Argus–Kriminal–Bibliothek
Von
Walther Kabel.
Der Kriminalschutzmann Krause 2 hatte heute, am 9. Mai 1912, Dienst auf den Fernbahnsteigen des Potsdamer Bahnhofs. Sein Vorgänger, der von ihm um zehn Uhr abends abgelöst worden war, hatte ihm heimlich einen Zettel in die Hand gedrückt, auf dem die Personalbeschreibungen aller jener Personen verzeichnet waren, nach denen die Polizei gerade fahndete. Da hieß es sehr sorgfältig alle Leute mustern – sorgfältig und unauffällig.
Krause 2, ein noch junger Mann von schlanker Figur, stellte sich etwas abseits und las den Zettel aufmerksam durch. Dreizehn ‚Nummern‘ wies das Verzeichnis auf. Eine ganz nette Blütenlese von allerhand Gaunern war’s. Die meisten Personalbeschreibungen dieser vielgesuchten Persönlichkeiten hatte der Beamte schon im Kopf, da die Polizei ihnen bereits seit längerer Zeit eine recht eingehende Aufmerksamkeit widmete.
Aber hier die drei letzten Herrschaften auf dem Blatt, – die waren neu. – ‚Auch eine Hochstaplerin darunter – schau, schau!‘ dachte Krause 2. ‚Sehr elegantes Äußeres, mittelgroße Figur, auffallend kleine Hände und Füße, Gesichtsschnitt 5 b (das war die fachmännische Abkürzung für schmales, blasses Gesicht, zierliche Nase, kleinen Mund, dunkles Haar, dunkle Augen und etwas kurzes, rundes Kinn). Besondere Kennzeichen: Grübchen in den Wangen, kleines Muttermal über dem linken Auge, vier Zentimeter unter dem Haaransatz der Stirn.‘ –
So lautete dieser Steckbrief. Und dahinter stand: ‚Nannte sich zuletzt Baronin von Parlieux und hat im Pensionat des Westens in der Bellevuestraße am 8. Mai d. Js. einem reichen Bulgaren auf sehr raffinierte Weise eine Brieftasche mit dreißigtausend Mark Inhalt sowie zwei Brillantringe und eine Busennadel mit drei Smaragden gestohlen. Dürfte versuchen in das Ausland zu entkommen. Verkehrte mit Nr. 12 und 13 als Mittätern.‘
Die Angaben zu diesen beiden Helfershelfern, die das Verzeichnis unter 12 und 13 aufführte, waren bedeutend ungenauer. –
‚Anatol Servier, angeblich Franzose, mittelgroß, blonder Spitz- und Schnurrbart, volles gescheiteltes, dunkleres Kopfhaar, etwas korpulent, Anlage zu O-Beinen. – Besondere Kennzeichen: kneift, da kurzsichtig, die Augen zusammen und benutzt bisweilen Monokel. –
Boris Utussow, angeblich Russe, sehr groß, dürr, gute Haltung, eckiges, glattrasiertes Gesicht, vorspringende Backenknochen, schielt auf dem linken Auge.‘ –
Dahinter war vermerkt: ‚Nr. 12 und 13 wohnten mit 11 in demselben Pensionat und verschwanden gleichzeitig mit ihr. Kommen auch als verdächtig der Diebstähle im Hotel ‚Londoner Hof‘ in Betracht.‘
Krause 2 las sich zur Stärkung seines Gedächtnisses diese letzten ‚feinen Nummern‘ nochmals in der Weise durch, daß er nur zuweilen den Zettel zu Rate zog, das Meiste aber aus dem Kopf wiederholte, so, wie etwa ein Kind seine mündlichen Schulaufgaben sich eintrichtert. Gerade wollte er dann den Zettel in die Westentasche seines gutsitzenden Anzugs schieben, als er plötzlich angesprochen wurde.
„Entschuldigen Sie, – können Sie mir vielleicht sagen, ob …“
Hier stockte der Redefluß des Fremden schon. Der Mann prallte erschreckt zurück, ließ seine lederne Handtasche fallen und war im nächsten Augenblick bereits, ehe Krause 2 sich noch über den ganzen Vorgang recht klar geworden war, in der Menschenmenge eines soeben auf dem Nebenbahnsteig eingelaufenen Zuges verschwunden.
Einige Minuten später telephonierte der Beamte vom Bureau des Bahnhofsvorstehers aus an den Kriminalkommissar vom Dienst nach dem Polizeipräsidium am Alexanderplatz folgendes:
‚Soeben hat mich ein Unbekannter auf Bahnsteig 3 angesprochen, floh dann aber plötzlich durch die Sperre und verschwand spurlos, da er sich unter Ausflügler mischte, die gerade mit dem Zug aus Werder von der Baumblühte eintrafen. Er drückte dem Beamten an der Sperre eine noch gültige Fahrkarte nach Potsdam in die Hand. Bei der Besichtigung der zurückgelassenen Tasche fand ich an dem Lederbügel sowie am Schloß noch ziemlich frische Blutspuren, die vor ganz kurzer Zeit erst getrocknet sein können. Sie selbst war unverschlossen, enthält eine goldene Uhr nebst schwerer goldener Kette, eine Börse mit vierhundertachtundzwanzig Mark Inhalt, ein Etui mit einer altertümlichen Brillantbrosche sowie einige Wäschestücke und Toilettensachen, die soeben erst gekauft zu sein scheinen. In der Geldbörse fand ich außer dem genannten Betrage noch ein Abonnement für die elektrische Straßenbahn, auf den Chemiker Dr. Günter Mersen lautend, ebenso eine Mitgliedskarte des hiesigen naturwissenschaftlichen Vereins für denselben Herrn. Die goldene Uhr zeigt das Monogramm ‚G. M.‘, dürfte mithin demselben Doktor Mersen gehören. Ich habe die Tasche hier in den Schrank des Vorstehers eingeschlossen.“
Kriminalkommissar Steinke, der diesen Bericht entgegennahm, war bei dem Namen Günter Mersen zusammengezuckt. Jetzt fragte er hastig durch den Apparat:
„Die Uhr hat ein grünes Zifferblatt, nicht wahr?“
„Jawohl, Herr Kommissar.“
„Und wie sah der Fremde aus, der die Handtasche zurückließ und entfloh?“
Krause 2 suchte sich die Erscheinung des Unbekannten möglichst genau zu vergegenwärtigen. Dann erwiderte er:
„Blonder Spitz– und Schnurrbart, O-Beine, mittelgroß, ziemlich korpulent, goldene Brille und …“ An dieser Stelle verstummte er. Wahrhaftig, da hatte er ja eben beinahe bis ins einzelne die Beschreibung von Nr. 12 wiederholt! Sollte dieser Mensch, der so plötzlich vor ihm ausgekniffen war, wirklich dieser gesucht Franzose gewesen sein …?!
Doch Steinke ließ ihm keine Zeit zu langem Grübeln.
„Wie war der Mann angezogen, Krause? – Sind Sie denn überhaupt noch da?“
„Jawohl, jawohl. – Also dunkelgrauer Jackettanzug, schwarzer steifer Filzhut, braune – nein hellbraune Schuhe, Schirm mit silberner Krücke.“ Eine kleine Verlegenheitspause folgte.
Dann: „Mir scheint beinahe, Herr Kommissar, als ob das Signalement, das ich eben gegeben habe, so ziemlich auf den Franzosen Anatol Servier zutrifft, den wir …“
„Weiß schon. Die Erkenntnis kommt Ihnen leider zu spät. In einer Viertelstunde sind Sie mit der Tasche hier bei mir im Alex. Einen Ersatzmann für Sie schicke ich sofort los. Schluß.“
Der Mann, der vor Krause 2 so plötzlich die Flucht ergriffen hatte, war kaum auf den Bahnhofsvorplatz hinausgelangt, als er auch schon das nächste Taxameterauto anrief und damit nach dem nahen Anhalter Bahnhof fuhr. Dort wartete in der Vorhalle ein Dienstmann auf ihn, dem er eilig einen Handkoffer und einen langen, braunen Ulster aus flockigem Stoff, weiter auch eine Fahrkarte abnahm, die der Rotbemützte in seinem Auftrage bereits gelöst hatte. Nachdem der Dienstmann abgelohnt war, stieg der Fremde die Treppe zu den Bahnsteigen empor. Eine leise Stimme hinter seinem Rücken hielt ihn jedoch auf.
„Mein Herr, einen Augenblick …“
Es war eine ältere, grauhaarige Dame in langem Reisemantel. Ihr Gesicht verdeckte ein dichter schwarzer Schleier, der hinter dem kleinen, bescheidenen Hütchen in ein Paar wehende Enden verknotet war.
Schnell hatte der Fremde den Kopf zurückgedreht. Seine Miene drückte etwas wie Unruhe und Besorgnis aus. Hastig flüsterte ihm jetzt die Dame zu:
„Die Brille und der hochgedrehte Schnurrbart verändert dich viel zu wenig! Wie unvorsichtig, Peter! Und du solltest doch über Hamburg nach Wiesbaden fahren. Und natürlich kennen wir uns nicht.“
Dann ging sie an ihm vorüber, indem sie sich mit der Rechten schwer auf ihren Schirm stützte, während ihre Linke einen schäbigen, mit Riemen zugeschnallten Pappkarton trug.
Der Herr, dem Krause 2 jetzt so gern nochmals begegnet wäre, starrte ihr verwundert nach, schüttelte den Kopf und brummte vor sich hin, indem er seinen Weg nun auch fortsetzte …:
„Was sollte das eben?! Wenn sie mich nicht Peter genannt hätte, würde ich wahrhaftig denken, mein ganzer Plan wäre schon in seinen ersten Anfängen mißglückt! Doch Peter hat mich noch kein Mensch genannt. Jedenfalls muß ich die Sache unbedingt vorsichtig aufklären.“
Wenige Minuten später entführte der D-Zug nach Dresden sowohl die grauhaarige Dame als auch den falschen Peter.
*
Kriminalkommissar Helmut Steinke begab sich dann, nachdem er Krause 2, der umgehend dem Befehl seines Vorgesetzten nachkommen war, sehr genau über den merkwürdigen Vorfall auf dem Potsdamer Bahnhof ausgefragt und auch die Reisetasche und ihren Inhalt sich angesehenen hatte, in einem Auto nach einer jener kleinen, gemütlichen Bierstuben, wie man sie hier und da im Zentrum Berlins noch antrifft. Papa Reichert, der Inhaber dieser in der Mohrenstraße gelegenen Kneipe, legte auf gelegentliche Gäste wenig Wert, da er ein festes Stammtischpublikum besaß.
Steinke, ein Junggeselle von fünfunddreißig Jahren, war regelmäßiges Mitglied des sogenannten ‚Stammtisches der Ehefeinde‘, dessen Runde sich aus drei Juristen, zwei Malern, einem Chemiker, einem Schriftsteller und drei Polizeibeamten – zwei Kriminalkommissaren und einem Polizeirat – zusammensetzte.
Als Steinke, der in diesem Kreise den Spitznamen ‚der schöne Helmut‘ führte, eiligen Schrittes an seinen Stammtisch herantrat, rief ihm sein Kollege Ballin erstaunt zu:
„Ich denke, du hast Dienst?“
„Hab’ ich auch, Generaldirektorchen, und komme daher nur auf eine Minute her. – War Mersen hier?“
Ein Blick rundum, den allseitiges Verneinen begleitete.
Steinke, dem der Kellner inzwischen das gefüllte Stammseidel gebracht hatte, trank stehend zunächst die Blume ab und wandte sich dann an den Schriftsteller Sellert, den man, ohne ihm damit das geringste Unrecht zu tun, das leichtsinnigste Huhn des ‚Stammtisches der Ehefeinde‘ nennen durfte.
„Ich möchte dich mitnehmen, Sellert. Bezahle also, und etwas hurtig!“
Der Schriftsteller, der weit eher nach einem patenten Assessor als einem Federhalter aussah, rief den Kellner herbei.
„Fritz, unser lieber Steinke legt wert auf meine Begleitung und wird sich daher erlauben, meine kleine Zeche von …“ – er rechnete schnell zusammen – „von drei Mark und achtzig nebst dreißig Pfennig Trinkgeld für Sie zu begleichen.“
„Sellert, wir haben doch erst den 9. heute!!“, meinte der Kommissar vorwurfsvoll, bezahlte aber trotzdem und verließ dann mit dem Schriftsteller das Lokal. All die Fragen nach dem Zweck dieses gemeinsamen Aufbruchs beantwortete er mit einem kurzen „Dienstgeheimnis, liebe Freunde!“
Kaum waren die beiden verschwunden, als Ballin, allgemein seines berühmten Namensvetters wegen ‚Generaldirektorchen‘ genannt, halblaut erklärte:
„Wetten, daß irgend etwas mit Mersen los ist?! Der schöne Helmut hat sich unseren Kriminaltheoretiker zu Hilfe geholt.“
Erwin Sellert war ja in der Tat der zur Zeit wohl beliebteste Kriminalschriftsteller. Nachdem er zweimal mit Glanz bei der ersten juristischen Prüfung durchgefallen war, drückte ihm die Not die Feder in die Hand. Und wenige Jahre später bereits hätte er bequem ein wohlgeregeltes, durchaus nicht anspruchsloses Dasein führen können, wenn er nicht ein so unverbesserlicher, aber dabei liebenswürdiger und allgemein beliebter ‚Windhund‘ gewesen wäre. –
Als Steinke und Sellert kaum die Straße betreten hatten, fragte der letztere sofort:
„Was ist denn mit Mersen passiert? Obwohl du nur so nebenbei dich nach ihm erkundigtest, merkte ich doch, daß da irgend etwas nicht in Ordnung ist.“
Der Kriminalkommissar winkte ein leeres Auto herbei.
„Auf dem Potsdamer Bahnhof ist vor einer halben Stunde einem meiner Beamten eine merkwürdige Geschichte begegnet. Steig’ ein. Das weitere erzähle ich dir unterwegs.“ –
Augsburger Straße 28 wohnte Dr. Günter Mersen. Absichtlich hatte Steinke das Auto ein paar Häuser vorher halten lassen. Gerade er als Beamter der Kriminalpolizei konnte nie wissen, ob ihm nicht nachspioniert wurde.
So betraten die beiden Herren denn auch erst das Haus Nr. 28, nachdem sie sich vorsichtig überzeugt hatten, daß ihrem Auto kein zweites gefolgt war.
Mersen bewohnte dort in der ersten Etage des Gebäudes eine der beiden großen Fünfzimmerwohnungen. Er war geborener Danziger, wo er auch bis zu seiner Übersiedlung nach der Reichshauptstadt ansässig gewesen war. Die Wirtschaft führte ihm eine ältere Witwe namens Pilaski mit Unterstützung eines bewährten Dienstmädchens.
Da es inzwischen beinahe halb zwölf Uhr geworden war und das Haus längst dunkel und verschlossen dalag, mußten die Herren zunächst den Portier herausklingeln. Wildgrube, so hieß der Mann, ließ die beiden ihm gut bekannten Freunde des Doktors aus der ersten Etage auch ohne weiteres ein. Schwieriger war es schon, Zugang zu Mersens Wohnung zu erhalten. Erst nach langem Klingeln ertönte hinter der Flurtür die Stimme des Mädchens, und verschlafen, ängstlich und etwas unfreundlich fragte sie, wer Einlaß begehre.
„Erwin Sellert und Kommissar Steinke,“ antwortete dieser. „Überzeugen Sie sich durch das Guckloch, daß wir es sind. Und dann öffnen Sie uns und wecken Frau Pilaski. Wir werden so lange in des Doktors Arbeitszimmer warten.“
Die eingeschaltete Nachtbeleuchtung ermöglichte es dem dienstbaren Geist, die draußen Stehenden prüfend zu mustern. Dann wurde die Sicherheitskette gelöst, und die Herren traten ein.
Steinke hatte alle Flammen des eigenartig geformten, schmiedeeisernen Kronleuchters angedreht und schritt nun unruhig auf dem Perserteppich auf und ab, während Sellert sich in einen Klubsessel gesetzt hatte und eine Zigarette rauchte.
Frau Pilaski erschien nach einer guten Viertelstunde wie immer in einem schwarzen, schlichten Kleide. Um den Kopf hatte sie, um die unordentliche Frisur zu verdecken, einen Spitzenschal geschlungen. Sie begrüßte die Freunde ihres Herrn mit jener kühlen, wenn auch nicht gerade unliebenswürdigen Frostigkeit, die ihr zur zweiten Natur geworden zu sein schien.
Steinke richtete eine ganze Menge Fragen an sie, die knapp, aber erschöpfend beantwortet wurden. Dieses halbe Verhör ließ sie ebenso kalt, wie sie überhaupt bar aller Gefühlsäußerungen zu sein schien. Erst als der Kommissar ihr dann erklärte, er wolle jetzt einmal Doktor Mersens Räume daraufhin durchsuchen, ob er nicht etwas fände, das vielleicht mit den seltsamen Vorgängen von heute Abend zusammenhinge, fragte sie auch ihrerseits:
„Darf ich erfahren, was für seltsame Vorgänge das sind?“ Ihre Stimme war dabei genau so unbewegt wie stets, obwohl sie sich doch sagen mußte, daß es schon ein besonderer Anlaß sein müsse, der die Herren jetzt in der Nacht hierherführte.
Steinke jedoch hüllte sich in vorsichtiges Schweigen.
„Vielleicht gebe ich Ihnen morgen darüber Auskunft,“ erklärte er zugeknöpft. „Wir werden Sie nachher also rufen, wenn wir hier fertig sind.“
In Mersens Laboratorium – es war dies der eigentlich für den Salon bestimmte dreifenstrige Raum nach der Augsburger Straße hinaus – entdeckte Sellert dann auf einem der plumpen, mit Gläsern, Flaschen und allerlei Apparaten bedeckten Holztische einen ganz zusammengeknüllten, mit Maschine geschriebenen Brief ohne Umschlag, der folgendermaßen lautete:
‚Neun Uhr Warmbrunner Straße 2, Dachatelier. Bringen Sie das Nötige mit. Kommen Sie nicht, so wissen Sie, welche Folgen bevorstehen. Und hüten Sie sich vor Verrat. Ihre Freunde kennen wir, auch den Kommissar Steinke.‘
Datum, Anrede und Unterschrift fehlten. Die kurze Mitteilung war auf ein gewöhnliches gelbes Quartblatt geschrieben, nicht auf Schreibmaschinenpapier.
Die Warmbrunner Straße gehört zu der Villenkolonie Grunewald und durchschneidet einen neuen Häuserblock von Norden nach Süden, den eine Terraingesellschaft in der Nähe des Ringbahnhofs Hohenzollerndamm erbaut hat.
Dem Kriminalkommissar war jede Müdigkeit, jeder Unterschied zwischen Tag und Nacht fremd, wenn es galt, eine frische Fährte zu verfolgen. Dieser Mann, der äußerlich beinahe zu geschniegelt und gebügelt aussah, besaß neben einer eisernen Energie, gediegenen allgemeinen Kenntnissen und einer unverwüstlichen Gesundheit den Scharfsinn eines geborenen Detektivs, die Verschlagenheit eines alten Diplomaten aus der englischen Schule und die berechnende Kühnheit eines Trappers aus den romantischen Indianerzeiten. Trotz seiner fünfunddreißig Jahre gehörte er bereits zu den besten Beamten der Kriminalpolizei. Man hatte ihn scherzend oft den deutschen Sherlock Holmes genannt, eine Anrede, die er sich jedoch ernstlich verbat, da die Phantasiefigur dieses Meisterdetektivs, mit seinen am Schreibtisch ausgeklügelten wunderbaren Problemen auf jeden kühl denkenden Kriminalbeamten nur komisch wirken könne, wie er ironisch so und so oft erklärte.
Heute hatte er nun eine neue Aufgabe gefunden, die seiner würdig, also schwierig und rätselvoll erschien. Daß es sich dabei um einen Freund handelte, spornte seinen Eifer nur noch mehr an.
Der Portier der Warmbrunner Straße 2 wurde herausgeklingelt und führte die Herren dann, nachdem Steinke seinen Ausweis gezeigt und eine Reichsmark ihm in die Hand gedrückt hatte, bereitwillig die fünf Treppen bis zu dem Bodenraum hinauf, in den das Maleratelier eingebaut war, das nach seiner Angabe ein Künstler namens Fritz Balke vorgestern gemietet hatte, nachdem es Monate lang leer gestanden habe.
Diese Besichtigung, die beim Lichte der überall fest angebrachten Glühbirnen stattfand, hatte ein dreifaches Ergebnis.
Im Atelier, das im übrigen ebenso kahl und leer war wie die dazugehörigen engen Wohnräume, fand man in einer Ecke gegenüber dem mächtigen, schrägen Fenster auf dem grau gestrichenen Fußboden einen kleinen verwischten nicht völlig eingetrockneten Blutfleck und weiter nach der Mitte zu noch vier Bluttropfen. In der Nähe des bereits leicht braunrot verfärbten Fleckes lag ein Stück starke Schnur, etwa ein Viertelmeter lang, daneben ein Blatt Zeitungspapier von ungefähr Quartgröße.
Diesen Zeitungsrest schaute sich Steinke sehr genau an, indem er ihn gegen das Licht hielt. Dann steckte er ihn sowie die Schnur in die Tasche. Ebenso kratzte er von dem Blutfleck ein wenig in eine kleine leere Blechbüchse, die er zu diesem Zweck stets bei sich trug und in der schon manches Beweismaterial von kleinsten Abmessungen gelegen hatte.
Da hier nichts weiter zu entdecken war, wurde auch noch schnell der eigentliche Bodenraum des Hauses untersucht, wobei der Portier mit einem Stückchen Kerze als Licht herumleuchtete. Gefunden wurde jedoch nichts. Darauf entfernten sich die Herren wieder, nachdem Steinke dem Portier noch strengstens Stillschweigen eingeschärft und ihn vorbereitet hatte, daß morgen Kriminalbeamte erscheinen würden, die die jetzt verschlossenen, den einzelnen Mietsparteien gehörigen Böden durchstöbern sollten. Über den Zweck dieses nächtlichen Besuches sowie der angekündigten Maßnahmen erhielt der Portier jedoch keinerlei Aufschluß.
Die Nacht war warm und windstill, und daher beschlossen die Freunde den Weg nach Sellerts Wohnung in der Gertraudenstraße in Charlottenburg zu Fuß zurückzulegen. Die einsamen, stillen Straßenzüge erlaubten es ihnen, sich ungestört über die Ereignisse des heutigen Abends auszusprechen.
