Argus–Kriminal–Bibliothek
Von
W. Kabel.
„Gehen Sie heute noch aus, gnädiger Herr?“ – Der alte Mann blieb bescheiden an der Tür stehen und blickte Erwin Heider fragend an.
Der lag halb ausgestreckt in einem tiefen Klubsessel seines Arbeitszimmers, ließ jetzt das Buch sinken, das er in der Hand hielt, sah sich, wie aus fernen Welten plötzlich in die Wirklichkeit zurückversetzt, halb verstört um und sagte schließlich unsicher:
„Wie spät haben wir’s denn eigentlich?“
„Es ist genau elf Uhr,“ meinte Franz Balwing, der inzwischen zweimal verstohlen gegähnt hatte.
Der junge Millionär sprang mit einem Ruck auf beide Füße.
„So habe ich also wirklich drei Stunden hintereinander dieses Buch verschlungen, ohne die fliehende Zeit gewahr zu werden …! Unglaublich eigentlich! – – Also elf! Nein, ich bleibe zu Hause. Stellen Sie mir etwas kalte Küche im Speisezimmer auf, Franz. Und dann gehen Sie in die Klappe. Man sieht es Ihnen ja an, daß Sie vor Müdigkeit beinahe umfallen.“
Der alte Diener, der in einer Art dunkler Livree steckte, verbeugte sich und verschwand dann hinter der Portiere, die in künstlerischen, schweren Falten die in das Nebengemach führende Tür verdeckte. Erwin Heider aber nahm das Buch auf, reckte und dehnte seine schlanke Gestalt erst gehörig nach dem langen Sitzen und folgte ihm dann langsam. Drei große, mit beinahe etwas überladener Pracht ausgestattete Räume, die alle strahlend erhellt waren, mußte er durchschreiten, bevor er in das Speisezimmer gelangte.
Erwin Heider setzte sich an den Eßtisch, schlug das Buch auf und begann wieder zu lesen. Mittlerweile trug Franz Balwing geräuschlos die Speisen auf. Als er mit Anrichten fertig war, räusperte er sich leise. Aber es half nichts. Wieder hüstelte er.
Da erst schob Erwin Heider das Buch beiseite. Ein prüfender Blick überflog den Tisch. Das Ergebnis dieser Musterung der vorhandenen Speisen war ein hörbarer Seufzer.
„Franz – wie waren doch die Zeiten schön, als einem noch so am Monatsschluß eine Erbssuppe nebst einem Dutzend Gratisbrötchen bei Aschinger das Mittag ersetzen mußten. Ja – war das schön! Da fühlte man doch, daß man lebte, – eben weil man manchmal Hunger hatte …! Jetzt – jetzt!!“
Erwin Heider lachte bitter auf. „Jetzt, wo ich mir nichts zu versagen brauche,“ fuhr er mit dumpfer Wut fort, „hat das Leben fast allen Reiz für mich verloren. Der Fluch des Goldes …!! – Wer mir einst diese schnelle Übersättigung, diese mich selbst abstoßende Blasiertheit nach so kurzer Zeit vollsten Auskostens aller Genüsse prophezeit hätte, dem wäre ich mit einem ‚Dummer Schwätzer‘ über den Schnabel gefahren. Aber diese Weisen haben nur zu sehr recht: Vor einem Jahr fielen mir die zehn Millionen Dollar meines mir völlig unbekannten Onkels, jenes argentinischen Viehzüchters, in den Schoß, und heute – heute schon sehne ich mich zurück nach jenen Zeiten, wo meine verblichenen Eltern mir mühsam jeden Monatsersten hundert Mark schickten, damit ich davon Kolleggelder, Wohnung und Unterhalt bezahlen sollte. Vielleicht war ich noch zu unreif, als dieser Goldregen von Millionen mich überschüttete und in jenen Taumel versetzte, der mich das schnöde Geld in unsinnigster Weise verschwenden ließ und der mir doch so nachdrückliche Lehren einbrachte als einzigen, traurigen Vorteil, – Lehren, die in der Erkenntnis gipfelten, daß die ganze Menschheit, soweit sie mit mir in Berührung kam, vor meinem Mammon kniete, daß man mir in widerlichster Weise bei jeder Gelegenheit schmeichelte, daß meine Freunde ihren glühenden Neid verbargen und mich ausnutzten, schamlos, gemein, – mich anpumpten unter den erlogensten Vorwänden und mich dann verleugneten, ja meine erbittertsten Feinde wurden, als ich ihnen klar machte, daß ich diese Schmarotzerwirtschaft nicht länger wie ein blinder Narr dulden wollte.“
Erwin Heider schob den Stuhl zurück und trat dicht an den Alten heran.
„Franz – das hat am meisten geschmerzt, als ich auf diese Weise meine alten Zechgenossen verlor, – fast alle! Sie wissen ja am besten, wie sehr ich an unserer Verbindung, der Sie als Couleurdiener zwanzig Jahre ebenfalls angehört haben, mit jeder Faser meines Herzens hing! Noch bin ich Mitglied, zahle Tausende aus alter Anhänglichkeit, – aber die inneren Bande sind zerrissen, die mich an unsere Bavaria einst ketteten. – Das Gold hat mir auch das genommen!“
Erwin Heider kehrte an seinen Platz zurück und ließ sich schwer in den Stuhl fallen.
„Sie sollten sich eine geregelte Beschäftigung suchen, gnädiger Herr,“ meinte der einstige Couleurdiener ernst.
Der junge Millionär lachte auf. „Für einen Menschen, der nichts besitzt, gibt es immer Arbeit. Für mich, der fast dreißig Millionen Mark versteuert, gibt es keine! Ich könnte mein chemisches Studium beenden, gewiß. Aber wahre Begeisterung habe ich ihm nie entgegengebracht. Ich könnte Landwirt, Fabrikbesitzer oder Großkaufmann werden. Und der Erfolg? Man würde mich ausbeuten, betrügen, begaunern! Kleine Erfahrungen auf diesem Gebiet habe ich ja schon gesammelt. –
Nein, ich brauche etwas anderes, etwas, das meinem phantastischen Charakter entspricht, ich brauche Nervenkitzel, – eben Außergewöhnliches! Fände ich derartiges, ich würde mich dem hingeben mit allen meinen Kräften! Aber die graue Alltäglichkeit – nein, die widert mich ebenso an wie dieses Dasein, das ich jetzt führe. –
Sehen Sie dieses Buch hier, Franz. Sie werden’s kaum kennen. ‚Europäisches Sklavenleben‘ heißt es, und Hackländer ist der phantasievolle Verfasser. Die Hauptfigur dieses Romans ist ein Mann, der …“
Plötzlich brach er ab, schnellte empor.
„Franz – ein Gedanke – ein kostbarer Gedanke ist mir eben gekommen! Es lebe Hackländer! Da – nehmen Sie diese Flasche Rotwein mit auf Ihre Stube und trinken Sie auf das Wohl dieses Schriftstellers! – Los doch – nehmen Sie – und – gute Nacht! Ich brauche Sie nicht mehr.“
Kopfschüttelnd verschwand Franz Balwing. „Jetzt ist er wirklich so leicht übergeschnappt!“ dachte er, während er durch den langen Korridor nach seinem behaglichen Zimmer schlich.
Erwin Heider aber schmeckten die Delikatessen plötzlich über Erwarten gut. Während er bald in ungesunder Hast die Bissen hinunterschlang, bald wieder mechanisch wie im tiefsten Nachdenken die Kinnladen bewegte, baute seine Phantasie ihm Träume einer geheimnisvollen, im dunklen arbeitenden Macht aus … Immer festere Formen nahm sein Plan an, immer genauer legte er sich jede Einzelheit zurecht, wie er es anfangen müsse, um seinem Leben den langersehnten Inhalt zu geben, wie er ein kleiner König werden könnte eines Reiches, von dessen Existenz niemand ahnen würde.
Nun sollte das Gold ihm endlich zu einem Daseinszweck verhelfen, der seinen widerspruchsvollen Charakteranlagen entsprach. – –
Am folgenden Morgen konnte der alte Franz, den Erwin Heider während seiner vergnügten Studienzeit als eine biedere, treue Seele schätzen gelernt und dann mit sich hinüber in sein neues, anspruchsvolleres Leben genommen hatte, um dem schon reichlich verbrauchten Couleurdiener eine bequeme Stellung zu verschaffen, sich gar nicht genug darüber wundern, daß sein Herr bereits um sieben Uhr morgens fertig angezogen aus seinem Schlafzimmer trat und nach schnellem Frühstück offenbar in großer Eile zu Fuß das vornehme Mietshaus verließ.
Erwin Heider war an der nächsten Autohaltestelle in einen Kraftwagen gestiegen, ließ sich aus dem stillen Berliner Westen bis nach dem Alexanderplatz fahren und suchte dort in der Nähe einen Friseurladen auf, nachdem er vorher den Chauffeur abgelohnt hatte. Der Inhaber dieses Geschäfts, der in dem Schaufenster auch ein Plakat mit der Aufschrift ‚Hier ist für Theaterfestlichkeiten alles Nötige zu haben!‘ aushängen hatte, wunderte sich zwar zunächst etwas über die Wünsche dieses eleganten Herrn, der ihm etwas von einer Wette, die er gern gewinnen wolle, erzählte, wurde dann aber durch die Bemerkung, daß die Kosten keine Rolle spielten, außerordentlich diensteifrig und führte den Kunden nebenan in die Damenabteilung in eine der Kabinen, wo sich alsbald ein Treiben wie in einer Theatergarderobe entwickelte. Nach einer Stunde verließ ein Herr, der mit Erwin Heider nicht die geringste Ähnlichkeit mehr besaß, den Friseurladen, dessen Besitzer in seinem ganzen Leben an einem Morgen noch nie eine Einnahme von runden hundert Mark gehabt hatte und trotzdem als gerissener Berliner dem noblen Fremden, in dem er ganz einfach einen durchgebrannten Kassierer oder dergleichen vermutete, denn einen seiner Gehilfen, einen sehr vielseitigen jungen Menschen, nachschickte, damit dieser sich dem Manne hartnäckig an die Fersen hefte.
Für den Friseurgehilfen war dieser Auftrag ein kleines Abenteuer, das der gewitzte Bursche mit aller, in unzähligen Kriminalromanen angelesenen Pfiffigkeit zu erledigen gedachte. So folgte er denn dem Fremden in einiger Entfernung von Straße zu Straße, bis dieser in eine stille, enge Seitengasse einbog. Damit hatte die Jagd aber auch ein Ende gefunden. Der Verfolgte blieb nämlich plötzlich stehen, drehte sich um, schaute sich den jugendlichen Verschönerungsrat genau an und kam dann auf ihn zu.
„Falls Ihr Chef Ihnen befohlen hat mir heimlich nachzuschleichen,“ sagte er mit überlegenem Lächeln, „so geben Sie die Sache lieber auf. Ich habe Sie längst bemerkt, obwohl ich nie zurückgeblickt habe. Hier dieser kleine Taschenspiegel, den ich verborgen in der Hand hielt, half mir an jeder Straßenecke die hinter mir herkommenden Leute kontrollieren.“
Worauf der Friseurgehilfe wie ein begossener Pudel abzog. Freilich gedachte er trotz dieser ersten Niederlage seine Detektivbegabung noch auf eine weitere Probe zu stellen, indem er die Verfolgung auf schlauere Weise fortzusetzen beabsichtigte. Aber der Fremde machte ihm auch hier einen Strich durch die Rechnung, da er in ein leeres Auto sprang und verschwunden war, bevor der andere noch recht wußte, was geschah.
Jedenfalls konnte Erwin Heider mit dieser ersten Prüfung seiner Fähigkeiten für den neuen, selbstgewählten Beruf sehr zufrieden sein. Noch mehrmals wechselte er das Auto, machte hier und da Einkäufe und fuhr schließlich nach dem Norden der Reichshauptstadt hinaus, wo er in der Nähe des Stettiner Bahnhofs in der Invalidenstraße sich ein sauberes, großes Zimmer mit Flureingang mietete. Der Wirtin bezahlte er für zwei Monate die Miete im voraus, sagte, er sei ein Stettiner Kaufmann, der hier größere Geschäfte abzuwickeln habe, und begann seinen ganz neuen Handkoffer auszupacken, der einen eben erst gekauften fertigen Anzug, Wäsche usw. enthielt. In den polizeilichen Anmeldezettel trug er sich als ‚Ernst Redwin‘ und ‚zu vorübergehendem Aufenthalt‘ ein.
Da es mittlerweile elf Uhr vormittags geworden war, verspürte er tüchtigen Hunger, ließ sich von der Wirtin ein belegtes Brot herrichten sowie eine Flasche Bier bringen und verzehrte beides mit größtem Appetit. Während dieses bescheidenen Frühstücks überlegte er sich nochmals sehr genau seinen weiteren Schlachtplan. Vieles von dem, was er sich am Abend vorher vorgenommen hatte, verwarf er, weil ihm schon die eine Erfahrung mit dem Friseurgehilfen gezeigt hatte, wie vorsichtig er sein müsse.
Dann zog er sich den neuen Anzug an, der noch bedeutend nach Schneiderstube roch, band einen niedrigen Kragen und einen geschmacklosen, ebenfalls neuen Schlips um und beschaute sich nun in dem hohen Eckspiegel überaus kritisch.
Ja – er konnte zufrieden sein! Das war nicht mehr der Redwin, ein soeben neu aufgetauchter jüngerer Provinzonkel mit bärtigem Gesicht, einer soliden Nickelbrille und einer unverschämt gesunden Gesichtsfarbe. Dazu nun noch der Anzug, dessen Sitz nur den allerbescheidensten Ansprüchen genügte, – mit einem Wort: Die Maske war glänzend.
Zehn Minuten später ließ Herr Ernst Redwin aus Stettin sich in einem Laden für ‚Ansichtspostkarten mit eigener Photographie – sofort mitzunehmen!‘ Bilder seiner werten Person anfertigen, die nur den Kopf und die halbe Brust, dafür aber ersteren recht groß und deutlich, zeigten. Geduldig wartete er, bis er nach einer halben Stunde das Dutzend noch feuchter Ansichtskarten ausgehändigt erhielt. Hierauf suchte er ein Postamt auf und telephonierte seinem treuen Franz, daß er heute wohl erst spät abends nach Hause kommen würde. Bis acht Uhr hatte er ja auch wirklich noch eine große Anzahl von Gängen zu erledigen, – zu ein paar Grundstücksagenten in erster Linie, dann zu einem Maurermeister und anderes mehr. Um acht erschien er dann wieder in seiner Behausung in der Invalidenstraße, erklärte der Wirtin, er müsse noch heute für einige Tage nach Halle weiterreisen, würde aber sein Gepäck einstweilen hier lassen, zog sich abermals um, entfernte bei verschlossener Tür Bart, Perücke, Schminke und Brille und schlich sich als Erwin Heider sehr vorsichtig zum Hause hinaus, um in sein elegantes Heim in der Nürnberger Straße zurückzukehren. Bart, Perücke und Brille trug er in der Tasche bei sich, da er diese Dinge ja sehr bald wieder gebrauchen würde.
Der alte Diener war hocherfreut, als sein junger Gebieter ihn frisch und lebensprühend wie seit langem nicht begrüßte und beim Abendessen einen Hunger entwickelte, der darauf schließen ließ, daß Erwin Heider den Tag über nicht allzuviel zu sich genommen haben könne. – – –
Bei dem Grundstücksagenten Jakob Rosenbaum erschien an einem Vormittag ein jüngerer, sehr elegant gekleideter Herr mit kurzgeschorenem, blondem Haupthaar und einem kleinen Schnurrbart auf der Oberlippe, der das in Berlin Schöneberg gelegene Haus, welches nach einer Zeitungsannonce im ganzen vermietet werden sollte, sich anzusehen wünschte. Der Abschluß des Mietsvertrages kam auch wirklich zustande. Rosenbaum schmunzelte. Hatte er doch zweihundert Mark mehr Miete herausgeschlagen, als ihm sein Auftraggeber, der eigentliche Besitzer jenes Schöneberger Grundstücks, – zu dem Hause gehörte auch ein langgestreckter Garten –, vorgeschrieben hatte. Und gleich auf vier Jahre hatte dieser Erwin Heider Kontrakt gemacht! Außerdem wollte er auch auf seine eigenen Kosten alles neu herrichten lassen! So schrieb er denn seinem Auftraggeber Ernst Redwin, wie dieser es verlangt hatte, postlagernd nach Stettin, daß das Grundstück schon am Tage nach dem ersten Einrücken der Anzeige vermittelt worden sei und daß er sich erlauben würde, den erzielten Mehrbetrag von zweihundert Mark pro Anno vereinbarungsgemäß in seine eigene Kasse abzuführen. Dieses Schreiben wieder wurde zusammen mit einigen späteren in Stettin eines Tages auch wirklich abgeholt und zwar von dem jungen Millionär, der zu diesem Zweck eigens die kurze Reise unternahm.
Der treue Franz war sehr erstaunt, als sein Herr ihm erzählte, daß sie demnächst nach Schöneberg in die Gutzeitstraße Nr. 9 übersiedeln würden. Sein Einwurf, der gnädige Herr habe doch hier in der Nürnberger Straße noch auf zwei Jahre festen Kontrakt, wurde mit einem gleichmütigen: „Schadet nichts! Bezahle ich gern!“ beantwortet. Eine Woche später, nachdem das Gebäude in Schöneberg mit Hilfe einer Anzahl von Handwerkern neu gestrichen und auch innen vom Keller bis zum Boden sehr schnell, aber ebenso gründlich renoviert worden war, durfte Franz dann seinen Gebieter nach der neuen Wohnung begleiten.
Das Haus lag zwischen noch bescheideneren, alten Wohngebäuden und hatte nur zwei Stockwerke mit insgesamt zehn Zimmern. Die Eingangstür in der Mitte mit der Treppe teilte es in zwei Hälften mit je sechs Fenstern Front nach der Straße hin. Ursprünglich war es für zwei Familien eingerichtet gewesen. Die obere Küche hatte man jetzt jedoch in ein Badezimmer verwandelt, neben dem Erwin Heiders Schlafgemach lag. Aus diesem führte durch die hier durchbrochene Decke eine eiserne Wendeltreppe in des Hausherrn im Parterre gelegenes Arbeitszimmer. Das Personal sollte im Oberstock auf der anderen Seite untergebracht werden. Hinter dem Hause zog sich ein von hohen Ziegelmauern eingeschlossener Garten, der etwa einhundertundachtzig Meter lang und mit alten Bäumen und allerlei Strauchwerk bestanden war, fast bis zur nächsten Parallelstraße hin, wo die mit einer neuen Pforte versehene Gartenmauer an den kleinen Hof einer Kneipe stieß. Diese befand sich in einem schon bedenklich baufälligen Häuschen, in dem bis vor kurzem ein altes Ehepaar die billige Speisewirtschaft betrieben hatte, ohne es trotz allen Fleißes zu erheblichen Ersparnissen bringen zu können, bis dann Jakob Rosenbaum eines Tages erschienen war und den Leutchen ohne allzu langes Feilschen das Häuschen zu einem in Wirklichkeit nie erhofften Preise abgekauft hatte, – allerdings unter der Bedingung, daß sie sofort ausziehen müßten. Nun stand die verwitterte, einstöckige Bude, ein Wahrzeichen aus Schönebergs ältester Zeit, seit einer Woche leer. Nur Handwerker trieben auch hier wie in dem vornehmeren, wenn auch nicht viel jüngeren Hause in der Gutzeitstraße ihr Wesen, mauerten, hämmerten und brachten Veränderungen an, deren Zweck ihnen zum Teil nicht recht einleuchtete.
„Mag es Ihnen gut gehen, Mersche,“ sagte der Gefängnisinspektor zu dem blassen, früheren Buchhalter, der heute seine einjährige Strafe verbüßt hatte und nun entlassen wurde. „Ich weiß ja, daß nur die Not, eben die kostspielige Krankheit Ihrer Frau, Sie auf den unrechten Pfad geführt hat. – Kopf hoch, Mann! Sie werden draußen schon Beschäftigung finden. Ihre Frau ist ja jetzt wieder kerngesund und hat sich mit Ihrem kleinen Sohne wacker durchgeschlagen durch ihrer Hände Arbeit, – der ganzen Verwandtschaft zum Trotz, die ihr zumutete, sich von Ihnen scheiden zu lassen. Ich kenne dies alles ja aus Ihrem Briefwechsel, den ich zu überwachen hatte. Also nochmals: alles Gute für die Zukunft!“
Fritz Mersche durchschritt das Tor der Strafanstalt Plötzensee und wanderte der Beusselstraße zu, die in dem Berliner Nordwestviertel, Moabit genannt, liegt. Vom Stadtbahnhof Beusselstraße wollte er dann mit der Ringbahn nach der im Süden, am Halleschen Tor gelegenen Wohnung seiner Frau fahren.
Wie er so mit scheu gesenktem Kopf dahinging, sprach ihn plötzlich ein einfach gekleideter Herr mit graumeliertem Vollbart und einer Brille mit dunklen Gläsern auf der feingeformten Nase an. Der Fremde fragte, ob der Gebäudekomplex da hinten die Strafanstalt Plötzensee sei. – Fritz Mersche bejahte.
Der Herr bat, sich ihm anschließen zu dürfen, fragte dies und jenes, – und alles bezog sich auf Plötzensee. Dann meinte er plötzlich mitleidig:
„Nehmen Sie mir meine Neugier nicht übel. Ich verfolge nur einen guten Zweck. – Gehören Sie vielleicht zu den Unglücklichen, die hinter jenen Mauern ein Vergehen gebüßt haben?“
Der frühere Buchhalter nickte nur. Und weiter forschte der Fremde auf eine so gütige Art, daß der eben entlassene Strafgefangene schnell Vertrauen zu ihm faßte, die Geschichte seiner ersten Verirrung erzählte und dabei unbewußt seinen ganzen Charakter, der alles andere nur keine verbrecherischen Anlagen besaß, enthüllte.
Eine Viertelstunde später saß Fritz Mersche mit einem glücklichen Lächeln in der Stadtbahn. Jetzt sehnte er sich nach dem Wiedersehen mit den Seinen, jetzt wußte er ja, daß er sich um die Zukunft nicht mehr zu sorgen brauchte.
Am Nachmittag suchte er dann den Grundstücksagenten Jakob Rosenbaum auf und überreichte diesem den geschlossenen Brief, den der Fremde, der seinen Namen trotz aller Bitten nicht genannt hatte, ihm gegeben hatte. Auf dem Umschlag stand Rosenbaums Adresse. Der kurze Brief aber lautete:
‚Der Überbringer dieses Schreibens ist der Mann, der das Haus in der Albrechtstraße mietfrei beziehen und dort einen Laden für Papierwaren einrichten wird.
Ernst Redwin.‘
Der Agent kannte diese schräge, seltsame Handschrift nur zu gut und wußte ja auch, daß sich auf diese Weise der neue Bewohner des früheren Restaurationsgrundstücks bei ihm melden würde. So hatte Ernst Redwin es ja seiner Zeit mit ihm vereinbart.
