken. Dieser war mehr neu als angenehm, denn er schaffte keine Klärung, sondern eher eine neue Verwicklung. Aber der Gedanke war nun mal da und beunruhigte Hoffmann. Wie, wenn der Herr das Kleid nicht für eine Dame gekauft hatte, sondern – für sich?? Oder auch einen andern; jedenfalls aber für einen Mann.

Hoffmann war beinahe verblüfft über seinen eigenen Einfall, obgleich bei näherer Überlegung dieser gar nicht so absurd war.

Gewiß – Rositta konnte die von Stahl beschriebene Damen sein. Aber es war doch nicht ausgeschlossen, daß diese Dame – – –

Hier wurde Hoffmanns Gedankengang durch das Eintreten seines Freundes und Kollegen, des Kriminalkommissars Wiemer, unterbrochen.

„Na, was brütest du?“ rief ihm der Eintretende fröhlich zu. „Möchtest du nicht mit mir etwas Essen kommen. Es ist schon höchste Zeit, und ich habe einen mordsmäßigen Hunger.“

„So? Na, ich komme mit, spüre auch schon ein menschliches Rühren, und habe mir mein Essen redlich auch verdient. Ich habe eben eine neue Entdeckung gemacht.“

„Hast wohl eine falsche Fährte entdeckt – sei ruhig, das passiert mir jetzt alle Tage,“ sagte der etwas sarkastisch angehauchte Wiemer, der andere aber auch sich gern ein wenig bespöttelte.

„Nein, nein – ohne Spaß. Ich bin auf eine neue Idee gekommen in der Diamantenaffäre,“ fuhr Hoffmann fort, während er sich den Mantel anzog. „Du kennst doch die Angelegenheit?“

„Und ob – als ob ich selbst der Dieb wäre.“

„Mach keine Witze – sag mir lieber deine Meinung. Du weißt doch, daß im Kupee beim Diebstahl eine Dame mitgefahren ist, deren Persönlichkeit wir bisher nicht feststellen können. Ich bin nun zu der Ansicht gekommen, daß diese Dame eben keine Dame war – –“

„Was denn – vielleicht das Moto Girl aus dem Zirkus?“

„Nein – aber ein Herr!“

Sie waren während dieses Gesprächs auf die Straße hinuntergegangen und nahmen ihren Weg nach einem gemütlichen, kleinen Restaurant, wo die beiden Freunde oft zusammen zu essen pflegten. Bald saßen sie am sauber gedeckten Tisch einander gegenüber, ihren Hunger und Durst stillend.

„Nun, du wolltest mir beweisen –“

„Richtig,“ meinte Hoffmann. Er erzählte den Inhalt des vorhin erhaltenen Amsterdamer Briefes, der diesen Gedanken in ihm erzeugt hatte.

„Schon sonderbar, aber es genügt doch nicht zu dieser Schlußfolgerung – –“ war Wiemers nachdenkliche Antwort.

„Aber von all diesen Dingen abgesehen – du hast ziemlich begründeten Verdacht, daß dieser Herr – Dekker sagtest du, nicht wahr? – ja also, daß dieser Herr Dekker, von dem du mir gestern erzählt hast, in engster Verbindung mit dem Diebstahl steht. Da würde ich an deiner Stelle vor allen Dingen trachten, mich seiner zu versichern.“

Hoffmann schwieg eine Weile und trank bedächtig sein Glas aus.

„So leicht kann er mir nicht entwischen. Er wird fortwährend beobachtet,“ erklärte Hoffmann sein Handeln, „und ich will nur noch etwas Material sammeln, um ganz sicher zu gehen. Das Netz zieht sich schon zusammen, und ich glaube, daß er mir nicht entgehen kann. Ich werde die Akten über meine Nachforschungen und Beobachtungen der Staatsanwaltschaft einreichen, ohne deren Haftbefehl ich ja ohnedies nicht gegen ihn vorgehen kann.“

*

Die Agenten Hoffmanns in Amsterdam hatten ein umfangreiches Material über Dekker zusammengetragen.

Er war eine ziemlich dunkle Existenz. Sein Charakter wurde als recht verschlossen und schweigsam geschildert, jedoch trat er weder grob noch roh, sondern stets gemessen und höflich auf, benahm sich unauffällig, man konnte fast sagen, vornehm, war zurückhaltend, in jeder Beziehung reserviert, was ihn nicht gerade beliebt machte. Doch etwas wirklich Schlimmes konnte ihm niemand nachsagen.

In seiner Lebensweise war er außerordentlich peinlich und ordentlich. Zuhause ließ er nie etwas umherliegen, jeder Brief, jeder Zettel wurde sorgfältigst verschlossen, so daß neugierige Augen keine Befriedigung finden konnten. Auch seinen anstehenden Zahlungen kam er pünktlich nach.

Er hielt sich viel zu Hause auf und dann las er in seiner Bibliothek, die recht beträchtlich war. Doch kam es auch oft genug vor, daß er lange ausblieb, zuweilen die ganze Nacht. Ja, häufig genug kam er erst anderen Mittags oder Abends, eventuell sogar erst nach einigen Tagen wieder heim. Seine Bankverhältnisse schienen recht günstig. Er besaß etwas Vermögen und verdiente auch recht gut. Womit? Er machte, je nach Gelegenheit die verschiedenartigsten Geschäfte, bei deren Auswahl die Rentabilität für ihn ausschlaggebender zu sein pflegte als die Sauberkeit. Er hatte kein gutes Renommee bei den Kaufleuten.

Vor seiner Abreise nach Berlin hatte er das Fahrtziel seiner Wirtin angegeben und auch den Grund seiner Reise. Dabei sollte er geäußert haben: ‚Die Erbschaft muß ich haben, koste es, was es wolle.‘

„Etwas Gefängnis wird wohl kein zu teurer Preis dafür sein,“ sagte Hoffmann gewissermaßen als Kommentar zu diesen Worte, nachdem er den Bericht gelesen hatte.

Auch diese Nachrichten waren nicht der Art, wie sie sich Hoffmann gewünscht hatte. Die Auskunft über Dekker war ja nicht gerade günstig, aber eben auch nicht wirklich belastend.

Aber dennoch – jetzt mußte bald der entscheidende Schlag geführt werden. Nach seinen bisherigen Erfolgen würde die Staatsanwaltschaft wohl einen Haftbefehl gegen Dekker erlassen.

‚Es ist vielleicht noch ein bißchen früh dazu,‘ dachte sich Hoffmann, aber er machte dennoch die Akten für die Staatsanwaltschaft fertig mit den Angaben all seiner Kombinationen über die mutmaßlichen Täter.

Dann nahm er zur Abwechslung wieder einige kleine Veränderungen an seiner Person vor – die bereits in Tätigkeit gewesene blonde Künstlerperücke wurde hervorgeholt und sorgfältig auf das kurzgeschorene Haupthaar platziert. Ein niedriger Kragen mit einer kühngeschwungenen schwarzen Krawatte, die so groß war, daß man sich hätte in sie einwickeln können, wurden der Wahrscheinlichkeit zuliebe umgebunden und der regenschirmgroße Künstlerhut, unter dem bequem einige Kinder hätten spielen können, krönte das geschmackvolle Ganze. Über sich selbst belustigt, machte sich Hoffmann auf den Weg, um Frau Schmidt, der Wirtin Dekkers, einen kleinen Besuch abzustatten.

Als der Kommissar in die Kantstraße und in die Nähe des zu besuchenden Hauses kam, blickte er sich erst forschend um. Er spähte nach Lehnert, dem noch immer die Beobachtung Dekkers oblag. Aber der war nirgends zu entdecken. Vermutlich war Dekker ausgegangen, und Lehnert ihm auf den Fersen.

Hoffmann betrat das Haus und stieg die beiden Etagen empor. Dann zog er an der sauber geputzten Klingel, und die Witwe Schmidt öffnete kurz darauf.

Sie erkannte ihn sofort wieder und war über den Besuch sehr erfreut.

„Ach, das ist aber schön, daß Sie Wort halten,“ empfing sie ihn, „ich dachte schon, Sie kämen gar nicht mehr wieder.“

„Bei einer so liebenswürdigen Wirtin,“ sagte er galant, „würde ich mir sicher das Vergnügen wieder gemacht haben, selbst wenn ich gar keine Aussicht auf das Zimmer hätte.“

Galanterie hat noch nie eine Frau unangenehm berührt.

„Sie sind sehr liebenswürdig,“ sagte sie ein klein wenig geziert und nötigte ihn, einzutreten.

„Ja, es ist wirklich sehr schade, liebe Frau Schmidt, daß das Zimmer nicht frei ist, ich wäre wirklich gerne schon eingezogen.“

„Soll ich ihm kündigen?“ fragte sie schnell, „ich würde es ja nicht gern tun, da er meinte, er bliebe nur noch ein paar Tage, und er hat doch für den ganzen Monat im voraus bezahlt, obgleich er nur tageweise gemietet hat. Ich könnte ihn jeden Tag raussetzen, aber nur ist man doch auch nicht gern so –“

„Aber um Gottes willen, Frau Schmidt,“ sagte Hoffmann eifrig, „deshalb werden Sie ihm doch nicht kündigen. Die paar Tage kann ich doch noch warten.“

„Na, übermorgen wollt‘ er ja schon reisen. Dann können Sie tags darauf einziehen.“

„Ja, ja,“ antwortete Hoffmann etwas zerstreut, „das wäre ganz gut. Also in zwei Tagen zieht der Herr schon aus?“

„So sagte er wenigstens – ich freue mich eigentlich schon, daß er abfährt, er ist gar nicht so nett –“

„Kann ich vielleicht mal die Räumlichkeit sehen?“

Das Zimmer hatte Flureingang, und Hoffmann öffnete die Korridortür. Frau Schmidt schloß auf, um es ihrem zukünftigen Mieter zu zeigen. Gerade in diesem Augenblick kam Dekker nach Hause.

„Ach, verzeihen Sie, Herr Dekker,“ entschuldigte sich die Witwe, „ich wollte nur dem Herrn das Zimmer zeigen, er will es nach Ihnen mieten –“

„Es wäre mir unangenehm, zu stören,“ ließ sich Hoffmann vernehmen, aber Dekker sagte mit einer leicht einladenden Handbewegung:

„Bitte, Sie stören gar nicht.“

Hoffmann zog sich nach einer oberflächlichen Besichtigung des Zimmers zurück. Er grüßte mit leichtem Verneigen, was Dekker erwiderte. Im Vorbeigehen begegneten sich ihre Augen, und Hoffmann schien es, als ob ein höhnischer Zug über das Gesicht seines Gegenübers huschte.

Schnell verabschiedete er sich von Frau Schmidt, die ihn mit schwerem Herzen davonziehen sah. Sie fühlte instinktiv, daß er wohl kaum das Zimmer mieten würde.

Der Pseudokünstler jedoch eilte die Treppe hinunter. Er war über dieses Zusammentreffen eben wenig erfreut. Ihm schien, als ob Dekker ihn so sonderbar angesehen hatte. Sollte er ihn etwa erkannt haben? –

 

6. Kapitel.

Hinter Kommissar Hoffmann lag eine unruhige Nacht. Er hatte allerhand böse Träume gehabt, bald verfolgte er in wilder Jagd Dekker, bald wieder befand er sich auf der Flucht vor ihm, einmal kämpfte er mit ihm, und ein anderes Mal stand er diesen kalten Augen gegenüber und konnte sich nicht fortrühren. Er wollte rufen und konnte nicht. Immer wieder sah er das höhnische Lachen und mußte in dieses grinsende Gesicht stieren. Dann erwachte er.

Er rieb sich die Augen und sprang auf. Eine unerklärliche Unruhe erfaßte ihn und mit größter Geschwindigkeit trieb es ihn an, sich anzukleiden und davonzueilen, um nachzusehen, ob Lehnert auf seinem Posten stand und Dekker überhaupt noch da war.