Steinke faßte zunächst, wahrscheinlich um selbst einen geordneten Überblick über das Tatsachenmaterial zu gewinnen, die durch den Kriminalschutzmann Krause 2 berichteten Vorfälle sowie die durch Befragen der Frau Pilaski und durch eigene Wahrnehmungen ergänzten Feststellungen kurz zusammen:
„Die in der Reisetasche gefundenen Wertsachen gehören Mersen, darüber kann kein Zweifel bestehen. Die altertümliche Brillantbrosche hat er erst unlängst bei dem Antiquitätenhändler Bernstein in der Friedrichstraße gekauft und mir gelegentlich gezeigt, wie er ja überhaupt sehr gern antiken Schmuck sammelte.
Selbst wenn wir also nicht das Straßenbahnabonnement und die Mitgliedskarte aus der Geldbörse zur Verfügung gehabt hätten, würden uns schon die erstgenannten Gegenstände auf die Person unseres Doktors hingewiesen haben.
Was mit ihm geschehen ist, wie sein Eigentum in den Besitz eines offenbar von schlechtem Gewissen mißtrauisch gemachten Unbekannten gelangt sein dürfte, darüber können wir nachher reden.
Mir lag die Pflicht ob, in Anbetracht dieser beunruhigenden Beobachtung des Krause 2 festzustellen, welche Angaben Mersen über die Art und Weise machen könne, wie seine in der zurückgelassenen Reisetasche liegenden Wertobjekte in die Hände jenes Fremden geraten sind.
Am Stammtisch war er nicht, obwohl er kaum jemals abends fehlt. In seiner Wohnung ebensowenig. Dort erfuhren wir dann von dieser hundeschnäuzig kalten Frau Pilaski, die mir nebenbei gesagt herzlich unsympathisch ist, folgendes:
Unser Doktor ist heute – nein, gestern, denn es ist bereits halb zwei Uhr nachts – erst nachmittags gegen vier Uhr ausgegangen.
Um sechs, also zwei Stunden später, erscheint ein Herr, dem Frau Pilaski selbst öffnet. Er fragt nach Mersen und gibt dann einen Brief für den Doktor ab, dessen Adresse mit Schreibmaschine geschrieben war. Der Betreffende, gut gekleidet, hat bisher den Doktor noch nie aufgesucht. Frau Pilaski beschreibt diesen Unbekannten nun mit fast genau denselben Angaben, wie Krause 2 sie mir schon telephonisch von seinem merkwürdigen Bahnhofsausreißer übermittelt hatte.
Diese Angaben decken sich sogar bis auf die hellbraunen Schuhe. Nur hat Mersens Hausdame noch hinzugefügt, der Fremde besäße eine unangenehm klingende, heisere Stimme. –
Um sieben Uhr kommt der Doktor nach Hause. Obgleich es zum Abend sein Leibgericht, kalten Bratfisch mit Kartoffelsalat gibt, und obgleich er bei seiner Heimkehr erklärt, er habe nach dem langen Spaziergang einen Mordshunger, rührt er bei Tisch nichts an, sondern trinkt nur hastig ein paar Gläser Burgunder. Er ist auch selten zerstreut und unfreundlich und verläßt dann um halb neun Uhr wieder seine Wohnung, ohne bis zwölf Uhr – zu der Zeit waren wir dort, zurückzukehren.
In seinem Laboratorium finden wir bei der nächtlichen Durchsuchung einen verdächtigen Brief, ohne Zweifel den, den Frau Pilaski von dem Fremden angenommen hat. Dieses Schreiben, das Mersen nach seiner Heimkehr um sieben Uhr abends gelesen hat, ist sicherlich der Grund seiner plötzlichen Appetitlosigkeit, Zerstreutheit und schlechten Laune, da ein Ungenannter ihn darin unter versteckten Drohungen nach der Warmbrunner Straße bestellt. Der Brief ermöglicht es uns aber gleichzeitig, der Sache weiter nachzuspüren.
So kamen wir in das Dachatelier. Der Künstler, der es erst vorgestern – nein, vor drei Tagen – gemietet hat, wird uns von dem Portier ebenso beschrieben, wie Krause 2 und die Pilaski über den Mann mit den gelbbraunen Schuhen ihre Steckbriefangaben machen. Wir begegnen mithin dieser geheimnisvollen Persönlichkeit hier zum dritten Mal.
Das Atelier liefert uns außerdem noch drei wertvolle Beweisobjekte.
Erstens: Blutflecken bzw. -tropfen. Und Blut wies ja auch das Schloß jener Reisetasche auf. –
Zweites: ein Stück Schnur, sehr feste Schnur, an der sich ebenfalls winzige Blutspuren befinden. –
Drittens: ein Stück Zeitung. Diesen unscheinbaren Fetzen Papier will ich dir, lieber Sellert, gleich nachher in deiner Wohnung zeigen. Er dürfte uns viel erzählen können.“
„Du meinst die Nadelstiche, die durch einzelne Buchstaben gehen,“ schaltete der Schriftsteller ein. „Ich weiß, woran du denkst, – an diese Methode, wie aus Gefängnissen und Zuchthäusern mit Hilfe harmlos erscheinender Papierfetzen, die irgend einen Aufdruck haben, kurze Mitteilungen hinausgeschmuggelt werden.“
„Allerdings! Nur daß dieses Stück Zeitung eine Nachricht von Mersen enthält, ist sehr wahrscheinlich. Denn unten an dem weißen Rande ist offenbar mit derselben Nadel, die auch die von dir bemerkten feinen Löcher stach, ein unauffälliges ‚G. M.‘ eingekratzt worden. – So, da sind wir ja inzwischen angelangt.“
Erwin Sellerts Wohnung, die aus drei Zimmern bestand, lag im Erdgeschoß eines uralten Hauses, das sich inmitten eines verwilderten, ziemlich großen Gartens gegenüber der Stadtbahn in der Gertraudenstraße erhob. Dieses zu beiden Seiten von mächtigen Mietskasernen wie von drohenden Mauern eingeschlossene Grundstück bildete den ständigen Ärger der Bewohner der im übrigen nur aus neuen, sauber gehaltenen Gebäuden bestehenden Straße. Der Zaun, der es von der Öffentlichkeit abschloß, war wohl ebenso bejahrt wie das verwitterte Häuschen selbst. Die grün verschimmelten Bretter waren windschief, teilweise lose und trugen oben eine zweite Barriere von starkem Stacheldraht. Jüngeren Datums schien nur die Pforte zu sein, die mit brauner Ölfarbe gestrichen war und ein festes, kompliziertes Schloß aufwies.
In dem kleinen Hause wohnte außer Sellert nur noch der Besitzer des Grundstücks mit seiner Frau und einer schwachsinnigen Tochter. Dieser Malten, so erzählte man sich in der Nachbarschaft, sollte früher ein berüchtigter Wucherer gewesen sein und Haus und Garten bisher nur deswegen nicht verkauft haben, weil er mit den Jahren auf das erhebliche Steigen der Terrainpreise in dieser Gegend rechnete.
Nachdem der Schriftsteller die Gartenpforte aufgeschlossen hatte, schritten die beiden Freunde auf dem in kurzem Bogen verlaufenden Hauptwege dem niedrigen Gebäude zu.
Dann zündete Sellert die große Petroleumlampe über dem Mitteltisch des Arbeitszimmers an und verschwand in seinem Schlafzimmer, um sich bequemer zu bekleiden. Inzwischen arbeitete der Kommissar an der Entzifferung der fein durchstochenen Buchstaben des Zeitungsfetzens, um die bald weit auseinanderstehenden, bald enger gehäuften einzelnen Bestandteile dieser seltsamen Benachrichtigung zu einem sinngemäßen Ganzen zu vereinen. Die Buchstaben, die wohl Mersen aus dem langen, politischen Artikel in dieser Weise gekennzeichnet hatte, ergaben der Reihe nach mit Bleistift auf ein Stück Papier übertragen, folgendes:
mir der tod droht polizei darf auf keinen fall eingreifen sellert vorsichtig nachforschen
Als der Schriftsteller dann zurückkehrte, las Steinke ihm die Entzifferung vor.
Sellert, der sich dem Kommissar gegenüber in den zweiten altväterlichen Korbsessel niedergelassen hatte, schien nicht übermäßig erschrocken von diesen Zeilen zu sein, die Steinke mit so nachdrücklicher Betonung einzelner Worte vorgetragen hatte. Als der Freund nun seiner Verwunderung über diese offenbare Gleichgültigkeit Ausdruck gab, erwiderte der andere ausweichend:
„Teile du mir erst deine Ansicht über den Fall mit, dann will auch ich sprechen.“
„Da ist nicht viel zu sagen. Stellt unser Gerichtschemiker fest, daß die Blutspuren an der Reisetasche und die Flecken in dem Atelier tatsächlich Menschenblut sind, so gibt es meinem Dafürhalten nach nur zwei Erklärungen dafür. Entweder ist Mersen bereits tot, oder aber er ist in einem Kampf mit seinem Feinde – oder seinen Feinden – zum mindesten verwundet worden. In beiden Fällen kommt als Schauplatz nur das Dachatelier in Betracht, wo unser armer Doktor sicherlich überfallen und zunächst gefesselt worden ist. Beweis für letzteres: Das Ende Schnur, das wir dort gefunden haben und das ebenfalls frische Blutspuren zeigt. –
Hier – sieh es dir an. Es ist ohne Zweifel mit blutigen Händen angefaßt worden. Und der Schnitt an diesem Ende geht gerade durch so eine blutige Stelle. Mithin ist dieses Stück von einer längeren, ebenfalls blutbeschmierten Schnur abgeschnitten worden, die – so nehme ich an – zur Fesselung Mersens gedient hat.“
„Und wo soll sich unser Freund jetzt befinden, sei er nun tot oder nur verwundet?“ fragte Erwin Sellert nachdenklich.
„Das werde ich morgen schon herausbekommen,“ meinte der schöne Helmut zuversichtlich.
„Und Mersens Bitte, daß die Polizei sich nicht einmischen soll?“ warf der Schriftsteller ein.
„Kann wörtlich nicht befolgt werden. Aber alles, was ich weiter in dieser Sache tue, wird so geschehen, daß niemand etwas davon ahnt. Zum Schein werde ich daher auch dem Portier Warmbrunner Straße 2 ankündigen, daß er auf die Kriminalbeamten heute am Tage nicht zu rechnen braucht, da ich mir’s anders überlegt hätte. Natürlich werde ich die Bodenverschläge trotzdem durchsuchen lassen. Die Möglichkeit ist immerhin vorhanden, daß eine Leiche in einem der leeren Reisekoffer, Körbe oder einer der Kisten versteckt liegt, die dort überall herumstehen, wie durch die Lattentüren zu erkennen war. Selbstverständlich, lieber Sellert, werden wir beide auch weiter zusammenarbeiten. Nur will ich vollständig hinter den Kulissen bleiben, während du als der eigentlich Handelnde auftreten wirst. Du bist doch einverstanden?“
„Gewiß.“ Dabei verbarg Sellert ein herzhaftes Gähnen hinter der vorgehaltenen Hand.
Steinke erhob sich. „Ich sehe, du bist müde. Bevor ich mich jedoch verabschiede, möchte ich doch noch deine Ansicht hören, – wie versprochen.“
Sellert hatte die Arme auf die Lehne des Korbsessels gelegt und brachte nun wie spielend die Fingerspitzen seiner ausgestreckten Hände zusammen. Offenbar wurde es ihm nicht leicht, eine unumwundene Antwort zu geben.
„Ich bin ja nur Kriminaltheoretiker,“ meinte er dann langsam, „wenn ich auch zuweilen schon Erfolge in der Praxis mit meinen für andere sicher sehr spitzfindig erscheinenden Kombinationen gehabt habe, – Erfolge, die dir dann zugute kamen. In dieser Sache sehe ich noch nicht klar, wie mir jetzt eben so recht zum Bewußtsein gekommen ist. Deshalb gestatte mir, daß ich erst dann mein Urteil abgebe, wenn …“
Steinke unterbrach ihn etwas ungeduldig. „Wenn – wenn!! – Die Sache ist doch ganz klar! Entweder ist Mersen tot oder verwundet in der Gewalt seines Feindes bzw. seiner Feinde. Ich betone: Seiner Feinde! Wir müssen nämlich damit rechnen, daß der Ausreißer vom Potsdamer Bahnhof und der in die Diebstahlsache im Pensionat des Westens anscheinend mitverwickelte Anatol Servier ein und dieselbe Person ist. Ist dies aber der Fall, so stecken der angebliche Russe Boris Utussow sowie die Baronin Parlieux mit Servier auch bei seinem Anschlage auf Mersen unter einer Decke. Wir hätten es dann also nicht mit einem Einzelnen, sondern mit einer ganzen Verbrechergesellschaft zu tun. –
So brauchst du meines Erachtens also nicht gerade lange nachzudenken, um klar zu …“
„Nein, diese ganze Geschichte ist mir zu klar, viel zu klar, mein Lieber!!“ schnitt der Schriftsteller dem Freund das Wort ab. „Für meinen Geschmack als Kriminaltheoretiker greifen die Ereignisse und Tatsachen, die mit unserer Angelegenheit zusammenhängen, zu genau – so etwa wie die Räder eines Uhrwerks ineinander. Nein, bei dieser Geschichte stimmt irgend etwas nicht. Das fühle ich. Da steckt etwas Besonderes dahinter.“
„Du bist zu mißtrauisch, alter Freund. Gewiß – diese einzelnen Anhaltspunkte, die uns bis zu dem Dachatelier geführt haben, reihen sich in überraschender Lückenlosigkeit aneinander. Trotzdem habe ich in der Praxis genug Fälle erlebt, wo wir z. B. bereits eine Stunde nach einem Verbrechen den Täter so gut wie fest hatten.“
Der Schriftsteller erwiderte nichts und ging auch bereitwillig auf alle Vorschläge ein, die Steinke ihm hinsichtlich der weiteren Verfolgung der Angelegenheit machte. Dann verabschiedete sich der Kommissar. Am Bahnhof Charlottenburg nahm er sich ein Auto und fuhr seinem, in der fernen Alexanderstraße gelegenen, Heim zu.
Als der dort eintraf, war es bereits völlig hell geworden. Wie immer war sein erster Gang zu dem im Innern des Flures angebrachten, festen Briefkasten, der schon manche eilige, wichtige Mitteilung aufgenommen hatte. Auch heute war ein Brief darin mit Steinkes vollständiger, mit Maschine geschriebener Adresse. Der Umschlag enthielt einen Zettel, darauf einige Zeilen in derselben Maschinenschrift.
Er las: ‚Wenn Sie Ihre Hände nicht von der bewußten Sache lassen, gefährden Sie das Leben Ihres Freundes ernstlich. Sie waren in der Warmbrunner Straße! Treffen wir Sie nochmals auf unserem Wege, so tragen Sie allein die Folgen!‘
Steinke ballte unwillkürlich die Fäuste. „Bande – ich werde euch das Spiel verderben! Mit mir hat noch keiner angebunden, ohne der Hereingefallene zu sein!“
Nochmals schaute er sich den Umschlag dieses Schreibens an. Keine Briefmarke, kein Poststempel war darauf zu sehen. Also hatte man den Brief ihm direkt ins Haus getragen. –
Helmut Steinke legte sich nicht zu Bett. Bei einer starken Zigarre und einer selbstgebrühten Tasse Kaffee saß er fast regungslos in einer Sofaecke seines Arbeitszimmers und entwarf den Schlachtplan, wie er diese rätselhaften Vorfälle ergründen könne. Das eine stand ja nun fest: Sellert und er waren heimlich beobachtet worden. Daß man dann nur ihm diese Warnung zugeschickt hatte, mochte daran liegen, weil Mersens Feinde ihn für den gefährlicheren hielten – oder weil sie noch nicht die Zeit gefunden hatten, dem Schriftsteller einen ähnlichen verkappten Drohbrief zukommen zu lassen. War er doch mit Sellert auf dem kürzesten Wege von der Warmbrunner nach der Gertraudenstraße gegangen.
Steinke schaute finster vor sich hin. Hier hieß es sich in acht nehmen, das merkte er. Seine Gegner waren verschlagen und vorsichtig aber auch frech und schienen über alles nur zu gut unterrichtet. Und unwillkürlich dachte er abermals an Servier und Utussow und die angebliche Baronin von Parlieux.
Die grauhaarige Dame, die auf der Treppe des Anhalter Bahnhofs offenbar dem Unrichtigen die leisen Vorwürfe über eine unzureichende Verkleidung gemacht und ihn dabei mit ‚Peter‘ angeredet hatte, war in ein Abteil 3. Klasse des abfahrbereiten D-Zuges nach Dresden eingestiegen, während der ‚falsche Peter‘ vornehm die 2. Klasse benutzte. Freilich hatte er seinen Platz erst aufgesucht, nachdem er vorsichtig festgestellt hatte, daß die Frau im langen Reisemantel tatsächlich auch im Zuge saß.
Das Benehmen dieses Mannes, der eben erst eine Reisetasche mit doch fraglos gestohlenen Wertsachen darin im ersten Schreck in den Händen des Kriminalbeamten zurückgelassen und dann in der Vorhalle des Anhalter Bahnhofs von einem Dienstmann einen Handkoffer und einen Ulster sowie eine Fahrkarte in Empfang genommen hatte, – das Benehmen dieses nach alledem reichlich rätselhaften Fremden zeigte eine gewisse Unsicherheit und Ängstlichkeit, die er offenbar mit aller Energie zu bekämpfen suchte. Vollständig gelang ihm dies jedoch nicht.
Das Abteil hatte außer ihm nur zwei weitere Insassen, ein älteres Ehepaar, das sich sehr bald in die Polster zurücklehnte und einschlief. Diese harmlose Nachbarschaft beruhigte ihn sichtlich. Die neueste Abendzeitung, die er bisher häufig umgewendet und offenbar nur zum Schein zur Hand genommen hatte, wurde jetzt mit mehr Behagen durchgesehen.
Die Zeitung, nicht besonders umfangreich wie alle zweimal am Tage erscheinenden Berliner Blätter, brachte nur unter ‚Lokales‘ etwas wirklich Interessantes. Mit wachsender Spannung las der Fremde den ziemlich ausführlichen Bericht über ein in einem Pensionat der westlichen Vororte begangenes Verbrechen.
Dort war vor einer Woche eine angeblich aus Wien zugereiste französische ‚Baronin‘ namens Parlieux abgestiegen, die auf den klingenden Theaternamen Beatrice Anspruch erhob, sehr vornehm aussah, erheblichen Aufwand trieb und angab, sie erwarte hier ihren Gemahl, den sportliche Interessen noch in Wien festgehalten hätten, während sie selbst in der Reichshauptstadt inzwischen eine ärztliche Berühmtheit ihres nervösen Kopfleidens wegen konsultieren wolle.
Wenige Tage nach Ankunft der Baronin erhielt das Pensionat mit einem Franzosen namens Servier und einem Russen Boris Utussow zwei neue Gäste, in denen die schöne ‚Baronin‘ zu ihrer lebhaften Freude zwei alte Bekannte aus Paris entdeckte, mit denen sie fortan auch sehr viel zusammen war, – freilich ohne sich dadurch in dem kleinen Flirt stören zu lassen, den sie mittlerweile mit einem schwerreichen bulgarischen Petroleumkönig aus derselben Pension begonnen hatte. Dieser Herr fand sehr bald auch an Servier und Utussow viel Gefallen, und so bummelte man denn zu vieren durch das nächtliche Berlin, bis gestern gegen Abend – – das dicke Ende dieser Gelegenheitsfreundschaft nachkam.
Der Bulgare hatte am Nachmittag nämlich die Baronin und die beiden anderen ‚Herren‘ in seinen Salon im Pensionat eingeladen, um mit ihnen einige Weinsorten durchzukosten, von denen er größere Mengen zu kaufen beabsichtigte. Dieser recht kostspielig gewordene Dämmerschoppen dauerte bis gegen sieben Uhr, als der Bulgare sich, wenigstens nach einer Äußerung der ‚Baronin‘ dem Stubenmädchen gegenüber, derart bei der Weinprobe übernommen hatte, daß er sich auf den Diwan gelegt hätte und vorläufig nicht gestört zu werden wünschte.
Um acht Uhr erhielt die Baronin dann ein Telegramm von ihrem Gatten aus Wien – es war jedoch ein Stadttelegramm und auf dem Postamt Halensee aufgegeben – soviel steht jetzt fest – das sie schleunigst nach der Donaustadt rief. Sie reiste daher sofort ab. – Wenigstens fuhr sie in einem Auto mit ihrem Gepäck davon, soll aber – die Polizei bewahrt über manche Punkte noch Stillschweigen – in Wahrheit in Berlin geblieben sein.
Servier und Utussow, die angeblich nur der Baronin wegen so lange in der Reichshauptstadt Station gemacht hatten, bezahlten gleichfalls ihre Rechnungen, packten die Koffer und ließen sie gegen neun Uhr nach dem Friedrichstraßenbahnhof bringen, um sie morgens zur Abfahrt des D-Zuges Köln–Paris gleich bei der Hand zu haben. Dann gingen sie zusammen aus, kehrten jedoch nicht wieder in das Pensionat zurück, wo sie nur ihre leeren Handtaschen auf den Zimmern als Andenken gelassen hatten.
Um halb zehn Uhr erwachte der Bulgare und schlug sofort Lärm, nachdem er sich etwas von den Wirkungen des ihm heimlich beigebrachten Schlafpulvers erholt hatte. Die Spitzbuben hatten sein Gepäck vollständig durchwühlt und ihm außer einer Brieftasche mit dreißigtausend Mark Inhalt noch zwei wertvolle Brillantringe gestohlen. –
Auf Wunsch der Polizei bringen wir eine Beschreibung der drei Hochstapler.‘ Und mit dieser Beschreibung endete der Artikel in dem Blatt.
Die Personalangaben stimmten genau mit denen auf Krause 2’s Zettel überein.
Der ‚falsche Peter‘ würdigte dieses Gaunerstückchen, das hier so nüchtern wiedergegeben war, einer recht eingehenden Beachtung. Leise aufseufzend legte er dann die Zeitung bei Seite, starrte nachdenklich vor sich hin und … dachte an seine Handtasche, die jetzt ohne Zweifel der Polizei in Berlin so manches Rätsel aufgeben würde.
Dann trat er in den Gang hinaus, um eine Zigarette zu rauchen. Gute zehn Minuten blieb er ganz allein, sah die nächtliche Landschaft an dem Fenster vorüberhuschen, hörte schnell verhallendes Hundegekläff und beobachtete eine Zeitlang ein größeres Feuer, offenbar ein brennendes ländliches Gebäude, das in weiter Ferne rot durch die Dunkelheit leuchtete.