Er händigte dem Manne also die Schlüssel des Hauses aus und meinte dazu neugierig:
„Sie kennen Herrn Redwin wohl von früher her? Na, den Laden hat er Ihnen jedenfalls tadellos herrichten lassen, ebenso die Wohnräume.“
„Redwin? – Ich höre den Namen zum ersten Mal,“ erklärte Fritz Mersche erstaunt. „Heißt so etwa jener graubärtige Herr, der mich heute …“ Er stockte. Wenn er weitersprach, mußte er notwendig Plötzensee und seine eigene bisher so traurige Lebensgeschichte erzählen. Aber tapfer überwand er sich und berichtete dem Agenten sein merkwürdiges Abenteuer von heute Vormittag.
Rosenbaum war sprachlos. „Mann – wenn ich nicht diese Handschrift so genau kennen würde und wüßte, daß der neue Bewohner der einstigen Kneipe sich bei mir vertretungsgemäß durch einen Brief einführen sollte – so hatte es Herr Redwin bestimmt, – ich würde Sie für einen Lügner halten. – Also ein älterer Herr war’s, der Sie anredete, Ihnen den Brief und zugleich dreitausend Mark als Betriebskapital aushändigte …?! – Na, dann war’s Herr Redwin bestimmt nicht! Der hat einen blonden Vollbart und ist jung.“
Auch Fritz Mersche wurde ganz seltsam zu Mut. „Wem gehört denn eigentlich das Haus, das ich beziehen soll?“ fragte er unsicher.
Rosenbaum zog die Schultern hoch. „Vielleicht mir, vielleicht einem andern. – Jedenfalls sind Sie jetzt fein heraus – sehr fein!“ – –
Der graubärtige Herr, der Fritz Mersche von allen Zukunftssorgen erlöst hatte, war fast täglich in der Nähe der Strafanstalt Plötzensee zu finden, besonders in den Vormittagsstunden, wo die meisten Entlassungen von Strafgefangenen vorkamen. Im Laufe von nicht ganz zwei Wochen hatte er weiteren elf gescheiterten Existenzen die Rückkehr in das bürgerliche Leben erleichtert und ihnen zu auskömmlichen Stellungen verholfen. Einer war als Chauffeur, ein anderer als Gärtner zu dem Millionär Erwin Heider gekommen, ein dritter erhielt bei Rosenbaum, dem Agenten, einen Schreiberposten, und so fort. Alle möglichen Berufsarten waren unter diesem Dutzend gestrauchelter schwacher Charaktere zu finden. Aber sämtlich hatte der graubärtige Herr sie mit guter Menschenkenntnis zunächst auf Herz und Nieren geprüft, ehe er für sie einsprang. Und wie er dies tat, das hatte jedes Mal einen äußerst geheimnisvollen Anstrich. Und bei allen stellte er dieselbe Bedingung: Unweigerlichen Gehorsam gegenüber bestimmten Befehlen und unverbrüchliches Schweigen über diesen Punkt! – –
*
Erwin Heider bewohnte nun bereits einen Monat das Haus in der Gutzeitstraße. Inzwischen war auch das Gewächshaus fertig geworden. Um dieses bequem betreten zu können, hatte der junge Millionär an das nach dem Garten gelegene Speisezimmer zunächst einen Wintergarten anbauen lassen, von dem wieder ein mit matten Glasfenstern verdeckter Treppengang in das Gewächshaus führte. Mit der anderen Schmalseite lehnte sich dieses an die Gartenmauer der Rückfront des Grundstückes und zwar gerade da, wo durch die Mauer das kleine, mit einer eisenbeschlagenen Tür versehene Pförtchen führte. Diese Anordnung war zwar dem braven Franz etwas unpraktisch erschienen, da er in jener Mauerecke sich gern einen eingefriedeten Kompostplatz angelegt hätte. Erwin Heider jedoch ließ sich von seinem ursprünglichen Bauplan nicht abbringen.
An einem lauen, wunderbaren Abend Anfang Juni war’s dann, als der treue Franz, der in den letzten Tagen schon sehr nachdenklich umhergegangen war, seinem jungen Herrn bei einem Gang durch die mit hellem Zierkies bestreuten Gartenwege sein bedrücktes Herz ausschüttete. Er hätte schon einige Male zu später Nachtstunde von dem Fenster seines Zimmers aus in dem Gewächshaus einen schwachen, schnell dahinhuschenden Lichtschein gesehen, wäre auch selbst einmal, durch dieses Licht argwöhnisch, in den Garten geschlichen, um zu sehen, wer zu dieser Zeit unerlaubterweise sein Wesen triebe.
„Ich habe jedoch nichts bemerkt, gnädiger Herr, nichts,“ fuhr er ernst fort. „Die Sache ist umso rätselhafter, als doch nur Sie und ich zu den Patentschlössern der festen Türen des Gewächshauses Schlüssel besitzen.“
„Sonderbar,“ meinte Erwin Heider. „Vielleicht haben Sie sich auch durch das Mondlicht oder den Sternenschein täuschen lassen, lieber Franz,“ setzte er schnell hinzu. „Jedenfalls finde ich keine andere Erklärung. – Allerdings – einmal bin ich selbst noch sehr spät im Gewächshaus gewesen, da ich mein Zigarettenetui dort hatte liegen lassen.“
„Aber ich sah in vier Nächten hintereinander den wandernden Lichtschein,“ beharrte der Alte bei seiner Behauptung. „Und von den Sternen oder dem Monde kann keine Rede sein, da wir stets bewölkten Himmel hatten.“
Erwin Heider blieb stehen. „Guter Franz – überlassen Sie nur mir die Aufspürung dieser nächtlichen Besucher. Ihnen tut der Schlaf nötiger. Diebe sind’s nicht. Denn verschwunden ist uns doch nichts. Vielleicht gibt sich unser Stubenmädchen mit dem Gärtnerburschen ein Stelldichein.“
Franz Balwing ließ das Thema fallen. Ohne Frage maß sein Herr seinen Beobachtungen nicht die geringste Bedeutung bei. – Um zehn Uhr schickte Erwin Heider den Alten dann zu Bett.
Der Diener aber murmelte vor sich hin, als er die Treppe zu seiner Stube emporstieg: „Zu sorglos ist er – zu sorglos! Das Haus eines Millionärs ist nur zu geeignet, Spitzbuben anzulocken.“
Gegen Mitternacht schlich er dann geräuschlos die Treppe wieder hinab in den Garten und verbarg sich ungefähr vor der Mitte des langgestreckten Gewächshauses hinter ein paar dicht an den schrägen Glasfenstern stehenden Rhododendronkübeln.
Er brauchte nicht lange zu warten. Jetzt aus dieser Nähe sah er alles nur zu deutlich. Der Lichtschein kam vom Hause her, erlosch zuweilen, blitzte wieder auf. Und nun huschte drinnen in dem Gang zwischen den hohen Blumengestellen eine Gestalt dahin, die eine elektrische Taschenlampe in der Hand hielt. Ein Mann war’s mit langem Vollbart und einem dunklen Schlapphut auf dem Kopf. Ein Mantel mit einer Pelerine umhüllte die mittelgroße Figur. Eilig glitt der Unbekannte vorüber.
Franz Balwing war gewiß keine ängstliche Natur. Aber dieses unerklärliche Auftauchen eines Fremden in dem gut verschlossenen Treibhause setzte ihn doch in Schrecken. – Was nun tun? Ob er um Hilfe rief. Allein wagte er das Gewächshaus nicht zu durchsuchen. Er war ein alter, schwacher Mann und so gut wie wehrlos gegenüber einem eventuellen Angreifer. –
Nein, Erwin Heider ließ er doch besser aus dem Spiel. Und so eilte er denn ins Haus zurück, wo der neue Hausgenosse in einer heizbaren Bodenkammer untergebracht worden war. Aber Karl Ermich gab auf das energische Klopfen kein Lebenszeichen von sich. Schließlich faßte der Alte ungeduldig nach dem Schloß, drückte auf die Klinke. Da – die Tür war offen. Der flackernde Lichtschein von Franz Balwings Kerze fiel auf das leere Bett.
Gleich darauf stand der Alte vor der Schlafzimmertür seines Herrn. Auf sein Klopfen auch hier keine Antwort. Da schlich er ins Erdgeschoß hinab. Vielleicht saß Erwin Heider noch in seinem Arbeitszimmer. Aber er fand auch diese Türen verschlossen, und alles blieb ruhig. Da kehrte Balwing sehr nachdenklich in den Garten zurück und nahm seinen Beobachtungsposten wieder ein. Richtig – jetzt erst dachte er daran –, der Karl Ermich war ja heute bei einem Bekannten zur Verlobungsfeier eingeladen. – Aber sein junger Gebieter, – ob der noch ausgegangen war …?
Der alte Diener fror trotz der lauen Nacht und trotz des warmen Mantels so stark, daß ihm zuweilen die Zähne wie im Fieberfrost aneinander schlugen. Oder war’s nur die Aufregung, die seinen alten Körper beben machte? – Er hatte sich auf einen umgekehrten Blumenkübel gesetzt und wartete und wartete. Zuweilen lauschte er auf den fernen Klang einer Kirchturmuhr. – Soeben hatte es zwei geschlagen. – Da – wieder der huschende Lichtschein, der jetzt aus der Richtung sich näherte, wo das Gewächshaus an das Mauerpförtchen stieß. Kein Zweifel – es war derselbe Mann! Eifrig schritt er dahin, ohne sich umzusehen oder sonst Anzeichen von Vorsicht zu verraten. Jetzt verlöschte der weiße Lichtschein wieder. –
Franz Balwing hatte sich erhoben, schaute und schaute. Doch das Licht erschien nicht mehr.
Was in aller Welt hatte das nur zu bedeuten?! Wer war dieser unheimliche Besucher?! Was wollte er hier?! – Und wieder überkam den Alten die Angst, wieder dachte er an irgend einen Verbrecher, der bisher vielleicht nur die Gelegenheit zu einem Diebstahl ausgekundschaftet hatte und nun ans Werk gehen würde, um …
Hier brach Franz Balwings Gedankenreihe plötzlich ab. Oben im Schlafzimmer seines Herrn war hinter den geschlossenen Vorhängen ein schwacher, rötlicher Lichtschein sichtbar geworden, der nur von der elektrischen Stehlampe auf dem Nachttischchen neben dem Bett herrühren konnte.
Der Alte rannte, was er nur laufen konnte, nach dem Hause. Keuchend langte er vor der Schlafzimmertür an und klopfte.
„Gnädiger Herr – gnädiger Herr!“ rief er leise.
Erst nach einer Weile eine Stimme von drinnen.
„Was gibt’s denn, Franz?“ – Und dann öffnete Erwin Heider die Tür und stand in seinem seidenen Schlafanzug vor dem treuen Diener, den er gähnend abermals nach der Ursache dieser Störung fragte. Als er des Alten seltsamen Bericht angehört hatte, war auch er sofort bereit, gemeinsam mit Balwing dem Eindringling nachzuspüren. Er zog schnell einen leichten Schlafrock über, entnahm der Schublade des Nachttisches eine Repetierpistole und winkte dem Diener alsdann ihm zu folgen. In demselben Augenblick erschien Karl Ermich auf der Treppe, ein brennendes Wachszündholz in der Hand. Der mußte sich nun ebenfalls anschließen. Sie stiegen geräuschlos die Wendeltreppe, die in das Arbeitszimmer führte, hinab und sahen zunächst nach der Tür, die die glasverdeckte Treppe zu dem Gewächshaus versperrte. Sie war verschlossen, und der Schlüssel steckte von innen. Mithin konnte auf diesem Wege niemand in das Haus eingedrungen sein. –
Eine halbe Stunde suchten sie fast, fanden aber weder in dem Gewächshaus noch im Garten etwas verdächtiges. Da gaben sie die Sache auf. Und Erwin Heider sagte nur noch, als er seinen beiden Leuten gute Nacht wünschte:
„Morgen schaffe ich ein paar kräftige, auf den Mann dressierte Bulldoggen an, die nachts im Garten und im Gewächshaus wachen sollen. Dann wird der Unfug wohl aufhören.“
Franz Balwing lag in seinem Bett und grübelte und grübelte. Einschlafen konnte er über all den Gedanken nicht. – Gewiß – sein Herr hatte ihm ja erklärt, daß er das erste Klopfen seines festen Schlafes wegen wohl überhört, und daß er nachher die Stehlampe angedreht habe, um ein Glas Wasser zu trinken. Aber – die Wahrheit hatte er damit nicht gesagt. Er, Franz Balwing, war ja ein alter Mann, doch immer noch recht helle im Kopf! Ihm durfte man solche Märchen nicht aufbinden! Er hatte sehr wohl gesehen, daß sein junger Gebieter den Schlafanzug über den Unterkleidern trug und noch Schnürstiefel an hatte, – nicht wie sonst die eleganten Lackledernen, sondern die derben aus Rindshaut für Fußtouren.
Je länger der alte Mann nachdachte, desto schwerer wurde ihm das Herz. Es gab ja nur eine Erklärung für den Verbleib jenes langbärtigen Menschen mit dem großen Schlapphut, nur eine einzige den ganzen Umständen nach: daß Erwin Heider selbst dieser Unbekannte gewesen war! – Und weiter überlegte er sich jetzt so mancherlei. Wie bequem konnte man aus dem Gewächshause durch die Mauerpforte auf den Hof der früheren Kneipe gelangen, und wie praktisch war der überdeckte Treppengang nach dem Gewächshaus, wenn einer ungesehen aus dem Hause schlüpfen und ungesehen zurückkehren wollte! –
Wozu aber diese Heimlichkeit?! Wozu?! Etwa eine Liebelei? – Nein – dazu brauchte es nicht dieser kostspieligen Vorsichtsmaßregeln und Schleichwege! –
Da fiel dem Alten mit einem Mal jener Abend ein, der nun schon Monate zurücklag und an dem Erwin Heider von dem Roman mit dem eigenartigen Titel gesprochen hatte. – ‚Europäisches Sklavenleben‘ – Richtig, so hieß das Buch. Vielleicht war’s doch ratsam, es einmal zu lesen, vielleicht fand sich in den gedruckten Seiten die Erklärung für diese merkwürdigen Vorgänge.
Es war schon hell geworden, als Franz Balwing endlich einschlief. Aber schwere Träume quälten ihn fortgesetzt. Und matt und zerschlagen ging er morgens an sein Tagewerk. Das Haus, der Garten, die Blumen – an nichts hatte er mehr Freude. Nur das Verlangen nach dem Buche beherrschte ihn, in dem er die Wahrheit zu finden hoffte. Er wußte – es stand in dem einen schmalen Gestell im Arbeitszimmer. Oft genug hatte er den Rücken, auf dem in Golddruck der Titel leuchtete, abgestaubt.
Bei erster Gelegenheit nahm er es denn heimlich heraus und füllte die Lücke durch einen anderen Band aus. Nun mußte er ja Klarheit gewinnen.
Fritz Mersche, der einstige Buchhalter, hatte soeben seine Morgenkundschaft abgefertigt, – Schüler und Schülerinnen der nahen Gemeindeschule, die noch vor Unterrichtsbeginn ihre kleinen Einkäufe besorgten. Jetzt war es acht Uhr. Nun hatte er eine Weile Ruhe, bis dann die kleinsten der ABC-Schützen anrückten, für die erst eine Stunde später die Schule anfing. So ging er denn in das neben dem Laden gelegene Wohnzimmer und setzte sich an den Tisch, um ein paar kurz vorher vom Postboten gebrachte Briefe durchzusehen und einen Blick in die Morgenzeitung zu werfen. –
Die Briefe, sämtlich Schreiben von Papierfabriken geschäftlichen Inhalts, waren schnell erledigt. Und dann faltete er die Zeitung, – es war der annoncenreiche ‚Berliner Anzeiger‘ – auseinander. Wie stets galt sein erstes Interesse dem Anzeigenteil unter ‚Vermischtes‘. Er brauchte nicht lange zu suchen. Da stand in kleinem, unauffälligem Druck:
13 13 13 13. Heute 1–12,
12. 13 13 13 13.
Genau zwei Zeilen nahm diese seltsame Anzeige ein. Für den Uneingeweihten sagte sie nichts. Fritz Mersche aber stützte den Kopf in die Hand und starrte lange auf die nur von dem einen Worte ‚Heute‘ unterbrochene Zahlenreihe hin. Wie glücklich und zufrieden hätte er jetzt, wo ein gütiges Geschick ihm diese Existenz beschert hatte, sein können, wenn nicht all das Geheimnisvolle gewesen wäre, das er zugleich mit dieser neuen Stellung hatte mit in Kauf nehmen müssen. Er seufzte leise auf. Auch heute begannen seine Gedanken wieder unwillkürlich nach einer Lösung der Rätsel zu suchen, die dieses kleine Häuschen umgaben. Es war ja ein Mann vorhanden, für den er und elf andere nur eine Nummer waren, der ihnen Befehle erteilte, sie unter genau vorgeschriebenen Vorsichtsmaßregeln zu sich bestellte und dem sie Gehorsam gelobt hatten mit einem Eide, der den Verräter mit dem Tode bedrohte. Damals, als jener graubärtige Herr ihn vor der Strafanstalt Plötzensee angesprochen hatte, als er ihm die weitgehendste Hilfe versprach, da hatte der Unbekannte nur eine Bedingung gestellt: Alle schriftlichen Befehle genau auszuführen, die ihm in Maschinenschrift zugehen würden und die ein bestimmtes Zeichen als Merkmal trugen. Dieses Zeichen würde ein Viereck sein, in dessen Mitte ein menschliches Auge zu sehen war, während in jeder der Ecken die Zahl 13 stand. – Der Fremde fügte noch hinzu, daß er nie etwas Unrechtes verlangen würde, daß Fritz Mersche aber über diesen Teil ihrer Unterredung strengstes Stillschweigen bewahren müsse. Und der eben entlassene Strafgefangene hatte ohne Zögern in die ihm dargebotene Hand eingeschlagen, auch das Geld genommen und ebenso den an den Grundstücksagenten adressierten Brief. Er war eingezogen in sein neues Heim, hatte das Geschäft eingerichtet, sich seiner Freiheit und seiner neuen Arbeit gefreut und drei Wochen lang nichts von dem Unbekannten gehört, nichts. Dann aber kam der erste Brief mit dem Zeichen durch die Post. Fritz Mersche hatte ihn so oft gelesen, daß er ihn noch heute auswendig wußte.
‚Sie werden an den Tagen, an denen im Berliner Anzeiger eine Annonce unter Vermischtes mit zweimaliger Wiederholung der Zahl 13 in Gruppen zu vier und zwar am Anfang und am Schluß vorkommt, Ihre Haustür und ebenso den Eingang zum Keller und zum Hofe offen lassen. Der hintere, neuerdings erst gedielte Kellerraum ist sofort mit dreizehn Stühlen und vier in Hufeisenform gestellten Tischen auszustatten und durch eine an der Decke angebrachte Lampe von elf Uhr abends ab zu erleuchten. Ebenso ist der Hausflur und die Treppe mit genügend Licht zu versehen. Ferner haben Sie täglich ohne Ausnahme sämtliche Fenster der Hinterfront Ihres Hauses durch neu anzubringende Holzladen zu verschließen und sich im übrigen um nichts zu bekümmern, was in dem Keller vorgeht. Jeder Versuch, dem Zwecke dieser Anordnungen irgendwie nachzuspionieren, würde Sie Ihre Existenz kosten. Zur Bestreitung der Unkosten folgen zweihundertundfünfzig Mark anbei. Sobald die Zahl 1 in der Annonce erscheint, haben Sie sich genau zehn Minuten nach Mitternacht an demselben Tage in den als Versammlungsraum hergerichteten Keller zu begeben und das weitere abzuwarten. Sie tragen an solchen Abenden möglichst unauffällige Kleidung und eine das Gesicht vollständig verhüllende Seidenmaske. –
Um zwei Uhr nachts dürfen Sie Haus und Keller in jedem Falle wieder verschließen.‘
Als Fritz Mersche damals diesen merkwürdigen Brief gelesen hatte, glaubte er erst zu träumen. Aber das Zeichen unter dem Schreiben, das mit einem Stempel hergestellt war, bewies ihm nur zu deutlich, daß es sich hier um alles andere nur keinen schlechten Scherz handelte. Nur widerwillig befolgte er dann die erhaltenen Befehle, richtete den gedielten Kellerraum in der gewünschten Weise her und … grübelte stündlich darüber nach, welcher Art wohl die Leute sein könnten, für die sein Häuschen als nächtlicher Versammlungsort bestimmt war. Und wieder eine Woche später – inzwischen hatte er auf den Berliner Anzeiger abonniert – fand er zum ersten Mal darin genau dieselbe Annonce, wie er sie soeben wieder gelesen hatte. – 1–12!! –
Also er selbst sollte ebenfalls erscheinen! Den ganzen Tag ging er damals in einer nervösen Unruhe umher, die sich umsomehr steigerte, je näher die Nacht heranrückte. Seine Frau, die er notwendig wenigstens teilweise ins Vertrauen gezogen hatte, schickte er früh ins Bett. Um elf Uhr zündete er dann die notwendigen Lampen an und schloß die Türen auf. Aus dem bis zum Hofe durchgehenden Flur führte linker Hand die in einen Verschlag eingebaute Treppe zum Keller hinab. Dieser Zugang war gar nicht zu verfehlen.
Hierauf setzte er sich in das Wohnzimmer und wartete. Kurz vor dreiviertel zwölf Uhr hörte er die Haustür zum ersten Mal öffnen und schließen und schnelle Schritte im Flur, die sich im Keller verloren. Noch zehn weitere Besucher zählte er, die in kurzen Abständen kamen. Dann wurde es auch für ihn Zeit. Er band die Maske vor und begab sich zögernd in den bestimmten Raum. Klopfenden Herzens hatte er die schwere Holztür geöffnet. Um den Tisch saßen elf Männer, die sämtlich Masken vor dem Gesicht trugen. Ängstlich nahm er auf dem einen der beiden noch leeren Stühle Platz. Niemand sprach ein Wort. Stumm schauten die Zwölf vor sich hin. So verging eine ganze Weile. Dann – die meisten fuhren schreckhaft zusammen – tat sich im Hintergrunde des erleuchteten Raumes eine eiserne Tür plötzlich auf, die den Treppenaufgang des Kellers nach dem Hofe hin verschloß. Ein Mann trat ein, mittelgroß, schlank, und gekleidet in einen Anzug von schwarzem Stoff mit einer hochschließenden Joppe. Unter der schwarzen Seidenmaske wurde ein blonder Vollbart sichtbar. Die Hände steckten in gleichfalls schwarzen Lederhandschuhen, während der Kopf unbedeckt war und reiches, blondes, nach hinten zurückgekämmtes Haupthaar sehen ließ.
