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Um Millionen

 

Um Millionen.

Erzählung von W. Kabel.

(Nachdruck verboten.)

 

1.

Es war kurz vor zehn Uhr abends, als Manuel Belsard zum drittenmal innerhalb der letzten zwei Stunden bei dem Kunstmaler Hillgreen anklingelte. Jetzt endlich wurde die direkt in das Atelier führende Flurtür geöffnet. „Nun, alter Junge, wie war denn die Landpartie?“ meinte Belsard zu seinem Freunde, nachdem sie sich kräftig die Hände geschüttelt hatten.

Hillgreen war unter der Gaskrone stehen geblieben und zog seinen blonden, ziemlich ungepflegten Spitzbart nervös durch die Finger.

„Wäre ich doch nie mitgefahren!“ sagte er unmutig. „Diese erzwungene Lustigkeit bei solchen Kremserausflügen ist nichts für mich. Dazu muß man oberflächlicher sein. Und dann das Picknick auf dem noch reichlich kalten Waldboden! Ich habe mir sicher den schönsten Schnupfen geholt.“

Belsard, der dicht vor dem Freunde stand, schaute diesen noch immer forschend an. Und unter seinem Blick wurde der Maler von Sekunde zu Sekunde verlegener. Dann fragte der Schriftsteller ohne besondere Betonung: „Hoffentlich hat dich Fräulein Stölners Gegenwart, die du den ganzen Tag über genießen konntest, wenigstens etwas entschädigt?“

Hillgreen schoß deutlich die helle Röte in das fast mädchenhaft zarte Gesicht, und aus Verlegenheit schob er beide Hände in die Taschen seiner schlecht sitzenden, faltigen Beinkleider – nur um Zeit zu gewinnen, wie Belsard sich richtig sagte.

„Manuel“, begann der junge Porträtmaler dumpf, „dieser Tag hat mir eine – eine sehr bedeutsamen Überraschung gebracht.“

Wieder schwieg er. Offenbar wurde ihm das folgende Geständnis nicht ganz leicht.

„Doch wohl eine freudige?“ warf der Schriftsteller ein, um ihn zum Weitersprechen zu veranlassen.

Die Hände wurden plötzlich mit einem Ruck aus den Taschen herausgezogen und legten sich schwer auf Belsards Schultern.

„Ich habe mich heute mit Eva Stölner verlobt“, erklärte Hillgreen zögernd. Und schnell fuhr er fort: „Gratuliere mir nicht, Manuel – ich bitte dich! Es war die größte Torheit meines Lebens, wie ich gleich hinterher einsah, eine Torheit, die ich noch heute wieder gutmachen muß.“

Der Schriftsteller starrte den Freund ganz entgeistert an.

„Verlobt? Richtig verlobt?“ meinte er zweifelnd.

„Komm’, setz’ dich. Ich werde dir alles erzählen.“

Hillgreen zog den Freund neben sich auf den fellbedeckten Diwan und beichtete dann.

„Du weißt, daß Eva Stölner sich seit etwa vier Wochen hier in der Reichshauptstadt bei ihren Verwandten aufhält“, hatte der Maler begonnen. „Ebenso ist dir bekannt, auf welche eigentümliche Weise ich sie und dann auch die Familie des Rechnungsrates Marholz kennen lernte und wie ich darauf beinahe gezwungen wurde, mit den mir bis dahin völlig fremden Leuten in näheren Verkehr zu treten. Anfänglich, nein, sogar bis heute, ahnte ich nicht, welche Zwecke die Marholzsche Sippe mit diesem Umgang verfolgte. Jetzt sind mir die Augen aufgegangen. Denn heute, als wir nach dem Picknick einen kleinen Spaziergang am Ufer des Wannsees entlang unternahmen, verstand es Eva Stölner, sich mit mir von den übrigen abzusondern. Und wie wir dann allein waren, stolperte sie plötzlich über eine Baumwurzel, so daß ich sie auffangen mußte, sonst wäre sie gefallen. Als ich sie nun so in den Armen hielt, umschlang sie mit einemmal meinen Hals, drängte sich an mich und flüsterte mir allerlei verliebtes Zeug zu. Und in dem Augenblick, da ich ihr hübsches Gesichtchen und die verlockenden Lippen so dicht vor mir hatte, verließ mich die ruhige Überlegung. Ich – ich küßte sie, küßte sie immer wieder, bis hinter uns die ölige Stimme der dicken Rechnungsrätin ertönte, die mich nur zu schnell zur Besinnung brachte:

„Ei, sieh da – da darf man wohl zur Verlobung gratulieren?!“

So kam die Geschichte zustande, Manuel. Natürlich war alles ein abgekartetes Spiel gewesen. Das merkte ich sofort. Und trotzdem fand ich nicht den Mut, unter den Augen all dieser mir jetzt geradezu widerwärtigen Menschen die Sache aufzuklären. Du kennst ja meine verdammte Schüchternheit. Wortlos nahm ich die Glückwünsche hin und versuchte dann in meiner Feigheit sogar recht und schlecht den glücklichen Bräutigam zu spielen. Außerdem tat mir auch Eva leid. Denn sie war so selig und so zärtlich, daß ich ihr doch unmöglich sagen konnte, wie gleichgültig sie mir im Grunde sei. Diese Gemütsroheit brachte ich nicht fertig. Nur eines erklärte ich ihr gleich: daß von einer baldigen Heirat keine Rede sein könne, da meine Einkünfte nur eben – wenigstens vorläufig – für mich allein ausreichten. – ‚Dann warten wir eben, bist du ein berühmter Mann geworden bist‘, lachte sie in ihrer Unerfahrenheit. Als ob man heutzutage so leicht berühmt wird!“ fügte er bitter hinzu, indem er an all die Enttäuschungen dachte, die er mit seinen Bildern erlebt hatte.

Als Hillgreen jetzt schwieg, meinte Belsard gedehnt:

„Hm, also deshalb dauerte diese Kremserpartie so lange! Ursprünglich wolltet Ihr doch um acht Uhr wieder zurück sein.“

„Waren wir auch. Nur die kleine Verlobungsfeier bei Kempinski hat sich bis jetzt ausgedehnt“, erklärte der Maler.

„Also gleich mit Wein wurde die Sache begossen, sieh einer an!“ lachte Belsard ironisch. „Die Marholzens gehen stramm ins Zeug, allerhand Achtung! – Und was nun, mein Junge?“

„Ich werde Fräulein Stölner einen Brief zugehen lassen und ihr darin möglichst zartfühlend mitteilen, daß ich mich über meine Gefühle getäuscht hätte und daß ich es in unserer beider Interesse für richtiger hielte, das Verlöbnis sofort wieder zu lösen. – Bewunderst du nicht meinen Mut, Manuel?“

„Allerdings. – Freilich würde ich dich zu dieser Absage auch dann gezwungen haben, wenn du nicht so bald eingesehen hättest, welche Dummheit du begangen hast“, meinte der Schriftsteller gleichmütig.

Hillgreen, der bereits am Schreibtisch Platz genommen hatte, wandte sich fragend um.

„Eva Stölner ist dir nicht sympathisch?“

„Nein. Ich halte sie für eine große Komödiantin. Vielleicht gelingt es uns auch noch festzustellen, weshalb sie gerade dich einfangen wollte. Das wäre ganz interessant.“

Hillgreen suchte sich jetzt Briefpapier hervor und begann dann mit der Abfassung des Schreibens, wobei ihm Belsard die Hauptsache in die Feder diktierte. Gerade als der Maler den Umschlag geschlossen hatte, hörte man draußen auf der Treppe schwere Schritte.

„Nanu!“ meinte Hillgreen aufhorchend. „Noch so spät Besuch?“

Gleich darauf läutete die Glocke.

Belsard ging und öffnete. Vor der Tür stand ein Depeschenbote mit einem Telegramm. Er erhielt ein Trinkgeld und verschwand wieder. Wortlos, mit zitternden Händen, riß Hillgreen die Depesche auf. Als er die auf das Formular aufgeklebten Papierstreifen überflogen hatte, war aus seinem Gesicht jede Spur von Farbe gewichen.

Mit einem „Lies, bitte“ reichte er Belsard das Telegramm hin.

„Kunstmaler Eduard Hillgreen, Berlin–Schmargendorf, Kaiserstraße 19.

Testament zu Ihren Gunsten heute Vormittag nach erstem Schlaganfall. Soeben zweiter Anfall. Ableben stündlich zu erwarten. Ihr Verwandter wünscht Sie noch zu sehen. Sofort kommen.

Justizrat Magnus-Wolgast.“

Belsard legte die Depesche langsam auf die Platte des Schreibtisches. Man sah es seinem Gesichtsausdruck deutlich an, daß er sich vergeblich bemühte, den Sinn dieser Nachricht zu enträtseln.