Es war ein kühler, etwas trüber Morgen. Der Nebel legte graue, blasse Schleier um die Häuser als Hoffmann seinem Ziel in der Kantstraße nahe kam, um sich von der Grundlosigkeit seiner Befürchtungen zu überzeugen.

Der Geheimpolizist Lehnert stand beobachtend auf seinem Platz, ging auch mal auf und ab, dabei das Haus, in dem Dekker wohnte, ständig im Auge behaltend.

Als er dicht vor ihm stand fragte er:

„Etwas Neues, Lehnert?“

Der Bericht des Geheimpolizisten war sehr kurz, da absolut nichts Bemerkenswertes geschehen war. Und jetzt – Lehnert zeigte nach dem Fenster Dekkers – schien er noch zu schlafen. Die Jalousie des Fensters war heruntergelassen.

Die heutige Überwachung Dekkers wollte Hoffmann selbst übernehmen. Er hatte das bestimmte Vorgefühl, daß der heutige Tag etwas interessantes werden würde.

Hoffmann mußte ziemlich lange vergeblich auf und ab gehen. Die Jalousie zwei Etagen hoch, die er immer wieder unauffällig betrachtete, blieb hartnäckig unten – der Bewohner des Zimmers lag diesmal besonders lange im Bett. Hoffmann begann schon zu fürchten, daß Dekker ihnen ein Schnippchen geschlagen hatte und trotz der Aufsicht Lehnerts vom Schauplatz unbeobachtet und damit ungehindert verschwunden war.

„Na, Gott sei Dank,“ entrang es sich leise Hoffmanns Lippen als gegen halb elf Uhr das Tor des so ängstlich beobachteten Hauses sich öffnete und die hohe Gestalt Dekkers heraustrat. Er sah sich einige Mal um und schien in die Richtung nach dem Bahnhof ‚Zoologischer Garten‘ gehen zu wollen. Hoffmann, der auf der anderen Seite der Straße und zirka fünfzig bis fünfundsiebzig Schritte weit hinter Dekker sich befand, schlug langsam schlendernd, den Rockkragen hochgeschlagen und die beiden Hände in den Taschen seines Mantels vergraben, dieselbe Richtung ein. So gingen sie vielleicht hundert Meter, dann drehte sich Dekker plötzlich um, kam zurück, über die Straße hinweg auf Hoffmann zu, der natürlich ruhig die eingeschlagenen Richtung beibehielt. Dekker schritt ganz dicht an ihm vorüber und Hoffmann dünkte es, als hätte ihn Dekker spöttisch angesehen. Aber er wußte es selbst nicht genau.

Als er sich umdrehte, um nachzusehen, wohin Dekker ging, sah er diesen auf einen Droschkenhalteplatz zueilen und in einen Kraftwagen springen. Hoffmann rief eine zufällig vorüberfahren leere Droschke an und befahl dem Kutscher, der von Dekker benutzten zu folgen.

Es ging im langsamen Trott nach dem Tiergarten, wo sich der Verfolgte gemütlich spazieren fahren ließ. Endlich ließ er den Wagen vor einem der Eingänge des Zoologischen Gartens halten, bezahlte, löste sich ein Billett und ging hinein. Hoffmann tat dasselbe.

Hoffmann hielt sich jetzt in gehöriger Entfernung. Es war größte Vorsicht geboten. Er war sich nicht sicher, ob Dekker bemerkt hatte, daß er ihn verfolgte. Fast schien es so. Die Szene vorhin hatte Hoffmann unruhig gemacht und er hütete sich wohl, auch nur durch die geringste Auffälligkeit Dekkers Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

Durch einen der anderen Ausgänge verließ dieser ruhig, wie er gekommen war, den Garten und fuhr in die innere Stadt, wo er in einigen Geschäften kleinere Einkäufe besorgte. Überall hin folgte ihm Hoffmann.

An einem Halteplatz der Automobildroschken stieg Dekker in einen dieser Wagen. Hoffmann konnte natürlich nicht so nahe herankommen, um hören zu können, was Dekker sprach und jetzt hätte er ihn sogar sehr leicht gänzlich aus den Augen verlieren können, denn Dekker stieg schnell ein, und das Automobil setzte sich auch schon in Bewegung. Bis Hoffmann den Halteplatz erreicht und einen Wagen bestieg hätte, um die Verfolgung aufzunehmen, konnte, ja mußte Dekkers Wagen sich schon seinen Blicken entzogen haben und in dem Gewirr und dichten Gedränge der Droschken, Omnibusse und Automobile in der lebhaft bewegten Friedrichstraße verschwunden sein.

Glücklicherweise erhaschte der Kommissar ein vorüberfahrendes, Benzin duftendes Vehikel, in das er schnell hineinsprang und dem Wagenführer Auftrag gab, sich hinter dem Automobil J.A. 780 zu halten und es ja nicht zu verlieren. Das verfolgte Automobil fuhr ziemlich rasch. Geschickt lenkte es zwischen den zahlreichen Hindernissen der Friedrichstraße hindurch und bog dann in die ebenso belebte Leipziger Straße ein. An der Kreuzung dieser beiden Straßen, wo sich so leicht der Verkehr staut, wurden die beiden Wagen etwas getrennt, derjenige Dekkers bekam einen kleinen Vorsprung, der aber nicht groß genug war, um ihn den scharf ausschauenden Augen Hoffmanns zu entziehen. Mit großer Geschicklichkeit lavierten beide zwischen all den elektrischen Bahnen, hastenden Menschen, allen möglichen Fuhrwerken, die die Straße überfluteten hindurch. Dekkers Chauffeur schien sehr gewandt zu sein, er fuhr mit überraschender Geschwindigkeit auf den Potsdamer Platz. Hoffmann immer hinterdrein. Wieder wurden sie getrennt. Und wieder vergrößerte sich um ein weniges der Abstand. Da – für einen Augenblick verschwand das verfolgte Automobil, tauchte im Chaos unter. Hoffmann beugte sich weit vor – Dort – dort – er hatte es glücklich wieder entdeckt und gab dem Lenker einen Wink. Sie hatten den Potsdamer Platz erreicht. Ein unübersehbares Gedränge herrschte hier. Das Gefährt Dekkers wurde wieder von einem Dutzend anderer umringt und war für einen Augenblick wie verschlungen. Dann löste es sich wieder aus dem Knäuel und fuhr schnell in die Bellevuestraße hinein. Hoffmann bemerkte das Schild J.A. 780, einen Wink und sein Wagen flog hinterdrein. Plötzlich drehte sich der Chauffeur der verfolgten Taxameterdroschke um, sah in seinen Wagen hinein, bremste dann zu langsamer Fahrt ab. Im Nu hatte ihn Hoffmann erreicht und war auch schon mit ihm in gleicher Front. Ein höhnisches Lächeln spielte um den Mund des Kommissars, aber es verschwand sofort. Das Automobil, das Dekker benutzt hatte, war leer.

Hoffmann faßte sich an den Kopf. Auch sein Chauffeur drehte sich um und sah ihn verständnislos an.

Hoffmann rief den anderen Wagenlenker an, der sich umwandte.

„Fuhren Sie nicht eben einen Herrn mit schwarzem Bart, steifem, schwarzem Zylinder und dunklem, langen Mantel?“

Der Gefragte blickte ihn mißtrauisch an.

„Ja,“antwortete er zögernd.

„Wir verfolgen den Herrn,“ fuhr Hoffmann fort und zeigte seine Erkennungsmarke vor, die ihn als Beamten der Kriminalpolizei legitimierte.

„Sagen Sie, wo ist der Herr ausgestiegen.“

„Das weiß ich nicht.“

„Mann, das müssen Sie doch wissen,“ stieß Hoffmann aufgeregt hervor, „Halten Sie mich nicht unnötig auf. Wo ist der Herr ausgestiegen?“

„Ich weiß es wirklich nicht, Herr Kriminalkommissar,“ antwortete jetzt der Chauffeur so treuherzig, daß Hoffmann anfing, ihm Glauben zu schenken, „er muß auf dem Potsdamer Platz schon hinausgesprungen sein, ich habe mich selber gewundert, wie ich mich umgedreht habe und niemand mehr im Wagen sah.“

„Wohin hatte Ihnen der Herr zu fahren befohlen?“

„Als er in der Friedrichstraße einstieg, gab er mir ein Zehnmarkstück und befahl mir, so schnell als möglich nach dem Potsdamer Platz zu fahren. Sollte es mehr ausmachen, würd er’s noch bezahlen, meinte er. Am Potsdamer Platz zeigte er auf ein Automobil vor uns und sagte, ich solle ganz fix hinterdrein sein, deshalb bog ich ja nach der Bellevue Straße ein. Als ich’s denn erreicht hatte und mich umdrehte, war niemand mehr da und ich habe gleich gebremst.“

Es schien durchaus glaubwürdig zu sein, was der Chauffeur sagte. Er hatte ja auch absolut keinen Grund, zu lügen.

Was war zu machen? Hoffmann überlegte einen Augenblick. Er telephonierte ans Polizeipräsidium und beorderte Lehnert sofort an den Potsdamer Bahnhof.

Sodann fuhr er selbst dorthin; er hoffte, Dekker vielleicht da finden zu können. Nach einigen Minuten war auch Lehnert zur Stelle, den er nach kurzer Besprechung zum Anhalter Bahnhof schickte, um dort Recherchen anzustellen.

Beide Bahnhöfe wurden eingehend in allen Winkeln abgesucht – vergeblich. Dekker war und blieb spurlos verschwunden. Die Bahnpolizei wurde genau instruiert und mit Photographien Dekkers, die Lehnert und Hoffmann aufgenommen hatten, versehen.

„Wissen Sie, Lehnert,“ sagte Hoffmann zu diesem, mit dem er, nachdem sie dies alles erledigt hatten, wieder zusammentraf, „der Dekker ist ja zu allem im Stande, vielleicht geht er am Ende gar wieder seelenruhig nach Haus. Seine Sachen müssen ja noch dort sein, er wollte ja erst morgen fahren. Eilen Sie also nach der Kantstraße, ich komme sehr bald nach.“

Sie trennten sich. Lehnert fuhr nach dem Westen, Hoffmann nach dem Zentrum der Stadt, zum Polizeipräsidium.

Als er dort in ziemlich aufgeregtem Zustand eintrat, harrte seiner bereits eine neue und nicht gerade angenehme Überraschung. Soeben war der Haftbefehl gegen Dekker erlassen worden.

Das setzte allem die Krone auf, daß ausgerechnet jetzt der Haftbefehl eintraf. Hoffmann hätte am liebsten alles um sich her in Stücke geschlagen, so kochte es in ihm vor Wut. Er wischte sich die heiße Stirn, auf der einige Schweißtropfen von der Eile und Aufregung perlten, und ließ sich erschöpft in einen Stuhl fallen.

Aber jetzt war nicht viel Zeit zum Überlegen und Reflektieren, jetzt hieß es, sich zusammennehmen. Es war eigentlich noch ein Glück, daß man sofort Dekkers Flucht entdeckt hatte, er konnte bei rechtzeitiger Verfolgung gar nicht weit kommen. Man durfte nur keine Minute verlieren. Auch der geringste Vorsprung kann zuweilen eine Flucht glücken lassen.

Der Telegraph trat wieder in seine Wirksamkeit, das Telephon surrte und summte, und bald war auf allen Fernbahnhöfen Berlins die Polizei benachrichtigt, des gleichen die Polizeiorgane der Grenz- und Hafenstädte. Dekkers Bild leistete jetzt gute Dienste und mußte die Festnahme des Flüchtlings wesentlich erleichtern.

Das alles wurde schnell und exakt erledigt. Und jetzt ging’s nach der Kantstraße, obgleich sich Hoffmann nicht allzuviel davon versprach.

Also hin zu Frau Schmidt! Hoffmann mußte schon im vornhinein lächeln, wenn er an das erstaunte Gesicht dachte, daß die rundliche Zimmervermieterin machen würde, wenn sie ihn erkannte.