Nachdem der Mann die Eisentür hinter sich zugedrückt und den Schlüssel von innen in das Schloß gesteckt hatte, trat er einen Schritt vor, verbeugte sich leicht und begann mit einer offenbar verstellten, durch die bis über den Mund herabreichende Maske noch klangloseren Stimme:
„Meine Freunde! Zum ersten Mal versammeln wir uns heute hier. Ihr alle seid meinem Befehl gefolgt. Ich danke Euch. Was uns hier zusammengeführt, werdet Ihr später erfahren. Jeder von Euch ist für die übrigen nur eine Nummer, eine Zahl. Anders sollt Ihr Euch nicht kennen lernen. Wenn einer unter Euch ist, der mir auf den Wegen, die ich einzuschlagen gedenke, nicht folgen mag, so trete er vor. Ich wiederhole jedoch, was ich jedem einzelnen schon sagte, als wir uns kennen lernten: von Euch wird nichts verlangt werden, was Euch mit den Gesetzen oder Eurem Gewissen in Konflikt bringen kann! Habt Vertrauen zu mir! Und wahret, wenn Ihr geschworen habt, unsere Geheimnisse! Der Eid, den ich von Euch verlange, ist einfach und klar. Er lautet: ‚Ich will dem Bunde treu und gehorsam sein. Dem Verräter treffe der Tod! So wahr mir Gott helfe!‘ – Ich selbst will mit dem Schwur beginnen. – – So, und nun beginne Eins!“
Eins! Das war Fritz Mersche. Er erhob sich und sprach dem Unbekannten mechanisch, wie unter einer Art von Suggestion stehend, die Worte nach. Und ebenso taten’s all die übrigen. Keiner weigerte sich.
„So, meine Freunde,“ fuhr der Unbekannte dann fort, „nun ist unser Bund begründet. Versuche keiner von Euch nachzuforschen, wer sich unter den einfachen Zahlen, die wir hier sind, verbirgt! Auch dies gehört zu Euren Pflichten. –
Für heute schließe ich diese Zusammenkunft. Achtet aber genau auf die bewußte Annonce! Und legt Eure Masken erst hier im Hausflur an und nehmt sie ebenso erst an der Haustür ab. Der Gönner unseres Bundes, der mit uns bestimmte Zwecke verfolgt, hat mich beauftragt, einem jeden von Euch hundert Mark auszuhändigen. Hier ist das Geld. Eins möge es verteilen! Meinen Anteil habe ich vorher weggenommen. – Und nun geht, wie Ihr gekommen seid, meine Freunde, – einzeln, in Abständen von vier Minuten. Zwölf zuerst!“
Und so geschah es. Stumm verließen die Männer einer nach dem andern den Keller und das Haus, während ihr Oberhaupt mit über der Brust gekreuzten Armen stolz aufgerichtet dastand. Diese merkwürdige Szene in dieser Umgebung hatte auf die Leute eine seltsame Wirkung ausgeübt. Sie waren ja alle noch jung und ihr Gemüt sehr empfänglich für den Reiz des abenteuerlichen Anstrichs, den dieser soeben begründete Bund hatte.
Gerade war Zwei verschwunden. Fritz Mersche wollte nun auch gehen. Da befahl der Unbekannte ihm zu bleiben.
„Dir hat man das größte Vertrauen bezeigt, Nummer Eins,“ sagte er dann. „Erweise dich dessen als würdig! Es wird sich kaum vermeiden lassen, daß du deine Frau zum Teil in unsere Geheimnisse einweihst. Warne sie aber vor jeder Plauderhaftigkeit, vor jedem unbedachten Wort!“
„Meiner Frau bin ich sicher, Herr,“ erwiderte Mersche mit Bestimmtheit. – Eine große Last war ihm vom Herzen genommen, als der Fremde selbst den Punkt auf diese Weise berührte.
„Gehe jetzt und verschließe die Haustür!“ befahl jener dann. Hierauf verschwand auch der Fremde mit einem kurzen „Auf Wiedersehen!“ durch die eiserne Tür, die erst unlängst hier eingebaut zu sein schien.
So war die erste Nacht verlaufen, in der der Fremde durch die geheimnisvolle Annonce den Bund zusammengerufen hatte. Nun erschienen in kurzen Zwischenräumen immer wieder diese Anzeigen in der betreffenden Zeitung, und Fritz Mersche mußte sehr oft alles für den Besuch der Mitglieder des Bundes vorbereiten. Aber zumeist waren in den Annoncen nur einzelne Zahlen genannt, und Fritz Mersche hatte auch aus dem Öffnen und Schließen der Haustür feststellen können, daß der ‚Herr‘ gewöhnlich nur mit einem einzelnen Mitglied sich in dem Versammlungsraume traf.
Heute nun war abermals die bewußte Annonce in der Zeitung erschienen. – 1–12 stand darin. Also versammelte sich der ganze Bund. Die Zahl 12 bedeutete die Stunde, in der der Erste sich einzufinden hatte.
Der Tag verstrich, und die Nacht brach herein.
Die Mitglieder des Bundes erschienen kurz nach Mitternacht in kurzen Zwischenräumen. Zuerst kam der ‚Herr‘ wieder durch die eiserne Tür. Aber diesmal befahl er Eins, – das war ja Fritz Mersche, die Haus- und die Hoftür zu verschließen.
Schweigend saßen die vermummten Männer um den Tisch. Vor ihnen stand ihr Oberhaupt, leicht auf einen Stuhl gestützt. Kurz verteilte er an jeden seine schriftlichen Befehle und gab dazu genaueste Anweisungen, in welcher Weise sie ausgeführt werden sollten. Dann fuhr er fort:
„Die Umstände können es mit sich bringen, daß einer von Euch mir eine eilige Nachricht zukommen lassen muß. Sollte dies nötig werden, so schreibt Ihr diese Meldung auf einen Briefbogen, den Ihr in einen versiegelten Umschlag ohne weitere Adresse steckt. Der Umschlag muß auf der Rückseite unser Zeichen so gut wie möglich erkennen lassen. Diese Briefe sind gegebenen Falles dem Besitzer des in diesem Hause befindlichen Papierladens durch einen Dienstmann zuzusenden, vorher natürlich in einen zweiten adressierten Umschlag zu tun. Antwort geht Euch dann, sobald erforderlich durch die Post zu. – Alle Auslagen, die die Ausführung meiner Befehle mit sich bringt, erhaltet Ihr ersetzt.“
Bald darauf trennten sich die Maskierten wieder. – Fritz Mersche aber war um nichts klüger geworden als bisher. Jedes der Mitglieder hatte den für ihn bestimmten, mit Maschine geschriebenen Zettel sofort in der Tasche verbergen müssen. Die Anweisungen, die der ‚Herr‘ sonst noch mündlich gegeben hatte, waren zwar recht genau gewesen, bezogen sich aber mehr auf das allgemeine Verhalten bei der Erledigung der Aufträge. – Auch dieses Mal hatte der Unbekannte Nummer Eins bis zuletzt zurückgehalten und ihm dann noch gesagt:
„Du siehst auch heute, daß ich dir für den Bund unbegrenztes Vertrauen schenke. Die bei dir für den Bund eingehenden Briefe wirst du sofort hier auf den Tisch in den Versammlungsraum legen, der fortan stets verschlossen zu halten ist. Ich warne dich nochmals! Bist du treu, so wird es dein Glück sein. Andernfalls …!! – Nun – du weißt ja, was dem Wortbrüchigen droht!“ –
Max Rötler, der Inhaber eines sogenannten Kommissionsgeschäftes, wohnte weit draußen im Norden Berlins in der Müllerstraße dicht neben ein paar bisher noch leeren Bauplätzen. Das einstöckige Haus war Eigentum der Frau Asta Rötler, einer früheren Schauspielerin mit reichlich dunkler Vergangenheit.
Rötlers hatten das erste Stockwerk vermietet, während sie das Erdgeschoß für sich selbst gebrauchten. Zwei der Räume hatte der Hausherr sich als Kontor hergerichtet. Sein ganzes Personal bestand freilich nur aus einem einzigen buckligen Schreiber unbestimmten Alters. Die Geschäfte, die Max Rötler machte, waren meist ebenso fragwürdiger Art wie die Jugendzeit seiner besseren Hälfte. Aber es war sehr, sehr schwer, diesem Manne, der die Verschlagenheit eines Fuchses besaß, beizukommen. Nur ein einziges Mal hatte die Polizei ihn wegen Hehlerei belangen können. Doch auch da war es ihm geglückt, sich mildernde Umstände zu verschaffen und ‚billig‘ mit eineinhalb Jahren Gefängnis wegzukommen.
Es war am Vormittag nach der letzten, eben geschilderten Zusammenkunft des Bundes der Dreizehn. Max Rötler, ein magerer Mann vom etwa vierzig Jahren mit stets halb zugekniffenen Augen und spärlichem Haar und Bartwuchs, saß in seinem Privatkontor, einem einfenstrigen, kleinen Zimmer einem Besucher gegenüber, den er soeben mit kühler Höflichkeit empfangen hatte.
Kriminalkommissar Meizenberg begann jetzt, indem er jenen harmlos liebenswürdigen Ton anschlug, wie ihn die Beamten der Polizei gewöhnlich gerade ihren Schmerzenskindern gegenüber gebrauchen:
„Zunächst also mein herzlichstes Mitgefühl, Herr Rötler. Die Ärzte hoffen ja, Ihre Tochter durchzubekommen. Trotzdem müssen Sie aber vorgestern Abend einen ordentlichen Schreck bekommen haben, als man Ihnen die Unglücksnachricht überbrachte. Dieser Sache wegen möchte ich mit Ihnen nun kurz Rücksprache nehmen. – Ich kann mir nämlich nicht denken, daß es wirklich ein Unbekannter gewesen ist, der Ihre Tochter im Tiergarten überfiel und niederstach. Gewiß – die Verwundete hat ja noch, bevor dieser starrkrampfähnliche Zustand, der heute noch anhält, einsetzte, einem Schutzmann, der auf ihre Hilferufe herbeieilte, so einige Angaben über den Verbrecher gemacht. Aber dies geschah doch immerhin noch unter dem Einflusse des übergroßen Schreckens und unter dem Anzeichen der beginnenden Ohnmacht, so daß man nicht viel auf diese Aussage geben kann, nach der der Betreffende ihr zuerst die Handtasche zu entreißen suchte und danach sofort zugestochen hat. –
Ich bin weit eher geneigt an ein Eifersuchtsdrama zu glauben, dem nur zur Vertuschung das Mäntelchen eines Taschenraubes mit nachfolgendem Gewaltakt umgehängt werden sollte. Ihre Tochter ist, ohne Ihnen schmeicheln zu wollen, ein selten hübsches junges Mädchen. Es wäre also kein Wunder, wenn sie mehrere Bewerber hätte, unter denen sich vielleicht ein sehr heißblütiger, verschmähter Liebhaber befindet. Hiernach wollte ich Sie als Vater nun etwas ausforschen, Herr Rötler.“
Max Rötler hatte bei alldem keine Miene verzogen. Er behielt seinen ablehnenden Gesichtsausdruck bei. War doch gerade Kommissar Meizenberg derjenige gewesen, dem er hauptsächlich die vor kurzem erst verbüßte Gefängnisstrafe zu verdanken gehabt hatte. –
Er antwortete auch nicht sofort. Das war nicht seine Art. Kaum ein Mensch legte wohl jedes Wort so sehr auf die Wagschale wie gerade er. Hatte er doch außerdem noch seine schwerwiegenden Gründe, gerade bei dieser Geschichte recht vorsichtig zu sein.
Nach einer Weile erwiderte er dann: „Es dürfte Ihnen wohl nicht unbekannt sein, Herr Kommissar, daß es nicht die Bande des Blutes sind, die mich mit meiner Tochter verbinden. Erna ist nur unser Adoptivkind. Vor drei Jahren erst haben wir sie an Kindesstatt angenommen, nachdem sie vorher bei uns groß geworden ist.“
Meizenberg nickte nur, worauf Rötler fortfuhr:
„Erna war nun von jeher ein recht verschlossener Charakter. Einen Einblick in ihr Innenleben hat sie uns nie gewährt. So ist es nun auch hinsichtlich ihrer Herzensangelegenheiten geblieben. Herrenbekanntschaften hat sie, das wissen wir. Aber nicht in unseren Bekanntenkreisen. Dort spielt sie stets die Unnahbare. Sie will offenbar höher hinaus. Alle Vorwürfe, die man ihr wegen dieser Straßenbekanntschaften machten, haben leider nichts gefruchtet. Sie ist ja sehr selbstständig und erwiderte uns stets, daß sie schon allein wisse, wie weit sie zu gehen habe. Das ist sicher auch so. Für eine Liebelei ist sie viel zu stolz und zu selbstbewußt. Immerhin habe ich häufig beobachtet, daß sie von Herren der besseren Stände nach Hause begleitet wurde. Wer diese Herren jedoch waren oder wie sie aussahen, vermag ich nicht anzugeben. Auch meine Frau, mit der ich noch gestern diesen Punkt besprach, ist nicht in der Lage auch nur einen einzigen von Ernas Bekannten zu beschreiben.“
Der Kriminalkommissar verabschiedete sich sehr bald darauf. Max Rötler war kaum wieder allein, als er in seine Privatwohnung hinüberging und seiner Frau, einem aufgeschwemmten, schlampigen Weibe, fast wörtlich alles das wiedererzählte, was er soeben dem Beamten über die Herrenbekanntschaften seiner Adoptivtochter angegeben hatte.
„So, nun weißt Du Bescheid, Asta, – für alle Fälle!“ fügte er zum Schluß hinzu.
Ein höhnisches Lachen erschien auf ihrem Gesicht.
„Mag dieser Meizenberg, der alte Schnüffler, nur suchen!“ sagte sie in ihrer stets gezierten Sprechweise. „Dieses Mal wird er keine Lorbeeren ernten. Dafür wollen wir schon sorgen.“
Der Kommissar, ein noch verhältnismäßig junger Mann, war wegen seiner Gründlichkeit, mit der er jeden Kriminalfall bearbeitet, mit Recht bei seinen Vorgesetzten angesehen und beliebt. Nach dem Besuche bei dem Kommissionär begab er sich in ein kleines Zigarrengeschäft, das zwei Häuser vor dem Rötlerschen Wohngebäude auf derselben Seite der Müllerstraße lag. Der Inhaber des Ladens war ein pensionierter Polizeiwachtmeister, der den Behörden schon manchen wertvollen Wink gegeben hatte, da er in diesem Viertel und mit dessen Bewohnern sehr gut bekannt war. Meizenberg fragte hier so ziemlich dasselbe, was er schon bei Rötler zu erfahren gesucht hatte. Die Auskunft, die er erhielt, setzte ihn sehr in Erstaunen.
„Aber Rötler hat mir das gerade Gegenteil von dem erzählt, was Sie mir eben sagen, lieber Kallhof,“ meinte er unsicher. Und dann berichtete er dem Vertrauten der Polizei ganz eingehend die Äußerungen des Kommissionärs über dessen Tochter.
Der alte, würdige Kallhof war ehrlich entrüstet. „Dieser infame Kerl hat Sie glatt angelogen,“ rief er. „Kein Wort ist von alldem wahr. Ich habe Fräulein Rötler noch nie in Herrengesellschaft gesehen. Ihre Zurückhaltung ist hier in unserem Viertel allgemeines Gespräch, ihr Ruf der allerbeste! Mit ihren Adoptiveltern steht sie recht schlecht. Sie mag längst erkannt haben, was an dem Ehepaar in Wirklichkeit daran ist.“
„Aber – wozu hat der Rötler mich denn nur so frech beschwindelt?“ meinte Meizenberg nachdenklich. „Ohne bestimmten Zweck tut der doch nichts. – Na, jedenfalls verlohnt es sich, gelegentlich auch diese Widersprüche in Ihren und seinen Angaben aufzuklären. – Guten Morgen, lieber Kallhof. Halt – packen Sie mir mal noch schnell zehn leichte Zigarren à 15 ein.“ – –
Um dieselbe Zeit, als der Kriminalkommissar bei Max Rötler irgend einen Anhalt für die Person jenes Mannes suchte, der das jetzt im Krankenhause schwer daniederliegende junge Mädchen in der Dunkelheit im Tiergarten überfallen und durch einen Stich in die Schulter verletzt hatte, stand Fritz Mersche in der Telephonzelle des seiner Wohnung am nächsten liegenden Postamtes und fragte im Krankenhause Moabit an, wie es mit dem Befinden von Fräulein Erna Rötler stehe.
„Ich bin ein sehr guter Bekannter der jungen Dame,“ erklärte er der Schwester, die die Anfrage entgegennahm.
„So. Nun gut. Warten Sie einen Augenblick. Ich muß erst bei der betreffenden Station anrufen,“ kam die Erwiderung zurück.
Nach einer Weile gab die Schwester ihm dann den Bescheid, daß die Kranke vor einer Viertelstunde aus dem starrkrampfähnlichen Zustand erwacht sei und sich jetzt überraschend wohl fühle, – wahrscheinlich infolge ihrer kräftigen Körperbeschaffenheit.
Der frühere Buchhalter bedankte sich vielmals und kehrte nach Hause zurück. Den ersten Teil des ihm in der verflossenen Nacht von dem ‚Herrn‘ übergebenen Befehles hatte er damit ausgeführt. Nun kam der zweite, schwierigere und gefahrvollere. Bevor er dazu seine Vorbereitungen traf, wiederholte er sich nochmals in Gedanken alles das, was in Maschinenschrift auf dem Blatt Papier gestanden hatte, das einer allgemeinen Anweisung des Unbekannten folgend sofort nach genauer Einprägung des Inhaltes zu verbrennen war und das er auch gehorsam auf diese Weise vernichtet hatte. – –
Das Telephon wurde jetzt von den Personen, die in den sich entwickelnden Ereignissen eine Rolle spielen, sehr eifrig benutzt. Im Krankenhause Moabit war man über diese häufigen Anfragen der einen Patientin wegen keineswegs entzückt. Zunächst bat Fritz Mersche als ‚alter Bekannter‘ Erna Rötlers am Abend desselben Tages nochmals um Bescheid über das Ergehen des jungen Mädchens. –
„Vorzüglich,“ lautete die Antwort. –
Kurz vorher hatte Herr Rötler selbst um dieselbe Auskunft ersucht, nachdem er vom Stationsarzt bereits am Vormittag angeläutet worden war, der ihm die erfreuliche Mitteilung von der plötzlich eingetretenen, entscheidenden Besserung gemacht hatte, worauf der Kommissionär nur etwas Unverständliches erwiderte, und mit heftiger Gebärde den Hörer weglegte. Als ihm dann am Abend das Befinden als ‚vorzüglich‘ bezeichnet wurde, hätte er am liebsten den Telephonapparat an die Wand gefeuert. Ein Glück, daß die Schwester, die den ‚besorgten‘ Vater in dieser Weise beruhigen durfte, sein Gesicht nicht sah. Es war trotz der sonstigen, scheinbar durch nichts zu erschütternden Unbeweglichkeit förmlich verzerrt vor ohnmächtiger Wut. Aus kühler Berechnung zwang er sich jedoch zu einigen Redensarten, die seine Freude über das Wohlergehen des geliebten Kindes ‚wiedergeben‘ sollten. Ja, er fragte sogar an, ob die arme Erna nicht am nächsten Vormittag den Besuch ihrer besorgten Eltern entgegennehmen könne, worauf er nach einer Weile freilich eine abschlägige Antwort erhielt. Sozusagen als Trost fügte die Schwester hinzu, der Stationsarzt hätte gemeint, einer Überführung der Kranken am Abend des nächsten Tages nach hause stände nichts im Wege, zumal das Krankenhaus sehr überfüllt wäre. Worauf Max Rötler nach kurzem Nachsinnen entgegnete, er würde morgen noch Bescheid geben. Er müßte doch in seiner Wohnung erst die nötigen Vorbereitungen für die Unterbringung seines Kindes treffen.
Der Kommissionär ahnte nicht, daß jemand anderes sich mit weit mehr Interesse als er selbst nach dem Zeitpunkt erkundigt hatte, an dem Erna Rötler das Krankenhaus würde verlassen können. – –
Am nächsten Vormittag läutete Max Rötler dann die Krankenstation an und bat, man möchte seine Tochter wenigstens noch zwei Tage dabehalten. Er hätte gerade jetzt soviel geschäftlich zu tun, daß er unabkömmlich sei. Seine Frau aber wäre sehr stark erkältet. Ihm falle es ja sehr schwer, auf ein schnelles Wiedersehen aus diesen Gründen verzichten zu müssen. Doch ein Kaufmann sei nun einmal nie recht Herr seiner Zeit.
Als er dieses Gespräch führte, saß ihm gegenüber in seinem Arbeitszimmer ein junger, mit stutzerhafter Eleganz gekleideter Mensch, der die ganze Zeit über, während der Rötler den Hörer in der Hand hielt, spöttisch grinste. Dem entging das nicht. Als er nun zu Ende war, fuhr er seinen Besucher giftig an:
„Was gibt’s hier zu lachen! Du allein hast uns diese ganze Suppe eingebrockt – Du allein! Und jetzt feixt Du noch darüber, wenn ich notwendigerweise den zärtlichen Vater spiele.“
Der Stutzer mit dem verlebten Gesicht, in dem ein paar kalte Augen und ein breites, brutales Kinn auf einen keineswegs ungefährlichen Charakter hindeuteten, zuckte gleichmütig die Achseln.
„Wozu Zank und Streit?! Laß uns lieber überlegen, was nun werden soll. Ich schlage vor, Erna geht in ein Bad zur Erholung. Dort wird sie dann … ganz genesen.“
„Kein übler Gedanke.“ – Und die beiden einander völlig gleichwertigen Ehrenmänner besprachen weiter in vorsichtigem Flüsterton jede, selbst die kleinste Einzelheit ihrer dunklen Pläne.
Bevor der Stutzer, den Rötler nur mit Eduard anredete, sich verabschiedete, sagte der Kommissionär noch:
„Es ist besser, wir treffen uns in den nächsten Tagen gar nicht. Vereinbart ist ja alles. Leute wie wir können nie wissen, ob sie nicht belauscht werden. Und vor diesem Meizenberg muß man sich sehr in acht nehmen. Der Kerl hört das Gras wachsen.“
„Eduard“ hob verächtlich die Schultern. „Du bist ein Hasenfuß geworden, Maxe, seit du mal hinter schwedischen Gardinen gesessen hast. So schlau wie der sind wir schon lange.“
*
Karl Ermich, der bei dem jungen Millionär angestellte Gärtnerbursche, hatte auf Befehl des unbekannten Oberhauptes des Geheimbundes um einen viertägigen Urlaub gebeten und diesen auch von Erwin Heider bewilligt erhalten. Als Grund war von ihm die Hochzeit seines in Rathenow wohnenden Bruders angegeben worden, die er gern mitmachen wollte. Der Bruder existierte jedoch überhaupt nicht, und Karl Ermich war für diese vier Tage ‚möblierter Zimmerherr‘ in der Müllerstraße ganz in der Nähe des Rötlerschen Hauses geworden, um hier den Befehlen des ‚Herrn‘ gemäß bestimmte Leute zu beobachten.