Da kam der Maler ihm auch schon zu Hilfe.

„Wenn dieses Telegramm den Tatsachen entspricht“, sagte er beinahe feierlich, „so steht mir eine Millionenerbschaft in Aussicht.“

Belsards Augen weiteten sich vor Erstaunen.

Und eifrig, in freudiger Erregung, fuhr Hillgreen fort:

„Ich habe absichtlich nie mit dir über diese Angelegenheit gesprochen, Manuel, da sie eben bisher so gut wie aussichtslos war und ich es auch für töricht, nein, für gewissenlos halte, mit einem Vermögenszuwachs zu rechnen, der von dem Tod eines Menschen abhängig ist. Jetzt, wo offenbar in dieser Sache eine entscheidende Wendung eingetreten ist, ändert sich das. – Setzen wir uns wieder. – Ich will dir eingehend alles erklären, worauf du als der einzige Mensch, der mir etwas gilt, ein gutes Recht hast.“

 

2.

„Mein Vater hatte einen Stiefbruder, der, einem dunklen Drange nach Abenteuern folgend, schon in jungen Jahren die Heimat verließ und nach Amerika auswanderte. Dieser Alexander Müller tauchte nun – ich war damals gerade fünf Jahre alt – plötzlich wieder in unserer Vaterstadt Bremen auf, total heruntergekommen und in seiner Kleidung so vernachlässigt, daß meine Eltern entsetzt waren, als er eines Tages bei ihnen erschien und um Unterkunft bat. Trotzdem behielten sie ihn eine Woche bei sich, pflegten ihn einigermaßen gesund und gaben ihm noch ein reichliches Zehrgeld mit. Beim Abschied kam es dann, wie meine Mutter mir oft erzählt hat, zu einer erregten Szene zwischen den Stiefbrüdern. Mein Vater, der sehr auf seine Stellung als Beamter hielt und in seinem Ansehen durch das fernere Verbleiben Alexanders in Bremen geschädigt zu werden fürchtete, wollte diesen überreden, wieder in die Fremde zu gehen und dort aufs neue sein Glück zu versuchen. Nur unter dieser Bedingung sollte jener fünfhundert Mark erhalten. Alexander, der sehr wohl merkte, daß man ihn los sein wollte, nahm das Geld unter allerlei Schmähungen, die sich auf den scheinbaren Hochmut meines Vaters bezogen und verschwand. Meine Eltern atmeten auf, als sie ihn dann auf dem nächsten Auswandererschiff untergebracht hatten. Volle fünfundzwanzig Jahre lang habe ich dann nichts mehr von diesem Verwandten gehört. Inzwischen starben meine Eltern, und ich stand ganz allein da. Dann lernte ich dich im Künstlerverein kennen, Manuel, und du hast mir einen Teil dessen ersetzt, was ich besonders an meinem geliebten Mütterlein verloren hatte. Vor zwei Jahren nun – vielleicht erinnerst du dich noch an den Prozeß – stand vor den Geschworenen in Greifswald ein entfernter Vetter von mir unter der Anklage des Giftmordversuchs.“

Belsard, der mit größter Spannung diesem Bericht gefolgt war, unterbrach hier den Freund.

„Ich besinne mich – er hieß Boto Hillgreen, nicht wahr?“

„Ja. – Dieser Boto Hillgreen, den ich persönlich nie gekannt hatte, war, wie ich aus den Zeitungsberichten über den Prozeß ersah, bei einem Rittergutsbesitzer Alexander Müller auf Balliden, Insel Usedom, Wirtschaftsschüler gewesen. Um mich kurz zu fassen – auf diese Weise bekam ich heraus, daß mein Stiefonkel bereits vor zehn Jahren, also kurz vor dem Tode meiner Eltern, nach Deutschland zurückgekehrt war, und zwar als schwerreicher Mann. Er hatte Boto, dessen Eltern in sehr bedrängten Verhältnissen lebten, aus Mitleid zu sich genommen und, wie die Gerichtsverhandlung ergab, sogar zu dessen Gunsten ein Testament gemacht. Eines Tages nun erkrankte meine Stiefonkel unter Vergiftungserscheinungen. Es stellte sich dann heraus, daß man ihm in den Morgenkaffee eine starke Dosis Arsenik geschüttet hatte. Die Polizei fand bei der Haussuchung in Botos Zimmer in einem ausgehöhlten Bettpfosten versteckt eine Düte mit Arsenik, und dieses belastende Moment genügte, um ihn unter Anklage zu stellen, zumal er von Jugend an den Seinen durch allerhand Streiche großen Kummer bereitet und auch gewußt hatte, daß er seines Wohltäters Erbe war. Boto hat stets seine Unschuld aufs energischste beteuert. Ich selbst halte ihn eines solchen Verbrechens auch nicht fähig, soweit ich mir eben aus den Verhandlungsberichten ein Bild seines Charakters zusammenstellen konnte. Die Geschworenen jedoch erklärten ihn für schuldig, und er wurde zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Diese Strafe hat er jetzt zur Hälfte verbüßt. – Soweit die Vorgeschichte.

Vor etwa einem Monat erhielt ich nun von einem Justizrat Magnus aus Wolgast, einem Städtchen, das nur durch einen schmalen Wasserarm, die Peene, von der Insel Usedom getrennt ist, ein Schreiben, in dem der Anwalt mir mitteilte, mein Stiefonkel Alexander Müller habe die Absicht, mich als den einzigen Verwandten zum Erben seines Vermögens einzusetzen. Diesen Brief beantwortete ich überhaupt nicht. Es war wohl das klügste, was ich tun konnte. Trotzdem ließen mich die Gedanken an diese Erbschaft nicht los, so sehr ich sie auch von mir zu weisen suchte. Zu verdenken ist mir das kaum. Denn, mag ich auch ein noch so unpraktischer Mensch sein, den Wert des Geldes, des Reichtums, kenne ich vielleicht deswegen so gut, weil ich eigentlich mein Leben lang stets mit dem Mangel zu kämpfen hatte und meine künstlerischen Pläne nur aus Geldnot nie verwirklichen konnte. – Weiter habe ich dir nichts mitzuteilen, Manuel. Die Depesche erklärt dir alles übrige.“

Belsard streckte jetzt dem Freund herzlich die Hand hin.

„Ich gratuliere dir, mein Junge. Denn an dem mir jetzt völlig verständlichen Inhalt des Telegramms läßt sich nicht zweifeln. – Wie groß mag das Vermögen deines Stiefonkels sein? Weißt du darüber etwas?“

„Nur so viel, als damals vor zwei Jahren bei der Gerichtsverhandlung erwähnt wurde. Es soll sich um zwei Millionen gehandelt haben, die Boto nach Ansicht des Gerichts durch einen Giftmord baldigst an sich reißen wollte.“

„Ein hübscher Batzen Geld! – Und was nun?“

„Natürlich fahren wir so bald als möglich nach Zinnowitz. Das ist jetzt meine Pflicht.“

Hillgreen suchte aus seinem Bücherschrank ein Kursbuch hervor. Den passenden Zug festzustellen überließ er jedoch dem geübteren Freunde. Sehr bald wußte dieser Bescheid.

„Also dann morgen früh sieben Uhr dreißig Minuten ab Stettiner Bahnhof“, erklärte der Schriftsteller, in dem Fahrplan blätternd. „Der Zug geht über Pasewalk-Swinemünde und ist fünf Minuten nach einhalb ein Uhr mittags in Zinnowitz.“

„Gut. Wir treffen uns dann auf dem Stettiner Bahnhof, nicht wahr?“ meinte Hillgreen etwas unsicher. Und zögernd fügte er hinzu: „Wie steht es aber mit dem Reisegeld, Manuel? Ich besitze gerade noch zwölf Mark.“

Belsard lachte.

„Ein zukünftiger Millionär braucht sich darüber keine Sorgen zu machen! – Wir beide haben ja schon oft genug den Inhalt unserer Kassen zusammengetan“, beruhigte er den Freund. –

Gleich darauf verabschiedete der Schriftsteller sich. Den Brief an Eva Stölner nahm er mit, um ihn in den nächsten Kasten zu werfen. Hillgreen begleitete den Freund noch die fünf Treppen hinab, um ihm die Haustür aufzuschließen.