Er klingelte, als er oben angekommen war und zog sein Gesicht in ernste Falten. Er hörte trippelnde kleine Schritte sich der Türe nähern, und gleich darauf ging die Tür auf.

„Kann ich Frau Schmidt sprechen?“ fragte er.

„Das bin ich selbst, womit kann ich dienen?“

Im Halbdunkel des Flurs erkannte sie ihn noch nicht. Er nannte seinen Namen und wies sich als Kriminalkommissar aus, worauf sie ihn etwas ängstlich bat, näherzutreten.

„Um Gottes willen, was bringen Sie?“ fragte sie erschrocken.

„Beruhigen Sie sich nur, Frau Schmidt, Sie sollen ja nicht eingesperrt werden,“ sagte Hoffmann, der beinahe Mitleid mit ihr hatte, „ich komme wegen Ihres Mieters, die Polizei sucht ihn.“

„Ach, du meine Güte,“ kreischte Frau Schmidt beinahe auf, „da hat man in seinem anständigen Haus einen Verbrecher, vielleicht gar einen Mörder zu wohnen gehabt.“

„Na, na, so schlimm ist’s nicht, liebe Frau,“ meinte Hoffmann lächelnd.

Dieses ‚liebe Frau‘ machte sie nun stutzig. So hatte schon jemand zu ihr gesagt, und die Witwe Schmidt bekam ziemlich starkes Herzklopfen, obwohl ihr der Arzt das verboten hatte. Sie sah Hoffmann jetzt genauer ins Gesicht und schien mit einem Manne eine gewisse Ähnlichkeit zwischen ihm und jemandem ihr bekanntes zu finden. Jetzt kam ihr auch die Stimme bekannt vor. Sie sah ihm forschend noch einmal in die Augen und wurde ganz verwirrt.

„Ach, verzeihen Sie,“ stotterte sie, „ich – – ich – – Sie – – – ent – entschuldigen Sie, aber –“

Hoffmann konnte sich kaum das Lachen verbeißen, wie sie ihn so unendlich komisch anblickte.

„Na ja,“ sagte er endlich gutmütig, „wir kennen uns ja bereits, Frau Schmidt. Bloß die Aufmachung ist eine andere.“

„Oh, Gott – meine Ahnung!“ stöhnte die dicke, kleine Frau auf.

„Wo ist denn Herr Dekker?“

Sie hielt die Augen noch immer niedergeschlagen, antwortete dann mit leiser Stimme:

„Er ist nicht mehr da, er ist heut früh fortgefahren.“

„Sagte er Ihnen, wohin er führe, vielleicht auch mit welchem Zug?“

„Nein, das sagte er alles nicht.“

„Und dann packte er seine Sachen – –?“

„Nein, die waren schon gepackt.“

„Aber, das ist doch sehr merkwürdig, wenn er nicht schon gestern oder früher die Absicht gehabt hat, heute zu reisen. Ist Ihnen denn das nicht gleich aufgefallen?“

Sie sah ihn hilflos an.

„Nein, denn ich dachte doch an nichts Schlimmes. Mir sagte er es jedenfalls erst heute morgen.“

„Also da hat er wohl bezahlt?“

Sie nickte.

„Und wo sind seine Sachen?“

„Er sagte, er müsse noch einige Gänge in der Stadt besorgen, könnte aber dann nicht mehr zurückkommen. Er wollte einen Dienstmann schicken, der seine Sachen abholen und nach dem Bahnhof bringen sollte.“

„Kam der Dienstmann?“

„Ja, um zwölf Uhr.“

„Haben sie ihn vielleicht gefragt, zu welchem Bahnhof er das Gepäck bringen sollte?“

„Ja, aber er antwortete, er solle es nicht sagen.“

„Ist Ihnen denn das auch noch nicht aufgefallen?“

„Das schon, aber ich glaubte eben, dem Herrn hätte es nicht mehr bei mir gefallen, und er wäre anderswohin gezogen.“

„Haben Sie sich die Nummer des Dienstmannes gemerkt. Wohl nicht?“

Die Witwe Schmidt schüttelte verneinend den Kopf.

Hoffmann stand einen Augenblick noch überlegend da und sann nach, wie man Dekkers wieder habhaft werden könnte. Es wollte ihm aber absolut nichts Besonderes einfallen. Er mußte nun schon wohl oder übel erfolglos abziehen, und er war ziemlich niedergedrückt, als er die Treppen wieder hinabstieg. – So etwas hätte ihm eigentlich nicht passieren dürfen, sagte er sich. Und wütend murrte er:

„Jetzt sind wir mit Teufels Hilfe alle los. Jetzt wissen wir weder wo Dekker, noch wo Heubner und das verd… Weibsbild ist.“

 

7. Kapitel.

Natürlich – kaum war Dekker spurlos verschwunden, als sich auch das Belastungsmaterial gegen ihn wieder häufte. Hoffmann war zwar auch so der unerschütterlichen Meinung, daß der Leiter des ganzen Diebstahls Dekker sei, während Heubner nur ein Werkzeug in seiner Hand war, aber andererseits hatte Hoffmann das Bewußtsein, daß Dekker sich, im Falle er ergriffen würde, sehr geschickt zu verteidigen verstünde – man konnte also gar nicht genug Beweismaterial in den Händen haben, und es war ihm daher jede Neuigkeit dieser Richtung willkommen.

Eine solche Neuigkeit war die Nachricht seiner Agenten in Amsterdam, die ihm mitteilten, daß Dekker in Amsterdam zwei Wohnungen besäße. Sie hatten das, wie sie versicherten, aus völlig glaubwürdiger Quelle durch einen Zufall erfahren, nur wäre es ihnen bis dahin nicht möglich gewesen, die Adresse dieser zweiten Wohnung zu ermitteln.

Hoffmann gab sofort telegraphische Order, alles aufzubieten um dieses zweite Quartier Dekkers zu ermitteln.

Eine andere Nachricht aus Amsterdam war den Plänen des Kommissars weniger günstig. Die Bilder Dekkers und Heubners, die er der Konfektionsfirma, aus deren Geschäft das an der Bahnstrecke bei Spandau gefundene Kleid stammte, eingesandt hatte, kamen zurück. Die Verkäuferin, von der das Kleid seinerzeit, wie sie angab, von einem einzelnen Herren gekauft worden war, sollte angeben, ob sie in keiner der auf dem Photographien wiedergegebenen Personen den Käufer erkenne.

Der eine – mit dem Dekker gemeint war –, so lautete die Antwort, sei sicher nicht mit dem Gesuchten identisch, da er der Dame persönlich bekannt sei und diese genau wisse, daß Dekker nichts bei ihr erstanden habe. Auch von dem Bild Heubners glaubte sie jedoch mit Sicherheit behaupten zu können, daß es keine Ähnlichkeit mit dem Herrn besitze, der das Kleid erworben habe. Den betreffenden zu beschreiben, so schloß das Schreiben, sei zwar der Verkäuferin unmöglich, doch sei sie fest überzeugt, ihn mit Leichtigkeit wiederzuerkennen, wenn sie ihm begegnen oder sein Bild hier vorgelegt würde.

Hoffmann stand fast ratlos da. Als er diese Angelegenheit übertragen bekommen hatte, war er verdrießlich gewesen. Der Fall war ihm nicht interessant genug. Und jetzt? – – – – – – – –

Tage vergingen, ohne daß sich der Stand der Dinge geändert hätte.

Da aber ereignete sich ein Zwischenfall, der den ganzen Prozeß in ein neues Stadium brachte. – – – – – – – – –

Es kam nämlich eine Depesche aus Amsterdam von der Firma Blijdenstein & Co., der Diamantenschleiferei, in der Heubner und Stahl angestellt waren. Man telegraphierte folgendes interessante:

Soeben folgendes Telegramm erhalten: Heubner schwer krank in N., Post … bei Dr. Wohlenberg.

Blijdenstein & Co.

Diese Drahtnachricht wurde natürlich sofort Hoffmann übermittelt, der erregt von ihrem Inhalt Kenntnis nahm. Was bedeutete das?

Die Staatsanwaltschaft, der natürlich diese neue Wendung sofort mitgeteilt worden war, gab Hoffmann den Auftrag, nach N. zu fahren und Heubner zu vernehmen.

Hoffmann brannte darauf, das angefangene Werk zu Ende zu bringen. Schnell hatte er die anliegenden Arbeiten abgeschlossen, die erforderlichen Befehle gegeben und alles zur Abreise vorbereitet. Der gefundene Hut, der Damenrock und der erbrochene Tresor wurden eingepackt, desgleichen die von ihm und Lehnert gemachten photographischen Aufnahmen Dekkers – man konnte diese Dinge eventuell gebrauchen.

*

Der Zug fuhr gegen Morgengrauen in Hannover ein. Hier mußte Hoffmann umsteigen. Der von ihm bis jetzt benutzte Schnellzug hielt nicht in … und er mußte deshalb den Personenzug von hier ab benutzen. Aber bald war auch dieser Teil der Reise überstanden.

Es war ein herrlicher Tag, echtes, rechtes Frühlingswetter mit warmem Sonnenschein, lauen Winden und erquickenden Düften. Als er die letzte Bahnstation erreicht hatte, stieg er in einen Wagen, der ein unbeschreibliches Zwischending zwischen einem Landauer und einem Erntewagen war. Durch den knospenden, grünenden Wald ging es Richtung N. Der Weg war schlecht, der Wagen elend gefedert, und die beiden alten Gäule stolperten nur bedächtig vorwärts, so daß man jeden Ruck und Stoß bis auf die Neige gründlichst auskosten mußte.

So war Hoffmann froh, als sie endlich vor einem freundlichen Landhaus hielten, das, von einem Garten umgeben, eigentlich im Walde lag. Nur nach der einen Seite sah man freies Land und darauf zerstreut und unregelmäßig die bescheidenen Häuschen von N. Die Villa Dr. Wohlenbergs lag allein, und zum nächsten Haus brauchte man wohl gut zehn Minuten.

Hoffmann stieg ab und entlohnte den Kutscher. Auf sein Klingeln öffnete der Diener, der Hoffmann, nachdem dieser ihm seine Karte gegeben, zum Hausherren melden ging.

Hoffmann hatte seine Ankunft von Berlin aus bereits angezeigt, so daß Dr. Wohlenberg ihn eigentlich erwartete. So mußte der Kommissar nicht lange in dem Zimmer, in das er von dem Diener geführt worden war, warten. Schon nach einigen Sekunden trat durch eine andere Tür ein hoher, stämmiger Herr, dem man auf den ersten Blick ansah, daß er der Herr des Hauses sei. Hoffmann sprang auf und sagte mit leichter Verbeugung:

„Kriminalkommissar Hoffmann aus Berlin.“

„Sehr erfreut. Wohlenberg. Womit kann ich Ihnen dienen?“

„Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich in den Frieden Ihres Heims eindringe, Herr Doktor,“ erwiderte Hoffmann, „aber die Pflicht zwingt mich dazu. Dürfte ich Sie um einige Augenblicke Gehör bitten?“

Dr. Wohlenberg nötigte ihn, in sein Arbeitszimmer einzutreten.

Die beiden Männer setzten sich einander gegenüber; der Arzt in den weiten Schreibtischstuhl, Hoffmann in einen bequemen Lutherstuhl mit hoher Rückenlehne. Eine Zigarre, die Dr. Wohlenberg ihm anbot, nahm er dankend an. Er betrachtete sein Gegenüber forschend. Es war eine breitschultrige, wohlgebaute Erscheinung, straff und energisch in jeder Bewegung; der Kopf scharfgeschnitten, mit einer kräftigen, gebogene Nase, die Augen klar und kühn.

„Ich komme wegen des Herrn Heubner, der sich ja bei Ihnen befindet, Herr Doktor,“ sagte endlich Hoffmann nach einigen Sekunden des Schweigens, während dem sie die Zigarren entzündeten. Dr. Wohlenberg nickte.