Als Eduard Schalitzer – so hieß der Stutzer mit seinem vollen Namen – seinen Freund Rötler verließ und an der nächsten Straßenbahnhaltestelle auf eine Elektrische wartete, hielt sich der recht anständig angezogene Gärtner ganz in der Nähe auf, indem er scheinbar eifrig Zeitung las, hinter der er seinen Kopf sehr gut verbergen konnte. Beide bestiegen dann dieselbe Straßenbahn.
Diese Jagd, die vonseiten Karl Ermichs mit viel angeborener Schlauheit bis zum Nachmittag fortgesetzt wurde, hatte den erhofften Erfolg. Eduard Schalitzers Wohnung war jetzt dem Oberhaupt des Bundes kein Geheimnis mehr, da der Gärtnerbursche, der unter den dreizehn Mitgliedern die Zahl Vier verkörperte, in der befohlenen Weise dem ‚Herrn‘ hiervon Nachricht gab, indem er einen in einen zweiten Umschlag eingeschlossenen Brief an den Inhaber des Papiergeschäftes in der Albrechtstraße sandte, das dieser wieder auf den Tisch im Versammlungsraum niederlegte, von wo er in der nächsten Nacht verschwand, das heißt abgeholt wurde.
Ebenso wie Fritz Mersche und Karl Ermich hatten auch die übrigen Mitglieder des Geheimbundes allerlei Aufträge erhalten, deren Zweck keiner von ihnen erahnen konnte, da diese Befehle derart geschickt zergliedert waren, daß nur der ihre Bedeutung verstand, der sie in ihrer Gesamtheit überschaute. Und der einzige, der hierzu imstande war, war der ‚Herr‘ selbst.
Der Abend dieses Tages brachte Regen.
Es mochte gegen halb elf Uhr sein, als Fritz Mersche den ihm erteilten Verhaltungsmaßregeln gemäß aus dem Wohnzimmer in den Flur trat, wo er tatsächlich denselben graubärtigen Fremden, der ihn damals vor der Strafanstalt Plötzensee angesprochen hatte, seiner harrend vorfand.
„Haben Sie mich wie befohlen angemeldet?“ fragte der Graubärtige kurz.
„Jawohl. Die junge Dame ist schon sehr erregt. Es wird Mühe kosten sie zu beruhigen.“
Der Fremde machte eine Bewegung mit der Hand, die Mersches offenbare Ängstlichkeit zerstreuen sollte. Dieser hätte gar zu gern einiges gefragt, wagte es jedoch nicht. Unfehlbar gehörte dieser Mann ja mit zum Bunde, war vielleicht gar der ‚Herr‘ selbst. Letzteres erschien Fritz Mersche allerdings doch recht ungewiß. Die Stimme war so ganz anders, und auch die Körperfülle zeigte eine auffallende Verschiedenheit.
Gleich darauf betrat der Graubärtige das Schlafzimmer des Ehepaares Mersche. Hier waren im Laufe des Nachmittags allerlei Veränderungen vorgenommen worden. Es war in ein behagliches Krankenzimmer umgewandelt, in dem jetzt auf einem Diwan ein junges Mädchen, sorglich in Decken eingehüllt, ruhte.
„Mein Herr,“ begann die Patientin, deren Gesicht den leisen Anflug zarter Röte einer auf dem Wege der Besserung Befindlichen sehen ließ, „mein Herr, was bedeutet dies alles?! Vergebens habe ich die Frau, die sich hier um mich bemühte, um Auskunft gebeten. Sie sagte, ein anderer würde mir alles erklären. Sind Sie nun endlich dieser andere? – Dann fordere ich von Ihnen Antwort!“
Ihre Stimme war immer erregter geworden. Den durch Kissen unterstützten Kopf hatte sie etwas gehoben, und ihre Finger fuhren in nervösem Spiel auf der Decke hin und her.
Da erwiderte der Fremde mit einem weichen, gütigen Organ, das so seltsam einschmeichelnd klang:
„Mein Fräulein, schaden Sie sich nicht selbst durch eine völlig unnötige Aufregung. Ich werde mich zu Ihnen setzen und Ihnen eine sonderbare Geschichte erzählen. Nachher sind Sie mir sicher sehr dankbar, daß alles so gekommen ist.“
Er nahm einen Stuhl und trug ihn dicht an das Kopfende des Diwans. Das junge Mädchen aber konnte sich nicht enthalten unruhig zu fragen:
„Ist es denn wahr, daß das Haus meiner Eltern von einem Brande heimgesucht worden ist und daß ich aus diesem Grunde hier vorläufig untergebracht bin? Und warum wurde ich auf dem Wege hierher aus dem Krankenwagen gehoben und in ein Auto getragen, in dem ich den Rest der Fahrt zurücklegte …?! Ich begreife das alles nicht.“
„Sie werden begreifen, glauben Sie mir,“ sagte der Fremde mit ruhiger Bestimmtheit. „Der Brand ist erdichtet. Diese kleine Lüge war jedoch nötig, um Einwendungen Ihrerseits gegen die Fahrt zu beschwichtigen.“
Und dann begann der Graubärtige in halbem Flüsterton auf die Kranke einzusprechen. Wortlos lauschte das junge Mädchen. Nur in ihrem zarten Antlitz spiegelten sich deutlich die Empfindungen wider, die die Erzählung des Fremden in ihrer Seele auslöste.
„Sie sehen also, mein liebes Fräulein,“ schloß der Graubärtige jetzt, „daß jeder Schritt, der in dieser Sache unternommen worden ist, durchaus notwendig war. Hätte ich bereits alle Fäden des Netzes, in dem die Anstifter eines schurkischen Komplottes gefangen werden sollen, in der Hand, so würde ich anders vorgegangen sein. So aber ließ sich nur das tun, was heute geschehen ist.“
Die Kranke nickte nachdenklich.
„Sie haben Recht! Ihre Worte geben mir die Ruhe wieder. – Aber, mein Herr, wer sind Sie eigentlich, daß Sie ein solches Interesse an meiner Person nehmen? Wie heißen Sie? – Gehören Sie der Polizei an? – Ja, das muß wohl der Fall sein, sonst könnten Sie dies alles nicht in die Wege geleitet haben. Dazu ist eine gewisse Macht nötig, dazu braucht man Leute, die …“
„Zerbrechen Sie sich darüber nicht den Kopf, mein liebes Kind,“ fiel der Fremde ihr ins Wort. „Nehmen Sie an, daß die Vorsehung mich als Werkzeug benutzt. Mein Name? – Ich habe keinen! Wozu soll ich Ihnen einen falschen nennen?! Fassen Sie volles Vertrauen zu mir. Sie werden es nicht bereuen. Ihr Aufenthalt hier wird ja nur ein kurzer sein, – bis ich eben auch das noch aufgeklärt habe, was jetzt noch dunkel ist. Als Lohn fordere ich nur eins: das feste Versprechen, daß Sie hier im Hause mit den Personen, die für Sie sorgen, ebensowenig wie mit irgend einem anderen vorläufig über die Dinge sprechen, die ich Ihnen eben mitgeteilt habe, und daß Sie ferner nie in Ihrem Leben Auskunft darüber geben, in welcher Weise ich für Sie Vorsehung gespielt habe.“
Er erklärte ihr darauf noch im einzelnen, was er geheimgehalten haben wollte, und sie reichte ihm schließlich die Hand, dankte ihm mit schlichten Worten und versprach seine Wünsche genau zu erfüllen.
Nachdem er ihr dann noch ein unschädliches Schlafpulver gereicht hatte, verabschiedete er sich.
„Sehr wahrscheinlich werden wir uns nie wiedersehen, mein liebes Fräulein,“ sagte er, sich an der Tür nochmals umwendend. „Ich wünsche Ihnen daher alles Gute für die Zukunft. Das Leben wird Ihnen ja nun sehr bald mit all seinen Genüssen offenstehen. Ich traue Ihnen zu, daß Sie darüber aber die nicht vergessen werden, an die man jeder Zeit denken sollte: die Armen, die Elenden! –
Alles, was ich noch anordnen muß, erfahren Sie durch das Ehepaar, bei dem Sie hier, hoffentlich recht gut, untergebracht sind.“
Damit verschwand er, zog die Tür leise hinter sich ins Schloß. – Draußen im Flur wartete Mersche wieder wie befohlen. Schweigend reichte der Fremde ihm einen Briefumschlag und zeigte dann auf die Tür, die in das Wohnzimmer führte. Etwas befehlendes lag in dieser Handbewegung, und der frühere Buchhalter verbeugte sich und ging.
*
Unter der Hängelampe saß Frau Mersche an dem großen Mitteltisch, mit einer Handarbeit beschäftigt. Ihr Gatte trat hinzu und las die Aufschrift des Briefes.
‚Für die Pflege der Kranken und die sonstigen Unkosten,‘ stand in schrägen Schriftzügen darauf. Der Inhalt waren drei Hundertmarkscheine.
Trotz dieser überreichen Entschädigung seufzte Fritz Mersche tief auf aus schwerbedrücktem Herzen.
„Nichts als Geheimnisse, die ich nicht begreife, umgeben uns hier,“ sagte er ganz leise zu seiner Frau. „Ich wünschte wirklich, ich hätte dieses Haus nie gesehen!! Ohne Zweifel wird doch morgen die Polizei nach dem jungen Mädchen suchen. Da können wir in böse Ungelegenheiten kommen, wenn man sie hier findet.“
„Das halte ich für ausgeschlossen,“ meinte Frau Mersche, ebenso vorsichtig flüsternd. „Die Straße war infolge des Regens ganz menschenleer, als das Auto vor unserem Hause hielt.“
Fritz Mersche war nicht so sicher. „Unglück schläft nicht,“ brummte er vor sich hin. „Eigentlich könntest du mal zu dem Fräulein hineingehen und nachsehen, wie sie sich jetzt nach dem Besuche des Fremden benimmt,“ fügte er hinzu.
Die Frau erhob sich und ging. Als sie nach einer Weile zurückkehrte, lächelte sie ihrem Manne aufmunternd zu.
„Ich habe sie zu Bett gebracht. Sie ist ganz heiter und war sehr freundlich zu mir, – ganz anders wie vordem.“
Fritz Mersche atmete sichtlich erleichtert auf. Und gleich darauf begab sich auch das Ehepaar zur Ruhe.
In derselben Stunde saß der alte Franz Balwing in seiner kleinen Stube und starrte, zurückgelehnt in den Stuhl und mit auf die Brust gesunkenem Kopf, unbeweglich wie eine Statue auf das Buch, das auf dem Tische, von der Lampe hell beschienen, vor ihm lag. Der starke Band war Hackländers ‚Europäisches Sklavenleben‘. Soeben hatte der treue Diener die letzte Seite gelesen.
Klarheit hatte er von diesem Buche erhofft. Nun war sie ihm geworden. Die Andeutungen, die sein junger Herr damals in Bezug auf diesen Roman gemacht hatte, enthielten jetzt keine Rätsel mehr für ihn. Der Verfasser schilderte ja unter anderem in seinem Werke auch einen gebildeten, feinen Herrn, der in der besten Gesellschaft verkehrte und doch das Haupt einer Verbrecherbande war. –
Der alte Franz sann und sann. Er dachte an das Gewächshaus, an dessen geheimnisvollen Besucher und all das andere, das er inzwischen beobachtet hatte. Gewiß – die Bulldoggen hatte sein Herr angeschafft. Die eine trieb sich nachts im Garten umher, die andere wurde in das Gewächshaus gesperrt. Lichtscheues Gesindel hielten die bissigen Tiere wohl fern. Aber einer wie sein junger Gebieter, der sich so schnell mit den Hunden angefreundet hatte, der konnte ungehindert das Gewächshaus auch nachts als Zugang benutzen. Die Tiere würden nicht einmal anschlagen.
Franz Balwing seufzte. – Auf welche wahnsinnigen Ideen nur die reichen Leute kamen …! Nur um sich einen Nervenkitzel zu verschaffen! Das – das hätte er seinem Herrn doch nie zugetraut, nie! Und die Gefahr noch zu alldem! Wie leicht konnte alles ans Tageslicht kommen! Das Gefängnis drohte dem Unvernünftigen vielleicht. – Ob er ihn warnte?! Ob er ihn bat, abzulassen von diesem Treiben, das zu nichts gutem führen konnte? – Durfte er das wagen, würde ihn nicht vielleicht schon die bloße Andeutung, daß er seinen Herrn durchschaut habe, seine Stellung kosten? – Er war ein alter Mann und mußte froh sein, hier ein Unterkommen gefunden zu haben! –
Aber eins wollte er doch: wachen über seinen Herrn und aufpassen, ob die Polizei nicht eines Tages das Haus belauerte. Die Augen wollte er offen halten, Tag und Nacht. Und – merkte er etwas Verdächtiges, – dann war es Zeit zum Reden.
Traurig suchte der treue alte Mann sein Lager auf. Trübe Ahnungen hafteten auf seiner Seele. Er träumte wildes, verworrenes Zeug von Dieben und Einbrechern, unter denen sich sein Herr befand, – sein Herr in jener Verkleidung, wie er ihn damals im Gewächshaus gesehen hatte. – – –
*
Es war um neun Uhr vormittags am nächsten Tage. Kriminalkommissar Meizenberg ging unruhig in seinem Bureau im Polizeipräsidium am Alexanderplatz auf und ab. Soeben hatte der Beamte, der von ihm zu dem Kommissionär nach der Müllerstraße geschickt worden war, antelephoniert und kurz Bescheid gegeben, daß auffallenderweise Fräulein Rötler nicht im Hause ihrer Eltern angelangt sei und daß er den deshalb sehr aufgeregten Vater sofort mitbringe.
Meizenberg ließ sich jetzt, nachdem er diese unerklärliche Meldung geistig verarbeitet hatte, mit dem Krankenhause Moabit verbinden. Erst sprach er den Stationsarzt, dann die Schwester, die Erna Rötler gepflegt hatte, und schließlich noch den Hauswart. Über diesen Gesprächen war eine gute Viertelstunde vergangen. Das Postamt hatte die Verbindung immer wieder unterbrechen wollen. Aber die Kriminalpolizei nahm auch in dieser Beziehung eine Ausnahmestellung ein.
Vorläufig wußte Meizenberg nun genug. Er nahm also seinen Spaziergang durch das Zimmer wieder auf und bemühte sich, das soeben Gehörte kritisch zu prüfen. Bald darauf traf auch Max Rötler in Begleitung des Kriminalbeamten ein. Diesen entließ der Kommissar sofort. Kaum waren die beiden allein, als Rötler mit allen Zeichen heftigster Erregung herausplatzte:
„Sie müssen mir helfen …! Wo ist meine Tochter? – Hier ist ein unerhörter Bubenstreich verübt worden! Man hat Erna entführt. Ich habe gestern nicht im Entferntesten die Absicht gehabt, sie nach Hause schaffen zu lassen. Sie muß gefunden werden. Ich bezahle alles. Ich setze eine Belohnung aus für den, der …“
„Ruhe, Ruhe! So kommen wir zu nichts!“ fiel Meizenberg dem offensichtlich in großer Angst und Sorge Befindlichen ins Wort. „Derartige Dinge müssen kaltblütig überlegt werden, Herr Rötler. Also setzen Sie sich zunächst einmal hin. – So, und nun werde ich reden und Sie nur dann, wenn ich Sie etwas frage. – Machen Sie kein so unglückliches Gesicht! Wir werden Ihre Tochter schon aufstöbern. Hier in Berlin verschwindet niemand spurlos, zumal eine Kranke nicht, wenn man über so mancherlei Anhaltspunkte verfügt, wie sie mir soeben das Krankenhaus gegeben hat.“
Rötler tupfte sich den Schweiß von der Stirn. Sein Gesicht war noch immer ganz bleich vor Schreck. Diese schier unglaubliche Nachricht hatte ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen. Doch schon auf der Fahrt nach dem Polizeipräsidium war sein an schlaues Abwägen gewöhnter Geist an der Arbeit gewesen, den Urheber dieser Entführung herauszufinden. Dabei hatte er einen Augenblick auch an Eduard Schalitzer gedacht. Und ganz hatte er diesen Gedanken bisher nicht fallen gelassen. Aber davon durfte die Behörde nichts erfahren. Sollte es zu einem Kampf gegen seinen bisherigen Bundesgenossen kommen, so mußte er ihn allein ausfechten. Freilich – Schalitzers Untreue erschien ihm auch anderseits so zwecklos und so schwer zu dessen Vorteil ausnutzbar, daß er weder aus noch ein wußte. Hier konnte wirklich nur die so verhaßte Polizei helfen. Erna mußte er wiederhaben, mußte …! Einen solchen Plan, wie er ihn vorhatte, gab er so leicht nicht auf.
Als Meizenberg sah, daß der Kommissionär, der ihm jetzt in seiner Angst um den Verbleib der Tochter recht leid tat, ruhiger geworden war, begann er in seiner etwas langsamen, aber wohldurchdachten Art:
„Heute morgen telephonierte ich das Krankenhaus an, um mich nach dem Befinden Ihres Kindes zu erkundigen. Ich erhielt den Bescheid, daß die Kranke, die sich inzwischen auffallend schnell erholt hatte und die völlig fieberfrei war, gestern gegen neun Uhr abends nach vorheriger Vereinbarung mit Ihnen abgeholt worden sei. Ich versuchte nun Sie anzurufen, Herr Rötler, bekam aber keine Verbindung.“
„Leicht erklärlich!“ warf der Kommissionär wütend ein.
„Da schickte ich einen meiner Beamten zu Ihnen,“ fuhr Meizenberg unbeirrt fort, „um durch diesen nach Fräulein Ernas Ergehen nachfragen und gleichzeitig feststellen zu lassen, ob ich sie noch heute eingehend vernehmen könne. –
Das weitere wissen Sie. – Sie selbst oder einer Ihrer Angehörigen ist es also nicht gewesen, der die Abholung der Patientin veranlaßt hat?“
„Nein – so wahr ich hier sitze! Im Gegenteil – ich habe noch gestern Vormittag dem Krankenhause erklärt, man solle Erna lieber noch ein paar Tage dort behalten.“
„Und am Nachmittag haben Sie auf der Krankenstation nicht mehr angerufen?“
„Nein. Bestimmt nicht.“
„So. Das dachte ich mir. –
Ich will Ihnen nun mitteilen, was ich durch Erkundigungen bei dem Krankenhause in Erfahrung gebracht habe. –
Gestern Vormittag hat jemand, der sich für einen alten Bekannten Ihrer Tochter ausgab, bei dem Stationsarzt angefragt, ob die Kranke bereits transportfähig sei. Die Antwort lautete bejahend. Am Nachmittag gegen halb sieben wurde dann wieder Fräulein Ernas wegen angerufen. Ein Herr, der angab, er handle in Ihrem Auftrag, erklärte, die Patientin würde abends gegen neun Uhr, wenn die Überführung für sie weniger peinlich sei, nach Hause abgeholt werden. Man möchte doch alles vorbereiten. Der Unbekannte vereinbarte mit der Stationsschwester noch das Nähere und trug ihr herzliche Grüße für die Kranke auf. Es erschien dann wirklich zu der angegebenen Zeit ein Krankentransportwagen vor dem Krankenhaus, wie ihn die Rettungswachen für erste Hilfe benutzen. Der Wagen hatte die übliche Besetzung, – einen Kutscher und einen Begleiter. Als Fräulein Erna ihrer Verwunderung Ausdruck gab, daß weder ihr Vater noch ihre Mutter mitgekommen seien, erklärte der Begleiter, Frau Rötler sei etwas leidend und ihr Gatte habe geschäftliche Abhaltungen. Daraufhin wurde die Patientin, der es schon so gut ging, daß man ihr die Kleider angezogen hatte, – bis auf die blutbefleckte Bluse, für die angeblich Ihre Frau im Laufe des Abends als Ersatz eine elegante, warme Morgenjacke geschickt hatte, in den Wagen gebracht, der sofort davonfuhr. –
So, das wäre alles. Aber jedenfalls genug, um klar daraus zu ersehen, daß man Ihre Tochter nach einem tadellos vorbereiteten Plane entführt hat und zwar ohne ihre Zustimmung. Diesen Gedanken, daß hier vielleicht ein Liebhaber mit im Spiel sein könne, habe ich nämlich sofort gehabt. Aber meine Nachfragen im Krankenhause haben zuverlässig ergeben, daß Fräulein Erna mit niemandem sich irgendwie ins Einvernehmen gesetzt hat.“
Rötler, der schon längst unruhig auf seinem Stuhle hin und hergerutscht war, konnte nun nicht länger an sich halten.
„Das ist ja ein ganzes Komplott!“ rief er ingrimmig. „Sie haben Recht, Herr Kommissar, – tadellos vorbereitet war der Plan! Hierfür kann ich Ihnen einen weiteren Beweis liefern. Gestern Nachmittag gegen fünf Uhr war bei mir in der Müllerstraße ein Mann, der sich als Angestellter des Telephonamtes vorstellte und einen kleinen Kasten mitbrachte, in dem sich ein Apparat befand – zur Prüfung der Stromstärke, wie der Kerl sagte. Er habe den Auftrag festzustellen, so log er mir vor, die Telephone auf den Stromverbrauch hin zu prüfen, erklärte mir auch den Apparat und zeigte mir nachher, wie man nach Einschaltung der Drähte der Hausleitung und so weiter genau ablesen könne, wieviel Elektrizität bei einem Gespräch von drei Minuten draufgehe. Der Mann war sehr mitteilsam, und mich interessierte der Apparat auch so etwas. Wir kamen ins Gespräch, und dabei fragte der Schwindler beiläufig auch nach dem Ergehen meiner Tochter. Er habe die Geschichte von dem Überfall im Tiergarten in der Zeitung gelesen. Sehr schlau hat er mich dann – das fiel mir erst heute ein! – ausgehorcht, wann Erna aus dem Krankenhaus entlassen und wann ich sie abholen würde. Ich dachte nichts arges und schwatzte darauf los, ich Narr! Nach einer halben Stunde verabschiedete er sich dann wieder, indem er mir noch mitteilte, an meinem Telephon sei etwas in Unordnung. Er würde mir sofort einen Ersatzapparat schicken und den meinigen zur Reparatur nach dem Amt bringen lassen. Aber es erschien niemand. Als ich dann abends noch an einen Freund eine Bestellung ausrichten wollte, merkte ich, daß das Telephon tatsächlich nicht funktionierte. Und bis jetzt ist der Schaden nicht behoben worden. –
Natürlich ist der Kerl nur deswegen zu mir gekommen, um den Apparat zu verderben und es so dem Krankenhause unmöglich zu machen, mich anzurufen. Es handelte sich also um nichts anderes als eine Vorsichtsmaßregel, damit ich nicht den Entführungsplan noch im letzten Augenblick störe. –
Diese verd… Bande; – ich sage ‚Bande‘, da einer allein diese Vorbereitungen kaum getroffen haben kann. Meinen Sie nicht auch, Herr Kommissar?“
Meizenberg zuckte die Achseln. „Kommen Sie heute Abend um acht wieder. Dann will ich Ihnen Antwort geben und Ihnen auch mitteilen, welchen Erfolg die Nachforschungen gehabt haben, die ich sofort anordnen werde. –
Noch eine Frage. Wie sah der Mann aus, der gestern mit dem Strommesser – nebenbei bemerkt ein sehr gewandter Trick! – bei Ihnen erschien?“
„Mittelgroß, blonder Schnurrbart, blondes, gescheiteltes Haar, ziemlich nichtssagende Augen, ganz anständiger, grauer Jackenanzug und Hände, die ziemlich gepflegt waren. Letzteres fiel mir auf. Für einen Elektromonteur waren sie fast zu zart.“ –
Max Rötler ahnte nicht, daß dieser ‚Schwindler‘ für gewöhnlich im Kontor des Grundstücksagenten Jakob Rosenbaum tätig und nur den Befehlen des ‚Herrn‘ nachgekommen war, als er, der früher Techniker gewesen, diese Rolle spielte, die es ihm auch zur Pflicht gemacht hatte, nach dem Verlassen des Rötlerschen Hauses ein Taschentuch in der Hand zu tragen, falls keinerlei Gefahr drohe, das heißt, wenn Rötler nicht irgendwie mißtrauisch geworden wäre oder die Absicht geäußert hätte, seine Tochter im Krankenhaus noch heute zu besuchen. Und der frühere Techniker konnte seinerseits auch nicht ahnen, daß dieses Taschentuch für zwei andere Mitglieder des Bundes, die, ohne sich zu kennen, in der Nähe des Rötlerschen Hauses zu dieser Zeit sich aufhielten, das Signal bildete, sofort an die Erledigung ihrer Aufträge zu gehen, die gleichfalls Glieder der Kette bildeten, die der ‚Herr‘ schmiedete, um Erna Rötler spurlos für einige Zeit verschwinden zu lassen.