„Ein wunderbarer Maiabend“, sagte Belsard, als sie noch einen Augenblick vor dem Hause standen. „Ich werde zu Fuß heimwandern. – Gute Nacht, mein Junge. Und morgen früh auf Wiedersehen!“ –

An der Ecke der Kaiserstraße, an einem noch unbewohnten Neubau, hing ein Briefkasten. Eben hatte der Schriftsteller das Schreiben unter die Klappe geschoben, als neben ihm plötzlich eine in einen leichten Pelerinenmantel gekleidete Männergestalt auftauchte. Der Fremde, von dessen Gesicht unter dem großen schwarzen Schlapphut nur die Nasenspitze und ein dichter, dunkler Vollbart zu erkennen waren, reichte dem erschreckt einen Schritt zurückweichenden Belsard mit ungeduldiger Bewegung einen Zettel hin. „Ich bin kein Straßenräuber“, sagte er rauh. „Nehmen Sie! Und befolgen Sie meine Mahnung.“

Ehe der Schriftsteller sich noch von der ersten Überraschung erholt hatte, war er schon wieder allein. Wie ein Schatten huschte der Unbekannte lautlos um die Ecke.

Neugierig trat Belsard unter die nächste Laterne und entfaltete das Stückchen Papier. Darauf stand in offenbar verstellter Schrift: „Ich bin in alles eingeweiht. Wachen Sie über Eduard Hillgreen. Ihm droht Gefahr. Und lassen Sie den Gutsverwalter Stölner nicht aus den Augen. – Zu niemandem ein Wort über diese Warnung, zu niemandem! Nächstens erhalten Sie weitere Nachricht. Doch trauen Sie nicht jedem Zettel. Nur wenn sich die Worte ‚Wachen‘ und ‚Warnung‘ in dem Text vorfinden. Sie sind von gefährlichen Feinden umgeben.“

Belsard stand ganz entgeistert auf dem Bürgersteige in der stillen Straße. Seine Augen überflogen immer wieder diese geheimnisvollen Sätze, in denen ihm am meisten der eine Name auffiel, dieser Name, der heute abend so oft erwähnt worden war: Stölner – Stölner!

Und dann ging es wie ein Ruck durch Belsards Körper. – Daß ihm dieses merkwürdige Zusammentreffen auch nicht gleich aufgestoßen war! Eva Stölners Vater war ja Gutsverwalter einer an der Ostsee liegenden großen Begüterung –! Sollte, sollte –?

Des jungen Schriftstellers Gedanken jagten in wilder Hast, verbanden die einzelnen Ereignisse und bauten aus allerhand so naheliegenden Schlüssen ein raffiniertes Ränkespiel auf, mit dem der Millionenerbe gefangen werden sollte. Und inmitten der Verschwörung ragte als die Hauptperson die üppige Gestalt eines schönen, verführerischen Weibes empor, – Eva Stölner –!

Manuel Belsard glaubte genug zu wissen. Und schnellen Schrittes durchmaß er jetzt die noch unbebauten Straßenzüge, die das Schmargendorfer Gelände von dem Vororte Halensee trennen.

Der Schriftsteller bewohnte seit einigen Jahren ein großes, zweifenstriges Vorderzimmer in einer stillen Straße Halensees. – Er, der oft bis in den Morgen hinein arbeitete und daher recht unregelmäßig seine Mahlzeiten einnahm, – eben je nachdem er aufgestanden war, machte sich jetzt mit wahrem Heißhunger über sein bescheidenes Abendessen her, nachdem er seinen Überzieher und seinen Rock säuberlich in den Kleiderschrank auf die Bügel gehängt hatte. Dabei sah er auch die Abendzeitung flüchtig durch.

Plötzlich stutzte er. Sein Blick, der über die Notiz „Raffinierte Flucht eines Zuchthäuslers“ schon halb hinweggeglitten war, haftete auf einem bekannten Namen.

Boto Hillgreen! Das war ja seines Freundes Verwandter, jener wegen Giftmordversuchs verurteilte junge Mensch, der eigentlich die Millionen Alexander Müllers hatte erben sollen! – Eifrig überflog er nun den kurzen Bericht.

„Raffinierte Flucht eines Zuchthäuslers. – Wie uns unser M.-R.-Korrespondent aus Mewe mitteilt, ist vor einer Woche aus dem dortigen Zuchthaus der wegen versuchten Giftmordes seinerzeit zu vier Jahren Zuchthaus verurteilte Gutsschüler Boto Hillgreen entwichen. Der Gefangene, der in der Böttcherei der Anstalt beschäftigt wurde, hatte sich in eines der zum Abtransport auf einem Wagen geladenen Fässer verkrochen und passierte so ungehindert das Ausgangstor. Auf dem Wege zur Stadt verließ er sein Versteck und floh querfeldein in den nahen Wald. Trotz der sofort aufgenommenen Verfolgung wurde der Zuchthäusler bisher nicht wieder ergriffen, was um so unerklärlicher ist, als Hillgreen mit seinem kahlgeschorenen Kopf und in seiner leichtkenntlichen Anstaltskleidung doch überall auffallen muß. Man nimmt daher an, daß er Helfershelfer gehabt hat, die seinen Plan unterstützten und ihn vorläufig auch verborgen halten dürften.“

„Ein merkwürdiger Zufall“, dachte Belsard. – Gerade heute abend hatte er mit dem Freunde über diesen Unglücklichen gesprochen. Und jetzt, kaum eine Stunde später, stieß er hier auf diese Notiz –! Das wollte er Eduard Hillgreen jedenfalls mitteilen, den die Nachricht sicherlich interessieren würde.

Bald darauf ging er zur Ruhe, nachdem er seinen Wecker noch auf halb sechs Uhr gestellt hatte.

 

3.

Gerade als der Schnellzug, der die beiden Freunde ihrem Ziele zuführen sollte, den Stettiner Bahnhof verließ, öffnete Eva Stölner den Brief Eduard Hillgreens, in dem dieser ihr die Notwendigkeit der sofortigen Lösung der voreilig geschlossenen Verlobung auseinandersetzte. In dem Wohnzimmer bei Rechnungsrat Marholz befanden sich zu dieser Zeit nur zwei Personen – Eva Stölner und ihre Tante Antonie Marholz.

Das junge Mädchen mußte über eine seltene Energie verfügen. Nichts als ein festeres Zusammenpressen der vollen Lippen verriet den Aufruhr, den der Inhalt des Schreibens in ihrem Innern entfacht hatte. Ruhig schob sie den Briefbogen jetzt wieder in den Umschlag zurück.

„Der Jüngling scheint doch mehr Intelligenz zu besitzen, als wir ihm zutrauten. Denk’ dir, Tante – er gibt mir sein Jawort zurück. – Hier – willst du den Wisch lesen?“

Schon dieser eine Satz, aus dem so viel beißender Spott, feindseliger Haß und eine geradezu niedrige Gesinnung hervorquollen, hätte jedem Unbeteiligten vollauf genügt, um sich ein richtiges Bild von dem wahren Charakter dieses äußerlich so anziehenden Weibes machen zu können.

Die Rechnungsrätin hatte ganz entsetzt ihr Brötchen auf den Teller zurückgelegt.

„Nicht möglich!“ stieß sie ungläubig hervor. „Das wagt er wirklich?!“

Eva Stölner lachte schrill auf.

„Ich sagte ja schon – er ist doch nicht so dumm, wie er aussieht. Meine Liebe mag ihm doch wohl etwas verdächtig vorgekommen sein.“ Damit reichte sie der alten Dame, die trotz ihres ehrwürdigen grauen Haares und der goldenen Brille vor den stets halb zugekniffenen Augen recht wenig sympathisch aussah, den Brief über den Tisch hin.

In demselben Augenblick erschien Rechnungsrat Marholz, der sich beim Ankleiden etwas verspätet hatte, in der Tür.

„Allseits guten Morgen“, begrüßte er die Damen in offenbar bester Laune. „Wie ist euch denn das Böwlchen gestern bekommen, – besonders dir, junge Braut?“

Und lächelnd hob er das elegant frisierte Köpfchen seiner Nichte etwas in die Höhe, indem er sie zärtlich unter das Kinn faßte. Doch ihr mißmutiger Gesichtsausdruck machte ihn sofort stutzig.

„Aber Kind“, meinte er, „wo ist denn der Sonnenschein, der auf dem Antlitz jeder –“

„Laß diese lächerlichen Phrasen, Mann!“ unterbrach ihn seine Gattin unwirsch, die eben Hillgreens Brief durchgesehen hatte. „Sie passen in unsere Stimmung wirklich nicht hinein. – Der Maler hat sich nämlich bereits eines anderen besonnen und Eva abgeschrieben.“

Der kleine Herr Rat, ein spindeldürres Männchen mit einem gutmütigen, freundlichen Gesicht, war zunächst ganz sprachlos. Er schnappte ordentlich nach Luft vor Schreck.

„Das – das finde ich unerhört!“ stotterte er schließlich. Und zu seiner Nichte gewandt, die es jetzt für angebracht hielt, ein paar Tränen in ihrem Spitzentüchlein zu erdrücken: „Armes, armes Kind! Diese Enttäuschung! Nimm sie dir nun nicht allzusehr zu Herzen! O – dieser schändliche Don Juan!!“

Auch die Rechnungsrätin, die ihren Gemahl, den sie einst nur aus kühler Berechnung geheiratet und auch sehr bald vollständig unter ihren eisernen Willen gezwungen hatte, in dieses schlau berechnete Spiel einzuweihen für überflüssig und unzweckmäßig erachtete, spielte die Schwergekränkte.