Das leise Knarren der sich öffnenden Pendeltür des Ganges ließ ihn aufblicken. Es war die grauhaarige Dame mit dem schwarzen Schleier. Scheu sich umblickend, ließ sie einen kleinen Zettel zu Boden fallen, winkte dem ‚falschen Peter‘ verstohlen zu und verschwand wieder.
‚Ich werde die Person wahrhaftig nicht los!‘ dachte der immerhin mit einer gewissen Neugierde auf die weitere Entwicklung dieses Abenteuers. ‚Die Hauptsache bleibt aber, daß mein erster Schreck auf der Treppe des Anhalter Bahnhofs überflüssig war. ‚Sie‘ ist es nicht, wie ich im ersten Augenblick fürchtete.‘
Inzwischen hatte er ohne Hast den Zettel an sich gebracht, trat damit unter eine entfernte Lampe am anderen Ende des Wagens und las, – schüttelte den Kopf, – las weiter …
„Das wird ja immer schöner!“ murmelte er vor sich hin. „Was heißt denn das nun wieder …?!“ Und abermals schaute er auf die mit Bleistift gekritzelten Zeilen, als wolle er sich vergewissern, daß er tatsächlich nicht träume.
‚Ich glaube, man beobachtet mich. Sicher bin ich meiner Sache nicht. Trotzdem scheint es ratsam, daß du dich bei der Einfahrt in Dresden bereithältst, meinen Karton an dich zu nehmen. Bedecke ihn dann mit deinem Ulster. Ich will zusehen, daß ich in den Waschraum für Damen schlüpfen kann, um mich zu verändern. Ebenso steige du in Wiesbaden vorsichtshalber im Schloß ab. Und nochmals – deine Verkleidung ist miserabel.‘ –
Dann saß der ‚falsche Peter‘ wieder grübelnd auf seinem Fensterplatz. Den Zettel hatte er eng zusammengefaltet in den Überzug seines Schirmes gesteckt, wo er sich von der prallsitzenden, schwarzen Seide in seinen Umrissen nur wenig abhob.
Was nun? Sollte er dieses merkwürdige Spiel weiter mitmachen?! Ohne Zweifel hatte er bei seinem jetzigen Aussehen sehr große Ähnlichkeit mit einem nahen Bekannten der grauhaarigen Dame, die offenbar auf ziemlich faulen Pfaden wandelte. Darüber war er sich schon auf dem Anhalter Bahnhof in Berlin klar geworden. –
Ja, was nun? Vielleicht brachte ihn diese Verwechslung noch in Ungelegenheiten, die er bei seiner Lage tunlichst vermeiden mußte. Immerhin, – wenn er vorsichtig war …! Man mußte doch sehen, was bei dieser ganzen Geschichte herauskam.
Er beschloß also, zunächst die Dinge ihren Gang gehen zu lassen. Also den Karton sollte er an sich nehmen …?! In diesem schienen mithin Sachen aufbewahrt zu werden, die irgendwie gefährdet waren. Und der Beobachter der Grauhaarigen? Ob das etwa ein Kriminalbeamter war? Vielleicht auch ein Feind, ein Verfolger, – wer konnte das sagen?!
*
Die Sonne war gerade im Aufgehen begriffen, als der D-Zug sich Dresden näherte.
Der ‚falsche Peter‘ hatte sich unauffällig, Handkoffer und seinen Schirm in der einen Hand, den Ulster über dem anderen Arm tragend, in den Nebenwagen begeben, wo die Grauhaarige ihren Platz hatte. Hier wartete er in dem von Reisenden dicht angefüllten Gange, die sämtlich möglichst als erste den Bahnsteig betreten wollten, bis seine ‚bekannte Unbekannte‘ sich mit ziemlicher Rücksichtslosigkeit an ihm vorbeidrängte und bei dieser Gelegenheit ihren Pappkarton in seine Hand schmuggelte.
Alles ging auf. In der Hast des Aussteigens achtete niemand auf dieses kleine Manöver.
Als ‚Peter‘ dann den Bahnsteig betrat, war die Grauhaarige ihm schon ein gutes Stück voraus. Er beschleunigte seine Schritte sofort, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Sie wollte ja den Waschraum für Damen dazu benutzen, um sich ‚zu verändern‘. Und das konnte doch nur heißen, daß sie ihre äußere Erscheinung durch irgend welche Kunstgriffe zu verwandeln beabsichtigte. Wie sie das allerdings fertigbringen wollte, war ihm völlig rätselhaft. Hatte sie jetzt doch außer ihrem einfachen Schirm keinerlei Gepäckstück bei sich, nicht einmal eine Handtasche. Der lange Reisemantel bedeckte ihr Kleid vollständig.
Der ‚falsche Peter‘ stand nachher in der Nähe des Eingangs zum Waschraum hinter einem großen Stollwerck-Automaten und harrte der Dinge, die da kommen würden. Gleichzeitig aber beobachtete er auch die Umgebung genau um festzustellen, ob irgend jemand der schwarzverschleierten Dame gefolgt war. Er bemerkte jedoch nichts Verdächtiges.
Eine gute Viertelstunde verging so. Dann tat sich die Tür des Waschraumes, durch die mittlerweile eine ganze Anzahl von Damen verschwunden war, auf und heraus trat ein weibliches Wesen, in dem der heimliche Beobachter niemals seine Grauhaarige wiedererkannt hätte, wenn nicht der Schirm gewesen wäre, dessen gebogene Holzkrücke mit der Verzierung von drei Messingringen ihm so vertraut vorkam. Aber selbst dieser Schirm, den das schlanke, junge Weib in graziöser Weise im Arm trug, hatte sich verwandelt. Schien er vorher aus solidem schwarzen Stoff zu bestehen, so hatte er sich jetzt, wohl mit Hilfe eines hellvioletten seidenen Überzugs und einer gleichfarbigen, an dem hohen Griff angebrachten großen Schleife, in ein für ein so entzückendes Wesen durchaus geeignetes Ausrüstungsstück verändert. Und das Äußere, die ganze Erscheinung …?! Ja, war eine so vollkommene Mauserung denn wirklich möglich?! Täuschte er sich auch nicht …?! –
Das graue Haar war natürlich verschwunden. Schwere, dunkle Flechten umrahmten ein rosiges Gesichtchen, in dem ein Paar übermütige, braune Augen blitzten. Und auf diesen Flechten thronte ein kecker, mittelgroßer, schwarzer Strohhut mit weicher, in Florentiner Art gebogener Krempe, der als einzige Garnierung einen lose gesteckten weißen Schleier mit schwarzen Tupfen trug. Neidisch bedeckte dieser Schleier eine sicher edelgeformte Stirn bis an die Augenbrauen. Der abscheuliche Mantel war ganz verschwunden. Sicher hatte die junge – denn jetzt war es eine junge, und zwar sehr reizvolle, keine ältere Dame mehr – dieses allzu verräterische Kleidungsstück in der von ihr benutzten Zelle des Waschraumes einfach zurückgelassen. Dafür umspannte ein tadellos sitzendes, blauseidenes Straßenkleid mit geschmackvollem Spitzenbesatz die schlanke, mittelgroße Gestalt. Den Schirm im linken Arm, in der Rechten eine kleine Handtasche aus silberner Kettenarbeit haltend, schritt sie gerade auf den Automaten zu, suchte aus ihrer Börse ein Zehnpfennigstück heraus und steckte es in eine der Einwurföffnungen. Den ‚falschen Peter‘ würdigte sie dabei keines Blickes, obwohl sie ihn unbedingt bemerkt haben mußte. Ganz verzückt starrte der noch auf die reizenden Grübchen in den fischen Wangen seiner Unbekannten, als eine Stimme leise wie ein Hauch an sein Ohr drang:
„Ist mir jemand gefolgt?“
Worauf er halb unbewußt ebenso vorsichtig antwortete:
„Habe nichts bemerkt.“
Und wieder kaum vernehmlich:
„Auf Wiedersehen in Wiesbaden.“ Dann schritt sie weiter und verschwand um die Ecke nach dem Ausgang hin.
Der Mann hinter dem Automaten stand noch immer wie versteinert. Dann aber stürzte er dem Ausgang zu. Aber seine Schönheit war längst über alle Berge.
So nahm er sich denn einen Taxameter und suchte sich ein möbliertes, billiges Zimmer – mit Flureingang. Letzteres war ihm die Hauptsache. Bald hatte er etwas Passendes gefunden, zahlte für drei Tage den Preis voraus, schloß sich ein und … öffnete mit beinahe zitternden Händen den Karton, den ihm ‚seine‘ Unbekannte zugesteckt hatte.
Und was lag darin …?! Eine Unmenge zusammengeknüllter Zeitungen, die einer einfachen Pappschachtel als Halt gedient hatten. Mit einem Bindfaden war diese umknotet. Er schnitt ihn entzweit …
Eine Brieftasche aus rotem Juchtenleder kam zum Vorschein; vielversprechend war ihr Umfang. Banknoten enthielt sie, einen ganzen Stoß. Er zählte – zählte: Siebenundzwanzigtausend Mark!! – Und weiter?! – In Seidenpapier gewickelt zwei Brillantringe, eine Busennadel mit drei leuchtenden Smaragden, ein Brillianthalsband, Ohrringe mit von Diamanten umgebenen Perlen, noch mehr Ringe, eine Uhr …
Der ‚falsche Peter‘ hatte genug gesehen. Er sank halb vernichtet in den nächsten Stuhl.
Kein Zweifel! Was er hier vor sich ausgebreitet hatte, war der Raub jener drei Hochstapler, über die der Bericht in der gestrigen Abendzeitung gesprochen hatte. Und – da hatte ja auch gestanden, daß die angebliche Baronin von Parlieux dunkles Haar, dunkle Augen und Grübchen in den Wangen haben sollte …!!
Erst nach einer geraumen Weile hatte der ‚falsche Peter‘ sich soweit gefaßt, daß er an das Nächstliegende, seine eigene Sicherheit, denken konnte. Schnell packte er alles wieder in die Pappschachtel, überzeugte sich, daß niemand ihn durch ein Schlüsselloch oder das Fenster beobachten könne und entnahm dann seinem Handkoffer allerlei seltsame Dinge, die sonst mehr in das Ankleidekabinett eines Schauspielers zu gehören pflegen: Schminke, eine dunkle Perücke, einen Bart, Klebstoff und anderes mehr.
In einer halben Stunde war er mit seiner Arbeit fertig, schaute nochmals in den großen Handspiegel und nickte seinem jetzt vollständig veränderten Gesicht zu. Er wußte ja, daß auch ihm die Polizei sehr bald auf den Fersen sein würde, daß man ihn vielleicht schon jetzt eines Verbrechens wegen verfolgte, dem die Behörden sicherlich mit größtem Eifer nachspüren würden.
Gleich darauf verließ der ‚falsche Peter‘, nachdem er den Schmuck und die Brieftasche in seinen eigenen Handkoffer neben die Verkleidungsrequisiten verpackt hatte, sehr vorsichtig sein kaum vor einer Stunde gemietetes Zimmer, das Haus und begab sich, Schirm, Koffer und Ulster in beiden Händen tragend, nach einer Taxameterhaltestelle, wo er einen der dort haltenden Wagen bestieg und sich nach dem ‚Elb Hotel‘ fahren ließ.
Daß ihn niemand, der ihn vorher im seinem blonden Haar- und Bartschmuck sowie mit der goldenen Brille vor den Augen gesehen hatte, wiederkennen würde, wußte er genau. Die Brille war ja jetzt verschwunden und hatte einem Kneifer mit dunkler Hornfassung Platz gemacht. Ebenso zeigte seine Gesichtsfarbe nunmehr eine Schattierung ins gelbliche, während sie vorher von einer gesunden Röte gewesen war.
Mit größter Sicherheit im ‚Elb Hotel‘, einem der neuesten Riesenpaläste für den Fremdenverkehr, auftretend, ließ er sich ein Zimmer anweisen und trug sich dann in das Gästebuch als Dr. Herbert Majorka aus Hamburg, Arzt und Sanatoriumbesitzer, mit seltsam schräger, energischer Schrift ein.
Der Kellner mußte ihm gleich darauf ein reichhaltiges Frühstück servieren, nach dessen Bewältigung der neuerstandene Dr. Majorka die Diebesbeute sowie mehrere Päckchen, die er den Innentaschen seines Rockes und seiner Weste entnahm, in einen starken Pappbogen einwickelte. Das Paket gab er im Bureau zur Aufbewahrung in dem Tresor gegen Quittung ab, atmete nunmehr sichtlich erleichtert auf und begann einen gemütlichen Bummel durch die Elbanlagen, die mit ihren künstlerischen Blumenrabatten und Gruppen von knospenden Ziersträuchern geradezu zum Verweilen einluden.
So setzte der ‚falsche Peter‘ sich denn auf eine Bank, zündete sich eine Zigarette an und erfreute sich an dem lebhaften Treiben, das sich auf dem vor ihm liegenden Kinderspielplatz immer fröhlicher entwickelte, je wärmer die Maisonne mit der herannahenden Mittagstunde vom klaren Himmel herabschien.
Plötzlich stutzte er. Auf einem Seitenwege war soeben eine schlanke, junge Dame, die zwei reizende, nur etwas allzu herausgeputzte Kinder an der Hand führte, auf den freien Platz eingebogen. Ungläubig starrte er nach der einfach, aber äußerst geschmackvoll angezogenen Begleiterin der beiden Kleinen hin. Seine Augen weiteten sich förmlich. Und jetzt schritten die drei langsam an ihm vorüber. Kein Zweifel – sie war es, seine Reisegefährtin von der verflossenen Nacht, die rätselhafte Unbekannte. Haarfarbe, Grübchen in den Wangen – alles stimmte. Nur gekleidet war sie anders. Aber auch der Gang verriet sie, die Haltung des Kopfes und das Leuchten der dunklen Augen.
Wie befreit atmete er auf. Ein glücklicher Zufall, den er kaum erwartet hatte, war ihm zu Hilfe gekommen. Jetzt würde er diese Dame nicht wieder aus den Augen verlieren. Dafür wollte er schon sorgen. Rede und Antwort sollte sie ihm stehen, wie der Schmuck und die Brieftasche in ihren Besitz gelangt war. Natürlich würde sie leugnen, würde nie zugeben, daß sie mit jener Hochstaplerin, der Baronin von Parlieux, identisch sei. –
Was er dann weiter tun wollte, das hing ganz von den Umständen ab. Doch hierüber würde er sich schon zur rechten Zeit schlüssig werden.
Inzwischen hatte die junge Dame sich auf eine leere Bank in der Nähe gesetzt und nahm nun ein Buch hervor, während die Kinder auf einem nahen Haufen feinen Sandes ihre harmlosen Spiele begannen.
Nach einiger Zeit pirschte der ‚falsche Peter‘ sich unauffällig heran und nahm auf derselben Bank Platz.
Seine Nachbarin übersah ihn jedoch vollständig. Eifrig las sie weiter, ohne sich im geringsten durch die Nähe des fremden Herrn stören zu lassen. Nur ein einziges Mal hatte sie aufgeblickt, als er ihr mit einem höflichen ‚Bitte!‘ ein Lesezeichen aufhob, das aus den Seiten ihres Romans herausgeglitten war.
‚Sie erkennt mich natürlich nicht,‘ dachte vergnügt der nunmehrige Dr. Majorka. ‚Ich muß also jetzt ihrem Komplizen gar nicht mehr ähnlich sehen. Beginnen wir daher den Angriff.‘
Er rückte ihr etwas näher, woraufhin ihn ein verweisender, strenger Blick traf.
Trotzdem begann er, indem er leicht den Hut lüftete:
„Verzeihen Sie, daß ich Sie anspreche. Aber wir beide müssen unbedingt miteinander etwas ins Reine bringen, das keinen Aufschub duldet.“
Wieder der ablehnende, unnahbare Blick.
„Mein Herr, ich kenne Sie nicht. Und wenn …“
„Sie irren sich! – Sie kennen mich!“ unterbrach er sie ernst. „Sie waren es, die mir heute morgen auf dem Bahnhof bei der Ankunft des Berliner D-Zuges Ihren Pappkarton in die Hand spielte und darauf im Waschraum Ihre Verkleidung ablegte bzw. wechselte.“
„Sie – Sie scheinen nicht ganz bei Sinnen zu sein, mein Herr!“ stieß sie empört hervor und schaute ihn entrüstet an. „Ich wiederhole nochmals: Ich kenne Sie nicht, und ich bin auch seit Monaten nicht in Berlin gewesen. Falls Sie mich weiter belästigen, zwingen Sie mich meinen Platz zu wechseln.“
„Ich warne Sie!“ sagte der angebliche Dr. Majorka mit solchem Nachdruck, daß die junge Dame ihn unsicher abermals musterte. „Ich warne Sie!! Spielen Sie mir keine Komödie vor. Ich erkenne Sie mit größter Bestimmtheit wieder. Von meinem Versteck hinter dem Automaten aus habe ich Sie lange genug vor Augen gehabt, um mir Ihre Gesichtszüge mit allen Einzelheiten einzuprägen. Ich bin der, den Sie für ‚Peter‘ hielten, als solchen ansprachen und mit einer auf ein Zettelchen geschriebenen Mitteilung versahen, die die Aufforderung enthielt, ich solle den Karton kurz vor der Einfahrt des Zuges an mich nehmen.“
Jetzt rückte sie ein gutes Stück bis ans Ende der Bank von ihm ab. Und mit einer Stimme, in der ebenso viel Staunen wie Empörung lag, sagte sie:
„Und doch, Sie befinden sich in einem Irrtum oder – sind nicht im Besitz Ihrer gesunden Sinne. – Nochmals – ich kenne Sie nicht! Und nun lassen Sie mich gefälligst in Ruhe.“
„So – und die gestohlenen Schmucksachen, die Brieftasche? Wie steht es damit, Frau Baronin von Parlieux?! Wenn ich auch selbst die Polizei zu scheuen habe, so will ich doch nichts mit anderen faulen Geschichten zu tun haben. Sie werden daher froh sein müssen, wenn ich den ganzen Inhalt Ihres Pappkartons …“
Erregt, mit einem Ausdruck im Gesicht, der zwischen Angst und Ärger die Mitte hielt, war sie aufgesprungen und rief:
„Sparen Sie sich alle weiteren Worte, mein Herr. Sie sind verrückt, oder ein Unverschämter, der irgendwelche besonderen undurchsichtigen Absichten verfolgt.“
Darauf klappte sie ihr Buch zusammen, rief die Kinder herbei und entfernte sich hastig. Trotzdem hatte in ihrem Auftreten eine gewisse Unsicherheit gelegen, die dem ‚falschen Peter‘ nicht entgangen war.
„Sie ist es doch!“ knurrte er und schlich den dreien vorsichtig nach. Hierbei bemerkte er, wie die junge Dame sich mehrmals argwöhnisch umschaute, freilich ohne ihn zu erblicken, da er Bäume und Büsche stets als Deckung benutzte.
Die Verfolgung dauerte gute zwanzig Minuten und endete vor einem Hause in einem der neuen Villenviertel des Elbufers. Es war ein prächtiges Gebäude, offenbar ein Privatbesitz, in dem die drei – die Dame mit den zwei Kindern – verschwanden.
‚Dr. Majorka‘ wartete, verborgen hinter einer Anschlagsäule, eine halbe Stunde lang geduldig und schlenderte dann erst auf dem Bürgersteig weiter bis zu der Eingangspforte des schmiedeeisernen Gitters. Ein blankes Messingschild belehrte ihn, daß das villenartige Haus von einem Herrn Leo Salomon, Generalkonsul, bewohnt wurde. Und nach weiteren zwanzig Minuten hatte er von dem Chauffeur des Generalkonsuls, der zu Fuß zu einer Besorgung nach einer nahen Drogerie geschickt worden war, mit Hilfe eines Zehnmarkstücks alles erfahren, was er wissen wollte.
Die junge Dame war seit einem Jahre Erzieherin bei den Kindern des Herrn Salomon. Soeben erst sei sie von einem vierzehntägigen Erholungsurlaub zurückgekehrt, den sie im Riesengebirge mit einer Freundin zusammen verlebt habe. Sie heiße Herta Günter und erfreue sich bei der Familie des Generalkonsuls großer Beliebtheit.
„So – so,“ meinte ‚Peter‘ darauf. „Im Riesengebirge …! Wissen Sie das genau?“
Darauf hatte der Chauffeur ihn mißtrauisch angesehen.
„Sind Sie etwa von der Polizei?“ fragte er unfreundlich. „Dann werden Sie bei unserem Fräulein umsonst herumspionieren. Die hat nichts verbrochen. Das ist eine Seele von Mensch. Zu jedem freundlich, immer hilfsbereit und gar nicht hochnäsig, obwohl sie sehr gebildet ist und aus feiner Familie stammt. Also – von der lassen Sie man die Finger weg!“
Damit war der Mann gegangen.
‚Peter‘ aber murmelte: „Feine Familie!! Das stimmt! Sicher planen die Spitzbuben bei dem reichen Generalkonsul einen ganz großen Schlag und haben die vielseitige ‚Baronin‘ aus diesem Grunde hier als Erzieherin untergebracht. – Riesengebirge …!! Heißt diesmal Berlin!! – Mir wird nichts anderes übrigblieben als diesem raffinierten Weibe aufzulauern. Einmal werde ich sie schon allein treffen. Und dann muß sie mir versprechen, diese Rolle sofort aufzugeben, damit die Gaunerbande ihre Pläne nicht zur Ausführung bringen kann. Dulden darf ich das nicht! Schon schlimm genug, daß ich die Gesellschaft wegen der in Berlin verübten Diebstähle straflos ausgehen lassen muß. Aber das verlangt meine eigene Sicherheit. Ich tue schon ein übriges, wenn ich die Diebesbeute anonym der Polizei zuschicke.“
Hier machten des ‚falschen Peter‘ Gedanken einen Sprung. Unwillkürlich mußte er lächeln.
„Eigentlich ein tolles Stück, daß ich, ausgerechnet ich, der selbst von der Polizei gejagt wird, – vielleicht eines schlimmeren Verbrechens als des Diebstahls wegen! – der Gerechtigkeit in die Hände arbeite. Das Leben schafft doch seltsame Komödien!“
Und dann seufzte ‚Peter‘ plötzlich schwer und tief. –
Am Nachmittag stand er abermals vor der Villa auf der Lauer. Eine Stunde verging. Wieder hatte er die Anschlagsäule als Deckung gegen Sicht erkoren und nun bereits alle Theaterzettel usw. fast auswendig gelernt.
Dann – endlich, ‚Glück muß man haben!‘ dachte er. – Endlich erschien die junge Dame wirklich und zwar allein.