Karl Ermich, Nummer 4 des Bundes, sollte nach Erkundung der Wohnung Eduard Schalitzers sich Max Rötler an die Fersen heften und insbesondere versuchen, ein Gespräch zwischen diesen beiden dunklen Ehrenmännern zu belauschen.
Als der Kommissionär das Polizeipräsidium nach der Unterredung mit Meizenberg verließ, begab er sich auf das nächste Postamt, um an seinen Freund Schalitzer einen Rohrpostbrief zu schreiben und sofort befördern zu lassen. Ermich glückte es nun – er hatte schon vor dem Präsidium auf Rötlers Rückkehr gewartet – einen Blick auf die Adresse des Rohrpostbriefes zu werfen. Sofort war sein Plan gefaßt. Er nahm ein Auto, fuhr nach der Heikermannstraße und ging in der Nähe des Hauses Nr. 51 auf und ab. Nach einer halben Stunde bemerkte er dann einen Depeschenboten, der auf einem Rade die Straße entlang kam. Schnell schlüpfte er nun in das Haus und stieg hoch auf den zweiten Treppenabsatz. Wirklich hörte er auch sehr bald Schritte, die die Stufen emportappten.
Der Depeschenbote stand bald Karl Ermich gegenüber, der ein Schlüsselbund in der Hand hielt und so tat, als wolle er gerade die eine Flurtür öffnen.
„Wollen Sie etwa zu mir?“ fragte er gleichgültig, indem er mit den Schlüsseln klapperte. „Ich heiße Eduard Schalitzer.“
Der Junge in der Postuniform ging in die Falle.
„Ja – hier ist ein Rohrpostbrief für Sie.“
Ermich nahm den Brief. „Von meinem Freunde Müller. Sicher eine Einladung zum Skatabend. Die Handschrift kenne ich. – Hier hast du einen Groschen. – Morgen!“ –
In einem nahen Cafee, das zu dieser frühen Vormittagsstunde noch ganz leer war, öffnete er vorsichtig durch starkes Anfeuchten den Umschlag, zog den Zettel, die Hälfte eines Telegrammformulars heraus und las:
„Unser Vogel ist verschwunden, entführt von Unbekannten. Erwarte Dich heute Abend zehn Uhr Bahnhof Friedrichstraße, Wartesaal 3. Klasse. Max.“
Wenige Minuten später hatte Ermich diese Worte in sein Notizbuch eingetragen, ließ sich Klebstoff bringen und schloß den Umschlag wieder, nachdem er den Zettel hineingeschoben. Dann kehrte er nach der Heikermannstraße 51 zurück, klingelte im zweiten Stockwerk linker Hand, wo eine Karte mit der Aufschrift ‚Eduard Schalitzer‘ hing, kräftig an und übergab der ihm öffnenden Frau wortlos den Brief. Sie konnte ihn ja für einen Hilfspostboten halten. Um diese Kleinigkeit machte er sich keine Sorgen.
*
Max Rötler fand sich pünktlich um acht Uhr abends wieder bei dem Kriminalkommissar ein.
Meizenberg saß an seinem Arbeitstisch bei einer brennenden Gaslampe und hatte vor sich einen mit zahlreichen Bleistiftnotizen bedeckten Bogen Papier liegen. Nachdem der Kommissionär ihm gegenüber auf einem Stuhle Platz genommen hatte, begann der Beamte ziemlich verdrießlich:
„Ich muß Ihnen leider eingestehen, daß unsere Sache keinen Schritt vorwärts gekommen ist. Über die Art und Weise, wie die Entführung mit allen Nebenumständen bewerkstelligt worden ist, bin ich allerdings jetzt im klaren. Aber die gefundene Spur verliert sich zuletzt. Jedenfalls trafen Sie, Herr Rötler, mit ihrer Bemerkung am heutigen Vormittag den Nagel auf den Kopf: wir haben es hier mit mehreren Personen zu tun, die an dieser Geschichte beteiligt sind. –
Lassen Sie mich jetzt im einzelnen erzählen. –
Den Krankentransportwagen hat ein Mann, der in seinem Äußeren nichts auffälliges hatte, mit Ihrem ‚Telefonkontrolleur‘ jedoch auf keinen Fall identisch ist, gestern nachmittag bei der Unfallstation in der Kaiser Friedrich Straße in Charlottenburg bestellt, und zwar sollte nur ein Kutscher mitkommen. Den Preis von zwölf Mark bezahlte der Mann, der sich als ein Bekannter Max Rötlers vorstellte, ohne Feilschen im voraus. Er bat noch, der Wagen solle doch pünktlich neun Uhr abends vor dem Kriminalgericht in Moabit halten. Dort würde der Vater, der seine Tochter selbst abholen wolle, einsteigen, da dieser gerade in der Nähe geschäftlich zu tun habe. –
Es handele sich um das durch die Zeitungsberichte bekannt gewordene, im Tiergarten überfallene junge Mädchen, – also kam man dem Manne in jeder Weise entgegen. –
Der Wagen war wie gewünscht zur Stelle. Ein anderer Mann, also nicht der, der auf der Unfallstation vorgesprochen hatte, stieg am Kriminalgericht tatsächlich ein. Dieser dritte Eingeweihte – der ‚Telefonkontrolleur‘ und der Wagenbesteller sind die beiden anderen – soll nun etwas korpulent gewesen sein und eine Hasenscharte gehabt haben. Weiteres – glatt rasiert war er auch noch – konnten meine Beamten über seine Person nicht feststellen. –
Die Vernehmung des Kutschers über die Fahrt mit der Kranken hat nun folgendes ergeben. Der Transportwagen mußte plötzlich in der Invalidenstraße am Lehrter Bahnhof halten. Der Begleiter der Patientin kam dann zu dem Kutscher und erklärte diesem, Fräulein Rötler könne den starken Geruch der Desinfektionsstoffe im Wagen nicht vertragen und wolle in einem Auto nach Hause fahren. Ein solches hielt in nächster Nähe und kam auf einen Wink des Mannes mit der Hasenscharte sofort herbei. Die Kranke wurde dann von diesem und dem Chauffeur zu dem Auto geführt, worauf der Krankenwagen sofort langsam in der Richtung nach dem Stettiner Bahnhof verschwand. Der Mann mit der Hasenscharte war mit eingestiegen. Da der Auftrag des Kutschers somit erledigt war, kehrte er nach der Unfallstation zurück, froh über die eine Mark Trinkgeld, die er erhalten hatte. –
Nun zu dem Auto. Eine Nachfrage bei sämtlichen Autoverleihgeschäften und den Besitzern von Taxameterkraftwagen hatte schnellen Erfolg. Ein vierter Eingeweihter, dem Aussehen nach ein junger Kaufmann, hat gestern nachmittag ein Automobil zu eigenem Gebrauch gegen Hinterlegung des Wertes von fünftausend Mark für einen Tag geliehen, angeblich zu einer Vergnügungsfahrt nach Werder. Die verlangten fünfzig Mark Leihgebühr bezahlte er ebenfalls voraus. Somit hatte der Besitzer keinen Grund das Geschäft abzulehnen. Das Auto sollte um acht Uhr abends abgeholt werden. So geschah es auch. Der, der es holte, war ein Mensch in Chauffeurkleidung, der offenbar mit Kraftwagen gut umzugehen wußte. Zum Erstaunen des Besitzers brachte der Mann das Auto aber schon um elf Uhr wieder zurück. Die Fahrt nach Werder könne nicht stattfinden, erklärte er. Der Herr würde ein andermal den Wagen benutzen. Hier habe er die Quittung über die hinterlegten fünftausend Mark, um deren Rückgabe er bitte. –
Das Geld wurde ihm ausgehändigt, und der Chauffeur verschwand ebenfalls – vielleicht für uns auf Nimmerwiedersehen, leider! – Daß in diesem Auto Ihre Tochter an ihren geheimen Bestimmungsort geschafft wurde, darüber kann wohl kein Zweifel bestehen. –
Aber noch ein weiterer Eingeweihter ist mit im Spiel: der Mann, der die elegante Morgenjacke nach dem Krankenhause als Ersatz für die blutbefleckte Bluse gebracht hat. Wir haben alle nur irgend in Frage kommenden Geschäfte nach dieser Morgenjacke, die uns die Stationsschwester sehr genau beschreiben konnte, angeklingelt. Vor einer halben Stunde erst erhielt ich die Nachricht, daß wir auch in diesem Punkte Erfolg gehabt haben. Das Kleidungsstück hat nach unseren Feststellungen derselbe Mann, der es im Warenhause Wertheim kaufte, auch im Krankenhause abgegeben. –
So, das wäre alles! Rechnen wir zusammen, so haben wir es also mit insgesamt sechs verschiedenen Personen zu tun, die bei dieser Entführung, soweit uns bekannt, mitgewirkt haben. Es handelt sich mithin tatsächlich um eine reine Verschwörung, die mit anerkennenswerter Schlauheit zum Zwecke der Entführung Ihrer Tochter angezettelt worden ist.“
Meizenberg machte eine Pause und wies auf den mit Notizen bedeckten Bogen Papier hin.
„Hier ist der ganze Erfolg unserer polizeilichen Ermittlungen aufgezeichnet,“ meinte er ärgerlich. „Was nützt das alles, wenn die Hauptsache fehlt …! Und diese Hauptsache ist der jetzige Aufenthaltsort Ihrer Tochter.“
„Unglaublich ist das alles – mehr als wunderbar!“ sagte Max Rötler in einem Ton, der deutlich verriet, wie sehr ihn diese geheimnisvolle Art der Entführung seines Adoptivkindes gleichzeitig erschreckte und ihn in Erstaunen setzte.
Der Kriminalkommissar ging jetzt einem anderen Gedanken nach. Er nickte daher nur zerstreut und überlegte, wie er Max Rötler eine kleine Falle stellen könne. Dieser hatte ihn ja zweifellos hinsichtlich seiner Tochter Herrenbekanntschaften grob angelogen, da auch Erkundigungen bei noch einigen in der Nähe des Rötlerschen Hauses wohnenden Personen ergeben hatten, daß das junge Mädchen tatsächlich wegen ihrer Unnahbarkeit beinahe bespöttelt wurde und noch nie in Begleitung eines Herrn gesehen worden war. Daß der Kommissionär mit dieser Herabsetzung der moralischen Eigenschaften seiner Tochter damals bei der Rücksprache wegen des Überfalles im Tiergarten einen ganz bestimmten Zweck verfolgt hatte, unterlag für Meizenberg keinem Zweifel. Welcher Zweck dies aber gewesen sein könne, vermochte der Kommissar nicht zu ergründen. Jetzt hielt er die Gelegenheit für günstig den Versuch zu machen, Rötler in Widersprüche zu verwickeln. Und so fragte er denn mit einer gewissen Bestimmtheit, als glaube er fest an seine Worte:
„Nur ein reicher Liebhaber kann diesen ganzen, kostspieligen Entführungsapparat ins Werk gesetzt haben, Herr Rötler. Suchen wir also nach diesem Manne gemeinsam.“
Dem Kommissionär, der gerade mit starkem Furchtgefühl sich nochmals vergegenwärtigt hatte, daß zum mindesten sechs verschiedene Leute zu Ernas Verschwinden ihr Teil beigetragen hatten, war Meizenbergs Hinweis auf einen reichen Verehrer nur halb zum Bewußtsein gekommen. Und beinahe ärgerlich über diesen Verdacht, dessen Lächerlichkeit er selbst am besten kannte, und über die Störung seiner grüblerischen Gedankenreihe entfuhr es ihm unwillkürlich:
„Liebhaber!! – Erna?! Da kennen Sie das Mädchen schlecht.“
Meizenberg triumphierte. Aber er ließ sich nichts anmerken. Im Gegenteil – um Rötler nicht erkennen zu lassen, welch auffallender Widerspruch diesem soeben entschlüpft war, sagte er ebenso lebhaften Tones:
„Dann muß hier irgend ein Geheimnis mitspielen, – vielleicht etwas, das bis in die Kindertage Ihrer Adoptivtochter zurückgreift.“
Der Kommissar, der diese Äußerung eigentlich nur getan hatte, um das Gespräch schnell über den einen Punkt hinweggleiten zu lassen, war aufs höchste überrascht über die auffällige Wirkung, die seine Worte hervorbrachten.
Max Rötlers Gesicht, das soeben noch blaß und übernächtigt ausgesehen hatte, überflog plötzlich helle Röte. Infolge der Aufregungen, der stillen Furcht um das Scheitern seiner Pläne und der ihn innerlich verzehrenden Wut war er heute nicht im Vollbesitze seiner sonstigen Selbstbeherrschung und Verstellungskunst. Seine Augen ruhten mit dem Ausdruck größten Schreckens auf dem leidenschaftslosen Antlitz des Kommissars, während seine Hände in nervösem Spiel auf der Tischplatte hin und herfuhren. Dann preßte er mit einem Versuch zu lächeln mühsam hervor:
„Geheimnis …?! Aber – aber, ich denke, wir haben hier schon mit genug Geheimnissen zu tun! Ernas Vergangenheit kenne ich genau. Etwas prosaischeres, alltäglicheres wie ihre Lebensgeschichte gibt es kaum.“
Meizenberg wußte Bescheid. Aber gleichmütig wie vorher sagte er: „Wo in aller Welt sollen wir Ihre Tochter denn nur suchen?! Und wie sollen wir es tun?! Ich bin mit meiner Weisheit zu Ende. Die sechs Leute, die bei der Entführung mitgewirkt haben, nach den mir zur Verfügung stehenden Personalbeschreibungen aufspüren zu wollen, hieße Stecknadeln in einem Heuschober suchen! Das Einzige bleibt eine Anzeige in allen Berliner Zeitungen, in der demjenigen eine Belohnung von …, – na, wieviel legen Sie für diesen Zweck an, Herr Rötler? …“
„Dreihundert Mark, – nein, fünfhundert!“
„Gut – also eine Belohnung von fünfhundert Mark zugesichert wird, der anzugeben vermag, wo ein Taxameterauto, dunkelblau gestrichen mit einem breiten Goldstreifen auf beiden Seiten, am so und sovielten des Monats eine junge Dame, die von dem Chauffeur und einem zweiten Manne als krank beim Aussteigen gestützt werden mußte, abgesetzt hat. Mitteilungen an Max Rötler, Berlin N., Müllerstraße.“
„Eine sehr gute Idee, Herr Meizenberg, sehr gut, wirklich,“ meinte der Kommissionär eifrig und offenbar schon wieder etwas hoffnungsfreudiger. „Ich werde gleich morgen diese Anzeige einrücken lassen.“
Gleich darauf verabschiedete Max Rötler sich. –
Kaum hatte er den Raum verlassen und die Tür hinter sich ins Schloß gezogen, als der Kommissar auch schon die Wache des Polizeipräsidiums telephonisch anrief, mit der er direkte Verbindung hatte.
„Sofort jemand hinter dem Manne her, der mich soeben verlassen hat. Trägt Spazierstock mit silbernem, breitem Ring und Elfenbeinkrücke. – Verstanden? – Gut. Schluß!“
Der Grund, weswegen Meizenberg den Vater Ernas für einige Zeit beobachten lassen wollte, war ein doppelter. Hatte ihn schon die Lüge Rötlers hinsichtlich der Herrenbekanntschaften des jungen Mädchens stutzig gemacht, – eine Lüge, die heute ja noch deutlicher offenbar geworden war, so mußte ihm das sichtliche Zusammenschrecken des Kommissionärs bei der Erwähnung eines vielleicht in Ernas Vergangenheit zu suchenden Geheimnisses diesen Mann geradezu verdächtig erscheinen lassen. Meizenberg hatte jetzt das bestimmte Gefühl, daß tatsächlich mit der Person des jungen Mädchens irgend welche Vorgänge innig verknüpft sein müßten, deren Bekanntwerden Max Rötler ohne Zweifel fürchtete. Und diese Annahme genügte dem gewissenhaften Beamten, auch diese Dinge schleunigst aufklären zu lassen, zumal er jetzt des Kommissionärs übergroße Angst um den Verbleib seiner Adoptivtochter ganz anderen, ihm freilich noch unbekannten Ursachen zuzuschreiben zu müssen glaubte. – – –
So kam es, daß zwei Personen sich an diesem Abend eifrig bemühten, möglichst in der Nähe des Tisches im Wartesaal 3. Klasse des Friedrichstraßen Bahnhofs, an dem Rötler und Eduard Schalitzer Platz genommen hatten, einen leeren Stuhl zu finden.
Karl Ermich, dem ein derartiges Belauern von zwei Menschen doch noch einige Schwierigkeiten bereitete, mußte wohl dem von Meizenberg ausgeschickten Kriminalbeamten bei seinem Bestreben, etwas von dem Gespräch der beiden dunklen Ehrenmänner zu erlauschen, irgendwie aufgefallen sein, denn dieser beorderte ganz heimlich durch den Fernsprecher von der nächsten Polizeiwache noch einen Kollegen herbei, den er durch ein zwischen ihnen verabredetes Zeichen auf den Gärtnerburschen aufmerksam machte.
Die Folge war, daß beim Aufbruch Rötlers und Schalitzers auch Karl Ermich einen Verfolger hatte, der ihm hartnäckig auf den Fersen blieb.
Die beiden fragwürdigen Ehrenmänner bummelten, nachdem sie den Wartesaal verlassen hatten, die Friedrichstraße bis zu den Linden hinunter, blieben hier noch einen Augenblick stehen und trennten sich dann. Karl Ermich stand wenige Schritte von ihnen entfernt neben dem Verkaufsständer eines Zeitungshändlers, während die beiden Kriminalbeamten wieder aus nächster Nähe – bei dem überaus lebhaften Verkehr brauchten sie ja nicht zu fürchten aufzufallen – die drei Personen im Auge behielten.
Einer der Beamten, es war der, dem Meizenberg dem Kommissionär nachgeschickt hatte, sagte soeben leise zu seinem Kollegen:
„Vielleicht empfiehlt es sich, daß wir uns trennen, Ahlert. Sie könnten dem Manne nachgehen, der mit Rötler das Stelldichein im Wartesaal verabredet hatte. Ich wieder werde den Rötler weiterbeobachten, dem der junge Bursche da folgen zu wollen scheint. So erfahren wir vielleicht, wer die beiden anderen sind. – Guten Abend. Wir müssen uns beeilen, sonst verschwinden die Leute uns. Um zwölf treffen wir uns dann bei Miller in der Französischen Straße.“
Karl Ermich blieb dem Kommissionär getreulich auf den Fersen, bis dieser in seinem Hause in der Müllerstraße die Haustür hinter sich abschloß. Damit war die Aufgabe des Gärtners für heute erledigt, und er begab sich in das von ihm in der Nähe gemietete möblierte Zimmer, um schnell noch einen Blick in den Annoncenteil des Berliner Anzeigers zu werfen, den er noch nicht durchgesehen hatte. Mußte er doch damit rechnen, daß ein Befehl des ‚Herrn‘ die Mitglieder des Bundes oder doch einzelne von ihnen zusammenrief. War dies nicht der Fall, so wollte er sich zur Ruhe begeben, da die Jagd des heutigen Tages ihn reichlich müde gemacht hatte. Als er dann den Annoncenteil des Morgenblattes überflog, fand er tatsächlich die bewußte Anzeige darin. Er schaute nach der Uhr. Zehn Minuten nach elf war’s. Mithin tat Eile not, wenn er noch rechtzeitig nach der Albrechtstraße in Schöneberg kommen wollte.
So löschte er die Lampe denn wieder aus und verließ die neue Mietskaserne, in der er für die Tage seines angeblichen Urlaubs Unterkunft gefunden hatte. Als er auf die Straße hinaustrat, stand der Kriminalbeamte noch unter der dem Haupteingang gerade gegenüberstehenden Laterne und trug in sein Notizbuch die Hausnummer und auch das Stockwerk ein, in dem er zwei Fenster der linken Seite kurz nach dem Verschwinden des von ihm verfolgten jungen Menschen hatte hell werden sehen.
Karl Ermichs Blicke fielen in der menschenleeren Straße notwendig sofort auf diesen Mann, der bei seinem plötzlichen Erscheinen mit dem Kopfe hochfuhr, dann aber mit scheinbarer Gleichgültigkeit eifrig weiterschrieb. Der Gärtnerbursche, dem wie allen Mitgliedern des Bundes von dem ‚Herrn‘ größte Aufmerksamkeit und Vorsicht eingeschärft worden waren, erkannte sofort in dem Menschen unter der Laterne denselben Besucher des Wartesaales wieder, der gleichzeitig mit ihm an einem dem der beiden fragwürdigen Ehrenmänner benachbarten Tische gesessen hatte. Vielleicht wäre ihm diese beunruhigende Beobachtung nicht möglich gewesen, wenn jener Mann nicht eine so auffallend gerötete Nase gehabt hätte. Diese Nase wurde für den Kriminalbeamten zur Verräterin.