„Du siehst wieder einmal, Franz, wie schlecht die Männer sind!“ sagte sie, entrüstet den Kopf hoch emporreckend. „Dieser Mensch ist es nie wert gewesen, daß wir ihn in unseren Familienkreis aufnahmen. Unser Evchen zu einer solchen freventlichen Liebelei zu benutzen, ist mehr als gewissenlos!“

Marholz, der inzwischen nach der Uhr gesehen hatte und nun eilig Kaffee zu trinken begann, da er um neun Uhr im Kontor sein mußte, fand gar nicht Worte genug, um die Handlungsweise Hillgreens in Grund und Boden zu verurteilen. Hatte er doch von dem wahren Sachverhalt keine Ahnung. Seine ehrliche Empörung wirkte um so komischer, als die beiden Damen während seiner geharnischten Redensarten häufig Blicke wechselten, in denen der offensichtliche Spott über seine scharfen Ausfälle gegen den „charakterloses, leichtfertigen Pinselhelden“ zu lesen war.

Endlich brach der Rechnungsrat nach wortreichem Abschied auf, und Tante und Nichte waren allein. Die Schauspielerei hatte ein Ende. Jetzt wurde die Angelegenheit von der praktischen Seite beleuchtet. „Was gedenkst du zu tun, Eva?“ fragte die Rätin, die Kaffeetasse energisch beiseite schiebend.

„Ich werde Papa sofort alles mitteilen. Er mag mir dann Verhaltungsmaßregeln geben“, erklärte Evchen, neben ihrer Tante am Tische Platz nehmend.

„Am besten, du telephonierst an ihn. Freilich wirst du lange auf Anschluß warten müssen. Die Strecke nach Stettin ist immer sehr in Anspruch genommen.“

„Versuchen werde ich’s jedenfalls. Ein Telegramm ist zu gefährlich. Papa wird ein schönes Gesicht machen, wenn er diesen Ausgang erfährt“, fügte sie ironisch hinzu. „Ich hatte ja gleich nicht viel Vertrauen zu der Geschichte. Ja, wenn dieser Belsard nicht gewesen wäre! Ohne den ist Eduard Hillgreen hilflos wie ein Kind. Aber der Schriftsteller wird argwöhnisch geworden sein, Tante – glaube mir. Der hat mich von Anfang an nicht leiden mögen. Und dem allein verdanke ich diese Absage, fraglos!“

„Du dürftest Recht haben. Belsard steckt hinter diesem Brief. Hillgreen allein hätte nie den Mut dazu gefunden, der – der Waschlappen!“

Und um ihre Entrüstung hinunterzuspülen, schenkte Frau Antonie sich noch eine Tasse Kaffee ein. Draußen schrillte die Flurglocke nun schon zum zweiten Male.

„Geh doch bitte öffnen, Kind“, wandte Frau Marholz sich nervös an ihre Nichte. „Die Anna scheint im Schlafzimmer zu sein und hört natürlich wieder nichts.“

Eva Stölner eilte hinaus. Gleich darauf kehrte sie mit einem Brief in der Hand zurück.

„Von Papa – ein Eilbrief“, erklärte sie erregt. „Gib acht, Tante, Müller ist jetzt gerade uns zum Possen gestorben – jetzt, wo er besser noch eine Weile am Leben geblieben wäre.“

„So sieh doch nach, was darin steht“, meinte die Rätin ungeduldig.

Eva riß den Umschlag auf und entfaltete den Bogen, der zur Vorsicht an den Ecken versiegelt war.

Liebe Tochter!

M. soeben – halb elf Uhr abends – gestorben. Bringe die Sache mit E. H. bestimmt ins reine – mit allen Mitteln. Er ist Erbe. Wir gehen so gut wie leer aus. Begleite E. H. dann hierher. Als seine Braut kannst du das. Meine Schwester Antonie soll sich euch als Anstandsdame anschließen. Mach’ keine Dummheiten und sei vorsichtig. Vergiß nicht, daß zwei runde Millionen auf dem Spiel stehen. Ich will nicht umsonst alles bisher so fein vorbereitet haben. Und schaffe dir einfache Trauerkleider an. Du weißt, was ich meine. Zum Putztreiben ist später noch Zeit genug. Bestimme auch E. H. dazu, daß er seinen Freund auf keinen Fall mitbringt. Das scheint ja ein gefährlicher Bursche zu sein. E. H. muß entschieden diese Bekanntschaft aufgeben. Hilf nach, wenn es nottut. Justizrat M. habe ich es glücklich ausgeredet, daß er an E. H. die Neuigkeit telegraphiert. Du hast mithin morgen vormittag noch Gelegenheit, die Geschichte zu ordnen. Nebenbei – das Testament ist genau so abgefaßt wie das erste, in dem Boto Hillgreen zum Erben eingesetzt war. Derselbe Passus, der uns eventuell berücksichtigt, steht auch in der jetzigen letztwilligen Verfügung, was von großer Wichtigkeit ist.

Wenn ich etwas unverständlich schreibe, so führe das auf meine Aufregung zurück, die sehr groß ist. Der Todesfall kam zu überraschend. Ich hatte wenigstens noch auf ein paar Tage Frist gerechnet. Es grüßt dich herzlich

Dein Vater St.“

Eva hatte das Schreiben laut vorgelesen. Jetzt ließ sie den Briefbogen sinken. Ihr Gesicht war verzerrt vor innerer Erregung. Und heiser, mit völlig fremd klingender Stimme, sagte sie nur: „Ich habe das Richtige geahnt, wie du siehst!“

Frau Marholz war hastig aufgestanden und durchquerte mit eiligen Schritten das Zimmer, indem sie ihre knochigen Finger in nervösem Spiel ineinanderschlang.

„Wie wär’s, wenn wir noch einen letzten Versuch machten und zu Hillgreen gingen“, meinte sie dann nach einer Weile. „Spiele die Verzweifelte – vielleicht hilft das –“

Doch Eva Stölner schüttelte ablehnend den Kopf.

„Nein. Ich bin zu einem anderen Entschluß gekommen. Laß mich nur allein handeln, Tante. Ich werde schon einen Ausweg finden.“

Die Rätin schaute etwas gekränkt drein.

„Wie du willst“, sagte sie kurz. „Wenn dir an meiner Erfahrung nichts gelegen ist –“

„Nicht so, Tante! Nicht dieses Gesicht, als ob ich dich jetzt als überflüssig beiseite schieben wollte. Wir werden die Millionen doch gewinnen – trotz aller Hindernisse.“

Sie lächelte schon wieder. Und in ihren dunklen Augen lag dabei ein so siegesgewisser Ausdruck, daß die Rätin sich schnell beruhigte.

Wenige Minuten später eilte Eva Stölner, nachdem sie sich schnell zum Ausgehen fertiggemacht hatte, zu ihrem Vetter hinüber, der in derselben Straße, einige Häuser weiter, ein billiges möbliertes Zimmer bewohnte. Willi Marholz war offenbar soeben erst aufgestanden. Mit seinem ungekämmten Haar und dem verlebten, fahlen Gesicht wirkte er keineswegs sehr anziehend. Trotzdem flog ihm Eva, kaum daß sie die Tür hinter sich wieder ins Schloß gedrückt hatte, mit einem leisen Jubelruf in die Arme.

Endlich kamen sie dann auf das zu sprechen, was das gewissenlose junge Weib in der Nähe dieses Menschen, den sie sonderbarerweise aufrichtig und mit aller Leidenschaft ihres heißen Herzen liebte, für Momente vollkommenen vergessen zu haben schien.

In leisem Flüsterton wurde diese Unterhaltung geführt, die schließlich damit endete, daß der verbummelte Kandidat der Philologie Eva versprach, sofort nach Schmargendorf hinauszufahren und festzustellen, ob Eduard Hillgreen bereits abgereist sei, beziehungsweise wann er abreisen würde.

„Ein Trinkgeld wird dem Pförtner schon den Mund öffnen“, meinte er zuversichtlich. „Die Pförtner wissen ja über ihre Mieter meist besser Bescheid, als diese es ahnen.“

Zum Erstaunen der Rechnungsrätin brachen die beiden dann gegen Mittag zu einer Radtour in die Berliner Umgebung auf.