Vorsichtig sich umschauend, schritt sie der inneren Stadt zu. Bald hatte ‚Peter‘ sie eingeholt. Sie befanden sich gerade mitten auf einem öffentlichen Flanierplatz, als er sie ansprach.
„Falls Sie mich nicht anhören,“ sagte er leise, indem er neben ihr Schritt hielt, „übergebe ich …“
Ihr Kopf war herumgefahren. Leichte Blässe verfärbte ihr Gesicht.
„Schon wieder Sie …!!“ stieß sie halblaut hervor. „Entfernen Sie sich. Ich habe nichts mit Ihnen zu schaffen.“
In demselben Augenblick ertönte hinter ihnen eine harte, befehlende Stimme.
„Ich erkläre Sie beide für verhaftet. Keinen Widerstand! Folgen Sie mir zu jener Droschke!“
Der Mann, der den beiden jetzt gegenüberstand, war ein breitschultriger, bärtiger Riese in einfachem Zivilanzug.
‚Peter‘ war leichenblaß geworden, was sogar unter der dünnen Schicht Schminke, die seine Wangen bedeckte, deutlich zu bemerken war.
Inzwischen hatte der Kriminalbeamte auch seine Ausweiskarte vorgezeigt und sagte nun barschen Tones:
„Hinein in den Wagen. Auf dem Polizeipräsidium wird sich das weitere finden.“
Das junge Mädchen, völlig kopflos vor Angst und Verwirrung, klammerte sich wie schutzsuchend an den angeblichen Dr. Majorka.
„Helfen Sie mir – ich flehe Sie an! Diese Schande …! Ich habe doch nichts verbrochen …!“, klagte sie flehend. „Sie müssen doch wissen, daß ich …“
„Genug! Vorwärts – oder ich rufe Hilfe herbei!“ erklärte der Beamte drohend und ergriff den ‚falschen Peter‘ beim Handgelenk.
Doch da kam diesem die Besinnung zurück. Mit einem Ruck riß er sich los und rannte mit großen Sprüngen einem Warenhause zu, das fast die ganze eine Seite des Platzes mit seiner breiten Front einnahm.
Ein gellender Pfiff, und zwei weitere Polizisten in Zivil, die sich bisher abseits gehalten hatten, nahmen sofort die Verfolgung auf.
Der Flüchtling hatte keine fünfzig Schritt Vorsprung. Trotzdem gelang es ihm im Gedränge des Warenhauses, in dem gerade ein billiger Verkaufstag stattfand, zu verschwinden. Er hatte insofern Glück, als ein Fahrstuhl soeben in die oberen Stockwerke hinaufstieg. Ruhig betrat er den Lift, um keinen Verdacht zu erregen, und sah zu seiner Erleichterung, daß der Führer die Tür sofort hinter ihm zuschob und den Hebel umlegte.
Erst im dritten Stockwerk, in der Herrengarderobeabteilung, stieg er aus, suchte sofort eine der Waschtoiletten auf und glaubte sich nunmehr gerettet. –
Mittlerweile war der Taxameter, den der Kriminalbeamte für sich bereitgehalten hatte, mit der jungen Dame und dem bärtigen Riesen davongefahren. Still vor sich hinweinend hatte die Erzieherin des Generalkonsuls alles über sich ergehen lassen. Und erst in der Untersuchungszelle des Polizeipräsidiums brach sie ohnmächtig zusammen. Eine Wärterin bemühte sich um sie und brachte sie schnell wieder ins Bewußtsein zurück.
„Sind wohl das erste Mal hier, wie?“ fragte das starkknochige Weib in der grauen Uniformbluse neugierig.
Die Gefangene sah sich halb irren Blickes in dem kahlen Raume um. „Haben Sie Erbarmen mit mir,“ flehte sie mit gefalteten Händen, indem sie sich auf dem eisernen Bett, auf dem sie bisher gelegen hatte, aufrichtete. „Lassen Sie mich frei! Ich habe ja nichts begangen. Es muß eine Verwechslung vorliegen …“
„Das sagt jede, die hierherkommt, jede!“ grinste die Wärterin. „Sie werden ja auch gleich zur Vernehmung vorgeführt werden. Da können Sie dann den Antrag auf Haftentlassung stellen.“
Die schwere Tür schloß sich geräuschlos, und die Riegel schnappten ein.
Eine halbe Stunde später saß Herta Günter dem sächsischen Kriminalkommissar in dessen Amtszimmer gegenüber. Noch zwei weitere Personen befanden sich in dem mittelgroßen Raume, – der Beamte, der das junge Mädchen verhaftet hatte, und ein sehr jugendlicher Protokollführer, der die hübsche Erscheinung der Verhafteten fast zu aufdringlich mit seinen vorquellenden Augen musterte.
Der Kommissar selbst war ein älterer Herr mit grauem Bart, freundlichem Gesichtsausdruck und einer Nase, die auf Vorliebe für alkoholische Getränke schließen ließ.
Ganz geschäftsmäßig begann der Kommissar jetzt:
„Ich habe Ihnen zu eröffnen, daß Sie unter dem Verdacht stehen, dem im Pensionat des Westens in Berlin seinerzeit wohnhaften Bulgaren Iwan Schalkow unter Beihilfe eines gewissen Servier und Utussow eine Brieftasche sowie Schmuckstücke gestohlen zu haben. – Was erwidern Sie hierauf?“
Herta Günter nahm sich mit Gewalt zusammen.
„Ich kenne weder das Pensionat des Westens noch einen Bulgaren,“ sagte sie mit leise vibrierender Stimme.
„Also, Sie bestreiten jede Schuld?“
„Ja.“
Der Protokollführer tauchte die Feder ein und begann zu schreiben. Es folgte die Angabe der Personalien.
„Herta Günter, unverheiratet, dreiundzwanzig Jahre alt, evangelisch, Vater Hauptmann a.D. Günter, Mutter geb. von Breßler, beide verstorben, geboren am 14. Oktober 1889 zu Graudenz, unbestraft, wohnhaft zur Zeit Dresden, August Friedrich Allee 5, Erzieherin ebenda bei Generalkonsul Salomon.“
Nachdem auch das erledigt war, begann der ernsthaftere Teil des Verhörs. Der Kommissar lehnte sich in seinen Stuhl zurück, schob den Nickelkneifer auf die Nase und räusperte sich.
„Wo waren Sie in den letzten acht Tagen, Fräulein Günter?“ fragte er dann, sie fortgesetzt scharf im Auge behaltend.
Die Antwort kam erst nach einer geraumen Weile.
„Darauf verweigere ich die Antwort,“ erklärte die junge Frau, während ihr Gesicht sich noch blasser färbte.
„So so! – Jedenfalls waren Sie nicht hier in Dresden, nicht wahr?“
„Nein. Ich hatte von dem Herrn Generalkonsul vierzehn Tage Urlaub erhalten.“
„Vierzehn Tage – hm. Und wo verlebten Sie diesen Urlaub?“
„Eine Woche, die erste, war ich in der Teichmann-Baude im Riesengebirge.“
„Und den Rest der Zeit?“
Schweigen. Die Günter hatte trotzig den Kopf gesenkt und antwortete nicht.
„Dürften Sie da nicht in Berlin gewesen sein?“ lauernd kam die Frage des Kommissars.
Leichte Röte huschte über ihre Wangen und die edelgeformte Stirn, auf der sich so deutlich das kleine Muttermal über dem linken Auge abhob.
Dann erwiderte sie fest: „Ich wiederhole, daß ich hierüber keinen Aufschluß geben werde. Es handelt sich um eine reine Privatangelegenheit, die niemanden etwas angeht.“
Abermals räusperte sich der so gemütlich dreinschauende Beamte.
„Wann kamen Sie nach Ablauf Ihres Urlaubs wieder hier in Dresden an?“
„Heute.“
„Mit welchem Zuge?“
„Darauf verweigere ich ebenfalls die Antwort.“ Auch jetzt lag ein trotziger Klang in Herta Günters Stimme. –
Eine geraume Zeit war es nun still in dem unfreundlichen Zimmer mit den verstaubten Aktenregalen und den von strenger Pflichterfüllung verhärteten Männern. Der Kommissar sah ein paar Notizen ein, die auf ein Blatt Papier geschrieben waren.
„Die Behörden arbeiten schnell, Fräulein Günter,“ meinte er dann. „Wir haben nach Ihrer Festnahme uns gleich mit dem Herren Generalkonsul telephonisch in Verbindung gesetzt. Wie erklären Sie es zum Beispiel, daß Ansichtskarten von Ihnen auch in den letzten sieben Tagen aus der Teichmann-Baude bei der Familie Ihres Brotherrn eingetroffen sind?! Sie haben doch schon selbst zugegeben, daß Sie sich damals nicht mehr am genannten Orte, sondern anderswo befanden. Mit einem Wort: Die Karten wurden durch eine Mittelsperson in der Absicht abgeschickt, den Generalkonsul und die Seinigen über die Veränderung Ihres Aufenthaltsortes zu täuschen.“
Das junge Mädchen fühlte, daß das Netz sich immer enger zog. Aber noch gab sie den Kampf nicht verloren. Am besten wohl, sie antwortete überhaupt nicht mehr.
Und so wartete der Kommissar erneut vergebens auf eine Erwiderung. Nach einer Weile sagte er dann schon bedeutend strenger:
„Sie sollen mit einer Freundin zusammen nach dem Riesengebirge gefahren sein, einem Fräulein Passow, die hier in Dresden Klavierlehrerin ist. Dann wird wohl Fräulein Passow die von Ihnen schon vorher geschriebenen Karten an den bestimmten Tagen abgeschickt haben. Und von ihr dürften wir auch erfahren, wo Sie den Rest Ihres Urlaubs verbracht haben. Wozu schweigen Sie also?!“
„Meine Freundin weiß nicht, wo ich gewesen bin. – Das ist die Wahrheit!“ Herta Günter schaute den Kommissar fest an.
Der Kommissar, recht unzufrieden mit dem bisherigen Erfolg der Vernehmung, wurde jetzt fast grob.
„Wozu all diese Winkelzüge!“ rief er. „Sie sind dieselbe Person, die unter dem Namen einer Baronin Beatrice von Parlieux jenen Diebstahl in Berlin begangen hat. Sie werden noch heute hoffentlich einem Ihrer Mitschuldigen gegenübergestellt werden können, jenem angeblichen Franzosen Anatol Servier, der vorhin dummerweise einen Fluchtversuch gemacht hat, den wir aber trotzdem bald festnehmen werden. Dann wird wohl etwas mehr ans Tageslicht kommen.“
Es hatte geklopft. Auf des Kommissars ‚Herein!‘ führten zwei Beamte in Zivil den ‚falschen Peter‘ ins Zimmer. Man hatte ihn in dem Warenhause, dessen Eingänge sofort geschlossen worden waren, nach einigem Suchen doch gefunden, als er gerade an einer der eisernen, eingemauerten Feuerrettungsleitern in den Hof hinabsteigen wollte, nachdem er aus dem Fenster der Waschtoilette geklettert war.
Auf einen Wink des Kommissars wurde Herta Günter wieder in ihre Zelle zurückgebracht.
Die beiden Beamten, die den angeblichen Dr. Majorka verhaftet hatten, traten gleichfalls ab. Die dünnen, stählernen Handfesseln, die des ‚falschen Peters‘ Handgelenke umspannten, wurden entfernt, da ein neuer Fluchtversuch nicht zu befürchten stand.
Das Verhör des Neueingelieferten begann nun in derselben Weise wie vorhin bei Herta Günter.
Auf die Frage, ob er sich der Beihilfe an dem Diebstahl im Pensionat des Westens schuldig bekenne und zugebe, jener Anatol Servier zu sein, schüttelte der Gefangene verneinend den Kopf. Die Angabe der Personalien verweigerte er vollständig, indem er hartnäckig schwieg.
Der Kommissar, durch das Verhalten der jungen Frau schon ziemlich gereizt, hatte jetzt alle milde Freundlichkeit abgeschüttelt. Sein Ton klang hart, rücksichtslos, ja drohend, als er den Verhafteten anfuhr:
„Auch das Schweigen wird Ihnen nichts helfen! Sie sind vollständig überführt. Jener Beamte dort“ – dabei wies er auf den breitschultrigen Riesen, der Herta Günter in dem Taxameter fortgeschafft hatte – „wird Ihnen vorhalten, was er beobachtet hat. Dann werden Sie vielleicht Vernunft annehmen.“
Der Berliner Kriminalschutzmann Lücke erhob sich und trat näher. Mit überlegenem Spott schaute er auf den Gefangenen herab, der jetzt auf demselben Stuhl saß, den Herta Günter vorhin innegehabt hatte.
„Wenn ich mir einen Vorschlag erlauben dürfte, Herr Kriminalkommissar,“ begann er in leichtem Berliner Dialekt, „so müßte man dem Menschen hier zunächst alles abnehmen, was falsch an ihm ist, – die Perücke, den Bart und so weiter.“
Ohne Widerrede ließ der ‚falsche Peter‘ alles mit sich geschehen. Denn Sträuben hätte ihm nichts geholfen. Das wußte er nur zu gut.
Der Berliner Kriminalschutzmann, nachdem er jede Einzelheit des Gesichts des Verhafteten eingehend studiert hatte, schüttelte jetzt unzufrieden den Kopf.
„So, wie dieser angebliche Servier jetzt aussieht, habe ich mit ihm noch nichts zu tun gehabt. Das ist sicher. Ich arbeite ja schon jahrelang in der Abteilung für internationale Hochstapler und Hoteldiebe. – Darf ich ihm nun so etwas das Gedächtnis auffrischen, damit er merkt, wie genau wir Bescheid wissen?“
Auf eine zustimmende Handbewegung des Kommissars fuhr er dann fort, indem er sich an ‚Peter‘ wandte:
„Beginnen wir mit dem Augenblick, als die Baronin von Parlieux, mit der Sie soeben hier ein etwas unwillkommenes Wiedersehen gefeiert haben, angeblich auf die Depesche ihres Gemahls, die merkwürdigerweise in Berlin aufgegeben war, nach Wien abreiste, d. h. mit ihrem Gepäck in einem Auto davonfuhr. Der Chauffeur dieses Wagens wurde bereits zwei Stunden, nachdem der Bulgare erwacht war und Lärm geschlagen hatte, von uns ermittelt. Er sagte aus, daß er bis zum Anhalter Bahnhof gefahren sei. Dort habe sein weiblicher Fahrgast ihn bezahlt und das Gepäck in die Vorhalle bringen lassen. Der Dienstmann war ebenso schnell gefunden. Seiner Behauptung nach war der betreffende Dame plötzlich gewahr geworden, daß sie die Bahnhöfe verwechselt hätte, und sofort sei sie wieder mit einem Taxameter nach dem nahen Potsdamer Bahnhof weitergefahren. –
Ich will mich aber mit diesen Einzelheiten nicht aufhalten. Trotz aller raffinierten Schliche hatten wir am Mittag des 9. Mai, also am Tage nach dem Diebstahl im Pensionat des Westens, schon festgestellt, daß die Gesuchte in einem billigen Hotel in der Leipziger Straße unter anderem Namen einen Unterschlupf gefunden hatte. Sie wurde nun ständig beobachtet. Da sie jedoch mit ihren Genossen, die die Sache schlauer angefangen und ihre Spuren verwischt hatten, nicht mehr zusammentraf, hielt es die Polizei für ratsam, sie noch nicht zu verhaften, um vielleicht durch fortgesetzte Überwachung ihrer Person auch der beiden anderen feinen Herren habhaft zu werden.
Sehr bald traf die Baronin dann allerlei Anstalten, die darauf schließen ließen, daß sie in einer Verkleidung verreisen wolle. Ihr Zimmer im Hotel bezahlte sie für vierzehn Tage voraus und erklärte dem Geschäftsführer, sie müsse inzwischen nach Wien fahren. Wie lange sie fortbleiben würde, könne sie noch nicht angeben.
Als ältere Dame, sehr einfach gekleidet, setzte sie dann am Abend ihre Flucht vom Anhalter Bahnhof aus fort. Ich war einer der Beamten, die mit ihrer Beobachtung betraut waren. So entging es mir dann nicht, daß sie auf der Treppe des Anhalter Bahnhofs einen blondbärtigen Herrn ansprach, auf den die Beschreibung jenes Servier sehr gut paßte. Beide, der angebliche Franzose und die Baronin, benutzten dann den D-Zug nach Dresden.
Während der Fahrt hat die Hochstaplerin wahrscheinlich gemerkt, daß ich ihr auf den Fersen war. Bei der Ankunft hier in Dresden nämlich wußte sie sehr geschickt beim Aussteigen ihren unscheinbaren Pappkarton dem Manne hier, – ja, Ihnen! – in die Hände zu spielen. Im Gedränge des Bahnhofs verlor ich beide eine Weile aus den Augen, traf dann aber Servier zum Glück wieder, als er gerade in einen Wagen stieg und davonfuhr. Ich blieb nun dauernd auf seiner Fährte. Mit anderem Bart und neuer Perücke angetan verließ er sehr bald das inzwischen gemietete Zimmer wieder, um unter dem Namen eines Dr. Majorka aus Hamburg im ‚Elb Hotel‘ abzusteigen.
Sodann hatte er noch am Vormittag in den Anlagen eine Zusammenkunft mit der Baronin, der er später heimlich folgte. Zu welchem Zweck dies geschah, ist mir freilich unklar.
Das war heute Vormittag. Ab fünfzehn Uhr trieb er sich dann in der Nähe des Hauses des Generalkonsuls herum, offenbar um mit der Baronin abermals eine Unterredung herbeizuführen. Und wirklich – er sprach sie an, machte dann bei der Verhaftung den Fluchtversuch, konnte aber von den mir inzwischen als Hilfskräfte beigegebenen hiesigen Kollegen bald wieder ergriffen werden.
Der ‚falsche Peter‘ hatte inzwischen Zeit genug gehabt, sich darüber schlüssig zu werden, wie er sein ferneres Verhalten einrichten solle. Seine Lage war dadurch, daß er nun als Mitschuldiger der Hochstaplerin galt, geradezu verzweifelt geworden. Sicherlich würde er nach Berlin überführt werden, und dann war er verloren, wenn man ihn dort wiedererkannte. Nur ein Mittel gab es, die Feststellung seiner Person unmöglich zu machen; er mußte hartnäckig schweigen. Selbst seine Stimme konnte ihn ja unter Umständen verraten.
So blieb er denn stumm. So sehr die Beamten sich auch abmühten, ihn zum Reden zu bringen, kein Wort kam über seine Lippen.
So befahl der Kommissar, ihn zu durchsuchen. Man fand jedoch nur in einem Seitenfach seiner Geldbörse die Quittung des Hotelbureaus über das Päckchen, welches der angebliche Dr. Majorka zur Aufbewahrung im Tresor abgegeben hatte. –
Sofort schickte der Kommissar den Beamten Lücke nach dem ‚Elb Hotel‘. Dieser sollte auch gleich des Verhafteten Handkoffer und sonstiges Eigentum mitbringen.
Dann versuchte er nochmals sein Glück bei dem seiner Ansicht nach bereits völlig überführten Servier alias Majorka.
Aber der blieb bei seiner Taktik. Allen Fragen setzte er als undurchdringlichen Wall dasselbe durch nichts zu erschütternde Schweigen entgegen.
Gleich darauf erschien der Berliner Beamte wieder. Sein strahlendes Gesicht bewies, daß seine Mission Erfolg gehabt hatte.
„Hier sind die geraubten Schmuckstücke, die Brieftasche des Bulgaren und noch anderes mehr,“ rief er. „Ich habe mir erlaubt, gleich zu prüfen, ob auch diese meine Vermutung sich bestätigen würde. Habe ich doch gleich vermutet, in dem Paket müsse die Diebesbeute enthalten sein. Sonst hätte die Person, die sich jetzt Herta Günter nennt, den Karton doch nicht an diesen Mann hier in demselben Augenblick weitergegeben, als sie sich beobachtet wähnte.“
Der Kommissar sah sich die Sachen an und hob dann drohend die Hand gegen den ‚falschen Peter‘.
„Wollen Sie jetzt endlich gestehen! Was bezweckt Ihr Schweigen eigentlich?!“ rief er wütend.
Der Verhaftete schaute zu Boden, und sein Mund zuckte, als dränge er gewaltsam eine starke Gemütsbewegung zurück. Aber er blieb stumm wie bisher.
„In die Zelle mit ihm!“ befahl der Kommissar.
Zu derselben Zeit, als in Dresden die Verhaftung der Erzieherin des Generalkonsuls Salomon erfolgte, erhielt der Schriftsteller Erwin Sellert in seinem stillen Poetenheim in der Gertraudenstraße den Besuch eines Mannes, den er im ersten Augenblick wie einen Wildfremden behandelte.
Der einfach gekleidete Herr hatte zwar beim Eintritt seinen Namen genannt, aber natürlich ohne daß Sellert diesen verstanden hatte. Bis plötzlich der Besucher laut auflachte. Der Schriftsteller stutzte, schaute genauer hin.
„Steinke – du?!“ fragte er ungläubig.
„Man soll nicht sagen, was so ein Vollbart und ein gefärbter Schnurrbart nebst einigen anderen kleinen Veränderungskniffen alles bewirken,“ meinte der Kommissar gutgelaunt.
Die beiden Freunde schüttelten sich kräftig die Hände und begannen dann bei einer Zigarre, bequem in den Korbstühlen hingestreckt, das zu besprechen, was jetzt ihre Gedanken ausschließlich gefangen hielt: Den Fall Mersen.
„Ich habe dir mancherlei mitzuteilen,“ begann Steinke. „Zunächst, daß ich bei meiner Heimkehr im Briefkasten eine Art Drohbrief vorfand. Hier ist er.“
Sellert überflog die wenigen mit Maschine geschriebenen Zeilen.
„Unglaublich!“ meinte er dann. „Man hat uns also gestern oder besser heute Nacht bereits nachspioniert.“
„Ohne Frage. Mersens Feinde oder doch einer von ihnen ist uns bis zur Warmbrunner Straße und dann auch sicher bis hier zu deiner Wohnung gefolgt. Mithin dürften die Leute nunmehr auch dich als meinen Begleiter und Freund demnächst mit einem ähnlichen Drohbrief beglücken, – falls du nicht bereits einen solchen erhalten hast.“
„Bisher ist nichts eingetroffen,“ erklärte Sellert.
„Eigentlich wundert mich das,“ meinte der Kommissar. „Oder aber die Kerle halten dich als Schriftsteller für ganz ungefährlich.“
„So wird es wohl sein.“ Sellerts Benehmen schien auch jetzt wieder derart gleichgültig und gelassen, daß Steinke ihn forschend anschaute.