„Herr Heubner ist nämlich,“ fuhr Hoffmann vor, „schwer verdächtig, einen Diebstahl unter sehr raffiniert ersonnenen Umständen ausgeführt zu haben, und ich bin beauftragt, hierüber zu recherchieren.“

Mit finsterer Miene und fest geschlossenem Mund hörte er, ohne ihn zu unterbrechen, die Erzählung Hoffmanns an, der ihm den Bericht des Diebstahles gab und die besonderen Umstände hervorhob, die Heubner belasteten.

„Und nun,“ endete Hoffmann, „möchte ich Sie bitten, mir möglichst genau das Datum anzugeben, seitdem Heubner sich bei Ihnen befindet, unter welchen Umständen er zu Ihnen kam und unter welchem Vorwand.“

Eine kurze Weile erwiderte Dr. Wohlenberg gar nichts. Er sah nur still vor sich hin und dachte nach – die Erzählung Hoffmanns schien ihn eigenartig berührt zu haben. Der Kommissar glaubte sogar zu sehen, schmerzlich, so zuckte es einmal über das wettergebäunte Gesicht ihm gegenüber.

Noch immer schweigend griff der Arzt nach einem der Bücher, die auf dem Tisch lagen. Es schien sein Patientenbuch zu sein. Eine Weile suchte er darin.

„Heubner ist seit dem … März bei mir,“ sagte er.

„Das ist also ein Tag nach dem Diebstahl,“ meinte Hoffmann, „und unter welchem Vorwand kam er in Ihr Haus?“

„Unter einem ziemlich triftigen. Er wurde von Bauern im bewußtlosen Zustand mit schweren Verletzungen zu mir gebracht.“

„War er überfallen worden?“

„Das schien mir nicht. Die äußeren Verletzungen, es schienen nur Abschürfungen zu sein, waren nicht so schlimm wie die inneren.“

„Und darf ich fragen, warum Ihr Telegramm erst so spät an Blijdenstein & Co. in Amsterdam abgesandt wurde?“

„Gewiß – Heubner war wochenlang bewußtlos und vernehmungsunfähig. Er konnte kein Wort sprechen, ich telegraphierte sofort, als er mir Auskunft geben konnte.“

„Ich verstehe, Herr Doktor, aber Sie hätten doch die Polizei benachrichtigen können, das wäre sogar Ihre Pflicht gewesen.“

„Darum habe ich mich nicht gekümmert, da ein Verbrechen mir nicht vorzuliegen schien und war froh, daß der arme Kerl gerettet werden konnte. – Übrigens können Sie mich ja in Strafe nehmen, Herr Kommissar,“ sagte er sarkastisch und trocken.

Hoffmann schien das letzte zu überhören oder er tat wenigstens so.

„Und ist Heubner vernehmungsfähig?“

„Das schon, obwohl ich ihm Aufregungen noch gerne ersparen möchte.“

Hoffmann zuckte mit den Achseln.

„Ich halte ihn nämlich für unschuldig.“

Das klang seltsam, halb fest und halb – wie um sich selbst etwas einzureden. Hoffmann konnte nichts darauf erwidern, denn in diesem Augenblick öffnete sich die Tür und ein Mädchenkopf zeigte sich in der Spalte.

„Komm nur herein, Else,“ sagte der Doktor. Er stellte das junge Mädchen Hoffmann vor.

„Meine Tochter Else – Herr Hoffmann aus Berlin.“

Der verneigte sich vor ihr, und sie begrüßte ihn mit einem entzückenden Lächeln. Sie war schlank und zierlich gebaut, gar kein Ebenbild des Vaters. Sie mochte wohl mehr der Mutter ähneln, und vielleicht war es deshalb, daß der Blick ihres Vaters mit so unendlicher Liebe auf ihr ruhte. Aus der Art, wie sich Vater und Tochter einander gegenüber stellten und behandelten, glaubte Hoffmann entnehmen zu können, daß Dr. Wohlenberg Witwer und seine Tochter das einzige weibliche Wesen hier im Hause sei. Er täuschte sich nicht.

„Nun, wie geht’s deinem Patienten?“ fragte der Hausherr und strich über den schimmernden blonden Kopf seines Kindes. Es lag etwas wie Bedauern in seiner Stimme.

„Er schläft.“

Sie huschte wieder hinaus.

„Vielleicht, daß sie erst die Bauern vernehmen, Herr Kommissar, oder liegt Ihnen besonders an einer anderen Reihenfolge?“

„Nein, durchaus nicht.“

„Ich nehme dann ohne weiteres an, daß Sie so lange unser Gast sind und bei uns übernachten, es gibt hier ohnedies kein anständiges Hotel.“

Diese Einladung, so einfach sie war, klang so aufrichtig, daß Hoffmann spürte, er könne sie ruhig annehmen. –

Eine kurze Weile später saßen sie nebeneinander auf dem leichten, zweisitzigen Jagdwagen, der von kräftigen jungen Pferden gezogen wurde. Der Besitzer lenkte selbst, und im scharfen Trab ging es nach der Richtung von N.

„Hat sich nichts in den Kleidern Heubners gefunden, Herr Doktor? Vielleicht Papiere, Sie haben doch sicher versucht, seine Identitäten festzustellen.“

„Ich habe seine Taschen nicht durchstöbert. Die Kleider hängen unberührt im Schrank seines Zimmer.“

Sie erreichten die ersten Häuser von N. und fuhren die mit Linden besetzte Hauptstraße entlang, wo der Doktor gut bekannt zu sein schien, denn die Leute, die ihnen begegneten, grüßten ihn tief und beinahe ehrfurchtsvoll.

„Einen der Bauern, die Heubner brachten, kenne ich. Dorthin fahren wir zuerst. Es waren im ganzen drei Männer.“

Sie bogen in einen kleinen Seitenweg ein und hielten dann vor einem einfachen Häuschen. Die Bäuerin kam herausgelaufen, sie hatte den Wagen durch das Fenster gesehen und begrüßte den Arzt. Glücklicherweise war auch der Bauer zuhause, und die Frau holte ihn diensteifrig heraus.

„’n Tag, Karsten. Sie haben doch seinerzeit mit noch zweien den Herrn gefunden, der krank bei mir liegt.“

Der Bauer bejahte.

„Wer sind die beiden anderen? Und dann müssen Sie uns auch noch möglichst genau die Stelle zeigen, wo Sie ihn gefunden haben.“

„Das waren der Neipert und der Roßbauer.“

„Könnten Sie uns zu den beiden jetzt hinführen, Karsten?“

Der Wagen kehrte um, und der Bauer trottete gemächlich neben den langsam schreitenden Pferden her. Er war wohl an die Schweigsamkeit des Arztes gewöhnt, denn er versuchte kein Wort zu reden. Sie fanden auch die beiden anderen zuhause, und Hoffmann nahm sich jeden einzelnen vor. Er fragte sie, wie sie Heubner gefunden hatten, ob er sprach, wo es war und um wieviel Uhr ungefähr. Sie erinnerten sich alle ziemlich deutlich und gaben, von kleinen Abweichungen abgesehen, übereinstimmende Auskünfte.

Danach hatten die drei in der nächsten Stadt Einkäufe besorgt gehabt und kamen, da sie die Nacht über zurückfuhren, um fünf Uhr morgens in die Nähe von N. Dort fanden sie Heubner dicht an der Landstraße bewußtlos liegen. Sie konnten sich alle an die Stelle erinnern, denn es war an einer kleinen Brücke gewesen, die über einen die Landstraße durchschneidenden Bach führte. Sie hielten Heubner für tot, aber auf Anraten Karstens hatten sie den Körper auf den Wagen gepackt und zu Dr. Wohlenberg gefahren, der dann feststellte, daß der Mann nur bewußtlos war und ihn bei sich aufnahm. Weiter hatten sie sich dann nicht um ihn gekümmert.

Es war schon zu dunkel, als Hoffmann das Verhör der drei Bauern beendete, so daß es unmöglich oder wenigstens zwecklos gewesen wäre, die Örtlichkeit gleich zu besichtigen. Die Bauern erboten sich alle drei, Hoffmann und den Doktor anderen Tags an die betreffende Stelle zu führen.

Hoffmann war das ganz angenehm, denn er hielt es an und für sich zweckmäßiger, vorher Heubner noch zu vernehmen. So kehrten sie denn nach der Villa zurück.

*

Gleich nachdem Wohlenberg mit dem Kommissar abgefahren war, schlich Else leise auf Zehenspitzen in das Zimmer des Kranken. Aber trotz ihres unhörbaren Huschens und obwohl sie fast lautlos die Tür öffnete und wieder schloß, um den Patienten nicht zu wecken, hörte er sie doch und schlug die Augen auf.

„Else!“ kam es mit schwacher Stimme von seinem Bett.

„Ja!“

Sie kam wie ein Sonnenstrahl in ihrem lichten Kleid mit dem Kranz goldener Haare auf dem zierlichen Kopf, trat zu ihm heran und setzte sich vorsichtig auf den Bettrand. Er sah sie lange an, und seine schmale, durchsichtige Krankenhand legte sich auf die ihre.

„Du,“ sagte er zärtlich und drückte schwach ihre Hand.

„Fühlst du dich wohl?“ fragte sie, und an ihrer Stimme hörte man, daß dieses ‚Du‘ ihr etwas Ungewohntes war, etwas, das sie gleichzeitig ängstlich machte und mit Freude erfüllte.

Er sah ihr lächelnd ins Gesicht, und sie erwiderte seinen Blick. „Wenn du bei mir bist, habe ich keine Schmerzen, weil ich nicht an sie denken kann, wenn ich dein Gesicht sehe und deine Hände spüre.“

„Nun wirst du bald wieder ganz gesund werden, wirst eines Tages aufstehen – an einem wunderschönen, sonnigen Tag. Das muß doch ein wunderschöner Tag sein, an dem du gesund wirst, nicht wahr? Und dann nimmst du in eine Hand den Stock, den von Papa, den großen, dicken, da kann sich eine ganze Familie darauf stützen, Vater, Mutter, elf Kinder und ein Säugling, ja, ja, es ist wahr,“ beteuerte sie, „und den anderen Arm nehme ich, ich bin nämlich furchtbar stark, ich werde nur so schnell müde, und dann gehen wir hinaus in den Garten spazieren. Der ist viel größer, wie du von hier sehen kannst und da draußen, siehst du den großen Kirschbaum? Da klettere ich immer hinauf, aber Papa sagt, er müßte immer dabei sein, damit ärztliche Hilfe in der Nähe wäre – – – ja, was lachst du denn eigentlich?“

Er hatte bei ihrem lustigen Geplauder schmunzeln müssen, und er hörte so gierig auf jedes ihrer Worte, als ob es ihn erquickte und ihn schneller gesund machte.

„Nichts, nichts, mein Liebes, ich höre nur mein Vögerl zwitschern und freue mich über das, was es mir in’s Ohr singt.“

Er sah ihr lächelnd ins Gesicht, und sie erwiderte seinen Blick mit ihren großen lieben Augen. Dann beugte sie sich plötzlich über ihn, und er fühlte ihren bebenden Körper ganz nah bei sich; ihre heißen Lippen brannten den Bruchteil eines Augenblicks auf den seinen, dann warf sie den Kopf auf einmal wieder zurück und blickte zum Fenster hinaus.

„Und dein Vater?“ fragte er.

Sie wandte den Kopf wieder zu ihm. Ja, der Vater! Der Vater, der sie so unermeßlich über alles liebte! Sollte sie den hierlassen, um ‚ihm’ zu folgen. Sie konnte ihm keine Antwort geben, sondern starrte ihn nur erschrocken an. „Ja, der Vater!“

„Es ist schlecht von mir, daß ich dich liebe,“ sagte er. Und ich habe böse Ahnungen, so böse Ahnungen – ich weiß gar nicht wie und was. Es rächt sich alles – –“

„So etwas mußt du gar nicht sagen, so was darfst du nicht einmal denken – das ist Unrecht. Was soll sich denn an uns rächen, wir tun doch gar nichts Böses. So, und nun mußt du wieder ganz ruhig sein, ja?“ Sie küßte ihn auf die Stirn und streichelte ihn, „hörst du?“

Draußen fuhr ein Wagen vor, der Arzt und Hoffmann kamen zurück. Else huschte zum Zimmer hinaus und eilte ihrem Vater entgegen, begrüßte ihn mit einem Kuß.