„Ich muß an die frische Luft, Tante“, versicherte Eva mit ehrlichstem Gesicht. „Der Ärger ist mir böse an die Nerven gegangen. Und Bewegung wird mir sehr dienlich sein.“

„Aber Kinder, Kinder!“ jammerte Frau Marholz ganz verzweifelt, „wie könnt Ihr nur jetzt an Radfahren denken, jetzt, wo so viel auf dem Spiel steht!“

„Wir denken sogar sehr stark daran“, sagte der Kandidat gelassen und füllte sich aus seines Vaters Kiste seine Zigarrentasche. „Wenn das Wetter gut bleibt, kommen wir vielleicht erst morgen oder übermorgen nach Hause. Hoffmanns in dem idyllisch gelegenen Kaputh nehmen Eva gern für eine Nacht auf, und ich bleibe im Gasthaus, falls sie nicht auch für mich ein Fremdenbett haben, was bei ihrem großen Verkehr eigentlich anzunehmen ist. – Nun aber – Aufbruch, meine Damen! – Macht es kurz mit dem Abschied.“

So blieb Frau Antonie denn allein zurück. Der Kopf war der resoluten Rätin ganz wirr. Diese Radtour heute an diesem – diesem Tag!! Das war ja mehr als Gleichgültigkeit, das war Wahnsinn, Unfug! Und sie – sie hatte sich wirklich überrumpeln lassen! Alles war ja so plötzlich gekommen! – Dies blieb die einzige Entschuldigung, die Frau Marholz dafür fand, daß sie den beiden diesen Ausflug nicht einfach verboten hatte.

 

4.

Die Villa, welche Rittergutsbesitzer Alexander Müller in dem Ostseebad Zinnowitz besaß, lag an der Strandpromenade, keine hundert Meter von der See entfernt, inmitten eines mit alten Bäumen bestandenen Gartens. Das aus dunkel gestrichenem Fichtenholz im norwegischen Stil errichtete, peinlich saubergehaltene Haus erhob sich auf einer Art Terrasse, deren beide Vorderecken nach dem Meer hin mit zwei altertümlichen großen Schiffsgeschützen bestellt waren, – ein Schmuck, der dem freundlichen Besitz ein eigenartiges Gepräge gab.

Soeben bog Justizrat Horst Magnus, der mit dem Frühzuge von dem kaum eine halbe Stunde entfernten Wolgast herübergekommen war, um die Ecke der Strandpromenade und schritt auf die Villa zu, in der, aufgebahrt in seinem schweren Eichensarge, der bisherige Besitzer den letzten Schlaf schlief.

Langsam, tief in Gedanken, stieg der Anwalt die in weite Rasenflächen eingebettete Treppe zu dem norwegischen Häuschen empor. Die Haustür stand halb offen. Ohne weiteres trat er ein, entledigte sich seines Mantels und ging dann in das zur rechten Hand gelegene Arbeitszimmer des Verstorbenen.

Aus dem Polsterstuhl vor dem Schreibtisch erhob sich bei seinem Eintritt eine hohe, massige Gestalt.

„Guten Morgen, Herr Justizrat“, begrüßte der Gutsverwalter Heinrich Stölner den langjährigen Rechtsbeistand seines Herrn mit einer tiefen Verbeugung.

Der Anwalt streckte ihm die Hand hin. „Morgen Stölner. – Sie haben bei unserem Toten gewacht?“

„Das war ich ihm doch wohl schuldig“, meinte der Verwalter bescheiden. Auf seinem glattrasierten, geräumten Gesicht mit den auffallend großen Augen und dem breiten, brutalen Kinn lag dabei ein Ausdruck tiefen Schmerzes.

„Den Brief an Eduard Hillgreen haben Sie doch aufgegeben?“ fragte der Justizrat, indem er sich an den Schreibtisch setzte und in einem Bündel von Papieren blätterte.

„Wahrhaftig – das habe ich vollständig vergessen“, entschuldigte sich der Verwalter bedauernden Tones. „Wie konnte ich nur! Aber kaum waren Sie fortgefahren, Herr Justizrat, als auch schon die Leute mit dem Sarge kamen. Und über dem Einbetten unseres lieben Verstorbenen dachte ich auch nicht mehr im entferntesten an den Brief, der noch hier in meiner Rocktasche steckt.“

Der Anwalt hatte sich dem Sprecher wieder zugewandt. Scheinbar gleichmütig nahm er das Schreiben in Empfang und legte es auf die Schreibtischplatte.

„Die Sache ist nicht weiter schlimm“, meinte er, indem er zu dem neben ihm Stehenden emporsah. „Ich habe schon gestern abend gegen halb zehn, als der zweite Schlaganfall eintrat, an Hillgreen telegraphiert und um sein sofortiges Erscheinen gebeten. Im Drange der Ereignisse vergaß ich, Ihnen das zu sagen. Den inzwischen eingetretenen Tod seines Stiefonkels erfährt der Erbe noch früh genug.“

Für einen Moment huscht etwas wie ein wutverzerrtes Lächeln über des Verwalters scharf markierte Züge. Nur für einen Moment. Und doch entging dem aufmerksamen Justizrat diese blitzschnelle Veränderung nicht. Aber er nahm weiter keine Notiz davon. Dann sagte Stölner auch schon in seiner gewohnten, salbungsvollen Art:

„Sie denken aber auch an alles, Herr Justizrat. Man sieht, Sie behalten selbst solchen traurigen Vorfällen gegenüber Ihre klare Überlegung. Ich kann das alles noch immer nicht fassen, wandele wie im Traum umher.“

„Die Naturen sind verschieden, lieber Stölner“, meinte der Anwalt gelassen. Und fügte mit stärkerer Betonung hinzu:

„Hillgreen hat heute morgen an mich depeschiert, – vom Stettiner Bahnhof in Berlin aus. Er trifft mit dem Mittagszuge hier ein.“

Wieder auf Stölners Antlitz diese schnelle Verzerren und ebenso schnelle Glätten der Mienen. Aber die Stimme blieb die gleiche – ruhig, leidenschaftslos, als er erwiderte:

„Das ist ja sehr gut. Dann werde ich nur gleich den Mädchen sagen, daß sie das Fremdenzimmer in Ordnung machen.“

„Ein zweites Bett muß auch aufgestellt werden“, rief der Anwalt dem bereits in der Tür Stehenden noch nach. „Hillgreen bringt einen Freund mit.“

Als Stölner die mit Fellen und Waffenarrangements geschmückte Vorhalle durchschritt, lag auf seinem Gesicht deutlich der Widerschein all der wilden Empfindungen, die sein Herz mächtig erregten. Seine Hände – grobe, knochige Hände, die ungeheure Kraft verrieten, waren krampfhaft zu Fäusten geballt. Und jetzt, wo er unbeobachtet war, zischte er leise zwischen den Zähnen hindurch:

„Und ihr sollt doch nicht gewinnen, nie und nimmer, so wahr ich Heinrich Stölner heiße!“

Und in demselben Augenblick dachte der Justizrat drinnen im Arbeitszimmer des verstorbenen Millionärs, unzufrieden mit seiner geringen Menschenkenntnis:

„Wie konnte ich nur! Beschämend genug für mich, daß erst ein anderer kommen und mir die Augen öffnen mußte! Wie konnte ich dem Manne nur so lange blindlings vertrauen!“

* * *

Einige Stunden später saßen in demselben Zimmer um den großen Sofatisch vier Herren mit ernsten Gesichtern.

Der Justizrat hatte soeben aus einem starken Umschlag einen großen Bogen herausgenommen, den er nun sorgfältig, fast feierlich entfaltete.

„Eine beglaubigte Abschrift dieses Testaments, Herr Hillgreen“, begann er, „liegt dem Wunsche des Erblassers entsprechend, auf dem Amtsgericht in Wolgast in sicherer Verwahrung. Das Testament ist von mir als Notar aufgesetzt worden. Der Testamentserrichtung wohnten als Zeugen der hier anwesende Gutsverwalter Stölner und der hiesige Badearzt Dr. Marx bei. – Ich werde nunmehr die letztwillige Verfügung des gestern abend halb elf Uhr verschiedenen Rittergutsbesitzers Alexander Müller verlesen:

Zinnowitz, den … Mai 19…

Mein letzter Wille!

Nachdem sich mein Verwandter Boto Hillgreen als unwürdig erwiesen hat, mein Erbe zu werden, und nachdem ich, geläutert durch die Erfahrungen eines wechselvollen Lebens, meinem Stiefbruder, dem Vater des Kunstmalers Eduard Hillgreen, verziehen habe, bestimme ich, daß der vorgenannte Kunstmaler Eduard Hillgreen mein Universalerbe sein soll.

Meinem Gutsverwalter Heinrich Stölner, der mir zehn Jahre lang in Treue und Ergebenheit mein Rittergut Balliden bewirtschaftet hat, setze ich ein Legat von fünfzigtausend Mark aus.

Den Dienstboten und Gutsleuten, die länger als fünf Jahre bei mir beschäftigt sind, sollen je dreihundert Mark ausgezahlt werden.