Karl Ermich war leicht zusammengezuckt, schloß aber ohne Hast die Haustür ab und schritt der nächsten Haltestelle der Elektrischen zu. Hier steckte er sich, den völlig Harmlosen spielend, eine Zigarre an und bestieg dann die Straßenbahn. Um jeden Preis mußte er sich nun Gewißheit verschaffen, ob er tatsächlich verfolgt wurde. Trotzdem drehte er sich in der Elektrischen nicht ein einziges Mal um, sondern las scheinbar eifrig seine Zeitung. Scheinbar! In Wirklichkeit entwarf er einen Plan, wie er, ohne daß man es merkte, sich überzeugen konnte, ob seine Vermutung zutraf.
So verließ er denn am Stettiner Bahnhof die Straßenbahn und rief ein gerade leer vorüberkommendes Auto an, das in der Rückwand ein kleines Fenster hatte, wovon er sich vorher durch einen schnellen Blick überzeugte. Dem Chauffeur nannte er eine Straße in der Nähe des bewußten Papiergeschäfts in Schöneberg. Das Fensterchen ermöglichte es ihm genau festzustellen, ob ein anderes Auto dem seinen folgte. Da die lange Fahrt zum Teil durch die stillen Straßen des Berliner Westens führte, wo ein ihm auf den Fersen bleibender Kraftwagen ihm unbedingt aufgefallen wäre, atmete er bald erleichtert auf. Hatte der Mann mit der roten Nase tatsächlich für ihn ein besonderes Interesse gehabt, so war dieses jedenfalls nicht stark genug gewesen, den Menschen zu veranlassen, auch jetzt noch ihm nachzueilen.
Zu Fuß begab er sich dann nach dem kleinen Hause, nachdem er noch einige Minuten gewartet hatte, bis auch seine Zeit zum Betreten des Versammlungsraumes gekommen war. Erst dicht vor der Haustür zog er die Maske aus der Innentasche seiner Weste hervor, befestigte sie vor dem Gesicht und schlüpfte in den Flur.
In dem gedielten, mit grauer Ölfarbe gestrichenen Kellerraum brannte wie immer bei den Zusammenkünften des Bundes die große Petroleumhängelampe und warf ihr rötliches Licht auf die zwölf Männer, die schweigend und doch jetzt schon mit unbefangener Sicherheit um den Tisch herum saßen und auf das Erscheinen ihres unbekannten, geheimnisvollen Gebieters warteten.
Dann das leise Schnappen eines Schlosses, und die eiserne Tür tat sich auf. Mit einer leichten Verneigung und würdevollen Handbewegung begrüßte der ‚Herr‘ seine Genossen.
„Freunde,“ begann er darauf, nachdem er schnell die Anwesenheit der zwölf Mitglieder festgestellt hatte, „ich habe Euch meinen Dank auszusprechen für die Dienste, die Ihr einer guten Sache in den letzten Tagen geleistet habt. Es wurde mir von Euch der Beweis erbracht, daß ein großer Teil meiner Befehle jetzt schon auf das gewissenhafteste ausgeführt ist. Diejenigen von Euch, die mir schriftlich Bericht über ihre Tätigkeit einreichen sollten, mögen dies jetzt tun, wenn sie ihre Aufzeichnungen mithaben. Andernfalls schreibe mir ein jeder das Notwendige auf. Papier und Bleistifte habe ich mitgebracht. Wer sehr wichtiges mitzuteilen hat, bleibe zum Schluß noch hier.“
Zwei der Maskierten reichten dem ‚Herrn‘ darauf wortlos zusammengefaltete Zettel hin, während zwei andere ebenso wortlos sich Papier und Bleistift holten. Unter den beiden letzteren befand sich auch Nummer 4, – Karl Ermich.
Nun war es für eine gute Viertelstunde fast totenstill in dem Versammlungsraum. Während die meisten Mitglieder schweigend, in ihre Stühle zurückgelehnt, dasaßen, und nur zwei eifrig schrieben, las der ‚Herr‘ die ihm ausgehändigten Zettel durch. Als dann auch die beiden Schreibenden mit ihrer Arbeit fertig waren und ihre Berichte abgeliefert hatten, begann er wieder:
„Morgen im Laufe des Tages werden einigen von Euch neue Befehle, die wieder genaueste Verhaltungsmaßregeln enthalten, zugehen. Als Zeichen meiner Anerkennung will ich jedem heute fünfzig Mark aushändigen. Geht nicht leichtsinnig mit diesen Gaben, die ich Euch zukommen lassen kann, um. Denkt an Zeiten der Not und spart einen Teil. – Hier sind die zwölf Fünfzigmarkscheine. – Und nun noch eine allgemeine Anweisung. Sollte einer mir eine sehr dringende Mitteilung zustellen wollen, so ist diese in dem Papiergeschäft wie üblich einzureichen, aber mit der Aufschrift ‚sehr eilig‘ zu versehen. Es könnte ja immerhin der Fall eintreten, daß eine umgehende Nachricht an mich durch besondere Umstände erforderlich erscheint. – So, und nun geht. – Gute Nacht, Freunde! Auf Wiedersehen!“
Während die Vermummten in Abständen wie immer das Haus verließen, las der ‚Herr‘ die beiden ihm zuletzt überreichten Zettel durch. Besonders wichtig erschienen ihm die von Nummer 4 eingegangenen Mitteilungen zu sein. Lange schaute er auf die Zeilen hin wie gebannt. Hätte jemand sein Gesicht sehen können, so wäre darin sicher ein Ausdruck leichten Unbehagens und aufsteigender Besorgnis bemerkt worden.
Nun befand er sich nur noch mit Fritz Mersche allein in dem Raum.
„Ich habe mit dir noch einiges zu besprechen,“ sagte er nachdenklich. „Zunächst wirst du, sofern ein Brief mit der Aufschrift ‚sehr eilig‘ eingeht, durch das Bodenfenster am Ostgiebel eine Stange herausstecken, die weiß gestrichen sein muß. Der dringende Brief wird dann abgeholt werden. Derjenige, der ihn abholt, muß sich dir gegenüber durch ein in einem geschlossenen Umschlag steckendes Blatt ausweisen, auf das unser Geheimzeichen aufgedruckt ist. –
Das wäre das Eine. –
Nun zu einer Sache, die mir recht bedenklich erscheint. Soeben hat einer von uns mir berichtet, daß er den Eindruck gewonnen hat, von einem Unbekannten heimlich eine Weile verfolgt worden zu sein. Dies mahnt zur Vorsicht. Unsere bisherigen Sicherheitsmaßregeln genügen nicht mehr. Fortan wirst du also, sobald ich diesen oder jenen oder aber alle Mitglieder zusammenrufe, von einem Vorderfenster deiner Wohnung aus die Straße unauffällig beobachten. Was dir mitgeteilt werden muß, sage ich dir dann später, wenn die anderen fort sind. Und – sei wachsam und halte die Augen offen. Die geheimnisvolle Macht, die wir ausüben, darf durch nichts gestört werden. Bemerkst du etwas Verdächtiges, so teilst du es mir umgehend auf dieselbe Weise, wie ich vorhin befahl, mit.“ –
*
Der Kriminalbeamte, der dem Kommissionär und dem jungen Gärtner heimlich gefolgt und sich dann die Wohnung des Letzteren notiert hatte, traf sich wie verabredet mit seinem Kollegen um zwölf Uhr nachts wieder in einem kleinen Wirtshaus in der Französischen Straße. Beide konnten mit dem Erfolge ihrer Tätigkeit zufrieden sein. Hatte doch der Kriminalschutzmann Ahlert, der hinter Eduard Schalitzer her gewesen war, dessen Wohnung gleichfalls auf diese Weise ermittelt.
„Auch den Namen des Mannes habe ich herausgebracht,“ erklärte er seinem Kollegen Bork im Laufe der Unterhaltung. „Ich traf den Schließer, der auch die Heikermannstraße in seinem Revier hat, und der wußte mir der Beschreibung nach den Namen dieses Bekannten des Rötler anzugeben. Eduard Schalitzer heißt der Mensch.“
„Hm – Schalitzer – Schalitzer?!“ meinte Bork nachdenklich. „Den sollte ich doch kennen. – Halt – nun hab’ ich’s! Das ist ja der berüchtigte Wechselschieber, der auch auf anderen Gebieten rege arbeitet, jedoch ebenso schwer zu fassen ist wie der Max Rötler. Wenn ich mich recht besinne, hat der Schalitzer vor nicht allzu langer Zeit in Plötzensee ein paar Monate abgemacht. – Das ist dann ja also ein feines Zweigespann, diese beiden.“ –
Der Beamte schwieg eine Weile, um dann fortzufahren: „Wer weiß, weswegen Kommissar Meizenberg mich hinter diesem Menschen hergeschickt hat? Ob das vielleicht mit dem Raubüberfall auf die Erna Rötler und mit deren Verschwinden etwas zu tun hat? Wissen kann man’s nicht! Na – morgen früh um sieben werde ich Meizenberg über unsere heutige Tätigkeit Bericht erstatten. Dann wird er mir ja wohl mitteilen, worum es sich handelt. Nebenbei bemerkt – diese Entführung des jungen Fräuleins ist ein feines Stückchen gewesen. Dabei waren Leute beschäftigt, die wie die Puppen bei einem künstlerischen Marionettentheater hin und herbewegt wurden, so sicher und zielbewußt. Wir Geheimen vom Präsidium besprachen noch heute Abend die Geschichte. –
Wollen gehen. Es ist spät geworden. Auf dem Heimwege erzähle ich Ihnen genaueres, Ahlert.“
Morgens, um sieben Uhr stellte sich der Kriminalschutzmann Bork bei seinem Vorgesetzten ein und erzählte diesem alles Nötige. – Meizenberg hörte mit sichtlicher Spannung zu und fragte zum Schluß:
„Von dem Gespräch Rötlers und Schalitzers haben Sie also so gut wie nichts verstanden? – Schade!“
„In dem Wartesaal ging es zu lebhaft her. Bei dem ewigen Gehen und Kommen der Leute habe ich selbst mit meinem sehr feinen Gehör nur einzelne Brocken der Unterhaltung zwischen den beiden aufgeschnappt. Ich merkte aber, daß sie recht erregt waren. Auch glaube ich, daß sie das Verschwinden des Fräulein Rötler besprachen. So hörte ich zum Beispiel folgende Worte des Kommissionärs … ‚jetzt, wo Erna weg ist, wird aus dem ganzen schönen Plan nichts werden.‘ Auch das weitere Gespräch hat sich dann wohl um denselben Gegenstand gedreht. Wenigstens sagte der Schalitzer einmal, mit wütendem Gesicht ‚Wir müssen sie finden! Und die Polizei …‘ – Das weitere entging mir wieder.“
Meizenberg schüttelte ungeduldig den Kopf. „Ich werde aus der ganzen Sache nicht klug. Irgend etwas spielt bei dieser Entführung noch mit, das der Rötler uns verheimlicht. Mir erzählte der Mensch, daß seine Tochter schnell bereit sei Herrenbekanntschaften zu machen, was fraglos glatt gelogen ist. Ich möchte jetzt beinahe annehmen, daß Rötler mich durch diese Angaben hat absichtlich auf eine falsche Fährte lenken wollen, was die Person des Messerstechers anbetrifft. – Aber wozu nur diese Irreführung? Wozu?!“
Wieder schaute der Kommissar grübelnd vor sich hin. Dann sagte er kurz: „Lassen wir das jetzt. Sie werden sich noch einen Kollegen mitnehmen und sowohl Rötler wie auch den anderen Menschen, der dem Kommissionär nachschlich, scharf unter Bewachung stellen. Vergessen Sie aber nicht, Bork, daß der heimliche Verfolger Rötlers Sie vielleicht wiedererkannt hat. Sie sagen ja selbst, daß er gestern Nacht, als er Sie unter der Laterne erblickte, offenbar erschreckt zusammenfuhr.“ – –
*
Der Kriminalschutzmann Bork, der zusammen mit einem zweiten Beamten das Haus in der Müllerstraße hatte beobachten sollen, mußte sich von diesem infolge besonderer Umstände sehr bald trennen. Sein Kollege hatte dann einen Erfolg gehabt, der wertvoll genug erschien, um dem Kommissar sofort davon Nachricht zu geben. So fand Meizenberg denn diesen Beamten seiner harrend vor als er zurückkehrte.
„Sehr bald nachdem wir,“ so berichtete der Geheimpolizist, „als Straßenreiniger verkleidet unseren Posten in der Nähe des Hauses in der Müllerstraße bezogen hatten, erschien unser Mann mit einem bescheidenen Reisekoffer in der Hand und begab sich zu der nahen Haltestelle der Straßenbahn. Schnell vereinbarten wir nun das Nötige. Bork wollte dem Mann auf den Fersen bleiben, während ich im Hause selbst mein Glück versuchen sollte. Als die Elektrische Bork und den jungen Menschen nach der Stadt zu entführt hatte, begab ich mich in die zweite Etage und läutete linker Hand an, wo ja der Fremde dem beleuchteten Fenster nach sehr wahrscheinlich wohnte. Die Vermieterin, der gegenüber ich mich als Beamter auswies und der ich tiefstes Schweigen zur Pflicht machte, gab mir die Auskunft, daß der Mieter soeben sein Zimmer, das er nur vier Tage innegehabt hätte, geräumt habe. Er hätte Friedrich Weber geheißen und sei ein Kaufmann aus Pommern gewesen. Während wir noch im Flur miteinander sprachen, erschien ein Postbote, der für Friedrich Weber einen Rohrpostbrief abzugeben hatte. Schon wollte die Frau dem Beamten mitteilen, daß ihr Mieter bereits ausgezogen sei, als ich mich einmischte und bedeutete, ich würde den Brief in Webers Zimmer legen. Diese List gelang. Natürlich nahm ich nachher den Rohrpostbrief an mich und ging davon, nachdem ich die Frau nochmals energisch vor jedem unbedachten Wort gewarnt hatte. – Hier ist der Brief, Herr Kommissar.“
Meizenberg beschaute sich zunächst die Adresse. Sie war mit auffallend schräg stehenden Buchstaben geschrieben.
Der Inhalt des Umschlages bestand in einem graublauen Quartblatt, das zweimal zusammengefaltet war. Als der Kommissar das Papier glatt gestrichen hatte, entfuhr ihm unwillkürlich ein Ausruf der Überraschung. Den mit Maschine geschriebenen zwei Zeilen schenkte er erst einmal keine Beachtung. Seine Blicke ruhten nur wie gebannt auf einem Viereck, das in den Ecken die Zahl 13 und in der Mitte ein offenes menschliches Auge zeigte.
Erst nach einer Weile ungläubigen Staunens las er dann auch die beiden Zeilen.
„Größte Vorsicht, 4! Haus in der Müllerstraße wird vielleicht nach gestrigen Vorgängen von Polizei überwacht.“ – Darunter stand sozusagen als Unterschrift das merkwürdige Zeichen.
Meizenberg pfiff leise durch die Zähne.
„Das heißt Glück haben!“ meinte er. „Wenn mich nicht alles täuscht, stehen wir jetzt vor Entdeckungen von einer noch gar nicht zu überschauenden Tragweite. Ich wünschte nur, daß Bork ebenfalls einen derartigen Erfolg mit heimbrächte!“
Dann entließ er den Geheimpolizisten, nachdem er ihn für seine heute bewiesene Umsicht belobigt hatte.
Aber der Nachmittag verging, ohne daß von Bork irgend eine Nachricht einlief oder er selbst erschienen wäre. Geduldig wartete Meizenberg in seinem Bureau. Jetzt, wo ihn der Jagdeifer gepackt hatte, vergaß er wie schon so oft Essen und Trinken. So wurde es neun Uhr abends bis er gewahr wurde daß der Hunger ihn quälte. Bis halb zehn wollte er jedoch noch bleiben und dann in ein nahes Restaurant gehen, wo er schnell zu erreichen war. Da – Meizenberg hatte den Hut schon in der Hand – öffnete sich nach flüchtigem Klopfen die Tür und Bork trat ein.
„Endlich!“ rief der Kommissar und warf den Hut auf den nächsten Stuhl. „Nun – was bringen Sie?“ fügte er hastig hinzu.
Der Geheimpolizist, der schon wieder einen gutsitzenden Zivilanzug trug, lächelte vielsagend.
„So mancherlei, Herr Kommissar.“
„Wo ist der Mann geblieben, den Sie verfolgten, – der Mann mit dem Koffer?“
„Dort, wo er hingehört, – Gutzeitstraße 9. Er ist Gärtnerbursche bei dem Millionär Erwin Heider und heißt Karl Ermich.“
„Ist das ganz sicher?“
„Unbedingt! – Wenn Sie gestatten, Herr Kommissar, erzähle ich alles im Zusammenhang. – Der Mann mit dem Koffer begab sich auf den Stettiner Bahnhof, wo er in der Aufbewahrungsstelle für Handgepäck seinen Koffer ablieferte. Dann kehrte er sofort nach der Müllerstraße zurück und setzte sich auf einen Platz dicht hinter das Straßenfenster einer kleinen Kneipe, die dem Hause Rötlers gegenüberliegt. So konnte er unauffällig beobachten, wer bei dem Kommissionär aus- und einging. Gegen elf Uhr vormittags erschien Rötler wirklich und fuhr mit der Straßenbahn nach der Stadt. Hier suchte er nacheinander die Annoncenannahmestellen unserer vier bedeutendsten Tageszeitungen auf. Wir beide – der junge Mensch und ich – blieben stets hinter ihm, ohne daß ersterer etwas von mir gewahr wurde beziehungsweise Rötler von uns etwas merkte. Darauf kehrte der Kommissionär, der einen sehr niedergeschlagenen Eindruck machte, nach Hause zurück. Der Mann mit dem Koffer aber bezog wiederum seinen Beobachtungsposten in der Kneipe, wo auch ich zu Mittag aß. Bis zum Abend ereignete sich nun nichts mehr von Wichtigkeit. Mir wurde die Zeit schon recht lang, da ich gezwungen war, meistenteils auf der Straße wartend auf- und abzugehen. Dann verließ der junge Mensch das kleine Restaurant, holte seinen Koffer vom Stettiner Bahnhof ab und begab sich, wobei er mehrmals allerlei Tricks anwandte, um Verfolger von seiner Spur abzulenken, nach der Gutzeitstraße Nr. 9. Bevor er dieses Haus betrat, begrüßte er noch die Verwalterin einer Meiereifiliale – ein junges, sehr appetitlich aussehendes Mädchen, das ihn sehr gut zu kennen schien. Die Meierei liegt nur vier Häuser vor Nr. 9 entfernt. Und deren Verwalterin war es denn auch, die mir, als ich ein Stück Käse kurz vor Ladenschluß erstand, auf meine unauffälligen Fragen jede gewünschte Auskunft gab. In meinem Straßenkehrerkostüm kam ich ihr sicher ganz echt und ebenso harmlos, nur etwas neugierig vor, was ich damit entschuldigte, daß ich erst seit heute in diesem Bezirk beschäftigt sei. Und da wolle man doch gern erfahren, was man von den Bewohnern zu halten habe.
Wir wissen also nun, daß der junge Mensch Gärtnerbursche bei einem Millionär ist, in dessen Haus er auch wohnt und – wie mir die Meierin gleichfalls redselig erzählte – soeben von einer Reise nach Rathenow zurückgekehrt sein will. – So, das wäre alles, Herr Kommissar.“
Meizenberg überlegte kurze Zeit.
„Wir werden in diesem Falle, wo es sich doch nach dem Stempel zu urteilen, der hier in diesen beiden Benachrichtigungen wiederkehrt, um einen geheimen Verbrecherklub handeln dürfte, wofür ja auch in diesem Rohrpostbrief die Zahl 4 spricht, die doch fraglos jenen Karl Ermich bezeichnen soll, mit der allergrößten Vorsicht und ohne jede Überstürzung vorgehen müssen. Zunächst haben Sie, Bork, also abwechselnd mit einem Kollegen den Gärtner weiter zu überwachen, damit wir genau erfahren, was er tut und treibt und mit wem und wo er verkehrt. Auf diese Weise muß er uns ja auf die Spur weiterer Mitglieder der Verbrecherbande bringen. – Aber, Bork, – die Augen offen halten! Wir haben es hier mit sicherlich sehr verschlagenen Gaunern zu tun.“
Drei Tage später war’s an einem sonnenklaren, warmen Nachmittag. – Franz Balwing, der treue Diener des jungen Millionärs, stand an einem Vorderfenster des ersten Stockwerkes hinter den zugezogenen, aber durchsichtigen Vorhängen und schaute angestrengt auf die Straße hinab. Nach einer Weile zog er sich sogar einen Stuhl herbei und setzte sich, ohne auch nur einen Augenblick seine Augen anderswohin zu wenden.
Wieder vergingen gut fünf Minuten. Da erhob er sich plötzlich und griff nach dem bereits eingestellten Fernglase, das er sich an dem Riemen um den Hals gehängt hatte, und blickte weit vorgebeugt mit gespanntester Aufmerksamkeit hindurch. Als er das Glas sinken ließ, entrang sich ein tiefer Seufzer seiner Brust.
„Was tue ich nur – was tue ich nur?!“ murmelte er hilf- und ratlos vor sich hin. „Das hat etwas Schlimmes zu bedeuten – ohne Frage! Wenn ich nur einen einzigen Menschen hätte, dem ich mich anvertrauen, den ich um Rat fragen könnte! Ich ahne das Unheil ja voraus! – Gehe ich jetzt zu meinem Herrn, um ihn zu warnen, so lacht er mich aus, leugnet alles ab! – Was tue ich nur …?!“
Zusammengesunken saß der alte Mann auf seinem Stuhl da, die Hände zwischen den Knien gefaltet, und stierte vor sich hin. Dann hob er mit einem Male den Kopf. „Ja, so muß es gehen,“ sprach er leise. „Dort wird er mir nicht ausweichen können, – dort nicht! Und selbst auf die Gefahr hin, daß er mich entläßt, wage ich’s! Mir bleibt ja nichts anderes übrig.“
Leise verließ er das Zimmer. Auf der Treppe aber begegnete er seinem Herrn, der vergnügt pfeifend die Stufen emporsprang.
„Franz,“ rief er, vor ihm stehen bleibend, „der Kandelaberkaktus beginnt zu blühen, – denken Sie sich!“ Da fiel sein Blick auf das Fernglas. „Na nun, Franz, – wozu schleppen Sie sich mit dem Ding herum?! Wollen Sie Astronom spielen – am Tage!“ scherzte er.
Aber Franz Balwing schaute seinen jungen Gebieter nur halb traurig, halb vorwurfsvoll an.
„Am Himmel suchen meine alten Augen nichts – aber unten auf der Straße!“ sagte er leise. „Da gibt’s jetzt oft was zu sehen!“
Damit schritt er weiter und verschwand um die Treppenbiegung.