„Nun, mein Sonnenschein? Was hast du gemacht? Hast du dich gelangweilt?“

„Ich langweile mich doch nicht, Papa.“

„Und wie geht es unserem Patienten?“

„Ach, dem geht es ganz gut – – Ja, aber warum guckst du mich denn so an Papa – – so – – so traurig – –“

„Ich? Keine Spur, mein kleines Mädel, das bildest du dir nur ein. Wie steht es denn mit dem Abendessen? Wir bringen einen gesunden Hunger mit.“

Sie gingen alle drei plaudernd ins Speisezimmer, wo schon der Tisch gedeckt war.

„Sag mal, Else,“ fragte Wohlenberg seine Tochter, „kann der Herr heute noch den Heubner sprechen? Er ist nämlich eigentlich zu ihm gekommen.“

„Ich weiß nicht, Papa, vielleicht schläft er. Es ist ja schon spät, um diese Zeit pflegt er doch schon müde zu sein,“ antwortete sie.

„Nun, Herr Hoffmann,“ sagte der Hausherr, „dann hat es ja auch bis morgen früh Zeit, meinen Sie nicht? Sie sind ja ohnedies auch selbst abgespannt.“

Er sagte absichtlich nicht ‚Herr Kommissar’, um nicht den Argwohn seiner Tochter zu wecken. Sie hatte ja wohl in seinen Augen etwas gelesen, was wohl in ihm drinnen war, was er aber noch sorgfältig zu verbergen gedachte. Doch sie fühlte alles, jede Regung, die in anderen vorging, übte auf sie ihre Wirkung aus. So kam es, daß sie beim Abendbrot, daß sie jetzt gemeinsam einnahmen, nicht so lustig war, wie sie sonst zu sein pflegte. Sie lachte und plauderte wenig und sah öfter seltsam zu ihrem Vater hinüber. Er schien ihr heute so anders, gesprächiger als sonst. So als ob er dahinter etwas verbergen wollte. Irgendetwas, das sie nicht erfahren sollte.

 

8. Kapitel.

„Wie haben Sie geschlafen, gnädiges Fräulein?“ fragte Hoffmann anderen Tags, als er morgens im Eßzimmer erschien, wo sich Else am Tisch zu schaffen machte.

„Ich danke, gut. Hoffentlich Sie auch, Herr Hoffmann,“ sagte sie, aber ihre Stimme klang müde, und ihren Augen sah man an, daß sie eine schlaflose Nacht hinter sich hatte.

Nach wenigen Minuten erschien der Hausherr, der schon von einem Morgenritt zurückkehrte. Er begrüßte den Kommissar, und man setzte sich zu Tisch. Das Frühstück wurde ziemlich schweigend eingenommen, es hatte wohl keiner viel Lust, zu sprechen. Als sie fertig waren, schickte Wohlenberg seine Tochter mit einem Auftrag hinaus.

„Ich werde Sie jetzt zu Heubner führen, Herr Kommissar,“ sagte er, nachdem sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, „und bitte Sie nur, da doch die Schuld Heubners noch nicht mit unbedingter Sicherheit erwiesen ist, eine gewisse Schonung walten zu lassen und auf den Gesundheitszustand des Patienten Rücksicht zu nehmen. Nicht wahr, ich kann darauf rechnen?“

Hoffmann blickte erstaunt auf.

„Er scheint Ihnen sehr lieb geworden zu sein, Herr Doktor. Ich werde natürlich auf Ihren Wunsch – soweit dies in einem derartigen Fall überhaupt möglich ist – Rücksicht nehmen.“

Dr. Wohlenberg erhob sich und ging nach Heubners Zimmer. Hoffmann folgte ihm dorthin.

„Guten Morgen, Herr Heubner,“ begrüßte der Arzt den Darniederliegenden und ergriff die ihm dargebotene Rechte. „Nun, wie fühlen Sie sich?“

Er untersuchte schnell den Kranken und nickte befriedigt mit dem Kopf.

„Es geht alles gut. Besser als ich dachte. So, und jetzt laß ich Sie hier mit einem Herrn allein, der Sie zu sprechen wünscht. Bitte, Herr Hoffmann.“

Er ging langsam hinaus und drehte sich in der Tür noch einmal um, als ob es ihm schwer falle, das Zimmer zu verlassen. Hoffmann trat näher an den Kranken heran. Heubner blickte ihn erstaunt an.

„Herr Heubner, ich habe Sie in einer außerordentlich wichtigen Angelegenheit zu sprechen, die Sie wahrscheinlich schon erraten haben –“

„Ich wüßte wirklich nicht. Möchten Sie übrigens platznehmen?“

„Danke. Ich muß Sie also dann aufklären. Ich bin Kriminalkommissar und komme in Sachen des Diamantentransports, der seinerzeit Ihnen und Ihrem Kollegen übertragen worden ist.“

„Ja, das ist richtig. Ich habe ihn leider nicht zu Ende führen können, da ich daran gehindert worden bin.“

Er zeigte auf das Bett.

„Aber zuletzt,“ fuhr er fort, „genügte doch Stahl auch, um den Diamanten zu überbringen. Wie kommt es übrigens, Herr Kommissar, daß ich erst jetzt gesucht und gefunden werde?“

„Oh, wir haben sie schon gesucht, Herr Heubner,“ antwortete der sarkastisch, „wir konnten sie nur nicht finden.“

„Aber um Gottes willen, was ist denn geschehen, Sie sprechen so merkwürdig – was ist mit Stahl – mit dem Diamanten?“

„Sie wissen also gar nicht, Herr Heubner, daß der Diamant auf der Reise verschwunden ist und zwar – – zur gleichen Zeit mit Ihnen?“

„Verschwunden – mit mir?“ Heubners Gesicht wurde aschfahl. „Wollen Sie damit gesagt haben, daß ich – – daß ich den Diamanten – –“

„Es scheint so,“ sagte Hoffmann trocken; „Bitte, Sie sehen, worum es sich handelt, erschweren Sie mir nicht die Feststellung des Tatbestandes.“

„Ich weiß aber doch gar nicht – –“ stammelte Heubner, aufs tiefste erregt.

„Vielleicht erinnern Sie sich doch noch an einiges. Also bitte, vor allen Dingen, wie kommen Sie hierher? Sie sollten nach Berlin fahren, scheinen aber etwas zu früh ausgestiegen zu sein!“

Heubner erkannte auf einmal, wie schwer der Verdacht auf ihm lasten mußte; es wurde ihm nicht direkt verstandsmäßig bewußt, aber er fühlte es, und da er wußte, was für ihn auf dem Spiel stand, nahm er alle Energie gewaltsam zusammen.

„Wieso ich hergekommen bin? Das weiß ich nicht, ich war bewußtlos.“

„Das stimmt. Aber wie kamen Sie überhaupt in diese Gegend?“

„Dann muß ich Ihnen unsere Reise erzählen. Wir stiegen, Stahl und ich, abends in Amsterdam in den D–Zug und mit uns eine uns fremde Dame.“

„Eine fremde Dame sagen Sie?“

„Ja, wenigstens mir war sie fremd, und Stahl schien sie auch nicht zu kennen. Während der Fahrt kamen wir ins Gespräch miteinander, wir sprachen von Berlin und allen möglichen gleichgültigen Dingen. Ich bekam dann Kopfschmerzen und wollte mich ein wenig schlafen legen. Die Dame bot mir ein Riechfläschchen an, das half mir etwas, und ich schlief ein. Auf einmal erwachte ich mit großen Schmerzen, ich lag neben einem Morast oder einem See, etwas Ähnliches mußte es sein. Das war am Fuße eines vielleicht haushohen Abhanges. Oben fuhr wohl die Eisenbahn, ich glaube wenigstens. Wie ich dahin gekommen war, das wußte ich damals nicht, denn ich war halb wahnsinnig vor Schmerzen. Ich versuchte, aufzustehen, schaffte es aber nicht, sondern kroch auf allen Vieren vorwärts. Ich rief auch um Hilfe, aber ich konnte nicht laut schreien, und es hörte mich niemand.

So schleppte ich mich bis zur Landstraße. Dort konnte ich dann nicht mehr weiter, wurde wieder bewußtlos und was weiter geschah, weiß ich nur aus der Erzählung von Fräulein Wohlenberg, das dürften Sie aber, Herr Kommissar, schon erfahren haben.“

Hoffmann hatte sehr aufmerksam zugehört. Der Kranke hatte das alles mit einem Ausdruck im Gesicht erzählt, daß man fast geneigt sein konnte, ihm Glauben zu schenken. Aber es klang doch alles so unwahrscheinlich.

„Und was glauben Sie, wieso kamen Sie dort an den Fuß des Abhangs?“

„Ich habe schon einige Mal darüber nachgedacht und kann es mir auch nicht erklären. Vielleicht, daß während ich schlief, die Tür durch irgend einen Zufall aufging und ich hinausstürzte. Aber Stahl muß es doch wissen, er war doch wach und kann alles erzählen, was geschah.“

„Ich will Ihnen einmal etwas sagen, mein Verehrtester,“ meinte Hoffmann da, „ich werde Ihnen erklären, weshalb Stahl nichts sagen konnte.“

Er setzte jetzt Heubner auseinander, in welchem Zustand Stahl in Berlin anlangte, daß seine Papiere und der Tresor verschwunden waren, und welchen Verdacht man gegen ihn, Heubner, und die mitgereiste Dame hegte.

„Sie bestreiten dennoch?“ schloß er.

„Allerdings. Ich bestreite es, weil ich unschuldig bin und nichts weiß.“

Hoffmann merkte, daß er so nicht weiterkam, und beschloß auf den Busch zu klopfen.

„Und wenn ich Ihnen nun mitteile, daß wir die Dame, die mit Ihnen gefahren ist, bereits ermittelt haben?“

„Dann ist ja alles gut. Dann muß sich doch sofort herausstellen, daß ich nichts mit dieser Angelegenheit zu tun habe.“

„Sie bleiben also bei dieser Behauptung, auch wenn ich Ihnen sage, daß wir wissen, daß diese Dame eine Geliebte von Ihnen ist?“

„Meine Geliebte?“

„Jawohl, das ist sie, die Tänzerinnen Rositta Anna Snyder. Bestreiten Sie es?“

„Aber das ist Unsinn. Rositta ist nicht mit mir gefahren. Ich weiß doch wohl, wie sie aussieht.“

„Das bezweifelt auch niemand. Aber sie bestreiten das alles – und Sie gedenken, dabei zu bleiben? Wenn ich Ihnen nun die Eröffnung mache, daß Fräulein Rositta bereits ein umfassendes Geständnis abgelegt hat?“

Heubner war starr.

„Was kann sie denn gestanden haben? Wir sind doch nicht zusammen gefahren! Ich habe sie vor der Reise mindestens drei Wochen lang nicht gesehen. Ich bin doch nicht total irrsinnig!“

Hoffmann schwieg einen Augenblick. Die sichere Art, in der Heubner antwortete, machte ihn ein wenig unsicher. Er stellte noch alle möglichen Kreuzfragen, aber sie prallten ergebnislos an Heubner ab. Er war zu keinem Geständnis zu bewegen.

„Wenn ich etwas gestohlen habe,“ sagte endlich Heubner, „dann muß ich es doch auch haben. Sehen Sie doch bitte meine Kleider durch, sie hängen dort im Spind. Ich glaube der Schlüssel steckt. Auch meine Papiere müssen sich dort befinden.“

Hoffmann unterzog die Kleider einer eingehenden Visitation. Aber seltsamerweise fand sich nicht nur der Diamant nicht, sondern auch sämtliche Papiere Heubners fehlten.