Für den Fall, daß mein Universalerbe die Erbschaft nicht antreten will, kann oder darf, tritt an seine Stelle der Gutsverwalter Heinrich Stölner.

Ich erkläre ausdrücklich, daß ich andere erbberechtigte Verwandte nicht besitze.

Den Wert meines Nachlasses gebe ich auf zwei Millionen an, die ich mir in harter Arbeit, freilich vom Glück begünstigt, in den südafrikanischen Diamantenminen ehrlich erworben habe.

Alexander Müller.“

Justizrat Magnus machte eine kleine Pause und fuhr dann fort: „Ich übergebe Ihnen hiermit das Testament, Herr Hillgreen, und begrüße Sie als den Erben meines langjährigen Klienten und Freundes.“

Die beiden Herren schüttelten sich die Hand.

Heinrich Stölner hatte sich gleichfalls erhoben.

„Auch ich gestatte mir, Herr Hillgreen, Sie als den neuen Besitzer von Balliden zu beglückwünschen. Das Geschäftliche können wir ja wohl nach Tisch besprechen.“

Der junge Maler, der in höchster Verlegenheit während des ganzen Aktes auf seinem Stuhl unruhig hin und her gerückt war, beeilte sich, dem Verwalter ebenfalls die Hand zu reichen.

„Selbstverständlich bleibt alles beim alten, Herr Stölner“, meinte er hastig. „Ich hoffe, Sie behalten die Bewirtschaftung des Gutes auch fernerhin.“

„Ganz wie Sie wünschen, Herr Hillgreen“, dienerte der Riese unterwürfig.

Da inzwischen das Stubenmädchen bereits zum zweitenmal gemeldet hatte, daß im Eßzimmer angerichtet sei, begaben die Herren sich zu Tisch. In der Vorhalle fand Manuel Belsard, der bisher den stillen Beobachter gespielt hatte, Gelegenheit, dem Freunde heimlich zuzuflüstern:

„Wie gefällt dir Eva Stölners Vater? Und weißt du nun, weshalb sie sich durchaus mit dir verloben wollte?!“

Hillgreen machte eine unmutige Bewegung mit der Hand.

„Laß doch die Sache ruhen, Manuel! Ich habe ja nie gedacht, daß es so schlechte Menschen geben kann.“

Am Nachmittag hatten die beiden Freunde noch mancherlei für die Beerdigung vorzubereiten, wobei ihnen Stölner hilfreich zur Hand ging. Dann verabschiedete sich dieser, – der Justizrat war bereits früher nach Wolgast zurückgekehrt, und bestieg den vor der Villa haltenden leichten Jagdwagen, um nach Balliden hinauszufahren, das mit seinen zweitausend Morgen Bodenfläche beinahe den zehnten Teil der dem Stettiner Haff vorgelagerten Insel Usedom einnahm.

Das mit zwei prächtigen Grauschimmeln bespannte Gefährt rollte davon. Erst auf dem Rückwege vom Kirchhof, wo sie eine Grabstelle ausgesucht hatten, begann der Schriftsteller dann über Heinrich Stölner zu sprechen. Er hatte Hillgreen bisher absichtlich nichts von dem geheimnisvollen Fremden erzählt, durch den er die merkwürdige Warnung erhalten hatte. Jetzt hielt er den richtigen Zeitpunkt für gekommen.

Schweigend hörte der junge Millionär zu.

„Ganz harmlos ist dieser Verwalter sicher nicht“, meinte er dann, seinen Arm in den Belsards schiebend. „Erst dieser Versuch, mich als Schwiegersohn einzufangen, und darauf diese Warnung durch den Fremden, – das gibt zu denken!“

„Sogar sehr!“ bekräftigte der Schriftsteller energisch. „Jedenfalls wollen wir gehörig aufpassen, daß dieser mir beinahe unheimliche Mensch dich nicht irgendwo zu schädigen sucht. Am besten wäre es, du kündigst ihm unter dem Vorwand, daß du die Bewirtschaftung von Balliden selbst übernehmen willst. Wenn nötig, zahlte ihm doch eine anständige Abfindungssumme. Nur suche ihn schleunigst loszuwerden.“

Hillgreen war einverstanden.

„Wir könnten ja gleich morgen vormittag die Sache mit ihm ins reine bringen“, erklärte er etwas zögernd. „Vielleicht übernimmst du das, Manuel. Du hast so eine ganz andere Art, mit Leuten umzugehen, wie ich.“

Belsard lachte.

„Lieber Junge, du mußt wirklich einmal diese unglaubliche Schüchternheit überwinden, besonders jetzt, wo auf deinen Schultern eine immerhin ganz beträchtliche Arbeitslast ruht. Denn die Verwaltung eines Vermögens von zwei Millionen ist nicht ganz einfach, zumal dazu Grundbesitz, und zwar ein recht ausgedehnter gehört.“

Nach dem Abendessen setzten die beiden Freunde sich dann mit ihrer Zigarre in die Bibliothek, einen langgestreckten Raum, dessen reiche Bücherschätze Belsard einmal flüchtig mustern wollte. Hillgreen hatte die Fenster weit geöffnet, sich mit verschränkten Armen auf das eine Fensterbrett gesetzt und starrte regungslos in die Dunkelheit hinaus, dorthin, wo die Brandung sich wie ein leuchtender weißer Streifen so deutlich abzeichnete.

„Die See stimmt melancholisch“, meinte er nach einer Weile träumerisch, indem er das Gesicht dem Zimmer zudrehte. „Ich glaube, in einer anderen Umgebung würde mich dieser plötzliche Reichtum mehr erfreut haben. Hier kommen mir immer wieder nur törichte Gedanken.“

Belsard, der eifrig in den breiten, gefüllten Bücherregalen herumstöberte, sagte darauf, während er einen dicken, verstaubten Band wegstellte:

„Aber Liebster, – verscheuche doch nur um aller Welt willen diese melancholischen Anwandlungen! Dein Nervensystem ist einfach überreizt von den Aufregungen der letzten Tage. Komm’, laß uns noch einen Spaziergang machen. Der Mond ist aufgegangen. Da können wir die Strandpromenade ein ganzes Stück entlang wandern. Das wird dich auf andere Gedanken bringen.“ –

Eine halbe Stunde später wurde der Gemeindevorsteher von Zinnowitz, ein ehemaliger Marineoffizier namens v. Werchen, von dem in höchster Aufregung befindlichen Belsard herausgeklingelt. Ganz atemlos, mit leichenblassem Gesicht, brachte dieser seine Unglücksnachricht vor. Und wieder eine Viertelstunde später stand bereits eine Menge von Leuten, darunter auch der Ortsgendarm Haßlinger, mit Laternen in den Händen um die Stelle herum, wo Eduard Hillgreen regungslos, mit weit aufgerissenen, gebrochenen Augen, auf dem von dürftigem Strandhafer bestandenen Sandboden lag.

 

5.

Kriminalkommissar Ernst Berndt, der von der Staatsanwaltschaft in Stettin mit der Untersuchung des geheimnisvollen Todesfalles in Zinnowitz betraut war, hatte auf Belsards Aufforderung hin in der Villa Wohnung genommen. Der kleine, kahlköpfige Herr, dem der Nickelkneifer stets etwas schief auf der großen Nase saß, war, wie der Schriftsteller bald merkte, ein sehr schweigsamer Hausgenosse. Über den unter so rätselhaften Umständen erfolgten Tod Hillgreens hatte er mit Belsard bisher so gut wie gar nicht gesprochen, obwohl dieser immer wieder versuchte, aus dem unscheinbaren Männchen etwas Genaueres herauszulocken. Berndt, den seine Stettiner Kollegen nur den „großen Schweiger“ nannten, blieb allen Anzapfungen gegenüber beharrlich stumm. In den zweieinhalb Tagen, die er jetzt in dem idyllischen Badeorte weilte, war er auch noch nicht einen Augenblick zur Ruhe gekommen. Entweder stöberte er im Walde umher, der sich bis zu jenem Platze hinzog, wo Hillgreen die tödliche Kugel erreicht hatte, oder aber er spionierte im Hause herum, wenn er nicht gerade in den Kneipen mit den Eingeborenen bei einem Glase Bier saß und diese auszuhorchen suchte.

Heute nun, am dritten Morgen nach dem plötzlichen, bisher völlig unaufgeklärten Ende des reichen Erben, war aus Stettin noch Staatsanwalt Möller eingetroffen. Soeben saßen die beiden Beamten in dem Arbeitszimmer der Villa sich gegenüber. Sie hatten den Diplomatenschreibtisch ein Stück vom Fenster abgerückt, so daß jeder bequem an einer der beiden Seiten Platz fand.