Erwin Heider schüttelte mehr belustigt wie ärgerlich den Kopf. „Was hat der Alte nur?! Ein Gesicht machte er wie ein altrömischer Weissager, der in den Eingeweiden der Tiere oder im Flug der Vögel schlimme Anzeichen entdeckt hat. – Komischer Kauz, mein Franz!“ – Und pfeifend setzte er seinen Weg fort. – –
Am Abend desselben Tages gegen halb neun Uhr bat Karl Ermich den alten Diener, der gleichzeitig die Rolle eines Hausmeisters vertrat, um den Hausschlüssel.
„Wir haben heute Übungsabend in unserem Gesangverein,“ sagte er bescheiden. „Und anschließend geselliges Beisammensein. Da wird es etwas spät werden.“
Franz Balwing schaute ihn so seltsam forschend und durchdringend an, daß der Gärtner scheu die Augen senkte.
„Gesangverein – so, so! Eigentlich könnten Sie mich mal mitnehmen, Karl. Ich liebe Musik sehr. Früher, als ich noch Couleurdiener bei meinen Studenten war, da habe ich viel singen gehört.“
„Sehr gern, Herr Balwing, – sehr gern führe ich Sie ein,“ beeilte Ermich sich zu erklären. „Nur heute geht es nicht. Es ist nämlich … hm – ja – nämlich auch noch Vorstandssitzung.“
Der Alte wußte genug. – „Es eilt ja auch nicht,“ meinte er harmlos. „So – und hier ist der Schlüssel. Viel Vergnügen!“ –
Der junge Gärtner aber lenkte seine Schritte nach einem nicht allzu weit entfernten Restaurant, wo er häufiger verkehrte, um dort die Stunden bis Mitternacht beim Billardspiel, das er mit Eifer betrieb, zuzubringen.
Gegen halb elf war es, als er einmal den Waschraum betrat, um die von der Kreide allzu sehr beschmutzten Hände zu reinigen. Da kam ihm der Wirt der Kneipe nach, schaute sich vorsichtig um und flüsterte ihm zu:
„Hören Sie mal, Herr Ermich, haben Sie etwa was auf dem Kerbholz? Denn vorgestern schon fiel mir ein Mann auf, der kurz nach Ihnen erschien und dann auch kurz nach Ihnen wieder ging. Jetzt ist nun wieder so ein Mensch da, der ein verkleideter Geheimpolizist sein muß, – darauf gehe ich jede Wette ein! Wir Kneipenwirte hier in Berlin haben dafür ein Auge. – Ja – na, um’s kurz zu sagen –, wenn Sie kein ganz reines Gewissen haben, so … so … Ich möchte nicht gern mit der Polizei was zu tun haben. Bei mir verkehren nur achtbare Leute. Ich weiß ja, Sie sind bei dem Millionär Heider in Stellung. Aber auch das gibt mir keine Sicherheit, und …“
Ermich unterbrach ihn. Die helle Röte war ihm ins Gesicht geschossen.
„Sparen Sie sich alle weiteren Worte. Sie sind ja ein überaus vorsichtiger Herr! – Ich werde Sie nicht wieder mit meiner Anwesenheit belästigen.“
Der Wirt wollte ihn beschwichtigen, aber Ermich ließ sich auf nichts ein. Hauptsächlich war es jedoch die Unruhe, die ihn forttrieb. Die Mitteilung des Wirtes hatte seinen Herzschlag für einen Augenblick stocken gemacht. – Also wieder war ein Verfolger hinter ihm her … Und er hatte so bestimmt gehofft, die Spione damals bei seiner Rückkehr nach der Gutzeitstraße endgültig irregeführt zu haben. –
Trotz dieser Gedanken handelte er jedoch völlig zielbewußt. Er spielte erst die Partie Billard zu Ende, beglich seine Zeche und verließ, sogar dem Wirt einen guten Abend wünschend, das Lokal. Langsam schlenderte er dann die Straße hinab und überlegte. Der Bund sollte sich heute versammeln. Da mußte er also den Verfolger unbedingt abschütteln. Noch hatte er fast eine Stunde dazu Zeit. Zunächst aber hieß es sich Gewißheit darüber verschaffen, ob wirklich jemand ihn ständig beobachtete.
Ermich besuchte also ein Cafee, trank einen ‚Verkehrt‘ (d. i. Filterkaffee und Milch im Verhältnis 1:2) und behielt hinter der vorgehaltenen Zeitung den Eingang im Auge.
Kurz nach ihm trat ein Mann ein, der wie ein wohlhabender Handwerksmeister aussah. Ermich war nun seiner Sache sicher. Derselbe Mensch hatte in seiner bisherigen Stammkneipe noch vorhin gesessen und ein Eisbein mit Sauerkraut verzehrt.
Zehn Minuten später befand der junge Gärtner sich wieder auf der Straße. Er war jetzt ganz ruhig geworden. An dem einen Ende der Gutzeitstraße lag ein Grundstück, auf dem sich die Ställe und Wagenschuppen einer Möbeltransportfirma befanden. Dieses Grundstück hatte einen zweiten Ausgang nach der Albrechtstraße, und den Hofinspektor, der neben der Einfahrt in dem niedrigen Geschäftshause der Firma wohnte kannte er recht gut. Er wollte ihm irgend ein Märchen aufbinden und bitten, daß dieser ihn durch den Torweg nach der Albrechtstraße wieder hinausließ.
*
Zehn Minuten vor Mitternacht war’s. An dem nach dem Garten zu gelegenen Schlafzimmerfenster des jungen Millionärs stand ein bärtiger schlanker Mann in eng anliegendem schwarzen Anzug und schaute träumerisch auf die vom bläulichen Lichte des Vollmondes übergossenen Bäume und kiesbestreuten Wege hinab. Seine Gedanken weilten wenige hundert Meter weit in einem kleinen Gemach, wo ein junges Weib wohl sehnsüchtig der Stunde harrte, die ihr die volle Bewegungsfreiheit und damit die Aufklärung eines Teiles der sie umgebenden Rätsel brachte.
Erna Rötler … – Der schlanke Mann mit dem entstellenden Bart hatte in den letzten Tagen ihrer so häufig gedacht. Ein merkwürdiges Walten des Schicksals hatte sie ihm in den Weg geführt. Nun war dieses sein Werk vollendet. Morgen würde er sie zum letzten Mal sprechen, morgen würde sie dann wieder in der Öffentlichkeit auftauchen, nachdem er der Polizei die Lösung der dunklen Geheimnisse offenbart hatte, die mit ihrer Entführung zusammenhingen. Dann würde er für sie nichts mehr sein als die verkörperte, wesenlose Vorsehung, die über sie gewacht hatte. Neue Aufgaben, neue Ziele würde er sich suchen, die seinem Dasein einen befriedigenden Inhalt gaben. Heute durfte er triumphierend zurückblicken auf seine Erfolge, die selbst für die Behörden nur das Walten einer verborgen arbeitenden Macht bleiben würden. –
Und doch – mit Bedauern sah er den morgenden Tag herannahen. Heute wußte er das junge Weib, das auf ihn beim ersten Sehen mit ihrer eigenartigen Schönheit einen tiefen Eindruck gemacht hatte, noch in seiner Nähe. Bald war sie ihm fern, fern und unerreichbar. Oder aber – sollte er sich ihr später in seiner wahren Gestalt …
Seine Gedankenreihe wurde plötzlich durch eine Beobachtung unterbrochen, die ihn leicht zusammenfahren ließ. Von seinem Fenster aus konnte er das kleine Häuschen drüben in der Albrechtstraße bei dem hellen Mondlicht genau erkennen. In dem einen Giebelfenster war ein weißlich glänzender, langer, dünner Gegenstand erschienen, bewegte sich hin und her und verharrte dann in derselben Lage. Eine weißgestrichene Stange war’s, die der Mond mit seinen Strahlen in einen leuchtenden Strich verwandelte und die man soeben zu dem Giebelfenster hinausgeschoben hatte.
Es war das vereinbarte Zeichen, daß wichtige Nachrichten seiner harrten. Von einer seltsamen Unruhe erfaßt, eilte der schlanke Mann über die Wendeltreppe in das Erdgeschoß hinab, öffnete die Tür nach dem Zugang zum Gewächshause und schritt hastig zwischen den Gestellen mit allerlei exotischen Gewächsen dahin. Im Gehen band er eine Seidenmaske vor das Gesicht und streifte schwarze Handschuhe über die gepflegten, mit ein paar wertvollen Brillantringen geschmückten Hände.
Zwei Minuten später öffnete sich die eiserne Tür und das Oberhaupt des Bundes betrat den Versammlungsraum.
Die Mitglieder waren noch nicht vollständig versammelt, viele Stühle noch leer.
Sofort trat einer der Maskierten an den ‚Herrn‘ heran und flüsterte ihm mit bebender Stimme zu:
„Ich bin seit Tagen heimlich verfolgt worden. Auch in dieser Nacht schlich mir ein Mann nach, der sicher ein Geheimpolizist ist. Ich hoffte ihn dadurch loszuwerden, daß ich einen Durchgang von der Gutzeit– nach der Albrechtstraße benutzte. Aber als ich hier ins Haus schlüpfte – ich kam früher als befohlen, um nicht länger auf der Gasse bleiben zu müssen, da sah ich den Spion abermals. Nummer Eins hat dann sofort, als ich ihm alles mitteilte, die Stange hinausgesteckt.“
Einen Augenblick nur überlegte der ‚Herr‘.
„Ihr müßt sofort das Haus verlassen,“ wandte er sich an die Erschienenen, denen sich inzwischen noch mehrere zugesellt hatten. „Du, Nummer 4, siehst vorher, ob die Luft draußen rein ist. Der Mond scheint hell genug, um die Straße überschauen zu können. – Ihr anderen folgt ihm und zerstreut Euch dann sofort. 4 kommt hierher zurück. – Sind jetzt alle versammelt? – Dann vorwärts! Nur 1 will ich noch sprechen. – Sollte der Spion, der 4 gefolgt ist, noch da sein, so muß dieser ihn vorher weglocken, indem er als erster geht. Ich nehme jedoch an, daß der Mann sich von der nächsten Polizeiwache Hilfe herbeiholen wird, da er gesehen haben muß, daß auch noch andere in diesem Hause verschwanden. – Lebt wohl, Freunde, – Ihr erhaltet schriftlich Nachricht von mir!“
Der Keller leerte sich schnell. Nur Fritz Mersche blieb förmlich zitternd vor Aufregung zurück.
„Für alle Fälle muß augenscheinlich folgendes geschehen,“ begann der ‚Herr‘ hastig, aber doch mit zielbewußter Bestimmtheit. „Fräulein Rötler soll sich notdürftig ankleiden.“
„Daran habe ich schon gedacht,“ fiel ihm Fritz Mersche ins Wort. „Ich ließ sie durch meine Frau wecken, noch bevor ich die Stange zur Warnung hinaussteckte.“
„Das war sehr umsichtig. – Dann muß dieser Raum hier in seinem Aussehen geändert werden. Stelle Tische und Stühle übereinander und entferne die Petroleumlampe. Außerdem muß jedes Anzeichen dafür verschwinden, daß Erna Rötler bei Euch gewohnt hat. – Geh’, – ich bleibe hier und helfe!“
Da kam auch schon Karl Ermich zurück.
„Sie sind alle fort, Herr! Wir haben Glück gehabt. Die Haustür schloß ich hinter dem Letzten ab,“ meldete er atemlos.
„Gut. Räume die Tische und Stühle in einer Ecke zusammen. Schnell. Ich fasse mit an.“
Bald war auch die Laterne von dem Haken gelöst. Der ‚Herr‘ schaltete jetzt seine elektrische Taschenlampe ein.
„Tragt aus dem Papierladen größerer Schachteln und Pakete hierher und lege sie auf den Fußboden,“ ordnete das Oberhaupt wieder an. „Vorwärts. Jede Minute ist kostbar.“
Fritz Mersche erschien in der Tür. Leise sprach der ‚Herr‘ auf ihn ein, worauf er wieder verschwand.
Minuten vergingen. Dann schlug die Hausglocke an. Wenige Sekunden später huschten drei Gestalten durch die eiserne Tür auf den Hof und gelangten durch die beiden Mauerpförtchen in das Gewächshaus.
Nochmals erklang die Hausglocke. Gleichzeitig wurde mit lauter Stimme von draußen Einlaß begehrt. Dann öffnete sich die Tür. Fritz Mersche, in der Hand einen Leuchter mit brennendem Licht und angetan mit einem schnell übergeworfenen Mantel, unter dem seine nackten, in Pantoffeln steckenden Füße hervorsahen, stand im Flur und fragte unwirsch:
„Was soll der Lärm?! Sie sind von der Polizei? – Das kann jeder Zivilist behaupten, um sich als Kriminalbeamter aufzuspielen. Zeigen Sie mir Ihre Legitimation. Und überhaupt, was und wen suchen Sie hier?!“
Das Bewußtsein, daß man bei ihm nichts Verdächtiges vorfinden würde, hatte Fritz Mersche den Mut gegeben, sein Verhalten ganz nach den Befehlen des ‚Herrn‘ einzurichten.
Die fünf Beamten – zwei blieben draußen auf der Straße – wiesen ihre Marken vor, worauf Mersche etwas wie eine Entschuldigung murmelte und sie einließ. Einer der Geheimpolizisten, – es war dies kein anderer als Bork –, drückte die Haustür wieder ins Schloß und sagte mit versteckter Drohung:
„Was wir suchen?! Einige Männer, die vor kaum einer Viertelstunde hier in dies Haus geschlüpft sind.“
Mersche spielte sehr geschickt den Überraschten. „Männer – hier bei mir?! – Ausgeschlossen! Sie müssen sich irren!“
Nach einigem Hin- und Herreden begannen die Beamten die Durchsuchung der sämtlichen Räume. Aber die Mühe war umsonst. Sie fanden weder einen Menschen, der nicht ins Haus gehörte, noch sonst etwas Verdächtiges. Auch den Hofraum durchsuchten sie ebenso genau. Und hier fragte Bork den Papierhändler:
„Wo führt diese Pforte in der Mauer hin?“
Er triumphierte schon, da er eine Spur entdeckt zu haben glaubte.
Aber Mersche zuckte nur die Achseln. „Der Garten, den diese Mauer abschließt, gehört dem reichen Herrn Heider. Und die Pforte kümmert mich nichts. Außerdem ist auf der anderen Seite der Mauer noch eine Tür. Hier durch den Spalt können Sie’s erkennen.“
Einer der Geheimen leuchtete mit seiner Lampe.
„Stimmt,“ meinte er. „Und Tatsache ist auch, daß der Garten da Eigentum eines Millionärs ist. Das weiß ich genau.“
„Trotzdem krieche mal einer auf die Mauer,“ meinte Bork hartnäckig. „Vielleicht haben die Kerle sich nach hier dünne gemacht. Ich gebe mich nicht so leicht zufrieden. Ich habe fünf Männer gesehen, die dieses Haus in kurzen Abständen hintereinander betraten. Und der erste von ihnen war ein ganz gefährlicher Bursche, den ich schon lange überwache.“
Bald saß einer der Beamten oben auf der Mauerbrüstung.
Von drüben war nun deutlich das dumpfe, drohende Knurren eines Hundes zu vernehmen.
„Wahrhaftig – da ist eine Bulldogge!“ rief der Beamte erschreckt. „Ein mächtiges Vieh. Das Biest hätte sicher niemand in den Garten gelassen.“
Er turnte wieder in den Hof hinab.
Da sagte Fritz Mersche ganz liebenswürdig: „Ich kann mir nur denken, daß, wenn tatsächlich Männer in mein Haus eingedrungen sind, es sich um Diebe handelt, die einen Nachschlüssel zum Öffnen der Haustür benutzt haben. Ich pflege den Schlüssel nämlich immer abzuziehen.“
„Fauler Schwindel!“ knurrte Bork leise. „Suchen wir nochmals alles durch.“
Aber auch das blieb vergeblich. Recht übler Laune entfernten sich die Beamten dann, von Fritz Mersche höflich bis zur Tür geleitet.
Erna Rötler, die ein seidenes Tuch um den Kopf geschlungen und einen von Frau Mersche entliehenen langen Mantel übergezogen hatte, folgte schweigend dem Unbekannten, der sie durch das Gewächshaus in sein Arbeitszimmer führte. Hinter ihnen schritt Karl Ermich einher. Er befand sich noch immer wie im Traum. Die Ereignisse dieser letzten Stunde hatten seinen Geist völlig verwirrt.
In dem vornehm ausgestatteten Gemach drehte der Vermummte alle Flammen des Kronleuchters an und befahl dann dem alten Franz, der beim Eintritt der drei Personen überrascht aufgesprungen war, die Fenstervorhänge sorgsam zu schließen. Erna Rötler hatte er schon vorher durch eine Handbewegung aufgefordert, in einer Ecke des hohen Paneelsofas Platz zu nehmen. Jetzt mußten sich auch Franz Balwing und der junge Gärtner, der noch immer ebenso wie der ‚Herr‘ selbst die Maske trug, in die zu beiden Seiten des Mitteltisches stehenden Klubsessel setzen.
„Die Stunde der Enthüllungen ist gekommen,“ begann der Vermummte dann, indem er sich an den großen Diplomatenschreibtisch lehnte und langsam die Handschuhe abstreifte. „Dich, Karl Ermich, habe ich mit mir nehmen müssen, da zu befürchten stand, daß du womöglich dem zurückkehrenden Verfolger, der dich sicher wiedererkannt haben würde, in die Arme laufen könntest. –
Auch Sie, Franz Balwing, sollen gegenwärtig sein, wenn ich jetzt sofort dieser jungen Dame auch das noch erkläre, was ihr bisher unbekannt geblieben ist. Ich muß jedoch Ihnen dreien eine Bedingung stellen: das unverbrüchliche Schweigen! –
Versprechen Sie mir also, unter keinen Umständen irgend jemandem von dem etwas zu verraten, was Sie nunmehr erfahren werden. Nur insoweit ich selbst Sie von dieser Schweigepflicht entbinde, dürfen Sie reden. In mancher Hinsicht wird dies nötig werden. Es muß jedoch mir überlassen bleiben, was die Öffentlichkeit wissen soll und was nicht. Meine Gründe für diese Bedingung werden Sie alle nachher selbst begreifen. –
Erklären Sie mir durch ein einfaches ‚Ja‘ Ihr Einverständnis. Das genügt mir.“
Ohne Zögern sprachen die drei das bindende Wort.
Darauf entfernte der Vermummte die schwarze Maske, Bart und Perücke mit schnellen Griffen.
Staunend sah Erna Rötler jetzt ein junges, sympathisches Gesicht vor sich. –
Karl Ermich war weniger überrascht. Nach den letzten Vorgängen hatte er geahnt, wer das Oberhaupt des Bundes war. Ohne weitere Aufforderung nahm nun auch er die Maske ab und steckte sie in die Tasche.
„Mein Fräulein,“ wandte der junge Millionär sich mit leichter Verbeugung an Erna Rötler, „Sie gestatten, daß ich Ihnen nunmehr meinen Namen nenne. Ich heiße Erwin Heider. Vor reichlich einem Jahre fiel mir, der ich bisher in sehr bescheidenen Verhältnissen gelebt hatte, eine Erbschaft zu, die mir die Erfüllung aller Wünsche gestattete, soweit dies durch Geld zu erlangen ist. Übersättigung, anderseits auch herbe Enttäuschungen, die mich die Unaufrichtigkeit sogenannter Freunde durchschauen ließen, führten einen Zustand von Lebensüberdruß und müder Gleichgültigkeit herbei, der nach meiner eigenen Erkenntnis nur dadurch beseitigt werden konnte, daß ich mir einen Wirkungskreis, einen Lebenszweck wählte, der meiner Charakterveranlagung entsprach und mich vollauf beschäftigte. Ein Zufall brachte mich auf die Idee, eine Gesellschaft von Männern um mich zu scharen, die einmal im Leben einen Fehltritt getan hatten, die mir aber auch die Sicherheit gaben, daß das Gefühl der Dankbarkeit sie genügend stark beherrschte, um mir treue, verschwiege Werkzeuge für meine Pläne zu sein. –
Mein Reichtum erleichtert mir all diese Schritte natürlich ganz wesentlich. In der Überzeugung, daß das Geheimnisvolle und Absonderliche auf den menschlichen Geist, wie dies auch bei mir der Fall war, besonders stark einwirkt und daß der Reiz des Abenteuerlichen ein gutes Bindemittel für das Dutzend Männer, die ich mir nach mühseligem Forschen und Prüfen sozusagen von der Straße aufgelesen hatte, sein würde, umgab ich den Bund mit möglichst geheimnisvollen Bestimmungen wie mit einem dichten Schleier, der einerseits das Erkennen der Mitglieder untereinander verhüten, dann aber auch mich als Oberhaupt nur wie eine wesenlose Erscheinung zeigen sollte. Ich wollte eben wie eine unbekannte, aus der Verborgenheit heraus wirkende Vorsehung in die Lebenspfade aller derer helfend eingreifen, die aus besonderen Gründen nicht imstande waren, sich selbst gegen Unrecht und Tücke ihrer Mitmenschen zu schützen.“
Erwin Heider machte eine kurze Pause. Dann deutete er auf Karl Ermich und fuhr fort:
„Dieser mein jetziger Gärtner hatte nun in der Strafanstalt Plötzensee einmal zwei Mitgefangene belauscht, die sich von früher her kannten, sich aber offenbar seit längerer Zeit infolge ihres Aufenthaltes im Gefängnis nicht hatten sprechen können. Die beiden Leute, die mit Karl Ermich zusammen zufällig im Keller zum Wegpacken von Brennholz bestimmt waren, glaubten sich, da der Aufseher Ermich weggerufen hatte, allein und tauschten schnell einige Sätze aus, von denen der inzwischen unbemerkt zurückgekehrte Gärtner dann manches, wenn auch nicht alles, erlauschte. Der eine erzählte dem anderen von einem unlängst in den Zeitungen erschienenen Aufruf, in dem nach einem jungen Mädchen geforscht wurde, die eine reiche Erbschaft antreten solle. Dieser Gefangene hatte, wie er hastig erklärte, in der Kanzlei der Strafanstalt eines Tages heimlich eine Zeitung an sich gebracht, um sich durch deren Lektüre eine verbotene Zerstreuung zu schaffen. Beim Lesen war ihm dann der erwähnte Aufruf aufgefallen, weil darin als besonderes Erkennungszeichen der gesuchten Erbin ein eigenartig geformtes Muttermal aufgeführt war. –
Aus den weiteren, zwischen den beiden Gefangenen ausgetauschten Sätzen entnahm Karl Ermich, daß die Elenden nach ihrer kurz bevorstehenden Entlassung aus dem Gefängnis zusammen versuchten wollten, die Erbschaft auf diese oder jene Weise an sich zu bringen. Da er den Schluß des Gespräches, bei dem die zwei ihre Stimmen noch vorsichtiger dämpften, nicht verstehen konnte, schlich er ein Stück zurück und erschien dann mit lauten Schritten an der gemeinsamen Arbeitsstätte, so daß die beiden nicht ahnen konnten, daß ein Teil ihrer Unterhaltung von einem Dritten mitangehört worden war. Karl Ermich hat dann noch in der Strafanstalt aus leicht begreiflichem Interesse an den beiden, zu so finsteren Plänen bereiten Mitgefangenen den Namen des einen unauffällig festgestellt und sich gemerkt. Wollte er doch, dem selbst sehr bald die Freiheit winkte, den Versuch machen, den Verbrechern ihr Spiel zu verderben. Es kam jedoch anders. Er wurde ein Mitglied des Bundes, und in einer Nacht, als ich ihn mir allein an den Versammlungsort bestellt hatte, teilte er mir das soeben Erzählte weit ausführlicher mit, als ich dies jetzt getan habe. Sofort war mein Entschluß gefaßt, und schnell ging ich auch an dessen Ausübung. In kurzer Zeit hatte ich festgestellt, daß der eine jener beiden Gefangenen bereits aus der Strafanstalt entlassen war. Bald aber zwang mich die Zeitungsnachricht von einem im Tiergarten an einem jungen Mädchen begangenen Mordversuch zu beschleunigtem Handeln.“
Wieder schwieg der junge Millionär einen Augenblick. Er wandte sich, als er das Wort wieder aufnahm, jetzt fast ausschließlich an Erna Rötler, die in atemloser Spannung seinen Ausführungen gefolgt war.