„Dann sind Sie mir auf der Bahn vom Dieb gleichfalls gestohlen worden,“ erklärte er.

Auch die gefundenen Gegenstände wurden Heubner vorgewiesen. Er erkannte den Hut und das Kleid als der Dame gehörig, den Tresor bezeichnete er nach einigem Besinnen auch als den richtigen.

„Und warum sollte ich den Tresor erbrochen haben, wenn ich die Schlüssel besaß? Mein Schlüssel fehlt, wie Sie sehen.“

Darauf konnte der Kommissar schwer etwas erwidern, weil es ihm selbst unverständlich war. Aber er gedachte jetzt seinen Hauptcoup auszuführen.

„Wir wissen genau, welche Rolle Sie bei dem Diebstahl gespielt haben, und wir haben auch bereits den, der Sie vermutlich dazu anstiftete. Auch Herr Dekker ist bereits festgenommen!“

„Herr Dekker? Herr Dekker? Was hat denn der auf einmal damit zu tun?“

Hoffmanns Mühe war völlig vergeblich. Er kam und kam nicht vorwärts trotz geschicktester Fragestellung. Heubner kam nicht in Verlegenheit. So blieb dem Kommissar nichts anderes übrig, als Heubner für verhaftet zu erklären und ihm die Eröffnung zu machen, daß er, sobald er transportfähig wäre, nach Berlin geschafft werden würde.

Im höchsten Grade unzufrieden mit dem Resultat dieses Verhörs, verließ er das Krankenzimmer und ging in das Speisezimmer zurück, wo ihn Wohlenberg bereits erwartete. Auf dessen Gesicht lag Spannung, und er machte eine fragende Gebärde.

„Er ist von einer unglaublichen Hartnäckigkeit, leugnet einfach alles,“ sagte Hoffmann.

Über Wohlenbergs Gesicht huschte etwas wie Freude, was aber Hoffmann nicht bemerkte.

Er fuhr eifrig fort:

„Das ist doch lächerlich, daß während jemand schläft, die Tür des Kupees von allein aufspringt und zwar ganz von selbst und der Betreffende dann hinausstürzt. Ich glaube, so ein Fall ist in der Geschichte der deutschen Eisenbahn noch nicht dagewesen.“

Er erzählte dem Arzt, was er erfahren hatte.

„Könnte nicht irgendein Verbrechen vorliegen?“ fragte dieser.

„Sie meinen, daß man ihn hinausgestürzt hätte?“

Ihr Gespräch wurde hier jedoch unterbrochen, da die drei Bauern, die sie an den Fundort führen sollten, gemeldet wurden.

Man brach auf. Wohlenberg ließ es sich nicht nehmen, Hoffmann zu begleiten. Die Stelle war bald gefunden, desgleichen bemerkte Hoffmann, nachdem er den Bach ein Stück landeinwärts verfolgt hatte, den See, von dem Heubner gesprochen hatte. Es war eine Art Sumpf, durch den der Bach hindurchfloß. Die Böschung der Eisenbahn war hier fast haushoch, wie Heubner ganz richtig angegeben hatte. An dieser Stelle hinauszuspringen, wäre Wahnsinn, denn wenn hier jemand in den Sumpf stürzte, und das war in der Dunkelheit allzu wahrscheinlich, so war er unrettbar verloren.

Hoffmann schüttelte den Kopf. Es wurde ihm immer unerklärlicher. Auch mußte er sich sagen, daß Heubner durchaus nicht den Eindruck eines Verbrechers machte. Im Gegenteil. Es lag eine gewisse Offenheit in seinem Wesen, und Hoffmann gestand sich, daß Heubner sogar einen selten sympathischen Eindruck machte. So kehrte er zweifelnd mit Wohlenberg zurück.

Der Kommissar versuchte noch einmal sein Glück bei Heubner. Er redete gütig und streng, sprach in allen Tonarten. – Es war vergeblich, Heubner blieb bei seinen Behauptungen.

Als Hoffmann sich zum Aufbruch rüstete, hatte er so wenig erfahren, als ob er die Reise gar nicht gemacht hätte. Wohlenberg brachte ihn selbst in seinem Wagen zur Bahn. Else war nicht zugegen, als der Wagen abfuhr, und ihr Vater mußte sie entschuldigen. Er hatte sie nicht gesucht, wußte er doch, warum sie nicht erschienen war.

So saßen die beiden Männer schweigend nebeneinander, keiner hatte Lust zu einer Unterhaltung. Daß Heubner von nun an als Gefangener zu betrachten sei und sofort, sobald er transportfähig wurde, nach Berlin geschafft werden müsse, hatte Hoffmann schon seinem Gastgeber mitgeteilt, es war also nichts weiter zu sagen.

Nach herzlichem Dank fuhr er, unzufrieden mit sich selbst, mißmutig und müde, wieder zurück nach Berlin. Und Wohlenberg ließ die Pferde gehen, wie sie wollten. Die Zügel ruhten lose in seiner Hand, und er achtete auf nichts, sondern sah nur starr und verschlossen vor sich hin. So dauerte es ziemlich lange, ehe er wieder heimkehrte. Else war auch jetzt nicht zu erblicken, und ihr Vater, der den Seelenschmerz seines Kindes erriet, rief sie nicht. Er trat in sein Arbeitszimmer und schloß sich ein.

 

9. Kapitel.

Der Kommissar saß wieder in seinem Arbeitszimmer, ließ sich Bericht erstatten, las in den Akten – es war alles wie sonst, nur bei ihm herrschte eine gewisse Nervosität, die ihn quälte, ihn verdrießlich machte.

Das war also das Fazit seiner Reise. Nichts greifbares, nichts und wieder nichts! Aber Hoffmann hatte es sich in den Kopf gesetzt, daß er das Rätsel lösen müsse, koste es was auch immer. Er hatte sich in diesen Gedanken festgebissen, und je mehr Mißerfolge er hatte, umso hartnäckiger wurde er. „Die reine Komödie!“ knirschte er zwischen den Zähnen, „Wenn man nur diesen Dekker fände.“

Die nächsten Tage vergingen ergebnislos. Aus N. war ein kurz gehaltenes Schreiben Wohlenbergs eingetroffen, in dem dieser mitteilte, daß der Zustand Heubners sich durch die Aufregungen der Vernehmung erheblich verschlimmert hätten, und daß man das Ärgste befürchten müsse. Der Patient befände sich seit Tagen ohne Besinnung, hieß es in seinem Brief, und jede Stunde könne eventuell der Tod eintreten. Sollte der Kranke jedoch diese Krisis überwinden, so wäre an einen Transport nach Berlin einstweilen nicht zu denken. Gleichzeitig erklärte Wohlenberg, daß er für die Zeit vom Heubners Aufenthalt in seinem Hause die Garantie für diesen übernehme, da bei dem körperlichen Zustand Heubners von einer Flucht keine Rede sein könne.

Hoffmann las den Brief, und er bedauerte beinahe Heubner. Er hatte nicht die Empfindung, als sei dieser ein Verbrecher. Und wenn er der Dieb war, konnte er nur ein willenloses Werkzeuge in den Händen Dekkers gewesen sein.

Dekker und immer wieder Dekker! Er beschäftigte sich heute fortwährend mit dessen eigentümlicher Persönlichkeit. Immer wieder kam er auf ihn zurück, jede Gedankenreihe endete bei ihm. Gerade heute, er wußte selbst nicht wieso und weshalb.

„Nun, Kollege, wollen wir nach deiner Erholungsreise nicht wieder einmal zusammen essen und einer Flasche den Hals zu deiner Begrüßung brechen, nachdem wir niemand anderen finden können, dem wir den Hals brechen dürfen?!“

Hoffmanns Kollege war mit diesen Worten eingetreten. Aber ehe ihm noch der Angeredete antworten konnte, überbrachte man ihm eine Karte – ein Herr wünschte ihn zu sprechen. Hoffmann las die schmale, vornehme Visitenkarte, und sein Gesicht nahm einen wenig geistreichen Ausdruck an.

„Zieh mal erst dein Gesicht zurecht, so kannst du niemanden empfangen.“

Hoffmann antwortete dem Kollegen nicht, sondern reichte ihm nur die Karte, die der andere las.

„Glückspilz,“ sagte er dann, gleichfalls erstaunt. „Dir kommen die Verbrecher nur so ins Haus gelaufen. Dekker – empfange ihn nur schnell, ehe er wieder durchgeht. Ich will nicht stören – ich habe meinen ‚schweren Jungen‘ leider noch immer nicht. Auf Wiedersehen. Viel Glück.“

„Führen Sie den Herrn herein,“ sagte Hoffmann. Er hatte seine Ruhe bereits wiedergefunden und sah nun gespannt dem Kommenden entgegen.

Dekker trat ein, sehr elegant, den Stock mit silberner Krücke lose am Arm hängend, mit einem dunkeln, einfachen, aber vornehmen geschnittenen Paletot, auf dem Kopf den frisch gebügelten, glänzenden Zylinder.

„Ich glaube, das Vergnügen mit Herrn Kriminalkommissar Hoffmann zu haben.“

‚Daß das gar so ein großes Vergnügen sein wird, bezweifle ich,‘ dachte Hoffmann bei sich.

„Mein Name ist Dekker,“ sagte da der Eingetretene, ehe Hoffmann noch etwas bemerken konnte.

Dekker stellte seinen Zylinder auf einen Stuhl und zog einen Handschuh aus.

„Ich erfuhr nämlich,“ fuhr er mit größter Seelenruhe, fast mit etwas Sarkasmus in der Stimme fort, „daß ich steckbrieflich verfolgt werde und möchte Ihnen den Aufwand gern etwas erleichtern. Ich komme mich erkundigen, was gegen mich vorliegt.“

Im ersten Augenblick war Hoffmann von dieser Art zu reden, perplex. War das Unverschämtheit? Er faßte sich aber schnell und antwortete im selben Ton:

„Ach, eine Kleinigkeit – nur ein schwerer Diebstahl in der Eisenbahn.“

„So? – Und wie wollen Sie mir das eventuell beweisen?“ fragte er und sah Hoffmann durchdringend an.

„Ich habe Ihnen eigentlich nicht Antwort zu stehen,“ erwiderte der, „aber da Sie so liebenswürdig waren, mich persönlich aufzusuchen, will ich mich erkenntlich zeigen.“

Dekker verneigte sich leicht.

„Also, Herr Dekker, machen wir uns nichts gegenseitig vor. Sie wissen ganz genau, daß Sie schwer verdächtig sind, den Diamanten, der aus der Erbschaft Ihres Verwandten stammt und der von zwei Angestellten einer Amsterdamer Firma hierher befördert werden sollte, auf der Bahn gestohlen zu haben. Die Diebstahlsaffäre haben Sie ja vom anderen Erben sowohl als vom Rechtsanwalt des Verstorbenen bereits gehört.“

„Nun ja – aber ich sehe noch immer nicht ein, warum ich den Stein gestohlen haben muß?“

„Sie sind im selben Zuge gefahren – Sie haben ein außerordentlich starkes Interesse an der Sache, Sie bewiesen das in einer Äußerung Ihrer Amsterdamer Wirtin gegenüber, der Sie sagten: ‚Die Erbschaft muß ich haben, koste es, was es wolle‘, Sie waren mit dem einen Angestellten bekannt und wußten vermutlich von dem Transport, ferner, dessen Kollege ist durch Hypnose unschädlich gemacht worden. Wir wissen, daß Sie sich mit Hypnose viel und erfolgreich beschäftigten. Ferner Ihr Benehmen hier in Berlin gab uns keinen Grund, Sie für unschuldig zu halten – –“

„Ach, Sie meinen, daß ich damals etwas zu früh am Potsdamer Platz ausgestiegen bin – ich bitte um Verzeihung, es war unmöglich von mir, aber da ich damals steckbrieflich nicht verfolgt wurde, sah ich nicht ein, warum ich mich von Ihnen fortwährend beobachteten lassen sollte. Ich fühle mich dazu nicht verpflichtet.“

Er lächelte zufrieden, indem er dies sagte, so daß Hoffmann sich ärgerte.