Möller, ein noch verhältnismäßig junger Mann, sagte gerade in etwas belehrendem Ton: „Es ist eine durch viele Erfahrungen erhärtete Tatsache, daß die ersten drei Tage nach einem Kriminalfall wie dem vorliegenden, wo es sich doch höchst wahrscheinlich um Mord handelt, die wichtigsten sind. Werden in dieser Zeitspanne keine Anhaltspunkte gefunden, die auf eine bestimmte Person als Täter hindeuten, so verläuft die spätere Untersuchung gewöhnlich ebenso resultatlos.“

Berndt, der es sich in seinem Klubsessel recht bequem gemacht und die Arme auf die Lehnen aufgestützt hatte, brachte jetzt die Fingerspitzen seiner Hände wie spielend aneinander und schaute dabei den Staatsanwalt über den Rand seiner Kneifergläser erst eine Weile scheinbar höchst erstaunt an, bevor er sich zu einer Entgegnung anschickte.

„Diese Ansicht von der ungeheuren Wichtigkeit der ersten drei Tage bei einer Kriminaluntersuchung werden Sie wohl bald selbst korrigieren müssen“, meinte er. „Auch ich war von dieser theoretischen Behauptung fest überzeugt, als ich noch als Gerichtsassessor bei der Staatsanwaltschaft in Berlin arbeitete. Kaum hatte ich jedoch, nachdem ich zur Kriminalpolizei – lediglich aus Liebe zur Sache – übergetreten war, etwas in die Praxis hineingerochen, als ich diese Annahme schleunigst fallen ließ. – Gehen wir jetzt aber zu dem vorliegenden Falle über. Ich möchte zu dieser Unterredung den Schriftsteller Belsard hinzuziehen. Vielleicht überlassen Sie mir dabei das Wort. Ich verfolge hiermit bestimmte Absichten.“

Als Belsard, den der Kriminalbeamte herbeigerufen hatte, eintrat, stellte ihn Berndt dem Staatsanwalt vor.

„Womit kann ich den Herren dienen?“ fragte der Schriftsteller dann höflich.

„Der Herr Staatsanwalt möchte nochmals aus Ihrem eigenen Munde alle Einzelheiten jenes traurigen Ereignisses hören“, erklärte der Kommissar in leichtem Plaudertone. „Also erzählen Sie uns bitte, was Sie wissen, Herr Belsard.“

„An jenem Abend beschlossen wir etwa gegen halb zehn Uhr noch einen kleinen Spaziergang die Strandpromenade entlang zu machen“, begann dieser ohne Zögern. „Es war draußen –“

„Eine Zwischenfrage“, unterbrach ihn Berndt. „Von wem ging die Anregung zu diesem Spaziergange aus?“

„Von mir. Mein Freund befand sich in ziemlich gedrückter Stimmung, und da wollte ich ihn auf andere Gedanken bringen.“

„So. Das ist ja ganz neu. Davon haben Sie ja bisher gar nichts erwähnt“, meinte der Kommissar interessiert.

„Weil ich es für ganz unwichtig hielt“, erwiderte Belsard gelassen.

„Und welchen Grund hatte diese gedrückte Stimmung bei Hillgreen?“ forschte Berndt eifrig.

„Eigentlich gar keinen. Er litt häufig an solchen melancholischen Anwandlungen.“

„Gut. – Bitte fahren Sie also fort.“

„Es war damals ziemlich dunkel, obwohl wir Vollmond hatten. Der Himmel war mit dichten, schweren Regenwolken bedeckt, die kurz nach Sonnenuntergang von Westen her aufzogen. Nur bisweilen gab der Wolkenschleier die Mondscheibe frei. In diesen Momenten konnte man bis auf etwa fünfzig Schritt alles ringsum recht deutlich erkennen. – Wir hatten auf unserem Spaziergang gerade das Herrenbad passiert, als wir rechts im Gebüsch ein Geräusch hörten. Der Hochwald zieht sich dort ganz dicht an den breiten Fußweg heran. Einen Augenblick blieben wir stehen und lauschten. Da jedoch nichts mehr zu vernehmen war, gingen wir sorglos weiter. Hillgreen meinte noch, es müsse irgendein Tier gewesen sein, daß sich vorsichtig durch das Gebüsch gedrängt hätte, vielleicht ein Stück Rehwild. – Wir waren etwa bis ans Ende der Strandpromenade gelangt, als abermals zu unserer Rechten ein leises Krachen laut wurde, als ob jemand einen trockenen Ast zerbrach. In demselben Moment trat gerade der Mond hinter den Wolken hervor. Ich blickte scharf nach jener Richtung hin, aus der der Ton kam. Unter den Bäumen, die an jener Stelle ziemlich vereinzelt stehen, war es immerhin so hell, daß ich neben einer dicken Kiefer, etwa zwanzig Schritt von uns entfernt, die Gestalt eines Mannes zu erkennen glaubte. Kurz entschlossen rief ich den Menschen an. Der einzige Erfolg war, daß die Person blitzschnell hinter dem Stamm des Baumes verschwand. Doch damit nicht zufrieden, stürmte ich jetzt mit großen Sätzen auf die Kiefer zu. Ich wollte feststellen, wer der Mann war. Furcht habe ich, ohne mich rühmen zu wollen, nie gekannt. Zu meinem Pech verdeckte jedoch plötzlich eine dichte Wolkenwand die Mondscheibe, und um mich her lagerte sich undurchdringliches Dunkel. Um nicht gegen einen Baum anzurennen, blieb ich stehen und horchte. Und da vernahm ich ganz deutlich leise Schritte, die sich nach der Tiefe des Waldes zu verloren. Während ich noch so regungslos dastand, zerriß mit einemmal ein scharfer Knall die unheimliche, nur von dem Rauschen der Kiefern und dem fernen Grollen der See unterbrochene Stille. Ein Unbehagen befiel mich jetzt. Ich tastete mich zurück auf den Weg, dessen heller Sand wie ein grauer Streifen mir entgegenleuchtete. Und dann – dann stolperte ich fast über einen menschlichen Körper, der dicht neben der Promenade auf dem Boden lag. Blitzschnell zündete ich mein Taschenfeuerzeug an, leuchtete dem Manne ins Gesicht. Es war mein Freund Hillgreen.“

Der Staatsanwalt, der bisher nachdenklich vor sich hingeschaut hatte, fragte jetzt schnell:

„Aus Ihrer Schilderung scheint hervorzugehen, daß zwei Personen an dem Verbrechen beteiligt waren. Denn wenn die Person, die Sie neben der Kiefer stehen sahen, in den Wald hinein floh, kann doch nur ein Dritter Hillgreen niedergeschossen haben. Oder standen Sie so lange lauschend da, daß der Mensch sich in einem Bogen bis zu Ihrem Freunde hätte hinschleichen können?“

„Das ist ausgeschlossen. Das Geräusch der sich entfernenden Schritte war noch vernehmbar, wenn auch schwach, als hinter mir der Schuß knallte und mich aufschreckte. Es müssen also zwei Personen uns nachgeschlichen sein, – da haben Sie ganz recht, Herr Staatsanwalt.“

„Von der zweiten Person haben Sie jedoch nichts gesehen oder gehört?“ forschte Müller weiter.

„Nichts. Ich war vielleicht zu aufgeregt, um auf irgend etwas zu achten.“

Der Staatsanwalt schaute jetzt unauffällig den Kriminalkommissar an, indem er ihm leicht zublinzelte.

Berndt verstand. Das hieß, daß er wieder die Führung der Unterredung übernehmen sollte. Und so begann er denn, indem er abermals wie spielend die Fingerspitzen seiner Hände aufeinanderlegte:

„Sagen Sie, Herr Belsard, – Sie parfümieren sich gern stark.“

Der Schriftsteller lächelte. „Eine kleine Schwäche von mir, Herr Kommissar. Freilich gebrauche ich stets nur dasselbe Parfüm, dem ich einen starken Teil Divinia zusetze.“

„Und Sie führen stets etwas von dieser Mischung bei sich, nicht wahr?“

Belsard blickte überrascht auf.

„Das wissen Sie auch schon, Herr Kommissar?“

Berndt machte eine Bewegung mit der Hand, die nur ausdrücken konnte, daß ihm noch weit mehr bekannt sei.

„Sie tragen das Parfüm in der rechten oberen Westentasche?“ meinte er dann.

„Allerdings. In einem kleinen, vernickelten, uhrförmigen Zerstäuber“, erwiderte Belsard.

Berndt beugte sich jetzt in seinem Klubsessel vornüber und stützte die Arme auf die Knie. In dieser gekrümmten Haltung sah er mit seinem verwitterten, faltigen Gesicht wie ein listiger Kobold aus, der eben im Begriff stand, irgendeine bissige, boshafte Bemerkung loszulassen.

„Haben Sie die Mehrladepistole gesehen, die neben der Leiche gefunden worden ist?“ meinte er langsam.