„Die Namen jener beiden Verbrecher will ich nunmehr nennen, damit ich mich kürzer fassen kann. Sie heißen Max Rötler und Eduard Schalitzer, letzterer auch Eduard Bungert, wie er denn überhaupt mehrere Namen führt.“
Erna Rötler war plötzlich blaß wie der Tod geworden. Wie in halber Ohnmacht sank sie in ihre Sofaecke zurück.
„Jetzt ahne ich den ganzen Zusammenhang,“ sagte sie leise. „Sprechen Sie weiter –, oh, sprechen Sie weiter! Ich muß endlich volle Klarheit haben.“
„Das sollen Sie, mein Fräulein!“ erwiderte Erwin Heider mit Wärme. „Damals, als ich nach Ihrer Entführung in Gestalt eines älteren Herrn Sie sprechen durfte, machte ich Ihnen nur bestimmte Andeutungen darüber, daß Sie lediglich im Interesse Ihrer eigenen Sicherheit fortgeschafft worden seien. Es gelang mir, Ihr Vertrauen zu erwerben und Sie zu bewegen, ruhig weiter in Ihrem neuen Versteck auszuharren. Jetzt sollen Sie alles hören. Zu diesem Zweck muß ich jedoch weit in die Vergangenheit zurückgreifen, in Ihre Vergangenheit, Fräulein Rötler, die ich durch meine Leute mit Hilfe jener Angaben, die der von Schalitzer bei der Unterhaltung mit seinem Genossen erwähnte Zeitungsaufruf enthielt, in mühseliger Arbeit aufklären ließ. Diesen Aufruf zu finden, war nicht schwer, da er in mehreren Berliner Zeitungen erschienen ist und zwar des öfteren. Ich brauchte mir also nur auf den Redaktionen die gebundenen Exemplare der letzten Monate vorlegen zu lassen, um zu meinem Ziel zu gelangen. Ich habe mir den Aufruf aufbewahrt.“ –
Dabei entnahm er seiner Brieftasche einen Zeitungsausschnitt und sagte langsam betonend:
„Er lautet folgendermaßen:
Erbin gesucht! – Unterzeichneter Notar als gerichtlich bestellter Nachlaßpfleger des am 18. Dezember 19… zu Windhuk, Deutsch Südwestafrika, verstorbenen Farmers Kasimir Bulinski ersucht alle Personen, die über den jetzigen Aufenthalt der Tochter der zu Posen am 15. Mai 1884 verstorbenen Schauspielerin Karlotta Müller, namens Erna Agathe Jadwiga Müller etwas anzugeben vermögen, sich bei ihm zu melden. Denjenigen, der durch zweckdienliche Angaben die Auffindung der genannten Erna Müller erleichtert oder herbeiführt, erhält eine Belohnung von dreihundert Mark zugesichert. –
Erna Müller befand sich zuletzt in Posen bei einer inzwischen gleichfalls verstorbenen Frau Joswig in Pflege. Zwei Tage vor deren Tode verschwand sie. Irgend welche Papiere, Geburtsurkunde usw., dürften kaum noch vorhanden sein. Jedoch trägt sie ein untrügliches Erkennungszeichen in Gestalt eines etwa ein Zentimeter großen, kreuzförmigen Muttermales am linken Unterarm auf der Unterseite und zwar in der Mitte der Hauptader an sich. – Berlin, Leipziger Straße 16. – Rosenstock, Rechtsanwalt und Notar.“
Erwin Heider legte den Zettel beiseite und fuhr dann fort:
„Auf welche Weise es mir und meinen Beauftragten gelang, die Spur dieses vor so vielen Jahren verschwundenen Kindes im Hause des Max Rötler wiederzufinden, das ist eigentlich ein kleiner Roman für sich. Jedenfalls ergaben unsere von Glück begünstigten und durch Geldspenden unterstützten Nachforschungen folgendes: – Die Schauspielerin Karlotta Müller, der der später nach unseren Kolonien ausgewanderte Burlinski die Ehe versprochen hatte, wurde nach der Geburt ihres Kindes von dessen Vater treulos verlassen. Ihr Töchterchen hatte sie bei ihrer Wirtin in Pflege gegeben, da sie selbst bald erkrankte und in ein Krankenhaus gebracht werden mußte. Hier vertraute sie sich einer Freundin, der jetzigen Frau Rötler an, die ihr versprach, für das Kind, dessen Geburt die Schauspielerin ängstlich geheimgehalten hatte, zu sorgen, falls Karlotta Müller sterben sollte. Diese schrieb der Freundin eine Art Ausweis für die Frau Joswig, ihre Wirtin, aus, auf Grund dessen die spätere Frau Rötler nach dem Hinscheiden des armen, betrogenen Weibes die kleine Erna auch ausgehändigt erhielt. Zwei Tage später starb die kränkliche Frau Joswig, von der sich offenbar die Rötler unter allerhand Vorspiegelungen die Ausweispapiere deren Enkelin hatte geben lassen, die zufällig auch Erna – Erna Joswig hieß. Das Rötlersche Ehepaar hat dann später die kleine Erna Müller unter dem Namen Erna Joswig, wobei allerhand Täuschungen mitgespielt haben müssen, an Kindes Statt angenommen. –
Jener Bulinski aber, der es in Südwest zu großem Reichtum gebracht hatte, hat vor seinem Tode, von Reue über das an der Karlotta Müller begangene Unrecht gequält, seine Tochter Erna in Ermanglung anderer erbberechtigter Verwandter zu seiner Universalerbin eingesetzt. Sein Nachlaß übersteigt den Wert von einer halben Million. Diesen Reichtum sich selbst zu sichern, war das ganze Sinnen und Trachten Rötlers und Schalitzers. Niemand anders als letzterer hat den Mordstahl an jenem Abend gegen die Erbin des Farmers im Tiergarten gezückt. Sie sollte sterben, damit der Nachlaß den beiden Verbrechern zufiel. Hier stehen wir nun vor einem Punkt, der mir noch nicht völlig klar ist, den Sie, Fräulein Müller, – es ist Ihnen wohl nur lieb, wenn ich Sie nicht mehr mit dem früheren Namen, dem eines hinterlistigen Mordgesellen, anrede – uns vielleicht aufklären können. Es handelt sich um die Frage, welche Vorbereitungen bzw. Vorkehrungen Max Rötler getroffen hatte, um jene Erbschaft sich auch ganz sicher aneignen zu können, nachdem die eigentliche Erbin aus dem Wege geräumt war.“
Erna Rötler, die zuweilen verstohlen die leise rinnenden Tränen, die ihr die endliche Enthüllung ihrer Vergangenheit entlockte, getrocknet hatte, antwortete ohne Zögern in einer leicht begreiflichen Erregung:
„Über diesen Punkt vermag ich in der Tat sogar sehr eingehenden Aufschluß zu geben. – Nach seiner Entlassung aus der Strafanstalt wußte mich Rötler eines Tages zu der Niederschrift eines Testamentes zu bewegen, in dem ich meine Adoptiveltern als meine Erben einsetzte. Mir war damals dieses Verlangen Rötlers natürlich vollständig unbegreiflich. Er erklärte mir jedoch, daß er und seine Frau mich gleichfalls zu ihrer Erbin bestimmt hätten, und zeigte mir auch diese letztwillige Verfügung vor und fügte hinzu, unter diesen Umständen sei es nur recht und billig, wenn ich gleiches mit gleichem vergelte. –
Einige Tage später ließ er mich dann einen Brief an den in dem Aufruf genannten Notar schreiben des Inhalts, daß ich jene Erbschaft, die mir aus meiner Herkunft irgendwie zufalle, anzutreten gewillt sei. Von dem Aufruf selbst hatte ich keinerlei Kenntnis. Im Gegenteil – Rötler sagte mir, die ich ja gänzlich gesetzesunkundig bin, es sei dies nur eine Vorsichtsmaßregel um Erbansprüche an Verwandte meiner längst verstorbenen wirklichen Eltern namens Joswig geltend machen zu können, von denen ein Bruder meiner Mutter nach Kalifornien ausgewandert und dort zu Reichtum gelangt sein sollte. – Was dieser von mir verlangte Brief bezweckte, weiß ich noch heute nicht.“
„Aber ich,“ schaltete Erwin Heider ein. „Der Brief ist bisher nicht in die Hände des Notars gelangt. Sonst hätte dieser mir davon erzählt, als ich ihn vorgestern aufsuchte, und zwar in einer Verkleidung, und ihn unter dem Vorwande, mir die in dem Aufruf ausgeschriebene Summe verdienen zu wollen, vorsichtig ausforschte. Jener Brief sollte eben erst an den Notar abgehen, nachdem Ihr Tod, Fräulein Müller, sicher war. Unser Bürgerliches Gesetzbuch bestimmt nämlich, daß Erbe nur der geworden ist, der eine Erbschaft durch irgend eine auf diese bezügliche Handlung oder Willensäußerung angetreten hat. Der sehr schlau abgefaßte Brief, der Ihnen die volle Wahrheit verbarg, sollte nun die Willensäußerung darstellen, daß Sie die Erbschaft antreten wollten. Dadurch waren Sie Erbin geworden, – und Max Rötler im Falle Ihres Todes wieder Ihr Erde. Das ist die Rechtslage. –
Wir sehen gerade aus diesen letzten Erörterungen, welch’ raffinierter Schurke dieser Rötler ist. Das hatte ich freilich längst erkannt. Und um Sie vor seinen weiteren Nachstellungen solange zu schützen, bis ich alles Beweismaterial gegen ihn und seinen Genossen zusammengetragen hatte, – deshalb entführte ich Sie. –
Ich bin mit meinen Enthüllungen gleich zu Ende. Noch heute nacht geht an die Polizei ein eingehender Bericht ab, in dem alle Angaben enthalten sind, die Rötlers und Schalitzers finster Pläne offenbar machen. Das, was noch fehlt, werde ich gleich nachher hinzufügen. Ich meine die Geschichte des Testaments und jenes Briefes. Beide dürfte die Polizei bei Rötler noch vorfinden. – So – und nun wollen Sie, Fräulein Müller, freundlichst die Gastfreundschaft meines Hauses annehmen, indem Sie das bisher von meiner Wirtschafterin bewohnte Zimmer beziehen, die ich in die nebenan gelegene kleine Stube umquartiere. –
Franz, Sie werden sofort das Nötige veranlassen. Daß Ihr Aufenthalt hier bis zur Verhaftung der Verbrecher Geheimnis bleibt, dafür sorge ich schon.“
Das junge Mädchen hatte sich, nachdem auch Karl Ermich gegangen war, erhoben und streckte nun dem jungen Millionär in herzlicher Dankbarkeit die Hand hin.
„Ich weiß nicht, Herr Heider, wie ich Ihnen das alles …“
Aber Erwin Heider wehrte bescheiden ab. „Ich fürchte, daß Sie mein Eintreten für Ihre Person zu hoch einschätzen,“ sagte er schnell. „Bedenken Sie, es war nur eine richtige Millionärslaune, die mich in Ihr Schicksal eingreifen ließ, die Laune eines übersättigten, enttäuschten, mit einem gewissen Hange zum Abenteuerlichen ausgestatteten Menschen, dem jetzt die Pflicht obliegt, die zu schützen, die er als seine Werkzeuge gebrauchte. Ich weiß noch nicht, ob alle meine Leute glücklich entkommen und nicht etwa von der Polizei doch noch angehalten worden sind. Ich muß mich auch mit Fritz Mersche schnell in Verbindung setzen, um meine ferneren Schritte zum Schutze der Mitglieder jenes Bundes, der mit dieser Nacht zu bestehen aufgehört hat, nach seinen Mitteilungen einzurichten. Auch muß Karl Ermich ohne Verzug fortgebracht werden, da zu erwarten steht, daß die Polizei ihn hier bei mir verhaftet, um durch ihn Aufschlüsse zu erlangen, die sie sich anderswo nicht beschaffen kann.“
Ihre Hände ruhten noch immer ineinander. Und wieder spürte Erwin Heider jetzt den innigen Druck ihrer Finger, als sie voll heißen Dankgefühls sagte:
„Wozu wehren Sie meinen Dank ab? Wozu sprechen Sie von einer Millionärslaune, wo doch in Wahrheit nur Ihr gütiges Herz und Ihr Sinn für Gerechtigkeit Sie in dieser Weise eine gnädige Vorsehung spielen ließ …! Nie, Herr Heider, nie werde ich Ihnen das vergessen, was Sie für mich getan haben! Ich wünschte nur, ich könnte auch irgend etwas für Sie tun, um Ihnen zu beweisen, wie groß meine Dankbarkeit ist.“
Da sah er sie mit einem so warmen, so beredten Blick an, daß sie verlegen wurde und scheu ihre Hand aus der seinen freimachte.
Es war am nächsten Vormittag gegen zehn Uhr.
Kriminalinspektor Hoßfeldt und Kommissar Meizenberg saßen in des ersteren Bureau. Hoßfeldt las gerade einen mehrere Seiten langen, mit Maschine geschriebenen Brief vor.
„Die Polizei wird nach alledem einsehen, daß die, die Erna Müller entführten, nur durch die besten Absichten geleitet wurden, und mag daher aus Dankbarkeit für das in diesem Schreiben beigebrachte Material zur Unschädlichmachung zweier gefährlicher Verbrecher alle Nachforschungen nach den Personen, durch deren Hilfe diese Dinge ans Tageslicht gebracht wurden einstellen.“
Hoßfeldt legte die Blätter beiseite und fügte hinzu: „Statt einer Unterschrift wieder der Stempel, – das geheimnisvolle Zeichen, dem wir nun zum dritten Mal begegnen. – Na, Meizenberg, – was sagen Sie nun zu dieser Geschichte?! Das ist eine Überraschung, wie?! Und ich zweifle keinen Augenblick, daß alle diese Angaben stimmen. Ein netter Schuft, der Herr Max Rötler! Na – dem und seinem Genossen kann’s gut gehen!“
Zwei Stunden später wurden Max Rötler und Eduard Schalitzer auf dem Polizeipräsidium von den mit ihrer Verhaftung beauftragten Beamten eingeliefert.
Sofort nahm Meizenberg zunächst mit Schalitzer in Gegenwart des Kriminalinspektors ein Verhör vor. Aber der gerissene Verbrecher leugnete alles und protestierte unter ständigen Unschuldsbeteuerungen gegen seine Verhaftung.
Meizenberg sah ein, daß er so nichts erreichte, zumal in dem heute morgen bei der Kriminalpolizei eingegangenen Brief der Name jenes Gefangenen, der heimlich jenes Gespräch im Keller der Strafanstalt mitangehört hatte, nicht genannt war. So ließ er denn Schalitzer zunächst abführen, um Max Rötler energisch ins Gewissen zu reden.
Aber auch der Kommissionär spielte zunächst den ob seiner Festnahme Schwergekränkten und bestritt alles, was man ihm vorwarf. Erst als Meizenberg ihm dann das bei der Hausdurchsuchung wirklich entdeckte Testament und den Brief Erna Müllers an den Notar vorwies, wurde er unsicher. Trotzdem bequemte auch er sich zu keinem Geständnis.
Da überbrachte ein Beamter dem Kriminalinspektor eine Karte. Hoßfeldt zuckte sichtlich zusammen, als er den mit Tinte ausgeschriebenen Namen las. Schweigend reichte er sie, nur mit bezeichnendem Blick, dem Kommissar hin.
„Ich lasse bitten,“ sagte er zu dem Beamten.
Gleich darauf trat … Erna Müller ein, noch etwas blaß, aber schon mit frischen, kräftigen Bewegungen.
Rötler, der mit dem Rücken nach der Tür gesessen hatte, wandte beim Rascheln der Frauenkleider argwöhnisch den Kopf nach rückwärts. Beim Anblick seiner Pflegetochter schnellte er förmlich empor.
„Du – du – wo kommst du her, Kind?“ stotterte er, mühsam nach Fassung ringend.
Das junge Mädchen maß ihn mit verachtungsvollem Blick.
„Das Recht, diese vertrauliche Anrede zu gebrauchen, haben Sie sich dadurch verscherzt, daß Sie mir nach dem Leben getrachtet haben,“ sagte sie kalt. „Ich bin fortan für Sie nur noch Fräulein Müller – nichts weiter!“ Dann wandte sie sich an die beiden Beamten.
„Sollte dieser Mann hier zu leugnen versuchen, gemeinsam mit jenem Schalitzer den Mordanschlag auf mich im Tiergarten geplant zu haben, so bin ich bereit zu beschwören, daß kein anderer als Schalitzer jener Mordbube gewesen ist. Jetzt, wo ich wieder völlig genesen und im Besitze meines vollen Erinnerungsvermögens bin, wo ich ferner weiß, daß nur Schalitzer mich überfallen haben kann, erkläre ich auf das bestimmteste, daß ich ihn trotz seiner Verkleidung erkannt habe. Oft genug sah ich ja den widerwärtigen Menschen im Rötlerschen Hause.“
Wie eine Rachegöttin stand das junge Mädchen da. Und unter ihrem vernichtenden Blick sank der Kommissionär in einer Anwandlung von Schwäche matt in seinen Stuhl zurück.
Da sagte Meizenberg schnell, um die Situation auszunutzen:
„Legen Sie doch ein Geständnis ab, Rötler! Es ist wirklich das Beste für Sie!“
Rötler nickte wie geistesabwesend.
„Mein böser Geist – mein böser Geist,“ murmelte er kaum verständlich vor sich hin.
„Wer –, wen meinen Sie?“ fragte Meizenberg ebenso leise.
„Schalitzer … Von ihm ging alles aus.“
„So geben Sie zu, daß …“
Rötler winkte matt mit der Hand. „Fragen Sie nicht weiter. Ich gestehe! Alles! Das Spiel ist ja doch aus. Sie wissen zu viel – zu viel …“ –
Das Protokoll war bald aufgenommen. Rötler unterschrieb es willig. Eine gleichgültige Stumpfheit war über ihn gekommen.
*
Ein halbes Jahr später, an einem sonnen- und frostklaren Novembertage, fand in einem Saale eines der vornehmsten Berliner Hotels eine Hochzeitsfeier statt, die in den Zeitungen viel besprochen wurde und zwar deswegen, weil an ihr auch ein Dutzend Männer teilnahmen, die alle aus Volksschichten stammten, in denen man für gewöhnlich sich nicht rühmen kann, einen vielfachen Millionär zum Freunde zu haben.
Auch Kommissar Meizenberg und Inspektor Hoßfeldt hatten auffallenderweise zu der Hochzeit des Fräulein Erna Müller mit Herrn Erwin Heider eine Einladung erhalten und waren dieser auch gefolgt.
Ihr Erstaunen über die etwas merkwürdige Zusammensetzung der Hochzeitsgesellschaft, in der sich verschiedene Herren befanden, die ebenso durch ihre anfängliche Befangenheit wie durch die nicht gerade hervorragend sitzenden Frackanzüge sich auszeichneten, sollte dann erst bei der Tafel durch eine kurze Ansprache des jungen, glückstrahlenden Ehemannes in eine ungeahnte Überraschung verwandelt werden.
„Meine hochverehrten Damen und Herren! Obwohl es nicht üblich ist, daß ein Neuvermählter bei seiner Hochzeitsfeier das Wort ergreift, will ich dies aus bestimmten Gründen doch tun. Unter uns befinden sich zwölf wackere Männer, mit denen geheimnisvolle Beziehungen mich einst verbanden und denen meine Gattin und ich zu großem Dank verpflichtet sind, da sie in gewisser Weise unser heutiges Glück mitbegründen halfen. Um sicher zu sein, meine lieben Freunde von einst, die ich Euch hier soeben dankbar erwähnt habe, daß Ihr meiner Einladung auch Folge leisten würdet, bediente ich mich eines Zeichens, dessen Bedeutung Euch nur zu gut bekannt war.
Ich freue mich von Herzen, ebenso auch meine Frau, daß Ihr alle erschienen seid. –
Diese kurze Rede, Ihr Braven, wird Euch endlich Aufklärung über die Person eines Mannes gegeben haben, der korrigierend in Euer Leben eingegriffen hat und dessen Ihr, davon bin ich überzeugt, oft in ebenso großer Dankbarkeit gedacht habt, wie ich Euch nicht vergessen habe. –
Meine Frau und ich, wir leeren unsere Gläser auf das Wohl der Zwölf, denen ich ein wohlmeinender Freund und Herr sein durfte!“
Tiefe Stille war auf diese seltsame Rede gefolgt.
Da erhob sich Fritz Mersche leuchtenden Auges, und mit bewegter Stimme dankte er im Namen der Zwölf für all das Gute, das Erwin Heider an ihnen getan.
„Freunde,“ rief er zum Schluß, „Freunde, nur wir wissen, was alles wir unserem einstigen ‚Herrn‘ zu danken haben! In seiner Brust schlägt ein Herz voll Mitgefühl für Arme, Elende und Gestrauchelte. Er war unsere Vorsehung, er hat uns dem Leben zurückgegeben, für uns gesorgt und ist uns ein wahrer Freund gewesen! Darum auch sei dem jungen Paare Gottes reichster Segen beschieden. –
Es lebe hoch, hoch und nochmals hoch!“
Selten hat wohl der vornehme Saal eines der ersten Berliner Hotels einen so jubelnden, aus ehrlichster Empfindung hervorgegangenen Hochruf vernommen. –
Der jungen Gattin Erwin Heiders waren die Tränen der Rührung hochgestiegen. In heißem Glücksgefühl suchte sie seine Hand und drückte sie zärtlich. Tief schauten sie sich in die strahlenden Augen.
„Eine Millionärslaune war’s,“ flüsterte er leise, „und ein Lebensglück ist’s geworden – für uns beide!“