„Ich werde beinahe irre an dir, mein Lieber,“ sagte er kopfschüttelnd. „Schon in der verflossenen Nacht hatte ich den Eindruck, daß du dem Schicksal unseres braven Mersen eine recht flaue Teilnahme entgegenbringst. Auch heute scheint sich dies nicht geändert zu haben.“
Der Schriftsteller zuckte die Achseln. „Ich kann nichts dafür, daß dieser Fall für meinen Geschmack eine zu schnelle Aufklärung gefunden hat. Überall bei unseren Nachforschungen stießen wir auf jenen blondbärtigen Herrn namens Anatol Servier als den Hauptschuldigen, – falls du eben auch jetzt noch annimmst, daß es wirklich jener angebliche Franzose gewesen ist.“
„Gewiß nehme ich das an, besonders nach den Feststellungen, die inzwischen noch meinen Mitarbeitern geglückt sind.“
„Nun gut. Dann ist dieser Servier mit Verlaub zu sagen ein Dummkopf erster Güte. Bequemer als er konnte kein Verbrecher es der Polizei machen. Das habe ich dir ja schon einmal auseinandergesetzt.“
Steinke schaute unzufrieden vor sich hin. Und dann sagte er mit Nachdruck: „Vielleicht wirst du anderer Ansicht, wenn ich dir meine Neuigkeiten berichtet habe. –
Die Blutspuren an der Handtasche sowie die in dem Dachatelier gefundenen Flecken sind Menschenblut. –
Ferner: An der Identität unseres blonden Herrn und jenes Anatol Servier ist nicht länger zu zweifeln. Nachfragen im Pensionat des Westens und Vergleiche mit der Aussage des Schutzmanns Krause 2, in dessen Händen die Reisetasche zurückblieb, haben diese meine erste Annahme bestätigt. Gekleidet waren die beiden allerdings anders. Aber das will nichts besagen, ist nur natürlich. –
Schließlich noch die Hauptsache. Von unseren drei Beamten, die wir der angeblich nach Wien abgereisten Baronin von Parlieux an die Fersen geheftet hatten, nachdem deren neue Wohnung in einem Hotel der Leipziger Straße glücklich ermittelt war, ist einer gestern Abend – Lücke heißt der Mann – in demselben Zuge vom Anhalter Bahnhof mit der Baronin nach Dresden abgedampft, nachdem diese Hochstaplerin kurz vorher auf der Treppe des Bahnhofs einen Menschen vorsichtig angesprochen hatte, der nach Aussage der beiden zurückgebliebenen Beamten nur jener Anatol Servier gewesen sein kann.“
„Wieder dieser patentierte Dummkopf!“ warf Sellert ironisch ein. „Aber laß dich nicht stören,“ fügte er entschuldigend hinzu. „Diese neue Wendung interessiert mich doch.“
„Die Meldung von dieser gemeinsamen Flucht der Baronin und des Servier,“ fuhr Steinke widerwillig fort, denn des Schriftstellers Zwischenruf ärgerte ihn doch, „erhielt ich erst vor einer Stunde. Ich habe sofort an das Dresdener Polizeipräsidium telephoniert und bekam den Bescheid, daß Lücke dort vorgesprochen und um Überlassung von ein paar Beamten zu seiner Unterstützung gebeten habe. Er dürfte also den beiden Ausreißern dicht auf der Spur sein.“
Jetzt richtete Sellert sich offenbar in plötzlich erwachter Teilnahme in seinem Korbstuhl auf.
„Wenn es wirklich ‚unser‘ Mann ist, der nach Dresden floh,“ sagte er lebhaft, „so wirft das allerdings alle meine Vermutungen über den Haufen, – meine sehr, sehr unsicheren Vermutungen, die ich daher auch für mich behalten will.“
„Nun – wir werden bald Gewißheit haben,“ meinte Steinke gelassen. „Jedenfalls heißt es jetzt abwarten, bis eine Nachricht aus der sächsischen Residenz eintrifft. Vorläufig gibt es mithin nichts zu tun. – So, lieber Sellert, und nun will ich wieder aufbrechen. Nur einen Gefallen mußt du mir noch erweisen. Du mußt mir jetzt, nachdem ich das Haus hier verlassen habe, vorsichtig nachschleichen, um zu sehen, ob ich vielleicht trotz meiner Verkleidung verfolgt werde. Vielleicht fangen wir auf diese Weise den Herrn Boris Utussow, der uns sehr geschickt durch die Lappen gegangen ist. Überhaupt möchte ich dir raten, die Augen auf der Straße recht weit, aber ohne daß man’s merkt, offenzuhalten. Ich nehme immerhin als möglich an, daß man auch dein Tun und Treiben belauert.“
Wie verabredet, so geschah’s. Aber obwohl Steinke absichtlich stille Straßen durchschritt, in denen ein heimlicher Verfolger hätte auffallen müssen, war die Luft völlig rein. Ebensowenig konnte Sellert auch nur die geringsten Anzeichen dafür finden, daß er selbst irgendwie beobachtet würde.
Nach einer guten halben Stunde verschwand der Kommissar dann in einem Hause in der Nähe des Savigny Platzes, das einen zweiten Ausgang nach einer Seitenstraße hatte. Durch diesen altbewährten Trick machte er es etwaigen heimlichen ‚Nachläufern‘ unmöglich, weiter auf seiner Spur zu bleiben.
Sellert aber nahm einen Taxameter und fuhr nach Dr. Günter Mersens Wohnung.
Frau Pilaski war daheim. Sie führte den Freund ihres noch immer nicht zurückgekehrten Brotherrn in dessen Arbeitszimmer und setzte sich dann auf des Schriftstellers Aufforderung diesem gegenüber an den mit Büchern und Zeitungen bedeckten Sofatisch.
Die Wirtschafterin schien heute noch schlechterer Laune zu sein als sonst. Und doch flackerte in ihren harten, kalten Augen jetzt etwas wie versteckte Angst und Besorgnis. Mißtrauisch war sie wohl von Natur. Das hatten ihre Blicke stets gezeigt, mit denen sie Mersens Bekannte musterte, die dieser bisweilen zu kleinen, aber reichhaltigen Abendessen einlud.
Auf seine Frage hin erklärte ihm Frau Pilaski nun, daß heute während des Tages schon zweimal ein Kriminalbeamter bei ihr gewesen sei, zuerst in der Verkleidung eines Briefträgers, dann als Bote des Wertheim’schen Warenhauses. Der Beamte hätte sich nach allem Möglichen erkundigt und aus seiner Zugehörigkeit zur Polizei gar kein Geheimnis gemacht. Nur hätte er ihr befohlen, von seinen Besuchen zu niemandem zu sprechen. Und wenn sie es jetzt trotzdem tue, so geschehe das auch nur aus dem Grunde, weil sie wisse, daß Herr Sellert ein so intimer Bekannter des Herrn Kommissars Steinke sei. Ja – und worum es sich bei diesen Nachfragen und bei dem gestrigen nächtlichen Besuch handelte, habe sie von dem Beamten ebenfalls erfahren.
„Doktor Mersen ist verschwunden, und man hegt den Verdacht, daß er vielleicht gar ermordet sei,“ fuhr sie fort, indem sie den Schriftsteller auffallend forschend anblickte.
„Nun ja,“ erklärte dieser zögernd, „die Polizei nimmt das wohl an.“
„Können Sie mir denn nicht sagen, wie die Behörden zu dieser Ansicht gelangt sind, Herr Sellert?“
„Dazu bin ich nicht berechtigt,“ antwortete der Schriftsteller nicht gerade unfreundlich und fügte schnell hinzu: „Können Sie denn nicht angeben, ob Mersen heimliche Feinde gehabt hat, Frau Pilaski? Aufschlüsse in dieser Richtung wären sehr wertvoll.“
Die Wirtschafterin zögerte auffallend lange mit der Antwort. Ihre Augen glitten mehrmals fast scheu über Sellerts Gesicht hin, als wolle sie aus dessen Mienen die geheimsten Gedanken seiner Seele erforschen. Dann sagte sie gleichmütig:
„Von Feinden weiß ich nichts. Wie sollte ich auch?! Mein Herr ist mir gegenüber stets sehr verschlossen gewesen.“
Der Schriftsteller sah ein, daß er auf diese Weise nichts erreichen würde. Die Gleichgültigkeit dieser Frau gegenüber dem so völlig ungeklärten Schicksal ihres langjährigen Brotherrn stieß ihn geradezu ab, und auch das ganze Benehmen der Pilaski verdiente fraglos das schärfste Mißtrauen. Sie mußte sich doch sagen, daß die sorgenlose Gegenwart durch den Tod ihres Herrn für sie ein Ende finden würde. Und schon dieser Gedanke allein hätte selbst bei ihrer Kaltherzigkeit eine starke Anteilnahme für den Verschwundenen wachrufen müssen. Doch was in ihren Blicken zu lesen gewesen war, – Mißtrauen, Angst und lauerndes Forschen konnte sich nicht auf diesen möglichen Verlust ihres jetzigen sicheren und behaglichen Unterkommens beziehen. Anderes lag dem zu Grunde, – aber was … was?
Lange Zeit hatte der Schriftsteller grübelnd vor sich hingeschaut. Frau Pilaskis kalte, bohrende Augen, die ihn unverwandt anstarrten, riefen ihn in die Gegenwart zurück. Etwas Feindliches, Gehässiges lag jetzt in der Miene der Wirtschafterin.
„Wissen Sie denn etwas von geheimen Widersachern, die mein Herr gehabt hat?“ fragte sie plötzlich, indem sie an Sellerts letzte Sätze anknüpfte.
„Nein, – nichts.“
„Ob Doktor Mersen wirklich tot sein mag?“ meinte sie wieder nach einer Weile. Und dabei drückte ihr mageres, faltiges Gesicht die schlecht verhehle Hoffnung auf eine Bejahung ihrer Frage aus.
Der Schriftsteller konnte das ungläubige Staunen über diese Beobachtung kaum verbergen. Täuschte ihn das Mienenspiel dieses Weibes, dessen starre Züge ja nur kaum merklich die Regungen ihrer Seele widerspiegelten? – Jedenfalls mußte er Gewißheit haben.
„Ich fürchte – ja!“ sagte er daher traurigen Tones.
Da – kein Zweifel! – Das war ein befriedigtes Aufleuchten in ihren Augen, das war ein blitzschnelles, triumphierendes Verziehen der Mundpartie gewesen.
Sellert erhob sich. Er wollte allein sein.
„Ich werde jetzt nochmals die Wohnräume und das Laboratorium Mersens durchsuchen,“ meinte er höflich. „Vielleicht entdecke ich etwas von Bedeutung. Meine Freundespflicht gebietet es mir, alles zu tun, um die Polizei in ihren Bemühungen zu unterstützen. Ich danke Ihnen also, Frau Pilaski.“
Die Wirtschafterin glitt mit ihren lautlosen Schritten wie ein dunkles Gespenst aus der Tür.
‚Wenn ich nur einen einzigen Blick in dein Herz tun könnte!‘ dachte Sellert, ihr finster nachschauend. Dann richtete er sich höher auf. ‚Dieses Weib wartet auf Mersens Tod. Das ist sicher! Suchen wir auf dieser Grundlage eine Theorie aufzubauen. Vielleicht hat mein armer Freund ein Testament bestimmt, welches dieser Frau ein reiches Legat sichert. Das wäre schon etwas!‘
So begann er seine Arbeit bei Mersens Schreibtisch. Er hoffte, vielleicht irgend welche Schriftstücke oder wenigstens Notizen zu finden, die auf eine bestimmte letztwillige Verfügung hinwiesen. Ein so reicher Mann wie Mersen – wollte man doch wissen, daß er damals von seiner Tante beinahe eine Viertelmillion Mark geerbt hatte – würde doch sicher Aufzeichnungen über seine Vermögenswerte und deren Verteilung an die Erben und etwaige Legatsempfänger im Falle seines Todes gemacht haben.
Die Schubladen und Seitenfächer des Schreibtisches waren sämtlich verschlossen. Da fiel Sellert jedoch ein, wo Mersen die Doppelschlüssel verwahrte. Er hatte dem Schriftsteller einst das Versteck mit dem Bemerken gezeigt, es sei für alle Fälle besser, daß wenigstens einer seiner Freunde den Ort kenne, zumal dort noch andere Dinge untergebracht seien, die unter gewissen Umständen von Bedeutung sein könnten.
Das Versteck war in der aus Bronze hergestellten, gut einen halben Meter hohen Figur des indischen Gottes Schiwa, – einem altertümlichen Kunstwerk, für das Mersen einstmals eine Unsumme bezahlt hatte. Scheinbar bestand die schwere Figur, die in des Chemikers Arbeitszimmer auf einem niedrigen Tischchen zwischen den Fenstern stand, aus einem einzigen Stück. Nur wer den Kniff kannte, daß sich der linke Arm des Gottes bei einiger Kraftanstrengung nach unten drehen ließ, vermochte den Rumpf nach hinten umzuklappen. Und die Höhlung des Bronzestandbildes bot so Raum genug für allerlei Gegenstände, die man den Augen anderer entziehen wollte.
Jetzt sollte der indische Gott seine Geheimnisse preisgeben. Sellert preßte den Arm der Figur nach unten, drückte gleichzeitig den Kopf nach rückwärts, und das Versteck lag offen vor ihm.
Ein Schlüsselbund befand sich darin, an dem jeder einzelne Schlüssel mit einem daran befestigten Täfelchen genau bezeichnet war. Dann noch ein schmales Buch in Ledereinband. Sonst war die Höhlung leer.
Neugierig griff Sellert zuerst nach dem Buche, blätterte es auf. Ohne Frage, – diese tagebuchartigen Aufzeichnungen, die es enthielt, waren von größter Wichtigkeit. Zufällig hatte der Schriftsteller gerade eine Seite aufgeschlagen, die das Datum des 11. April 1912 trug, also erst vor etwa einem Monat geschrieben worden war.
Da stand in Mersens etwas krauser, unausgeglichener Schrift:
‚Ich halte dieses Leben nicht mehr aus. Wie bitter hat sich doch an mir diese eine Stunde törichter Dankbarkeit gerächt! Meine Tage sind nichts als eine Kette häßlicher Szenen, die meine Seele immer mehr zermürben. Ich bin der elendste Mensch, den es gibt. Oft steigen furchtbare Gedanken in mir auf, oft male ich mir aus, wie ich die Vergangenheit von mir abschütteln könnte. Gifte stehen mir zur Verfügung, die mir helfen könnten. Vielleicht werde ich auch noch zum Mörder.‘
Gleich darunter unter dem Datum des 18. April:
‚Heute sagte Steinke am Stammtisch, das Selbstbestimmungsrecht des Menschen gehe nicht bis zum Selbstmord. Diesen verurteile er unter allen Umständen. – Steinkes philosophische Versuche stehen stets unter dem Zwangsempfinden seines Beamtentums. Lächerlich – warum sollte ich z. B. nicht Hand an mich legen dürfen, wenn mir dieses Leben unerträglich dünkt! Zum Mörder bin ich wohl doch zu feige, zu gutmütig. Aber Selbstmord …? Wer weiß!‘
Auf der nächsten und zwar der letzten beschriebenen Seite stand unterm 2. Mai:
‚Zu all dem andern kommt jetzt auch noch die Furcht hinzu. Der Haß hat schon viele Verbrechen erzeugt. – Irgend etwas muß geschehen, und zwar bald! Oh, wie verfluche ich jene Stunde, wie verwünsche ich meine Blindheit! Zu welchen wahnsinnigen Torheiten läßt sich doch ein Kranker, einer, der den Tod nahe glaubt, nur zu leicht verführen! –
Wenn meine Freunde, in deren Kreis ich mich, um zu vergessen, allabendlich flüchte, nur im entferntesten …‘
Weiter kam Sellert in der Lektüre nicht. Ein scharfes Pochen an die Zimmertür ließ ihn blitzschnell das Buch in das Versteck zurückwerfen und die Figur schließen.
Gleich darauf trat die Wirtschafterin ein.
„Entschuldigen Sie, Herr Sellert,“ begann sie kalt und selbstsicher. „Ich habe mir’s eben überlegt. Ich darf es nicht dulden, daß Sie hier in Abwesenheit meines Herrn dessen Sachen durchsuchen. Wären Sie von der Polizei, so würde ich’s zulassen müssen. So jedoch …!“
Der Schriftsteller wollte erst auffahren. Dann überlegte er sich seine Lage. Ein Recht hatte er nicht, hier nach Gefallen auf Entdeckungen auszugehen. Er mußte nachgeben. Und so verabschiedete er sich denn mit einigen Worten, die seinem Rückzug das Peinliche nehmen sollten. Steinke würde helfen. Der hatte das Recht auf seiner Seite, der mußte der Statue das Buch entnehmen, das so merkwürdige Aufzeichnungen enthielt.
Kaum war die Flurtür hinter Sellert geschlossen, als sich die Wirtschafterin auch schon über die Bronzefigur hermachte. Lange tasteten ihre Hände daran herum. Dann war das Geheimnis des indischen Gottes enthüllt. Die Höhlung stand offen …
Grünliche Blässe überzog das wutverzerrte Gesicht des Weibes, als sie zu lesen begann. Schon bald aber kehrte die alte, starre Ruhe in ihre Züge zurück.
„Wenn dieser Schnüffler in Danzig nachforscht, kommt die Wahrheit doch noch ans Tageslicht,“ zischte sie vor sich hin. „Hier heißt es handeln, schnell handeln. Alles steht auf dem Spiel …!“
Kriminalkommissar Steinke war in das Polizeipräsidium am Alexanderplatz zurückgekehrt.
Nachdem er sich in seinem Dienstzimmer wieder in den ‚schönen Helmut‘ verwandelt hatte, begab er sich zu dem Chef der vierten Kriminalabteilung, der sein direkter Vorgesetzter war. Auf der Treppe zu dem oberen Stockwerk begegnete ihm bereits einer seiner Unterbeamten, der ihn schleunigst zu dem Polizeirat rufen sollte.
„Es ist soeben von Dresden an uns telephoniert worden,“ erklärte der Kriminalschutzmann eifrig. „Der Herr Polizeirat ist ganz aufgeregt. Also wohl wichtige Nachricht.“
Steinke nahm jetzt immer drei Stufen auf einmal.
„Wir haben sie, mein Lieber!“ trompete ihm der Chef entgegen, als er kaum die Tür des Zimmers geöffnet hatte. –
Eine kurze Besprechung folgte, dann waren die beiden Herren sich über das weitere Vorgehen einig.
„Also abgemacht, Herr Polizeirat, – um 6.15 Uhr nachmittags fahre ich,“ meinte der Kommissar, indem er das Kursbuch fortlegte.
Er sah nach der Uhr.
„Noch eine Stunde. Übergenug, um vorher auch noch meine laufenden Arbeiten zu erledigen. – Auf Wiedersehen.“ – – –
Steinke hatte sich den Kriminalschutzmann Lücke zur Ankunft des Zuges in Dresden telephonisch auf den Bahnhof bestellt.
Der breitschultrige Beamte, der weit eher nach einem Geheimpolizisten aussah, stand an der Sperre und ging nun, als Steinke ihn erspäht hatte, langsam einem Seitenausgang des Dresdener Hauptbahnhofs zu.
Erst auf der ruhigen, abgelegenen Gasse sprach der Kommissar ihn an, – eine Vorsichtsmaßregel, die in diesem Falle vielleicht überflüssig war, sonst aber schon gute Früchte getragen hatte, da gerade auf Bahnhöfen sich stets eine ganze Anzahl von dunklen Ehrenmännern aufhielten, von denen erkannt und beobachtet zu werden bisweilen recht verhängnisvoll sein konnte.
„Na, Lücke, wie steht’s?“ begrüßte Steinke seinen Untergebenen.
„Soweit alles im Lot, Herr Kommissar, – nur … unser Gefangener ist vor zwei Stunden von einem plötzlichen Fieberanfall niedergeworfen und daher in die Krankenabteilung überführt worden.“
„Also transport- und vernehmungsunfähig, wie?“
„Vollständig. Der Arzt hat 40,8 Grad Fieber festgestellt. Schweres Nervenfieber. Nur eine Pflegerin darf zu ihm.“
„So ein Pech! Da können wir nun vielleicht wochenlang warten, bis der Mann wiederhergestellt ist, falls er nicht …“ Steinke beendete den Satz durch eine Handbewegung nach oben, was wohl heißen sollte, ‚falls er nicht stirbt.‘
Dann fragte er schnell: „Und die Baronin?“
„Ist auch nahe am Zusammenklappen. Eine merkwürdig zartbesaitete Gesellschaft …! Zu Hochstapeleien langen die Nerven aus, für die Folgen jedoch nicht! Macht sehr den Eindruck, als ob die beiden noch nie auf Nummer Sicher gesessen haben.“
Während die beiden Beamten weitergingen erzählte Steinke seinem Untergebenen, welch’ anderer Verdacht auf dem Franzosen Servier noch laste.
„Sie wissen ja von dieser neuen Geschichte noch gar nichts, da Sie bereits gestern abend von Berlin abgefahren sind,“ fügte er hinzu.
Lücke lachte. „Allerdings – und zwar in demselben Zuge mit unserem Pärchen. – So, so! Also deswegen sucht man den Franzosen auch noch. Jedenfalls kann er’s der Zeit nach schon gewesen sein, der da oben im Dachatelier mitbeteiligt war. Um neun Uhr abends, sagten Sie, war Doktor Mersen durch den Brief nach der Warmbrunner Straße bestellt. Um halb elf Uhr, also anderthalb Stunden später, sprach Servier den Kollegen Krause 2 auf dem Potsdamer Bahnhof an, und wieder eine knappe halbe Stunde später fuhr er vom Anhalter Bahnhof nach Dresden. Das paßt alles.“
„Genau dieselbe Berechnung habe auch ich schon angestellt. Es ist unser Mann ohne Frage. – Doch – was tun? Heute abend noch die Baronin zu verhören, dazu dürfte es zu spät sein. Ich werde also in ein Hotel gehen und mich zuerst mal ordentlich ausschlafen. Die letzten vierundzwanzig Stunden waren selbst für mich etwas reich an Aufregungen. Morgen um fünf Uhr früh treffen wir uns dann bei dem hiesigen Kollegen, der die Sache bearbeitet.“ –
Steinke saß dem Dresdener Beamten gegenüber.