„Und die anderen Punkte?“

„Ich muß gestehen, daß sie mir schuld zu geben scheinen. Ich fuhr übrigens nicht allein nach Berlin, die begleitenden Personen müßten festgestellt werden können. Dann – hat man nötig, etwas zu stehlen, was man erben kann? Jedoch davon abgesehen, wenn ich den einen Angestellten unschädlich machte, mußte ich es mit dem anderen doch auch tun. Der ist aber, wie Sie wissen, schon vor Hannover aus dem Zug verschwunden.“

„Sie sind gut orientiert,“ sagte Hoffmann trocken.

„Ja, ich interessiere mich seit einigen Tagen für den Fall – um Ihnen die richtige Antwort geben zu können.“

„Das werden Sie vor dem Richter notwendiger haben. Und wozu haben Sie zwei Wohnungen in Amsterdam, wenn ich fragen darf?“

„Verzeihen Sie, Herr Kommissar, das sind Privatangelegenheiten, über die ich jede Auskunft verweigere.“

„Also, dann ist es Ihnen wohl jetzt genehm,“ sagte Hoffmann mit liebenswürdigster aber doch triumphierender Miene, „daß wir abbrechen. Da ich ja doch nicht zu entscheiden und zu beurteilen habe, so muß ich unsere so angenehme Unterhaltung leider jetzt beenden.“

„Aber das bedaure ich wirklich unendlich, Herr Kommissar,“ sagte Dekker höhnisch und griff nach dem Zylinder.

Hoffmann stand auf und sprach mit erhobener Stimme:

„Charles Dekker, im Namen des Gesetzes erkläre ich Sie für verhaftet.“

„Ich stehe mit Vergnügen zu Ihren Diensten, Herr Kommissar,“ war Dekkers Antwort und er zog sich den zweiten Handschuh an.

*

Dekker, der bereits einige Male von Amtsrichter Becker vernommen worden war, verteidigte sich äußerst geschickt und kaltblütig. Es sprachen viele Dinge gegen ihn, aber er fand auch immer wieder in der Beweisführung eine Lücke, durch die er sich hindurchschlängelte.

Jedenfalls fand man nichts bei ihm. Seine Sachen wurden von der Polizei beschlagnahmt, und durch Hoffmann in einer Weise visitiert, die nichts an Gründlichkeit zu wünschen übrig ließ. Dennoch fand sich nichts Verdächtiges, nichts, was auf den Diebstahl Bezug haben konnte.

„Ich dachte mir’s ja, daß wir mit dem Burschen zu tun haben werden – dem ist so leicht nicht beizukommen,“ brummte Hoffmann, als nach Erledigung all dieser Vorbereitungen er wieder die Akten durchsah. Das Beweismaterial gegen Dekker war jetzt endlich zusammengetragen, es war doch eine hübsche Menge, die Staatsanwaltschaft hatte die Anklage gegen Dekker bereits erhoben, und sogar der Tag der ersten Verhandlung war bereits festgesetzt.

Hoffmann rieb sich die Hände – es war ihm, als ob er bis jetzt fortwährend gehetzt worden wäre und nun endlich Ruhe fände. Er dehnte sich behaglich in seinem Sessel aus – ein Erfolg war doch ein wohliges Gefühl! Er griff nach der Zigarrentasche. Er hatte jetzt keine Störungen zu befürchten und wollte sich mit dem guten Kraut gewissermaßen selber belohnen.

Doch er kam nicht so weit. Wie er die Zigarre gerade im Mund hatte, stürmte sein Kollege und Freund, der Kommissar Wiemer, herein. Er war ziemlich erregt, schien eine angenehme Neuigkeit mitzubringen.

„Du, Mensch,“ rief er, „weißt du, wen wir haben? Erinnerst du dich an den schweren Jungen, der beim Bankier Kronberg eingebrochen war? Sie haben ihn in Bremen gefaßt, den Esel! Und weißt du, wenn wir noch haben, deinen Burschen auch!“

Hoffmann fiel die Zigarre aus dem Mund.

„Bist du wahnsinnig?“ fragte er teilnehmend.

„Hier lies,“ sagte sein stürmischer Kollege und drückte ihm etwas in die Hand.

Hoffmann sah es durch. Es war eine Mitteilung der Bremer Polizeibehörden, daß der des Einbruchs bei dem Bankier Kronberg verdächtige Mechaniker Otto Worzinski im Hafen verhaftet worden war, kurz bevor er sich auf einem Amerikadampfer einschiffen konnte. Das gestohlene Geld war fast vollzählig vorhanden. In seinem Besitz fand man ferner die Einbruchswerkzeuge und unter seinen Papieren noch drei Pässe auf die Namen: Lucie Trömel, Franz Stahl und Ernst Heubner.

„Nun?“ triumphierte Wiemer.

Hoffmann setzte sich wieder hin und stierte das Blatt an. War das Spuk? Am liebsten hätte er sich in den Finger gebissen, um festzustellen, ob er wache.

„Und morgen ist der Kerl hier, dann werden wir das Weitere erfahren,“ sagte noch Hoffmanns Kollege und ging zur Tür. „Also auf Wiedersehen! Das war ein guter Tag!“

Hoffmann saß noch wie betäubt von der Nachricht da. Dann fing er an, darüber nachzudenken, wie das zugehen konnte. Auf einmal fiel ihm ein, daß zwischen den drei Pässen der eine auf einen weiblichen Namen lautete. Er ging in das Zimmer eines Kollegen und notierte sich diesen Namen. Es war doch sonderlich – die Pässe der beiden Angestellten und der einer Dame. Wenn es diejenige war, die man suchte! Mit einem Male schien es ihm so selbstverständlich, daß dies die Gesuchte sein müsse. Dann war sie doch wahrscheinlich aus Amsterdam.

Wieder trat der Telegraph in seine Tätigkeit, und nach Verlauf von einigen Stunden wußte Hoffmann bereits, daß Lucie Trömel bei Gebrüder Tellmann, einem Amsterdamer Konfektionshaus, in demselben, aus dem das gefundene Kleid stammte, angestellt war, die vor einem Monat diese Stelle verlassen hatte und seit jener Zeit aus Amsterdam verschwunden war. Sie hatte sich ohne Angabe ihres zukünftigen Aufenthaltsortes abgemeldet.

Hier mußte man anknüpfen, das fühlte Hoffmann jetzt deutlich, das war eine Spur, die verfolgt werden mußte. Wo sollte man die Frau aber suchen? Jedenfalls mußte in Berlin genau recherchiert werden, denn nach Berlin war sie doch wahrscheinlich gekommen und vielleicht hielt sie sich auch noch hier auf.

Lehner wurde mit den entsprechenden Anweisungen beauftragt, in Berlin Nachforschungen zu veranstalten. Ein Signalement, das sich Hoffmann telegrafisch sofort erbeten hatte, erleichterte ihre Nachforschungen ein wenig.

Das Verfahren gegen Dekker wurde natürlich eingestellt. Einstweilen wenigstens. Seine Unschuld war durch die Ergreifung Worzinskis zwar nicht direkt bewiesen, aber es sah doch im Augenblick so aus, als ob nur Worzinski, der nach Berlin transportiert worden war, der Täter sein könnte.

Hoffmann war ja, ohne es sich innerlich zu gestehen, wenig erfreut über die neu geschaffene Lage.

„Jetzt wird er allerdings uns noch mehr Arbeit machen und wird noch vorsichtiger sein,“ sagte er vor sich hin und packte die Akten zusammen, um zur Vernehmung Worzinskis nach dem Gericht zu fahren. Merkwürdigerweise leugnete nämlich dieser, in irgendeiner Beziehung zum Diamantendiebstahl zu stehen. Den Einbruch wies man ihm leicht nach, und er machte auch nicht den geringsten Versuch, zu leugnen, aber von dem Diebstahl wollte er nichts wissen.

Nun sollte ein letzter Versuch gemacht werden, ihm ein Geständnis zu entlocken. Man hatte unterdessen auch Lucie Trömel, deren Paß man bei ihm gefunden hatte, in Berlin ermittelt. Durch einen Zufall war man in Amsterdam auf ihre Spur gekommen, sie war wohl einer Freundin gegenüber zu offenherzig gewesen. Hier in Berlin war sie zwar nicht so leicht zu finden gewesen, weil sie sich unter falschem Namen angemeldet hatte. Dennoch gelang es, und sie wurde in ihrem Zimmer vormittags von Hoffmann verhaftet. Man sagte ihr ihre Teilhaberschaft auf den Kopf zu, aber sie stritt alles ab, weinte und behauptete, überhaupt nicht zu wissen, worum es sich handelte. Ihre Habseligkeiten, die selbstverständlich mit Beschlag belegt wurden, durchsuchte man. Was allerdings nichts ergab. Man hatte nicht die Spur eines Anhaltspunktes, aber dennoch schien es fast außer Frage zu stehen, daß sie diejenige war, die mit Heubner und Stahl zusammen im Zug gefahren war. Es sprachen eine ganze Reihe Dinge gegen sie. Ein merkwürdiges Zusammentreffen war es auch, daß sie in demselben Geschäft angestellt gewesen war, aus dem das gefundene Kleid stammte. Es wurde erklärlich, wieso der Herr es dann so ohne weiteres kaufen konnte, wenn sie es vorher schon – was ohne aufzufallen bewerkstelligt werden konnte – anprobierte und es ihm irgendwie bezeichnete. Für diese Mutmaßungen sprach auch, daß ihr das Kleid gut paßte. Außerdem stimmte die Länge ihres Aufenthalts in Berlin mit der seit dem Diebstahl verflossenen Zeit überein, wenn auch zwei Tage Differenz da waren, da sie später eingezogen war. Aber konnte sie nicht so lange im Hotel gewohnt haben? Trotz all dieser Beweise leugnete sie alles glatt ab – desgleichen Worzinski.

Man wollte sie deshalb konfrontieren, in der Erwartung, daß man dadurch dem Ziel näher kam. Das war sorgfältig vorbereitet, damit keiner von der Ergreifung des anderen erfuhr, damit sich keiner von beiden auf die zu gebenden Antworten vorbereiten konnte.

Worzinski stellte noch immer jede Schuld in Abrede. Amtsrichter Becker redete ihm im Guten und im Bösen zu, doch zu gestehen, Hoffmann sprach auf ihn ein – vergeblich. Auf die Frage, woher er denn die Pässe habe, erklärte er, sie mit einer Brieftasche gestohlen zu haben. Als er sich vor einigen Wochen, kurz vor dem Einbruch, in Geldkalamitäten befand, so gab er an, hatte er auf der Eisenbahn bei einem Ausflug zwischen Berlin und Potsdam einem Herrn die Brieftasche entwendet, in der sich die drei Pässe befunden hätten.

„Aha,“ sagte Amtsrichter Becker zu dem finster dreinschauenden, unsympathischen Burschen, „der unbekannte Herr, der ‚große Unbekannte‘, die Idee ist ja nicht mehr ganz neu, mein Lieber, aber wir werden Ihnen jemanden zeigen, der Ihnen nicht so ganz unbekannt sein dürfte.“

Er gab ein Zeichen, Worzinski stand unterdessen gleichgültig da. Er war schlank, aber sehnig und kräftig, mit rohem, gemeinem Gesichtsausdruck – alle gestanden sich, daß man diesem es zutrauen konnte, daß er Heubner aus dem Eisenbahnzug hinausgestoßen habe.

Lucie Trömel wurde jetzt hereingeführt. Sie weinte und zitterte am ganzen Körper. Der Einbrecher stand mit kalter, unberührter Miene da und betrachtete sie ruhig. Sie getraute sich kaum aufzublicken. Hoffmann und Becker beobachteten genau die beiden. An Worzinskis Gesicht war nicht die Spur einer Veränderung zu entdecken, und sie schien sogar ruhiger zu werden, als sie endlich aufsah und Worzinski erblickte. Das war merkwürdig.