„Mit dieser Baronin ist es eine merkwürdige Sache,“ meinte dieser bedächtig. „Gestern war der Generalkonsul Salomon am Spätnachmittag hier im Präsidium. Er schwor Stein und Bein, daß Herta Günter mit der Baronin unmöglich identisch sein könne. Er stellte ihr ein tadelloses Zeugnis aus, versicherte, daß sie sehr zurückgezogen lebe und erst ein einziges Mal Urlaub gehabt habe, eben diese vierzehn Tage zur Fahrt nach dem Riesengebirge. Selbst als ich ihm mitteilte, daß die Günter nach ihrem eigenen Geständnis die letzte Woche ihres Urlaubs anderswo verlebt habe, blieb er dabei, daß an der Ehrenhaftigkeit der Erzieherin nicht zu zweifeln wäre.“
Steinke zuckte die Achseln. „Vielleicht hat der Konsul ein persönliches Interesse an diesem schönen Vogel. – Na – wir werden ja sehen. Ich gedenke die Günter noch heute nach Berlin mitzunehmen und sie dort den Angestellten und einigen Gästen des Pensionats des Westens gegenüberzustellen. –
Darf ich jetzt die Reiseeffekten des leider erkrankten Servier in Augenschein nehmen. Man kann nie wissen, ob …“
„Habe ich schon sehr gründlich besorgt,“ unterbrach ihn der Dresdener etwas gekränkt.
„Glaube ich, glaube ich. Trotzdem möchte ich sie sehen, lieber Kollege. Ich bin ja schließlich der Verantwortliche für diese Untersuchungssache.“
So kam es, daß Steinke sehr bald den Schirm des angeblichen Franzosen in der Hand hielt und wie einen Gegenstand musterte, der ihm weiß Gott was sagen könnte.
Dann fragte er ohne besondere Betonung:
„Haben Sie den Überzug abgezogen gehabt, Kollege?“
„Wozu denn?!“ Der Dresdener zog die Schultern hoch, als wollte er sagen: ‚Wieder so ein Sherlock Holmes Manöver!‘
„Wozu? – Na – bitte fahren Sie doch mal mit der Hand hier oben an dem Seidenüberzug entlang. Fühlen Sie was?“
„Hm – da scheint …“
„Nein, nicht scheint, – da steckt etwas dicht unter dem Überzug, das sich schon äußerlich als kleines Viereck markiert, wenn auch kaum merklich.“
Triumphierend zog Steinke darauf einen zusammengelegten Zettel hervor und hielt ihn hoch. Es war derselbe, den die grauhaarige Reisende dem ‚falschen Peter‘ im D-Zuge zugesteckt hatte.
Laut las der Kommissar nun die Zeilen vor und pfiff anschließend leise durch die Zähne.
„Nun ist ja alles klar,“ meinte er. „Deshalb also war dieser Servier plötzlich im Besitze des Kartons seiner Genossin. Wiesbaden …, schau, schau! Da scheint sich die Gesellschaft ein neues Rendezvous geben zu wollen. Im ‚Schloß‘ sollte Servier absteigen. Natürlich ist darunter das ‚Schloß Hotel‘ zu verstehen. Nun – unter diesen Umständen dürften wir auch den dritten der Genossenschaft, den Boris Uttussow, sehr bald wiedersehen …!“
Steinke schaute wieder auf die mit Bleistift geschriebenen Zeilen.
„Vielleicht schicken Sie schnell einmal einen Ihrer Leute zu dem Konsul und lassen mir Briefe usw., die die Günter geschrieben hat, holen. Ich möchte die Schriftzüge vergleichen.“
„Ah – sehr gut!“ stimmte der Dresdener Kommissar zu. „Das wäre ein weiterer Beweis gegen die Person.“
„… den wir kaum noch nötig haben,“ fügte Steinke hinzu. „Aber ein Zuviel schadet nie.“
Während ein Geheimpolizist sich zu dem Generalkonsul begab, besprachen die beiden Kollegen nun auch in aller Ruhe das merkwürdige Verschwinden Doktor Mersens.
„Eine seltsame Geschichte,“ meinte der Sachse kopfschüttelnd. „Ich kann mir aber nicht helfen. Irgend etwas gefällt mir dabei nicht. Der Sachlage nach ist doch nur anzunehmen, daß dieser Mersen entweder ermordet wurde oder noch lebt und von seinen Feinden gefangen gehalten wird. Und diese Feinde sind Ihrer Ansicht Servier und Genossen, die jedoch anscheinend alle drei Berlin bereits verlassen haben, um sich in Wiesbaden wieder zu treffen. Jedenfalls sind zwei von dem Hochstaplertrio nicht mehr in der Reichshauptstadt. Mithin gibt es nur folgende Möglichkeiten: Mersen ist ermordet und die Leiche beiseite geschafft worden. Oder: Jener Uttussow ist in Berlin geblieben und spielt den Gefangenenaufseher. Drittens: Die Hochstapler besitzen noch mehr Vertraute in Berlin, die Mersen jetzt festhalten.“
„Habe ich mir alles selbst gesagt,“ nickte Steinke. „Trotzdem – anders kann’s nicht gewesen sein. Mersen ist im Atelier überwältigt oder – dies glaube ich jedoch nicht – ermordet worden. Beweis: Die Blutspuren, das Zeitungsblatt und das Stück starker Schnur. Dann hat man ihn fortgebracht. Vielleicht erst nach zehn Uhr abends, als es im Hause ruhig geworden war.“
„Hm – na ja! Aber – hat der Portier dem angeblichen Maler, der das Atelier mietete, denn auch sofort einen Hausschlüssel ausgehändigt?“
„Schlüssel sind schnell hergestellt,“ sagte Steinke ärgerlich. Und fügte mit gerunzelter Stirn hinzu: „Wahrhaftig – Sie machen mich mit Ihren Einwendungen beinahe irre an mir selbst. Schon ein anderer hat mir Zweifel an meiner Auffassung dieses Falles aufzwingen wollen, ein Berliner Freund, der aus Liebhaberei manchmal den Detektiv spielt. Aber – ich bleibe bei meiner Ansicht. Oder aber: Geben Sie mir eine bessere Lösung!“
Der Dresdener Kommissar hob die Schultern. „Dazu bin ich nicht imstande, ich müßte denn die Ermittlungen selbst geleitet haben. Aus der Ferne läßt sich schwer urteilen.“
Sehr bald nach dieser Aussprache kehrte der ausgeschickte Beamte mit einer ganzen Anzahl von Briefen, Postkarten und anderen von Herta Günters Hand herrührenden Schriftstücken zurück.
Steinke verglich sorgfältig den Zettel mit diesen Papieren. Die Schriftzeichen waren fast genau dieselben. Das mußte selbst ein im Beurteilen von Handschriften ziemlich Ungeübter erkennen. Auch der Dresdener Kollege war dieser Ansicht.
„Das Netz über unserem Fischlein ist hiermit nun ganz zugezogen,“ meinte Steinke, indem er den Zettel, die Briefe, Postkarten usw. zusammenlegte und in die Tasche schob. „Eigentlich möchte ich jetzt, am liebsten gleich nach Wiesbaden fahren und versuchen, auch diesen Uttussow festzunehmen. Hier gibt es für mich vorläufig ja doch nichts zu tun. Servier ist durch Krankheit vernehmungsunfähig, und die Baronin alias Herta Günter kann mein zuverlässiger Geheimpolizist Lücke inzwischen auch allein nach Berlin bringen. Ich werde wirklich mal bei meinem Abteilungschef in Berlin telephonisch anfragen, ob er einverstanden ist. Jedenfalls spricht doch eine sehr große Wahrscheinlichkeit dafür, daß Uttussow sich zu dem Stelldichein in Wiesbaden gleichfalls einfinden wird. Unbeachtet darf dieser Hinweis, den uns der Zettel gegeben hat, nicht bleiben.“
Steinke hatte sich erhoben. In demselben Augenblick öffnete sich die Tür, und ein Beamter trat ein.
„Herr Kriminalkommissar Steinke wird vom Berliner Präsidium an das Telephon gewünscht,“ meldete er. –
Einige Minuten später wußte Steinke, daß Erwin Sellert gestern Abend in seiner Wohnung durch eine aus dem Garten heimtückisch abgefeuerte Kugel verwundet worden war.
‚Ihre Anwesenheit hier erscheint dringend notwendig,‘ hatte sein Vorgesetzter, der Polizeirat, hinzugefügt.
Daher reiste Steinke mit dem Mittagszuge wieder nach der Reichshauptstadt zurück und zwar in einem besonderen Abteil 3. Klasse zusammen mit Lücke und der angeblichen Baronin Beatrice von Parlieux.
Man hatte Erwin Sellert auf seinen dringenden Wunsch nicht in ein Krankenhaus überführt, sondern ihn der Behandlung eines bekannten Arztes in seiner Wohnung überlassen.
Der Streifschuß an der rechten Schläfe, der mit starkem Blutverlust verbunden gewesen war und erst recht bedenklich aussah, stellte sich nachher doch als ziemlich ungefährlich heraus, obwohl der Schädelknochen an einer Stelle gestreift war.
Steinke begab sich sofort nach seiner Ankunft in Berlin und nach Ablieferung der Herta Günter in das Polizeigefängnis zusammen mit dem Polizeirat nach der Gertraudenstraße in das stille Poetenheim.
Der Schriftsteller war bereits recht munter. Ein leichter Anfall von Wundfieber in der verflossenen Nacht hatte seiner kräftigen Natur nicht viel anhaben können. Er empfing die beiden Herren zu deren nicht geringem Erstaunen bereits in seinem Arbeitszimmer auf dem Diwan liegend. Da es kaum sechs Uhr nachmittags vorüber war, herrschte in dem eigenartig gemütlichen Raume noch genügend Helle, um den Verwundeten genau betrachten zu können.
„Sag’ mal, Alterchen, was machst du denn nur für Geschichten!“ meinte Steinke, indem er sich einen Stuhl dicht an den Diwan heranzog und Platz nahm.
„Das kommt davon, wenn man sich in Dinge mischt, die eigentlich nur der weisen Polizei vorbehalten bleiben sollten,“ lächelte der Schriftsteller schwach. „Dieses Mal bin ich noch so mit einem blauen Auge davongekommen,“ fügte er ernster hinzu.
Der Polizeirat, der sich gleichfalls gesetzt hatte, nickte ihm freundlich zu. „Gott sei Dank, daß es so ist, lieber Herr Sellert. Um Sie wäre es schade gewesen, sehr schade. So ein talentierter …“
Der Schriftsteller winkte ab. „Keine Schmeicheleien, Herr Polizeirat. Am meisten hätten wohl meine Gläubiger mein plötzliches Ende betrauert. Da wollen wir nur ehrlich sein.“
Steinke bat jetzt den Freund, falls es diesen nicht zu sehr anstrenge, das Vorgefallene zu erzählen.
„Heute Vormittag hast du ja nur sehr knappe Angaben machen können,“ meinte er. „Und ein eingehender Bericht wäre doch gerade jetzt, wo diese Geschichte sich bis zu einem neuen Mordversuch zugespitzt hat, sehr erwünscht. Ich nehme wenigstens an, daß dieser Anschlag mit der Sache Mersen eng zusammenhängt.“
Sellert begann sofort, wenn auch mit einigen Pausen, alles Nötige zu erzählen. Nachdem er seinen Besuch in Mersens Wohnung und die Entdeckung des Tagebuches geschildert hatte, fuhr er fort:
„Als mir Frau Pilaski in so unzweideutiger Weise die Tür gewiesen hatte, versuchte ich dich, lieber Steinke, sofort im Präsidium zu sprechen. Ich wollte in deiner Begleitung dann nach unseren armen Doktors Wohnung zurückkehren und dem indischen Götzen das Tagebuch, gestützt auf deine amtliche Eigenschaft, entnehmen. Leider warst du gerade nach Hause gefahren, um deine Sachen für die Reise nach Dresden zu packen. Ich also hinter dir her. Aber das Pech verfolgte mich. Du hättest vor zwei Minuten dein Heim verlassen, erklärte deine Wirtin.
Unten vor dem Hause traf ich dann niemand anders als Frau Pilaski, die mir sagte, sie habe dich aufsuchen wollen, um dir eine wichtige Mitteilung zu machen. Als ich ihr erwiderte, du seiest gerade zum Bahnhof unterwegs, um eine längere Reise anzutreten, tat sie sehr bestürzt, schüttelte dann aber nach einigem Zureden mir ihr Herz aus.
Kurz nach meinem Weggang aus Mersens Wohnung habe dort ein Mann Einlaß begehrt, der sich für einen Kriminalbeamten ausgab, in dem sie jedoch einen Menschen wiedererkannt habe, der in letzter Zeit einige Male ihren Herrn besucht hätte und nach dessen Erscheinen der Doktor dann stets sehr aufgeregt gewesen wäre. Sie hätte den Mann daher nach seiner Legitimation gefragt, worauf dieser grob geworden wäre und unter Drohungen abgezogen sei. –
Das Äußere dieses Menschen beschrieb die Pilaski mir ziemlich genau so wie Boris Uttussows Steckbriefbeschreibung, die gestern in den Abendblättern erschienen ist. Jedenfalls nahm diese Unterredung eine ziemliche Zeit in Anspruch, so daß ich nachher feststellen mußte, daß es bereits zu spät war, um dich noch auf dem Anhalter Bahnhof vor Abgang deines Zuges abzufassen. Frau Pilaski verabschiedete sich dann auf dem Alexanderplatz von mir, und ich fuhr mit der Straßenbahn nach Charlottenburg zurück und begab mich in meine Wohnung.
Bemerken möchte ich noch, daß die Pilaski mich beim Abschiede fragte, ob ich dir den Besuch jenes unheimlichen, schielenden Mannes – Uttussow schielt ja tatsächlich! – nicht telephonisch nach Dresden mitteilen wolle. Sie halte das doch für sehr wichtig. Worauf ich antwortete, ich würde morgen – also heute früh – versuchen, dich in Dresden telephonisch zu erreichen. –
Daheim setzte ich mich sofort an die Arbeit und sah die ersten Kapitel meines neuen Romans durch, verbesserte hier und da etwas, aß dann gegen neun Uhr zu Abend – ich hatte mir von der Tochter meines Wirtes das Nötige einholen lassen – ging noch eine halbe Stunde im Garten auf und ab und setzte dann die weitere Durchsicht des bisher Geschriebenen fort. Wie immer rauchte ich bei der Arbeit Zigaretten, deren Qualm bald das ganze Zimmer füllte und selbst mir lästig wurde. Ich ging ans Fenster, öffnete beide Flügel und setzte mich wieder davor an den Schreibtisch, dort links!“ – Sellert hob die Hand und wies auf das altmodische Möbel hin.
„Wie lange ich dann noch gearbeitet habe, bis plötzlich ein scharfer Knall draußen und ein stechender Schmerz an der rechten Schläfe mir gerade noch zum Bewußtsein kam, bevor ich ohnmächtig vom Stuhle sank, weiß ich nicht.
Als ich wieder erwachte, lag ich im Bett in meinem Schlafzimmer, auf dem Nachttisch brannte eine Lampe und Doktor Henning beugte sich über mich und legte gerade letzte Hand an den Verband.“
„Das, was noch fehlt, kann ich ergänzen,“ warf der Polizeirat ein. „Malten, der Besitzer dieses Grundstücks, hörte um dreiviertel elf, als er gerade zur Ruhe gehen wollte, einen schußähnlichen Knall und zwar anscheinend im Garten vor dem Hause. Argwöhnisch gemacht durch die offenbare Nähe der Detonation, begab er sich nach vorn, öffnete die Haustür und schaute in die Dunkelheit hinaus. Er sah jedoch nur den hellen Lichtschein, der durch das offene Fenster Ihres Zimmers auf den Vorplatz fiel. In der Absicht bei Ihnen nachzufragen, ob auch Sie etwas gehört hätten, klopfte er an die Tür, erhielt aber keine Antwort. Da die Tür von innen verschlossen war, ging er in den Garten hinaus, stellte einen leeren Eimer umgekehrt unter Ihr erleuchtetes Fenster und vermochte von diesem erhöhten Standort aus nun zu Ihnen hineinzusehen.
Ein Blick genügte. Sie lagen regungslos neben Ihrem Schreibtisch auf dem Fußboden. Erst dachte Malten an Selbstmord, wie er mir heute früh erzählte. Da er aber keine Schußwaffe bemerkte – der Schreibtisch steht ja keinen Meter vom Fenster ab! –, so mutmaßte er Schlimmeres, sagte schnell seiner Frau Bescheid und rannte zur nächsten Polizeiwache.
Der Garten wurde nun sofort, nachdem der wahre Sachverhalt erkannt war, abgesperrt, damit etwaige Spuren, die der Täter hinterlassen haben könnte, nicht verwischt würden. Sobald der Morgen graute, fanden sich hier unsere Kriminalbeamten ein und suchten sorgfältig den Garten ab, entdeckten aber so gut wie nichts. Freilich – die Stelle, wo der Meuchelmörder über den Zaun gestiegen ist, haben wir gefunden. Sie liegt hinten in der östlichen Ecke des Grundstücks an dem großen Müllkasten. Diesen hat der Täter benutzt, um bequemer den Zaun überklettern zu können. Und dort bemerkte unser Geheimpolizist Krause 2 auch in der frisch in den breiten Müllkasten geschütteten Asche einen Fußabdruck, der freilich in dem weichen Material nur sehr verschwommen ausgefallen ist. Immerhin war zu erkennen, daß der Stiefel recht klein und mit einem hohen Absatz versehen gewesen sein muß, der diesen Abdruck hervorgerufen hat. Sonst haben wir keinerlei Anhaltspunkte entdeckt, die auf die Person des verbrecherischen Schützen hindeuteten. Nur die Stelle haben meine Leute ungefähr berechnen können, wo der Mordbube gestanden und den Schuß abgefeuert hat. Sie liegt keine sieben Meter vom Hause entfernt. Die Kugel aber ist in jenen Band des Konversationslexikons gefahren, hat das Leder des goldgepreßten Rückens durchschlagen und ist zwischen den Blättern, nur wenig platt gedrückt, gefunden worden. Sie stammt ohne Zweifel aus einer gezogenen Pistole her, wie man diese zum Scheibenschießen benutzt.
Der Täter muß ein immerhin leidlicher Schütze gewesen sein, der seines Schusses ziemlich sicher war und daher auch auf Ihren Kopf gezielt hat, um Sie ganz sicher ins Jenseits zu befördern. Vielleicht hat nur eine geringer Bewegung zur Seite im Moment des Abdrückens Sie gerettet, lieber Herr Sellert. –
So, das wäre alles.“
Steinke, der mit leicht gerunzelter Stirn zugehört hatte, sagte jetzt, indem er sich hastig erhob:
„Kein anderer wie diese Frau Pilaski kommt hier in Betracht. Darauf gehe ich jede Wette ein.“
Sellert schaute ungläubig drein, und der Polizeirat schüttelte sogar sehr energisch den Kopf mit den Worten:
„Aber Steinke! Bedenken Sie – eine einfache Frau, eine Wirtschafterin als Pistolenschützin!!“
„Wir werden sehen, wer Recht behält,“ beharrte der Kommissar auf seiner Annahme. „Das ganze Geheimnis von Mersens Verschwinden hätte uns ohne Frage jenes Tagebuch enthüllt,“ fuhr er schnell fort.
„Die Pilaski hat dich, lieber Sellert, beobachtet, wahrscheinlich durch das Schlüsselloch, wie du den indischen Gott aufklapptest. Die Bronzefigur steht ja genau gegenüber der Tür zwischen den Fenstern. Sie sah dich in dem Buche interessiert lesen, fürchtete dadurch irgend eine für sie ungünstige Entdeckung und machte dir die weitere Lektüre unmöglich. Der Inhalt des Tagebuches, wahrscheinlich seine Existenz überhaupt, dürfte ihr bisher unbekannt gewesen sein, ebenso wie die Tatsache, daß der indische dicke Gott sich öffnen ließ.
Nach deinem Weggange hat sie dann selbst einen Blick in das Buch geworfen, sich überzeugt, wie gefährlich für sie der Inhalt sei, und ist dir dann nachgeeilt um festzustellen, ob du mich sofort aufsuchen würdest. Dein Zusammentreffen mit ihr vor meinem Hause ist also kein zufälliges gewesen. Im Gegenteil. Sie wird dir nachgegangen sein.
Und die Geschichte von Utussow, der bei Mersen Einlaß begehrt haben soll, ist natürlich Schwindel. Sie hat nur einen Grund gesucht, um dich ansprechen zu können und daher diese wichtige Mitteilung, die sie mir machen wollte, erfunden. Als sie dann erfuhr, ich sei verreist, war sie beruhigt. Jedenfalls wollte sie aber sicher gehen und sich noch vergewissern, ob du mir deine Neuigkeiten nicht telephonisch übermitteln würdest. Daher ihre diesbezügliche Frage. Als du erwidertest, du würdest erst am nächsten Tage mich in Dresden anrufen, war der Entschluß dich zu beseitigen, sofort gefaßt. Du solltest verschwinden, um das nicht an mich ausplaudern zu können, was du in Mersens Aufzeichnungen gelesen hattest.“
Steinke hatte sich ganz außer Atem gesprochen.
Aber seine beiden Zuhörer blieben ungläubig wie zuvor.
„Deine Kombinationen schweben ziemlich nebelhaft in der Luft,“ meinte Sellert. „Woher z. B. hat die Pilaski die Beschreibung hergenommen, die so gut auf Utussow paßt?! – Wie konnte sie wissen, daß ich sofort zu dir nach dem Präsidium und dann in deine Privatwohnung eilen würde …?! –
Nein, bester Helmut, – diese Theorien sind selbst für einen Theoretiker zu sehr auf lockerem Sande aufgebaut. – Wenn die Pilaski jemandem den Tod gewünscht hat, so ist es nur Mersen selbst gewesen. Als ich gestern bei ihr war, verriet ihr ganzes Benehmen dies nur zu deutlich.“
Steinke ging auf diese letzte Bemerkung gar nicht weiter ein, sondern sagte hartnäckig: „Die Beschreibung des Utussow hat das Weib aus der Zeitung, und daß du sofort zu mir gehen würdest, war eine sehr treffende Kombination von ihr. Außerdem – denke an die Fußspur in der Asche, diese kleine Fußspur mit dem hohen Absatz!“
Da warf der Polizeirat ein: „Aber bedenken Sie doch: Eine solche Frau als Pistolenschützin – eine bessere Köchin!“
„Die Zukunft wird zeigen, ob ich nicht Recht behalte,“ meinte der Kommissar. Und fügte hinzu:
„Sind heute Beamte von uns zu irgend einem Zweck in Mersens Wohnung gewesen?“ –
Der Polizeirat verneinte.