„Kennen Sie sich gegenseitig?“ fragte Becker.

Worzinski zuckte mit den Achseln und lachte bloß.

Sie verneinte weinend. Man war durch nichts im Stande, ihr das Eingeständnis dieser Bekanntschaft abzuzwingen. Entweder sie kannte ihn wirklich nicht, oder dieser Kerl mußte eine unheimliche Gewalt über sie haben. Auch aus ihm war nichts herauszubekommen.

Die Staatsanwaltschaft hatte gegen Worzinski bereits die Anklage wegen des Diebstahles erhoben, und er sollte sich schon in der allernächsten Zeit vor dem Richter wegen beider Vergehen verantworten. Der Hauptverhandlung mußte es auch überlassen bleiben, die beiden zu einem Geständnis zu bringen, vorderhand waren ihre Bemühungen nutzlos – das sahen der Amtsrichter sowohl als Hoffmann ein.

„Die Geschichte ist etwas komplizierter geworden, als wir anfangs erwarteten,“ sagte Amtsrichter Becker nachdenklich zu Hoffmann, als sie sich verabschiedeten.

„Und ich glaube, daß selbst hier noch nicht die Lösung des Rätsels ist,“ erwiderte Hoffmann.

„Na, na – nur nicht zu pessimistisch. Wissen Sie, Herr Kommissar, nur eins ist mir ziemlich unverständlich. Wir scheinen den Täter zu haben, Personen, die mit dem Diebstahl in engster Verbindung stehen, wir finden alle möglichen Leute, nur daß bei all den Leuten keine Spur von Diamanten ist.“

*

Der erste Teil der Verhandlung gegen Worzinski war vorüber. Sie hatte nicht lange gedauert, da die Beweisführung einfach war und der Täter in jeder Beziehung geständig.

Für den zweiten Teil waren eine ganze Menge Zeugen geladen worden, da die Sachlage hier keine so einfache war. Auf die Aussage Heubners hatte man verzichtet vorderhand. Stahl und Dr. Blei hatte man nebst einem weiteren ärztlichen Sachverständigen gleichfalls geladen. Lucie Trömer stand nicht auf der Zeugenliste – sie hatte ihren Platz neben Worzinski, da gegen sie die Anklage wegen Beihilfe zum Diebstahl von der Staatsanwaltschaft erhoben worden war.

Worzinski saß mit der gleichgültigsten Miene von der Welt auf der Anklagebank. Er sprach und antwortete mit einer Ruhe und Sicherheit, daß man ihm sofort anmerkte, die Situation habe für ihn nicht den Reiz der Neuheit, während Lucie Trömel kaum vom Erdboden aufblickte.

Die Verhandlung begann. Nachdem der Vorsitzende beide ermahnt hatte, die Wahrheit zu sagen und zu bekennen, und diese Aufforderung keinen anderen Erfolg hatte als ein lautes Leugnen von Worzinski und ein verneinendes Kopfschütteln von Seiten des heftig weinenden Mädchens, erfolgte die Beweisaufnahme.

Zeuge auf Zeuge wurde aufgerufen und mit jedem wurde Worzinskis Miene triumphierender. Es ergab sich wirklich nichts, daß gegen ihn sprach. Fast konnte er sogar sein Alibi ziemlich einwandfrei nachweisen.

Dekker wurde vernommen. Er benahm sich mit vollkommener Ruhe, die Luft des Untersuchungsgefängnisses, die er bis jetzt genossen, schien ihn wenig angegriffen zu haben. Auch er konnte nichts besonderes aussagen und er versuchte auch nicht im geringsten, einen Verdacht auf den Angeklagten zu lenken.

„Herr Stahl,“ rief der Gerichtsdiener in den Korridor hinaus.

Der Aufgerufene erschien, bleich und eingefallen – die Krankheit mußte ihn arg mitgenommen haben. Seine Stimme klang leise und gepreßt, und er sah sich ein wenig ängstlich im Zuschauerraum um. Zuerst wurde er mit Worzinski konfrontiert, der ihn höhnisch betrachtete.

„Herr Zeuge, kennen Sie den Angeklagten, erinnern Sie sich vielleicht, ob er Ihnen auf der Reise von Amsterdam hierher irgendwo begegnet ist?“ fragte der Vorsitzende.

Stahl sah Worzinski an und verneinte; dieser lächelte frech und wandte sich an seinen Verteidiger, mit dem er leise etwas sprach.

„Und erkennen Sie die Angeklagte als die Dame, mit der Sie gefahren sind, und die Sie hypnotisiert haben soll?“ fuhr der Vorsitzende fort.

Stahl zuckte wie erschrocken zusammen, als er nach der Anklagebank sah, aber dort saß auf einmal niemand mehr, denn die Angeklagte war lautlos ohnmächtig geworden und von ihrem Sitz zu Boden geglitten. Man bemühte sich, sie ins Leben zurückzurufen.

„Ich bitte für meinen Klienten um Gehör,“ sagte während dem der Verteidiger Worzinskis, „er hat eine kurze Erklärung abzugeben, die für die Verhandlung von entscheidender Bedeutung sein dürfte.“

Worzinski sah Stahl zynisch an.

„Ich erkläre,“ sagte er, „daß der Zeuge der Herr ist, dem ich in der Bahn die Brieftasche gestohlen habe, wo die drei Pässe drin lagen.“

Alle Augen richteten sich nach dem Ort, wo Stahl stand. Er war leichenblaß geworden und hielt sich an der Stuhllehne fest, um nicht umzufallen. Ein heftiges Zittern überlief seinen ganzen Körper während er weiter starr vor sich hin starrte.

„Zeigen Sie ihm nur die Brieftasche, er wird sie schon erkennen,“ grinste Worzinski.

Durch Hoffmann ging es wie ein elektrischer Schlag. Stahl – –?

„Herr Zeuge,“ fragte der Vorsitze, „erkennen Sie diese Brieftasche als die Ihrige? Beruht die Erklärung des Angeklagten auf Wahrheit?“

Stahl sah vor sich nieder.

„Ich kann wohl Ihr Schweigen als eine Bejahung annehmen. – Und erkennen Sie auch die Angeklagte als Ihre Reisegefährtin?“ fuhr der Vorsitzende fort und fixierte Stahl scharf. Lucie Trömel war unterdes wieder zur Besinnung gekommen. Stahl blickte kurz zu ihr auf, antwortete aber noch immer nicht.

„Sehen Sie die Angeklagte genau an. Und antworten sie!“

Wie mechanisch hob der Gefragte nun den Kopf.

„Ja,“ kam es leise von seinen Lippen.

„Wollen Sie uns vielleicht dann erklären, in welchem Zusammenhang Sie und die Angeklagte Lucie Trömel stehen und welche Rolle Sie im Diebstahl spielen?“

Die scharfe, schneidende Stimme machte Stahl beben. Er sagte erst gar nichts, aber sein Wille war vollständig gebrochen, das sah man ihm an. Er fühlte – jetzt war das Spiel verloren.

Erst sprach er nur abgerissen, stoßweise – alles kam gequält aus seinem Mund und erst nach und nach wurde seine Sprechweise fließender, rascher, als wenn er sich erleichtert fühlte.

Im Publikum machte sich eine lebhafte Bewegung kund. Auf diese Wendung war doch niemand gefaßt gewesen, und man lauschte begierig dem Fortgang der Anklage.

Stahl legte ein umfassendes Geständnis ab. Er hatte den Diamanten gestohlen, er hatte Heubner aus dem Zug gestoßen, in der Hoffnung, daß er im See, der an der Böschung des Bahndammes sich hinzog, ertrinken würde, da er ohnedies betäubt war. Lucie Trömel war seine Geliebte, mit der er, wenn über dem Diebstahl genügend Zeit vergangen war, ins Ausland gehen wollte, um dort den Stein zu verkaufen. Er war auch derjenige gewesen, der das Kleid gekauft hatte, nachdem es ihm von seiner Geliebten bezeichnet worden war.

Als sie sich Berlin näherten, ließ er sich von ihr hypnotisieren, was ja bei seiner Natur ein leichtes war. Sie war dann in ein anderes, leeres Kupee gegangen, hatte die gefundenen Gegenstände zum Fenster hinausgeworfen und war in Berlin ruhig ausgestiegen. Wie der Tresor erbrochen worden war, wußte er nicht, sie hatte ihn jedenfalls ganz hinausgeschleudert. Hier in Berlin hatten sie sich dann nicht gesehen, um nicht Aufsehen zu erregen. Aber er war in Berlin geblieben und hatte selbst den Diebstahl angezeigt, um so jeden Verdacht von sich abzulenken.

Er gestand auch das Versteck des Diamanten, den er in seinen Anzug eingenäht hatte.

Die Zuhörer waren dem Gang der Verhandlung in atemloser Stille gefolgt. Lucie Trömel hatte erst Weinkrämpfe bekommen und fiel dann wieder in Ohnmacht, so daß man sie hinaustragen mußte und nicht weiter vernehmen konnte. Aber der Gerichtshof wußte jetzt auch so genug.

Worzinski wurde von dieser Anklage natürlich freigesprochen, und Stahl mußte den Weg nach dem Untersuchungsgefängnis antreten.

Hoffmann faßte sich an den Kopf, als er den Gerichtssaal verließ. Nachdem er sich überzeugt hatte, daß der an der richtigen Stelle saß, was er nach dem Gehörten zu bezweifeln geneigt war, begab er sich zum Telegraphenamt. Er fühlte, daß er nun eine Pflicht habe, zwei Menschen so schnell als möglich glücklich zu machen.

*

Durch den Garten Dr. Wohlenbergs auf dem sauberen, kiesbestreutem Weg gingen langsam zwei Menschen, Heubner und Else, er auf ihren Arm gestützt, in der anderen Hand den starken Stock ihres Vaters.

„Habe ich dir nicht gesagt,“ lächelte sie, „daß es ein wunderschöner Tag sein müsse, an dem du gesund wirst und aufstehen kannst. Oh, das war schon lange zwischen dem lieben Gott und mir ausgemacht. Ja, ja, du glaubst es wohl nicht?“

„Ich glaube dir alles, auch daß du mit dem lieben Gott in dauerndem Verkehr stehst.“

Das grüngestrichene Tor knarrte, und der Briefträger kam auf die Beiden zu.

„Ein Telegramm an Sie, Fräulein.“

Sie riß es ihm aus der Hand, er drehte sich um und ging weiter ins Haus.

Sie sah den Umschlag neugierig an, drehte ihn hin und her, öffnete ihn aber nicht.

„Das lesen wir zusammen in der kleinen Laube, ja? Ich bin so sehr neugierig und weiß gar nicht, ob ich’s solange aushalte – aber vielleicht, komm nur.“

Es war Hoffmanns Telegramm.

Eine halbe Stunde später überraschte Dr. Wohlenberg die beiden in der Laube. Er kam wohl in einem etwas ungelegenen Moment, denn die beiden fuhren bei seinem Anblick erschrocken auseinander. Aber Else lehnte sich dann so schmeichelnd an ihn, umschlang so stürmisch seinen Hals, daß er nicht viel Widerstand leisten konnte.

Bald darauf ging ein Telegramm an Hoffmann ab – mit der Verlobungsanzeige, auf die dieser natürlich sofort antwortete.

Er ging mit seinem Freund und Kollegen zu Tisch, um endlich in einem gemütlichen Weinrestaurant zu landen, wo er auf das Wohl des jungen Paares ein Glas leerte. Die beiden Freunde stießen an.

„Na, dein dummes Gesicht bei der Aussage Stahls möchte ich gesehen haben,“ neckte ihn Wiemer „und was ist denn mit Dekker, hinter dem du fortwährend her warst? Gar nichts, was?“

„Ich bin nur froh,“ lachte Hoffmann, „daß der Kerl nicht stiehlt; – den hätten wir sicher nicht gekriegt.“