„Sehr gut. Dann werde ich sofort der Pilaski etwas auf den Zahn fühlen. Und Sie möchte ich bitten, umgehend alle verfügbaren Beamten bei Taxameterkutschern und Autochauffeuren fragen zu lassen, ob einer von ihnen gestern hier in der Nähe der Gertraudenstraße gegen elf Uhr abends eine magere, ältere, sicher verschleierte Frau als Fahrgast bekommen und nach der Gegend der Augsburger Straße gebracht hat. Diese Feststellung kann in zwei bis drei Stunden erledigt sein. –
Auf Wiedersehen, ich habe es eilig. Vielleicht fahre ich nämlich heute noch nach Danzig, um dort Nachforschungen über das Vorleben der Wirtschafterin anzustellen. Ich bleibe dabei: Diese Frau ist mit im Spiel! –
Was die andere Sache, Servier und Genossen, anbetrifft, so könnte Kollege Schwiderski nach Wiesbaden fahren und zusehen, ob er den Utussow dort nicht abfassen kann. –
Noch eins. Schicken Sie mir doch bitte sogleich noch einen Beamten von der Polizeiwache Sybelstraße in Zivil zu Mersen. Vielleicht brauche ich ihn. Er soll ruhig anläuten und sagen, er wünsche mich dringend zu sprechen. –
Nochmals – auf Wiedersehen! Und gute Besserung, lieber Sellert, falls wir uns die nächsten Tage nicht sehen sollten.“
*
Frau Pilaski, kühl bis ans Herz hinan wie immer, führte Steinke in das Arbeitszimmer ihres Herrn und machte eine einladende Handbewegung auf denselben Stuhl hin, auf dem gestern Nachmittag Erwin Sellert gesessen hatte.
„Haben Sie endlich Gewißheit, was mit Herrn Doktor Mersen geschehen ist?“ fragte sie, da der Kommissar absichtlich schwieg und ihr den Beginn der Unterhaltung überließ.
Steinke handelte genau nach dem Plane, den er sich auf dem Wege nach der Augsburger Straße zurechtgelegt hatte. Und so erwiderte er denn, trübe vor sich hin blickend:
„Liebe Frau Pilaski, machen Sie sich auf eine schlimme Nachricht gefaßt.“
„Wie – ist er tot?“
„Leider. Wir haben seinen Leichnam vor einer Stunde gefunden.“
„Also wirklich tot …!“ Das sollte traurig klingen. Aber die Stimme gab doch genug von den wahren Gedanken dieses Weibes zu erkennen, und ebenso leuchteten ihre Augen in versteckter Freude auf.
Steinke wußte genug. Sellert hatte sich also nicht getäuscht. Die Frau hier hatte auf das Ableben ihres Herrn gehofft, ja gewartet.
„Ja, liebe Frau Pilaski, ich glaube, daß Ihnen diese Nachricht sehr nahe geht,“ sagte er schmerzerfüllten Tones. „Und denken Sie! Wie traurig! Noch einen zweiten Freund, den Sie ja auch kennen, werde ich hingeben müssen, unsern Erwin Sellert. Man hat ihn zu ermorden versucht. Anfangs schien die Wunde ungefährlich, aber bald trat Fieber hinzu, und jetzt … der Arzt gibt keine Hoffnung mehr.“
Wieder das triumphierende Aufblinken in Frau Pilaskis Augen. Wieder versuchte sie Teilnahme zu heucheln.
„Der arme Herr. – Hat er denn wenigstens noch angeben können, wer …“ Sie stockte plötzlich und verbesserte sich … „ob er den Mörder erkannt hat.“
„Alles vorläufig eigentlich Dienstgeheimnis. Aber ihnen kann ich’s ja sagen. Er ist gar nicht mehr recht zur Besinnung gekommen, und wir tappen daher völlig im Dunkeln.“
Wieder ein Blick versteckter Genugtuung.
„Doch – ich komme wegen einer anderen Sache und habe es sehr eilig,“ fuhr Steinke fort. „In der Brieftasche unseres armen Doktors hat man einen beschriebenen Zettel gefunden, worauf er, für den Fall seines Todes bestimmt, man solle in der Bronzefigur dort nach einem Tagebuch suchen, das er geführt hat. Der Zettel gibt auch Aufschluß darüber, wie der dicke indische Gott sich öffnen läßt. – Wollen doch gleich einmal nachsehen.“
Es war so, wie Steinke es erwartet hatte. In der Statue lag nur noch das Schlüsselbund. Das Tagebuch, das Sellert ja in die Höhlung zurückgelegt hatte, war von der Wirtschafterin beseitigt worden.
„Nur ein Bund Schlüssel!“ meinte der Kommissar jetzt enttäuscht. „Wo mag nur das Buch geblieben sein?“
„Ich hab’s jedenfalls nicht genommen,“ erklärte die Pilaski ruhig. „Ich wußte bisher gar nicht, daß der greuliche Götze sich aufklappen läßt.“
In demselben Augenblick ertönte draußen die Flurglocke. Die Wirtschafterin glitt hinaus, um sofort wieder zurückzukehren.
„Ein Beamter in Zivil möchte Sie sprechen,“ erklärte sie.
„Mag er warten. – Rufen Sie wir doch mal schnell das Dienstmädchen. Vielleicht weiß die etwas von dem Buche.“
Ahnungslos eilte die Pilaski nach der Küche und schon kurz darauf kamen die beiden zurück. –
„Waren Sie gestern abend zu Hause?“ fragte Steinke das Mädchen, das einen ganz intelligenten Eindruck machte.
„Nein, Herr Kommissar. Frau Pilaski hatte mir ein Billett zum Schillertheater geschenkt. Es gab die Jungfrau von Orleans, und es war sehr schön.“
„Wann kamen Sie nach der Vorstellung wieder nach Hause?“
„Gegen dreiviertel zwölf.“
„Haben Sie da vielleicht noch mit Frau Pilaski über die Aufführung gesprochen?“
„Natürlich. Sie hat ja auf mich gewartet. Ich habe noch etwas gegessen, und dabei erzählten wir uns was über die Jungfrau von Orleans.“
„Und wo hatten Sie das Billet her, liebe Frau Pilaski? Wohl auch geschenkt bekommen?“ fragte Steinke harmlos.
Der Wirtschafterin war dieses merkwürdige Interesse des Kommissars für den Aufenthalt des Dienstmädchens am vergangenen Abend offenbar verdächtig vorgekommen. Stand es doch zu dem verschwundenen Buche in so gar keinem Zusammenhang. Aber Steinkes Freundlichkeit beruhigte sie wieder.
„Nein, ich hab’s gekauft,“ antwortete sie beinahe stolz.
„Wann denn?“
Wieder zuckte der Argwohn in ihr auf.
„Wozu müssen Sie das denn wissen,“ sagte sie ungeduldig.
„Sie haben es gestern Abend erst gekauft, nicht wahr?“
„Ja – ich wollte, daß das Mädchen auch mal eine Zerstreuung hatte.“
„… und daß es nicht kontrollieren konnte, was Sie selbst trieben,“ setzte Steinke den Satz fort. „Wo waren Sie denn gestern gegen elf Uhr abends? – Heraus mit der Antwort!“ Scharf, drohend klang seine Stimme urplötzlich.
Die Pilaski verfärbte sich auffallend.
„Natürlich zu Hause. Ich treibe mich abends nicht auf den Straßen herum,“ sagte sie mit merklich unsicherer Stimme.
„Das ist eine Lüge! Sie waren in der Gertraudenstraße und haben versucht, Erwin Sellert zu erschießen,“ rief der Kommissar. „In Namen des Gesetzes: Sie sind verhaftet wegen des Verdachtes eines – Mordversuchs. Gestehen Sie reumütig Ihre Schuld – das wird das Beste für Sie sein!“
Höhnisch lachte da die Wirtschafterin auf.
„Ich bin unschuldig! Und sehr bald werden Sie mich wieder freilassen müssen, sehr bald …!“
Der Polizeirat hatte zu der Verhaftung der Wirtschafterin sehr bedenklichen den Kopf geschüttelt. Eine halbe Stunde nach deren Überführung in das Polizeigefängnis wurde Mersens Wohnung dann durch Lücke, einen Beamten, dem Steinke das größte Vertrauen entgegenbrachte, und durch einen zweiten Geheimpolizisten sehr sorgfältig durchsucht. Weder der Schreibtisch wurde übergangen, ebensowenig ein verschlossener Koffer, der in dem von der Pilaski bewohnten Zimmer stand.
Lücke brach kurzer Hand das Schloß dieses Koffers auf. Sorgfältig, wie er in allem war, nahm er jedes Stück des Inhalts einzeln heraus und beschaute sich dann auch genau die Leinwandfütterung, die sich hier und da losgelöst hatte. In einer Ecke fand er so eine Stelle, die offenbar nachträglich mit einem bräunlichen Klebstoff, der die graue Leinwand verfärbt hatte, wieder an das Leder befestigt worden war. Unterhalb dieser Stelle lag das Futter nur lose auf und bildete eine kaum sichtbare Erhöhung. Als der Beamte mit tastenden Fingern diese Stelle abfühlte, merkte er sofort, daß zwischen Leder und Futter noch eine dünne Schicht von irgend welchen Gegenständen – vielleicht Papieren – eingeschoben war. Er trennte also die Leinwand auf und hielt nun mehrere zusammengelegte Blätter und zwei Urkunden verschiedenen Inhalts in den Händen. –
Weiter wurde in den Räumen jedoch nichts entdeckt, jedenfalls keinerlei Schußwaffen oder Munition. Auch das Tagebuch blieb verschwunden. Zwar fand man in einem Herdkochloch noch verbrannte Papierreste und ein verkohltes Fetzchen Leder, aber mit Sicherheit ließ sich nicht sagen, ob hier das wertvolle Buch vernichtet worden war. –
Sonst schenkte Lücke nur noch einer kleinen Schreibmaschine Beachtung. Sie stand im Laboratorium in einem Holzkasten hinter einer Anzahl großer Flaschen und Gläser. Er prüfte das Aussehen der Schrift, nachdem er einige Zeilen geschrieben hatte, und pfiff dann vielsagend durch die Zähne.
Gerade als die beiden Beamten mit dem Versiegeln der Wohnung beginnen wollten, fand sich Steinke ein, der inzwischen dem durch den Polizeirat geleiteten Verhör der Wirtschafterin beigewohnt hatte.
Lücke übergab ihm sofort die in dem Koffer entdeckten Urkunden und machte ihn auch auf die Schreibmaschine aufmerksam.
Begierig überflog der Kommissar die Papiere. Es waren dies zunächst eine Geburtsurkunde einer Emma Pilaski, geboren zu Stolp in Pommern am 24. Oktober 1873 als Tochter des Schaubudenbesitzers Ernst Pilaski, und eine standesamtliche Bescheinigung einer Eheschließung zwischen derselben Emma Pilaski und dem Zirkuskünstler Max Beyer, genannt Berasin, erfolgt am 11. Januar 1900 zu Stettin. Weiter ein handschriftliches Testament des Doktor Mersen, aufgesetzt zu Danzig am 3. November 1906 und unterschrieben von drei Zeugen. In diesem Testament vermachte Mersen seiner Wirtschafterin Emma Pilaski aus Dank für treue, aufopfernde Pflege während seiner schweren Erkrankung in Ermanglung näherer, erbberechtigter Verwandter sein ganzes Vermögen, das in sicheren Wertpapieren bei der Deutschen Bank in Berlin deponiert sei.
„Nun fahre ich heute noch nach Danzig!“ erklärte Steinke und schob die Urkunden in die Tasche. „Um elf geht ein D-Zug vom Bahnhof Charlottenburg ab. Zu dem komme ich noch zurecht. –
So, Lücke, – was hatten Sie noch mit der Schreibmaschine? – Ah – Sie meinen, daß der Brief an Mersen, den mein Freund Sellert hier im Laboratorium fand, und jener Drohbrief an mich vielleicht mit dieser Maschine geschrieben sind? – Hm, die Typengröße könnte stimmen. Prüfen Sie das auf jeden Fall nach. Die beiden Schreiben liegen in meinem Schreibtisch im Präsidium.“
*
Morgens traf der Kommissar in Danzig ein, fuhr sofort zum dortigen Polizeipräsidium und verteilte an drei ihm zur Verfügung gestellte Geheimpolizisten seine Aufträge.
Diese Ermittlungen hatten einen Erfolg, den Steinke kaum hatte erwarten dürfen. Der Hausbesitzer, bei dem Mersen während seines Aufenthaltes in Danzig eine bescheidene Dreizimmerwohnung die ganzen Jahre über innegehabt hatte, war einer der Zeugen, die das Testament mitunterschrieben hatten, und konnte über den Doktor und dessen nähere Beziehungen ziemlich erschöpfend Auskunft geben. Ebenso wurde der Arzt, von dem Mersen während seiner äußerst schweren Typhuserkrankung behandelt worden war, schnell ermittelt, weiterhin noch einige andere Leute, die Mersens bisher streng gehütetes Geheimnis kannten.
Kurz zusammengefaßt, ergab sich folgendes:
Mersen war im Jahre 1902 nach seiner Geburtsstadt Danzig zurückgekommen, lebte sehr für sich und gewann sich trotzdem bald die Achtung und Liebe aller derer, die Gelegenheit hatten, ihn in seinem Beruf oder im Privatleben kennen zu lernen. Den hervorstechenden Zug seines Charakters, der sich leicht durchschauen ließ, bildete eine übergroße Gutmütigkeit, gepaart mit einer erheblichen geistigen Kurzsichtigkeit den Menschen und Lebensverhältnissen gegenüber. –
Diese Beurteilung von Mersens Charakteranlagen bot nun freilich für den Kommissar nichts neues. Des Doktors nachheriger Berliner Bekanntenkreis hatte diese etwas weltfremde Gutmütigkeit ebenfalls schnell erkannt. Nur war hier in Berlin noch eine neue Note hinzugekommen: Mersens trübe Stimmung, Hand in Hand gehend mit einer wortkargen Verschlossenheit, die dann wieder von Augenblicken abgelöst wurde, in denen der Doktor sichtlich zu einer offenen Aussprache aus innerstem Verlangen gedrängt wurde, ohne hierzu den vollen Mut zu finden. In einer solchen Anwandlung halben Sichanvertrauens mochte er auch Sellert das Versteck in der indischen Bronzefigur mitgeteilt und damit für alle Fälle die Möglichkeit geschaffen haben, daß er von seinen Bekannten nach seinem Tode richtig beurteilt werden konnte und zwar durch die Aufzeichnungen des Tagebuches, in dem er seine Seelenkämpfe schriftlich festgehalten hatte, wie dies ja aus den von dem Schriftsteller gelesenen Proben deutlich hervorging. –
Auf dem Danziger Dominik im August 1906, einer Art Messe, die auf ein Jahrhunderte altes Bestehen zurückblicken kann, von der aber jetzt nur noch traurige Reste in Gestalt eines tagelangen Jahrmarktsrummels übriggeblieben sind, lernte Mersen dann durch einen verhängnisvollen Zufall ein in einer Schießbude beschäftigtes weibliches Wesen kennen, das, obwohl keineswegs eine hervorragende Schönheit, ihn bald zu fesseln wußte. Die Person nannte sich Emma Pilaski und war die Witwe eines Zirkuskünstlers namens Beyer, die nach dessen Tode ihren Mädchennamen wieder angenommen hatte. Sie zeichnete sich eigentlich nur durch eine besondere Befähigung aus: Durch ihre Schießfertigkeit, welche sie dazu benutzte, mit den Besuchern der Bude Geldeinsätze auszuschießen, die sie regelmäßig gewann.
Zu derselben Zeit fiel Mersen auch jene unerwartete, recht bedeutende Erbschaft in den Schoß. Emma Pilaski, die hiervon gehört haben mochte, gab jedenfalls ihre Stellung auf und zog als Wirtschafterin zu Mersen. Ihr kaltes, berechnendes Wesen, von dem nur der Doktor nichts bemerkte, ebenso wie ihre kriecherische Freundlichkeit Leuten gegenüber, von denen sie sich Vorteile versprach, machten sie sowohl im Hause als in der Nachbarschaft ebenso unbeliebt, wie ihr Herr sich einer allgemeinen Wertschätzung erfreute. Jeder, der mit ihr in Berührung kam, hatte sehr bald die Überzeugung gewonnen, daß sie lediglich zu Mersen gekommen war, um einen Teil von dessen Vermögen auf die eine oder die andere Weise an sich zu bringen.
Im Herbst desselben Jahres erkrankte der Doktor dann an Typhus. Wochenlang kämpfte er, vollkommen entkräftet mit dem Tode. Zweimal kamen gefährliche Rückfälle, die ihn bis dicht an den Rand des Grabes brachten. Die Pilaski hatte seine Pflege allein übernommen. Alle ihr unbequemen Personen wußte sie dabei von dem Kranken fernzuhalten. Ihre Verstellungskunst war anderseits so groß, daß sie den behandelnden Arzt völlig täuschte, so daß dieser immer aufs neue Mersen gegenüber betonte, mit welch’ seltener Hingabe für ihn gesorgt werde.
Bei dem ersten Rückfall war es dann, als der Doktor, kaum wieder etwas zu Kräften gelang, jenes privatschriftliche Testament erstellte, das er zur Sicherheit noch von drei Zeugen unterzeichnen ließ.
Bald darauf stellte sich abermals eine Wendung zum Schlechteren ein. Wieder wich die Pilaski nicht von dem Krankenbett. Und der mit dem Tode Ringende eröffnete nun plötzlich, offenbar auf Bitten der Pilaski, seinem Arzte, daß er entschlossen sei, diese zu heiraten, um die Erbansprüche sehr entfernter Verwandter an jene Hinterlassenschaft unmöglich zu machen. Er solle ihm daher ehrlich sagen, ob er noch Hoffnung habe ihn durchzubringen.
Der Arzt umging eine direkte Antwort, riet Mersen aber doch, für alle Fälle seine Angelegenheiten baldigst zu ordnen. Der Kranke verstand. So wurde denn am Bette des anscheinend dem Tode Verfallenen schleunigst eine Nottrauung vollzogen, nachdem die Pilaski eine Sterbeurkunde ihres ersten Mannes beigebracht hatte. Damit war von dieser Frau ihr Ziel erreicht.
Aber das Geschick meinte es gnädig mit dem Doktor. Langsam erholte er sich wieder. Nun jedoch erkrankte seine Pflegerin und eben angetraute Gattin selbst an Typhus. Da sie in der Wohnung Mersens nicht die genügende Pflege haben konnte, wurde sie auf ihren eigenen Wunsch in das Städtische Lazarett überführt. Drei Monate rang auch sie mit dem Tode.
Als sie das Krankenhaus verließ, hatte das langanhaltende Fieber ihr den letzten Rest von Jugendfrische genommen. Ihr wohl schon früher durch ein ausschweifendes Leben geschwächter Körper hatte jede Kraft zu neuem Erblühen eingebüßt. Jetzt, nach dieser furchtbaren äußeren Veränderung und nachdem Mersen seinen übereilten Schritt, sich für immer mit ihr zu vereinigen, schnell bereuen lernte, trat ihr wahrer Charakter zu Tage. Es kam zwischen dem Ehepaare zu häßlichen Szenen, die im ganzen Hause gehört wurden.
Um dem Gerede der Leute zu entgehen, zog der Doktor von Danzig fort nach Berlin. Schnell war er bei seinen wenigen Danziger Bekannten vergessen. Niemand dachte mehr an ihn. –
Dies waren die Neuigkeiten, die der Kommissar zu seiner unbeschreiblichen Überraschung erfuhr. –
Die Pilaski Mersens Frau! Wer hätte das gedacht! – Nun – jedenfalls war dies der erste Lichtstrahl, der das bisherige Dunkel erhellte. –
Bereits am Abend desselben Tages saß Steinke wieder in der Bahn und fuhr nach Stettin, wo seiner Zeit Emma Pilaski den Zirkuskünstler Beyer geheiratet und wo dieser nach der auf dem Danziger Standesamt befindlichen Urkunde am 5. April 1904 verstorben sein sollte.
Der Kommissar machte diesen kleinen Umweg über Stettin zurück nach der Reichshauptstadt lediglich zu dem Zweck, um auch dort Erkundigungen über das Vorleben der Pilaski einzuziehen. Und wie sehr wurde diese Gewissenhaftigkeit belohnt! Ein Tag genügte Steinke um festzustellen, daß die Sterbeurkunde des Max Beyer gefälscht und daß dieser in Stettin selbst unter seinem Künstlernamen Berasin am Stadttheater als Chormitglied beschäftigt war. Die Polizei hatte schon längst ein wachsames Auge auf ihn geworfen, da er weit über seine Verhältnisse lebte und somit Einnahmequellen besitzen mußte, die etwas dunkler Natur waren.
Auf Veranlassung Steinkes wurde Berasin nun verhaftet.
Der soeben von seiner Dienstreise nach Berlin zurückgekehrte Kommissar Steinke saß dem Polizeirat in dessen Amtszimmer gegenüber. Nachdem er seinen inhaltsreichen Bericht erstattet hatte, lehnte der Abteilungschef sich behaglich in seinen Stuhl zurück und meinte mit einem vielsagenden Lächeln:
„Sie haben mir da eben manche überraschende Tatsache mitgeteilt als Erfolg Ihres Ausfluges nach Danzig und Stettin, lieber Steinke. Aber auch ich kann Ihnen mit verschiedenen Neuigkeiten aufwarten, die ebenso sehr Ihr Erstaunen erregen werden. Hören Sie also.
An demselben Abend, als Sie nach Danzig fuhren, begab sich, auf Ihren Vorschlag hin, Ihr Kollege Schwiderski nach Wiesbaden. Vor drei Stunden meldete er sich bei mir zurück. Jedoch nicht allein. Er brachte drei Personen mit, für die wir uns außerordentlich lebhaft in letzter Zeit interessiert haben.
Ich will Sie nicht auf die Folter spannen. Lassen Sie mich im Zusammenhang erzählen,“ fuhr der Polizeirat fort. –
„Schwiderski wurde durch den langen, schielenden Utussow, – nebenbei heißt der Klemenzig und ist ein Galizier, bei seinen Nachforschungen in Wiesbaden auch auf Servier und die Baronin aufmerksam. Letztere hatte sich, ebenso wie auch die beiden anderen sehr geschickt verkleidet waren, in eine alte, würdige Dame verwandelt und wohnte mit dem gleichfalls künstlich gealterten Utussow als Ehepaar in einer Fremdenpension, während Servier – Peter Belarsen ist sein richtiger Name – in einem Privathause sich eingemietet hatte.
Schwiderski kam insofern gerade zur rechten Zeit, als die drei bereits alle Vorbereitungen für eine Flucht ins Ausland getroffen hatten. Zunächst ließ er sie, da ja auch er annahm, daß Servier und die Baronin bereits auf Nummer Sicher säßen, nur auf die nächste Polizeiwache zur Vernehmung bringen. Hier wurde dann sehr bald festgestellt, daß alle drei Verkleidung trugen, – falsche Bärte, Perücken usw., und daß nach Fortfall dieser es sich nur um Utussow und eine Doppelgängerin der Herta Günter handeln könne.
Bei Servier war die Sache zunächst noch zweifelhaft. Aber auch er legte dann in dem Glauben, daß Leugnen ihm nichts mehr helfen könne, ebenso wie seine beiden Genossen ein umfassendes Geständnis ab, das sich sowohl auf den Hoteldiebstahl als auch auf den Raub im Pensionat des Westens bezog. Schwiderski erklärte dem sauberen Trio nämlich, eigentlich mehr um auf den Busch zu klopfen, daß die ganze Diebesbeute gefunden sei und beschrieb genau all die Gegenstände, die wir dem in Dresden verhafteten, immer noch recht geheimnisvollen Manne abgenommen haben.
Dies genügte. Die Verbrecher glaubten nun, wir hätten auch alle anderen zu ihrer Überführung nötigen Beweise in den Händen und beichteten jeder für sich in so eingehender Weise, daß nun jedenfalls das Vorliegen von zwei ganz getrennten Verbrechen mit Sicherheit erwiesen ist.
Die letzte Tat des Hochstaplertrios, die Beraubung des Bulgaren Iwan Schalkow, ist nur mit dem Verschwinden Doktor Mersens durch noch nicht völlig aufgeklärte Zufälle vermischt worden. –
Erledigen wir zunächst das Geständnis der Baronin. Aus diesem geht hervor, daß sie einer Verwechslung der Person zuerst auf der Treppe des Anhalter Bahnhofs zum Opfer gefallen ist, indem sie einen Fremden, der eine gewisse Ähnlichkeit mit dem richtigen Servier hatte, ansprach und demselben Manne nachher ihren Pappkarton mit dem gestohlenen Gut in die Hände spielte, woraufhin unser Lücke ja auch diesem Menschen auf der Fährte blieb und später dessen Verhaftung und die der Herta Günter im guten Glauben veranlaßte.
In Wahrheit ist die Baronin von Parlieux, nachdem sie im Waschraum des Dresdener Bahnhofs sich so ziemlich wieder aus der alten Dame in ihre eigentliche Gestalt verwandelt hatte, nach kurzem Aufenthalt nach Leipzig weitergereist, wo sie ihre Ausrüstung ergänzte bzw. vollständig erneuerte und dann auf Umwegen nach Wiesbaden fuhr. Hier mietete sie ein billiges Zimmer, setzte sich mit dem auf einem anderen Wege inzwischen gleichfalls eingetroffenen Utussow in Verbindung und bezog mit ihm zusammen als Ehepaar ein Pensionat.
Sehr bald fand sich in dem berühmten Kurort nun auch Servier ein. Natürlich erfuhr die Baronin nun sofort bei der ersten Begegnung mit ihm, daß sie damals die Beute einem falschen ausgehändigt hatte und daß jener Zettel, den sie demselben Manne im Zuge nach Dresden hatte zukommen lassen, gleichfalls an eine unrichtige Adresse gelangt war. Da von ihr nun unvorsichtigerweise auf diesem Zettel auch Wiesbaden als Treffpunkt erwähnt worden war und somit ein weiterer Aufenthalt an diesem Orte zu gefährlich erschien, gedachten die drei schleunigst den Staub dieser Stadt von ihren Füßen zu schütteln, eine Absicht, deren Verwirklichung Ihr Kollege Schwiderski noch im letzten Moment verhindern konnte.“
Der Polizeirat war mit seinem Bericht zu Ende. Steinke hatte schon während dieser überraschenden Enthüllungen die Aufregung nicht auf seinem Stuhle sitzen lassen. Und so fragte er jetzt hastig:
„Hat die Baronin, die doch mit der Herta Günter eine geradezu verblüffende Ähnlichkeit besitzen muß, ihren wahren Namen angegeben? Heißt sie wirklich Parlieux? Oder wer ist sie in Wirklichkeit?“
Der Polizeirat zuckte die Achseln. „Über diesen Punkt verweigert sie bis jetzt jede Erklärung.“
Steinke schaute nachdenklich vor sich hin.
„Bringen wir erst diese Geschichte in Ordnung,“ sagte er kurz. „Nachher kommt der geheimnisvolle Kranke in Dresden an die Reihe. –
Ich möchte die Baronin und Herta Günter einander gegenüberstellen – zu einem bestimmten Zweck. Die Parlieux hat doch ein kleines Muttermal auf der Stirn, nicht wahr? Weist auch die Stirn der Günter dasselbe Kennzeichen auf? – Soweit ich mich erinnern kann – trifft dies zu.“
„Gewiß! Die Ähnlichkeit geht sogar bis zu diesem braunen Fleckchen.“
„Nun – dann dürfte ich auf der richtigen Fährte sein. Nur Zwillingsschwestern können einander so ähnlich sehen wie diese beiden, Herr Polizeirat! Das erklärt alles!“
„Natürlich – natürlich, – so wird es sein! Ein glänzender Gedanke, lieber Steinke! – Los dann also! Stellen wir sie einander gegenüber!“
„Halt – erst soll die Günter vorgeführt werden. Die Baronin kann inzwischen auf dem Flur warten.“
Als die Erzieherin eintrat, wies Steinke ihr einen Stuhl an, der am Fenster stand, so daß sie die Tür gerade vor sich hatte.
Der Kommissar lehnte sich dem jungen Weibe gegenüber an den Tisch und begann mit voller Absicht, um sie nach dem ersten Satz zu überrumpeln:
„Sie wollen also auch heute nicht erklären, weshalb sie damals für die letzten acht Tage nach Berlin gefahren sind, Fräulein Günter? – –
Sehen Sie, wir kennen ja jetzt die Wahrheit und zwar – von Ihrer Schwester!“
Der Erfolg war ein vollständiger. Herta Günter fuhr zusammen, ließ dann den Kopf wie in stiller Ergebenheit sinken und hauchte mehr als sie sprach:
„So haben Sie Beatrix wirklich gefunden? – Oh, mein armer, armer Bruder!“
„Ja – wir haben Ihre Schwester,“ sagte Steinke in freundlichem, mitleidigem Tone. „Es gibt nun also nichts mehr zu verheimlichen. Und, wenn wir Ihnen irgendwie helfen können, so wollen wir das auch tun. Doch Sie müssen uns schon die volle Wahrheit gestehen.“
„Helfen?!“ meinte sie traurig. „Nach dem, was vorgefallen ist, wird mein Bruder seine Offizierslaufbahn ja doch aufgeben müssen.“
Mit ihrer Selbstbeherrschung war es vorbei. Wildes Schluchzen warf ihren Körper hin und her. Da stand der Polizeirat auf, trat neben sie und strich ihr gütig über das Haar.
„Beruhigen Sie sich doch, mein Kind. Oft genug wandelt sich großes Leid nachher in ebenso großes Glück. Was wir tun können, soll geschehen, um Sie nach jeder Richtung hin zu unterstützen. –
So, und nun beichten Sie bitte. Aber nicht wieder weinen, bitte, bitte.“
Sie erzählte, erst stockend, dann gefaßter und zusammenhängender. –
Der verstorbene Hauptmann Günter hatte nach seinem Tode seine Frau mit drei Kindern, dem Zwillingspaare und einem um fünf Jahre jüngeren Sohne namens Horst, in sehr kümmerlichen Verhältnissen zurückgelassen. So waren die Töchter bald gezwungen, sich ihren eigenen Lebensunterhalt zu verdienen. Herta, die ihr Lehrerinnenexamen bestanden, dann jedoch Erzieherin geworden war, da sie den anstrengenden Schuldienst nicht aushielt, schickte, soviel sie erübrigen konnte, der etwas adelsstolzen Mutter, einer geborenen von Breßler, zu, damit deren Herzenswunsch, den einzigen Sohn Offizier werden zu lassen, in Erfüllung gehen könne.
Beatrix, bedeutend leichtsinniger und lebenslustiger, hatte eine Stelle als Schreibmaschinenfräulein bei einem Rechtsanwalt in Berlin gefunden und wohnte mit Mutter und Bruder zusammen.
Dann starb die Frau Hauptmann, und damit zerfielen die an sich nur lockeren Bande, die die drei Günterschen Kinder noch vereinigt hatten.
Beatrix ging, einem lange gehegten Wunsche nachgebend, zur Bühne und fand bald ein Engagement an einem kleinen süddeutschen Theater. Horst Günter wurde von dem Rest geringer Ersparnisse, dem Erlös der verkauften Möbel usw. und den Zuschüssen Hertas in einer Schülerpension in Berlin untergebracht, um das Gymnasium bis zur Reifeprüfung weiter besuchen zu können.
Die lebenslustige, leichtfertige Beatrix sollte jedoch nur zu schnell straucheln. Eines Tages gab sie ihr Engagement auf und folgte einem reichen Kaufmann als dessen Geliebte nach Hamburg. Herta, die den wahren Sachverhalt schnell durchschaut hatte, flehte sie umsonst an, wieder in geordnete Verhältnisse zurückzukehren. Beatrix spielte sogar noch die Beleidigte, indem sie immer wieder beteuerte, sie sei als Gesellschaftsdame bei dem betreffenden Herrn in Stellung.
Seitdem wechselten die Schwestern nur selten kurze Kartengrüße, und als Herta dann in dem Haus des Generalkonsul als Erzieherin eintrat, hörte sie ein halbes Jahr lang nichts von der Schwester, über die zu sprechen sie sich aus leicht verständlicher Scham möglichst hütete.
Dann – der Bruder war gerade nach soeben bestandener Reifeprüfung bei einem Infanterie-Regiment eingetreten – erhielt sie plötzlich von Beatrix aus München einen Brief, der ihr nach dem Riesengebirge nachgeschickt worden war. Die Schwester teilte ihr mit, daß sie längst alle Beziehungen zu jenem Kaufmann gelöst und sich mit einem französischen Baron verheiratet habe, der in sehr guten Verhältnissen lebe. Sie möchte nun sehr gern den Bruder ebenfalls mit Geld unterstützen und bäte um dessen Adresse, die ihr nach dem Pensionat des Westens in Berlin geschickt werden möge. –
Der Brief war sehr kühl gehalten, ohne jedes Wort von schwesterlicher Zuneigung. Herta, die diesen Angaben nicht traute und den Bruder vor Geldzuwendungen bewahren wollte, die aus unlauteren Quellen kamen, verabredete nun mit ihrer Freundin, die sie in den Urlaub begleitet hatte, alles nötige, um heimlich nach Berlin reisen zu können, wo sie festzustellen gedachte, ob Beatrix hinsichtlich ihrer Verheiratung die Wahrheit berichtet habe.
In der Reichshauptstadt angekommen, beobachtete sie die Schwester einige Tage heimlich und sprach sie dann bei günstiger Gelegenheit auf der Straße an. Beatrix’ sichtliches Erschrecken und nur zu deutliche Verwirrtheit sagten ihr genug, zumal sie auch sonst schon aus den nächtlichen Bummelfahrten ihrer Schwester, die stets in sehr vergnügter Herrengesellschaft stattfanden, das Richtige entnommen hatte.
Es kam zu einer erregten Szene zwischen den beiden, in deren Verlauf Hertas Verdacht volle Bestätigung fand. Beatrix war anscheinend noch tiefer gesunken.
In großer Verzweiflung kehrte die Erzieherin nun nach Dresden zurück und zwar an dem Tage, für den die Freundin von der Teichmann-Baude im Riesengebirge aus Hertas Rückkehr durch eine von dieser vorher geschriebenen Karte dem Generalkonsul angezeigt hatte. Sie wußte es auch so einzurichten, daß der Zeitpunkt ihres Eintreffens in der Villa des Herren Salomon mit der Ankunft des Zuges aus dem Riesengebirge übereinstimmte.
Dann nahten ihr am nächsten Vormittag neue Schrecken. Der Herr, der sie in den Elbanlagen ansprach, hatte sie offenbar mit ihrer Schwester verwechselt. Aus seinen merkwürdigen Andeutungen entnahm sie bald, daß Beatrix in irgend eine dunkle Sache verwickelt sein müsse. Der Fremde, den sie zunächst für einen Kriminalbeamten gehalten hatte, wurde jedoch mit ihr zusammen verhaftet.
Und nur, um den Bruder, der, falls Beatrix irgendwie mit der Polizei in Konflikt geraten wäre, seine Laufbahn hätte aufgeben müssen, vor diesem harten Schlage zu bewahren, suchte sie durch standhaftes Verheimlichen ihrer Fahrt nach Berlin die Schwester zu decken. –
Das war die Geschichte dieses bedauernswerten, jungen Weibes.
Eine Stunde später verließ Herta Günter in Begleitung des Kommissars, gereinigt von jedem Verdacht, das Polizeipräsidium. Und noch an demselben Tage fuhr sie dann ebenfalls mit Steinke zusammen nach Dresden.
Das erste, was der Kommissar nach seiner Ankunft in der sächsischen Residenz auf dem dortigen Polizeipräsidium erfuhr, war die erhebliche Besserung im Befinden des schweigsamen Gefangenen, den man bisher fälschlicherweise für Anatol Servier gehalten hatte. Nach Rücksprache mit dem Gefängnisarzt gestattete dieser dem Berliner Kommissar einen Besuch bei dem Kranken, der jedoch vorher auf Steinkes besonderen Wunsch in ein kleines Zimmer gebracht wurde, wo die Unterredung ohne Zeugen stattfinden konnte.
Als Steinke den hellen, freundlichen Raum betrat, lag der Gefangene mit nach der Tür gewendetem Kopf in den Kissen. Seine Augen waren in ängstlicher Spannung weit geöffnet und auf seinem blassen Gesicht zeigte sich ein deutlicher Ausdruck von Unruhe und mißtrauischer Neugierde. Der Arzt hatte ihm ja einen Besucher angemeldet, aber keinen Namen genannt.
Steinke blieb überrascht an der Tür stehen.
„Mersen – Günter Mersen, bist du’s wirklich!“ sagte er leise.
Der Doktor hatte blitzschnell wie in tiefer Scham den Kopf nach der Wand gedreht. Langsam trat der Kommissar näher, ergriff die Hand des Freundes und sagte herzlich:
„Armer Kerl, was mußt du dieses Weibes wegen gelitten haben, daß du dich zu diesem gefährlichen Spiel herbeiließest!“
Mersen vermochte zunächst vor seelischer Bewegtheit kein Wort hervorzubringen. Aber unter Steinkes gütigem Zureden beruhigte er sich bald und fand dann auch die Kraft, durch eine Schilderung der von ihm mit großer Kaltblütigkeit vorbereiteten Flucht den letzten Rest aller noch bestehen Unklarheiten zu beheben.
Offen, ohne Beschönigung, erwähnte er die Steinke bereits bekannten Tatsachen, die zu der vor seinen Berliner Freunden bisher ängstlich geheimgehaltenen Ehe mit der Pilaski geführt hatten.
„Als meine Frau nach überstandener Krankheit aus dem Lazarett zu mir zurückkehrte,“ fuhr er nach dieser Einleitung fort, „war sie nicht nur äußerlich eine Greisin geworden, sondern hatte auch, wohl infolge der ungünstigen Veränderung ihres Äußeren, eine derartige seelische Umwandlung mitgemacht, daß sie sich nicht den geringsten Zwang mehr auferlegte, ihre von Natur stets wenig ansprechenden Charaktereigenschaften vor mir nicht offen zu zeigen.
In den langen, einsamen Stunden des tatenlosen Hindämmerns während ich darniederlag, war in mir ganz allmählich die Erkenntnis aufgestiegen, daß meine jetzige Ehefrau offenbar nach einem wohlberechneten Plane gehandelt hatte, um zu dem schließlich auch erreichten Ziele zu gelangen. Als mir dies voll zum Bewußtsein kam, war ich natürlich vollständig gebrochen und ich versuchte, mich aus ihren Händen zu befreien. Aber einen Scheidungsgrund gab es nicht.
So zog ich denn, um aus Danzig fortzukommen, nach Berlin. Hier wurde mir das Leben jedoch erst recht zur Hölle. Das Testament, das ich während meiner Krankheit geschrieben hatte, war verschwunden. Meine Frau gab an, es verloren zu haben. Aber ich durchschaute sie.
Ich wollte ihr jetzt nur den Pflichtteil belassen und setzte daher vor Gericht eine neue letztwillige Verfügung auf. Doch sie hatte mir nachspioniert und plötzlich änderte sie ihr Verhalten, nahm wieder die frühere kriecherische, berechnende Herzlichkeit an. Hierdurch noch mehr abgestoßen, suchte ich Vergessen in meiner Arbeit, kümmerte mich überhaupt nicht mehr um sie.
Vor unserem Fortzuge von Danzig hatte ich mit ihr vereinbart, sie solle vor den Leuten in unserem neuen Wohnsitz nur als meine Wirtschafterin gelten. Auffallenderweise war sie darauf eingegangen – aus kalter Berechnung, wie ich bald merkte.
So schlichen die Jahre hin. Mein Dasein war nichts als eine Kette von Anklagen wider mich selbst wegen meines verpfuschten Lebens, das mir nur Qualen, seelische Foltern brachte. Mein einziger Trost war meine Arbeit und der Verkehr mit unserer Stammtischrunde. Schließlich kam aber doch der Tag, der die Entscheidung brachte.
Ich fühlte plötzlich, daß ich zum Mörder werden würde, wenn ich dieses Weib nicht baldigst verließ. In Gedanken spann ich Pläne aus, sie zu beseitigen. Gifte standen mir übergenug zur Verfügung! Entsetzt wies ich diese furchtbaren Vorstellungen immer wieder von mir. Aber wie Dämonen bemächtigten sich die Mordgedanken meiner stets aufs neue.
Ich sah ein – es mußte ein Ende gemacht werden! Mein Entschluß war gefaßt. Heimlich betrieb ich alle Vorbereitungen zur Flucht ins Ausland, wo ich unter anderem Namen ein neues Leben beginnen wollte. Um alle Brücken hinter mir abzubrechen, gedachte ich den Anschein zu erwecken, das Opfer von irgend welchen Erpressern geworden zu sein.
So hoffte ich, die Tatsache, daß ich mein Vermögen bis auf einen Rest von fünfzigtausend Mark abgehoben hatte, um es mit mir zu nehmen, vor der Polizei in anderem Lichte erscheinen zu lassen. Man sollte denken, daß es mir von irgend welchen Feinden durch Drohungen geraubt sei.
Ich schickte meine Wertpapiere und auf einen anderen Namen lautende Legitimationen, die ich mir besorgt hatte, nach München als postlagernde Sendung voraus. Weiter mietete ich mir in Charlottenburg ein Zimmer, in dem ich meine Verkleidung anlegen wollte. Mit Schminke und falschen Bärten verstand ich umzugehen, da ich selbst erstere hergestellt und für Letztere ein patentiertes Klebemittel erfunden habe.
Ein Zufall wollte es, daß ich infolge meiner Verkleidung einem mir völlig Unbekannten ähnlich wurde, mit dem man mich dann später auch verwechselt hat. Du wirst jetzt schon ahnen, wer jener Mann war, der bei mir den Brief abgab, den ich nachher zusammenknüllte und auf den Tisch im Laboratorium warf, wer das Atelier mietete, dort aus einer Schnittwunde Blutspuren erzeugte und das Ende Schnur und das Zeitungsblatt zurückließ, ferner wer den Brief schon um neun Uhr abends in deinen Kasten warf – wußte ich doch, daß du Nachtdienst hattest! –, schließlich wer dem mir von Ansehen bekannten Kriminalschutzmann die Reisetasche in die Hände spielte, um dadurch euch auf die Fährte eines an mir scheinbar begangenen Verbrechens zu lenken. Ich selbst war es. Alles war von mir so fein eingefädelt, – und doch wurde es durch einen blinden Zufall, eben dadurch, daß jene grauhaarige Frau mich mit einem anderen verwechselte, zu einem Mißerfolg. –
Und was nun?! Soll das alte Leben wieder beginnen …“
„Nein,“ unterbrach der Kommissar ihn freundlich, „nein, Günter Mersen – du bist frei! Du hast die Pilaski nicht als Witwe geheiratet! Ihre erste Ehe bestand noch, ihr erster Gatte ist von mir in Stettin verhaftet worden. Wer weiß, ob die beiden dich eines Tages nicht hätten wirklich beiseite geschafft! Sie werden natürlich leugnen, aber jedenfalls bist du dieses Weib für immer los! Eure Ehe hat nie Gültigkeit gehabt. Das Zuchthaus ist ihr sicher, denn auch an Sellert hat sie einen Mordversuch gewagt, der zum Glück fehlschlug. Das Motiv hierzu ist mir jetzt auch klar. Sellert hatte in deinem von ihm ‚aufgefundenen‘ Tagebuch geblättert. Da kam die Angst über das Weib, daß deine Aufzeichnungen unseren Freund veranlassen könnten, ihrer Vergangenheit genau nachzuspüren, wodurch ihre Doppelehe nur zu leicht hätte entdeckt werden können. Als die Pilaski sich dann überzeugt hatte, daß Sellert mir von dem Inhalte des Tagebuches noch nichts mitgeteilt hatte, benutzte sie ihre Schießfertigkeit zu jenem Mordanschlag auf ihn. Sie ist schon jetzt völlig überführt, obwohl sie die Waffe beseitigt hat. –
So, lieber Mersen, – und nun für heute Schluß!“
*
Der richtige Peter, Peter Belarsen, seine beiden Genossen und das Ehepaar Beyer wanderten für kürzere oder längere Zeit ins Gefängnis bzw. ins Zuchthaus. Eine Anklage gegen Doktor Mersen wegen groben Unfugs, den das Gericht in dem von ihm inszenierten scheinbaren Verbrechen erblickte, wurde schließlich niedergeschlagen.
Der Chemiker ist ein anderer Mensch geworden, – jünger, lebensfreudiger. Aus dem ‚Stammtisch der Ehefeinde‘ dürfte er bald ausscheiden, wenn nicht alle Anzeichen trügen. Wenigstens fährt er auffallend häufig nach Dresden zu dem Generalkonsul und wirbt offen um Herta Günter, der er in Verkennung der Tatsachen so viele traurige Stunden bereitet hat.
Jetzt trägt er sich mit der Absicht, in Berlin eine Fabrik für kosmetische Artikel zu gründen, in der auch wohl Horst Günter, der frühere Fahnenjunker und jetzige Student der Chemie, eine gute Stellung bei seinem Chef und … Schwager finden dürfte.