„Ja, aber nur flüchtig. Ich besitze selbst eine ähnliche, auch Mausersystem.“

„Und kennen Sie die Nummer Ihrer Waffe, Herr Belsard?“ fragte Berndt und kniff die Augen erwartungsvoll zusammen.

„Nein. Ich weiß nur, daß auf dem Lauf neben dem Firmenzeichen eine Zahl eingestanzt ist.“

„Und wann haben Sie sich die Repetierpistole gekauft?“

„Vor einem halben Jahre etwa. Bei dem Waffenhändler Merkert in der Leipziger Straße in Berlin – falls Sie dies interessiert.“ Belsards Stimme war merklich unsicher geworden. Auch sein Blick hatte die frühere ruhige Gelassenheit verloren. Und diese Veränderung war so auffällig, daß sie weder dem Staatsanwalt noch den Kommissar entgehen konnte.

Dieser hatte jetzt seine Augen durchdringend auf Belsards Gesicht geheftet, als er wieder das Wort an ihn richtete.

„Ihre Pistole haben Sie wohl daheimgelassen, als sie hierherfuhren?“ meinte er trotzdem ohne besondere Betonung.

Der Schriftsteller zuckte leicht zusammen, faßte sich aber schnell und entgegnete mit einer Gleichgültigkeit, die jedoch nicht ganz echt schien:

„Nein. Ich habe sie mitgenommen. Sie liegt oben im Fremdenzimmer in meinem Koffer.“

„Würden Sie sie mir nicht einmal herunterholen? Ich möchte Sie mir ansehen“, bat der Kommissar mit einer Miene, die mit seinen höflichen Worten nicht recht im Einklang stand.

Belsard erhob sich sofort.

„Gern. Ich bin sofort wieder da.“

Kaum hatte er das Zimmer verlassen, als Berndt sich mit einem Ruck aufrichtete.

„Herr Staatsanwalt“, sagte er leise, „die Sache hat eine überraschende Wendung genommen. – Doch davon später. Warten wir erst ab.“

Schweigend harrten die beiden Beamten auf die Rückkehr des jungen Schriftstellers. Als dieser dann wieder ins Zimmer trat, hatte sein Gesicht jede Spur von Farbe verloren.

„Die Pistole ist fort – verschwunden“, stotterte er, indem er unsicher zu Berndt hinüberblickte.

„Aus dem verschlossenen Koffer?“ fragte dieser schnell.

„Der Koffer war offen. Ich hatte gleich nach meiner Ankunft hier in Zinnowitz meinen Gehrock herausgenommen und den Schlüssel im Schloß stecken lassen“, stieß Belsard merkwürdig heiser hervor.

„Vielleicht findet sich die Waffe noch“, meinte der Kommissar freundlich. Und dann zu Möller gewandt:

„Haben Sie noch eine Frage an Herrn Belsard, Herr Staatsanwalt?“

„Nein. Halt – doch noch etwas. – Sagen Sie, Herr Belsard, haben Sie vielleicht auf irgend jemanden Verdacht? Sie als der einzige Freund des Ermordeten müssen doch am besten wissen, ob dieser Feinde hatte.“

Der Schriftsteller zögerte. Dann erwiderte er langsam:

„Ich habe natürlich auch darüber nachgedacht, wer die Tat verübt haben könnte. Und da erinnerte ich mich gestern abend, daß vor einigen Tagen ein entfernter Verwandter meines Freundes, der wegen Giftmordversuchs im Zuchthaus gesessen hatte, aus der Strafanstalt ausgebrochen ist. Und dieser Boto Hillgreen ist derselbe, den Müller zuerst zu seinem Erben bestimmt hatte.“ Berndt horchte auf.

„Das ist ja höchst interessant“, meinte er, fügte dann aber, ohne weiter auf die Sache einzugehen, hinzu: „So, dann danken wir Ihnen, Herr Belsard. Vielleicht brauchen wir Sie später noch.“

 

6.

Kaum hatte Belsard die Tür hinter sich ins Schloß gedrückt, als der Kommissar sich auch schon aus einer der Schubladen einen Briefumschlag und einen Bogen Papier heraussuchte.

Etwas erstaunt schaute Möller zu. Jetzt überlas Berndt das Geschriebene nochmals mit halblauter Stimme.

„Dienstdepesche.

Waffenhandlung Merkert, Leipziger Straße, Berlin.

Bitte sofort telegraphisch Nummer der von Schriftsteller Belsard vor halbem Jahre gekauften Mauserpistole.

Berndt, Kriminalkommissar“

Der Staatsanwalt hatte sofort begriffen.

„Das wäre allerdings ein recht belastendes Moment, wenn aus des Schriftstellers Pistole der tödliche Schuß gekommen sein sollte“, meinte er ein wenig erregt. „Denn Selbstmord ist doch ausgeschlossen, wie Sie sofort in Ihrem schriftlichen Bericht erwähnten“, setzte er hinzu.

„Vollständig ausgeschlossen! – Die Waffe befand sich einen Meter vom Kopfe des Opfers entfernt, als sie abgefeuert wurde.“

„Mithin müßte also …“

„Herr Staatsanwalt – eine Bitte“, unterbrach ihn Berndt schnell. „Geben Sie mir noch zwei Stunden Zeit. Dann will ich Ihnen alles haarklein mitteilen, was ich weiß und was ich mir auf Grund meiner Kombinationen weiterhin zurechtgelegt habe. In diesen zwei Stunden dürfte nämlich die Antwort der Waffenhandlung eingetroffen sein, ferner auch noch eine zweite Nachricht vom Berliner Präsidium, um die ich gestern ersucht habe. Eventuell telephoniere ich auch nach Berlin, falls die letztere Auskunft nicht rechtzeitig eingeht. Freilich ist es mit der telephonischen Verbindung von hier nach der Reichshauptstadt schlecht bestellt. – Ich werde jetzt diese Depesche aufgeben und dann einen kleinen Spaziergang machen. In zwei Stunden bin ich wieder hier. Bis dahin – auf Wiedersehen, Herr Staatsanwalt.“

Als Berndt gegangen war, blieb Möller noch eine Weile unschlüssig sitzen. Dann erhob er sich, um gleichfalls das Haus zu verlassen. In der Gartenpforte traf er dann zufällig mit Justizrat Magnus zusammen, der eben von Wolgast kam.

Die Herren hatten bereits bei einer anderen Gelegenheit dienstlich miteinander zu tun gehabt und tauschten nun einen freundlichen Händedruck aus.

„Mir ist es sehr lieb, daß ich Sie hier vorfinde, Herr Staatsanwalt“, begann Magnus, indem er aus seiner Manteltasche ein Schreiben hervorzog. „Es dürfte Ihnen jedenfalls nicht ganz gleichgültig sein, daß der Gutsverwalter Stölner in diesem Brief jetzt Anspruch auf die Erbschaft des verstorbenen Rittergutsbesitzers Müller erhebt, und zwar unter Berufung auf den Wortlaut des Testaments. Bitte, lesen Sie.“

Möller überflog das Schreiben.

„Also stützt Stölner seine Ansprüche auf den Passus des Testaments, in dem es heißt: Für den Fall, daß mein Universalerbe die Erbschaft nicht antreten will, kann oder darf, tritt an seine Stelle der Gutsverwalter Heinrich Stölner.

Hm, die Sache ist rechtlich wohl nicht ganz klar –?“ fügt er fragend hinzu.

„Sogar sehr klar. Diese Ansprüche sind nämlich der reinen Unsinn!“ ereiferte sich der Justizrat. „Stölner, der mit unserem Erbschaftsrecht nicht genau Bescheid zu wissen scheint, denkt, daß der Tod Hillgreens so kurz nach seinem Stiefonkel – in der Tat liegen ja keine vierundzwanzig Stunden zwischen den beiden Todesfällen – den Erbschaftsantritt verhindert hat, auf den es in jenem Passus ankommt. Das ist echt laienmäßig gedacht. In Wirklichkeit erfolgt ja nach unserem Bürgerlichen Gesetzbuch der Antritt einer Erbschaft formlos, das heißt, jede Handlung des Erben, die sich auf die Erbschaft bezieht, stellt den Antritt dar. Und solche Handlungen liegen von Seiten Eduard Hillgreens reichlich vor. Schon seine Ankunft hier in Zinnowitz hätte allein genügt, da er dadurch die Absicht kundgab, das Erbe anzunehmen. Mithin hat der brave Herr Stölner sich böse verspekuliert, was ich ihm auch sofort geschrieben habe. Er hat nichts zu verlangen als sein Legat von fünfzigtausend Mark. Wer dagegen Eduard Hillgreens Erbe ist und die Millionen erhält, bleibt noch festzustellen. Vorläufig bin ich vom Wolgaster Gericht zum Nachlaßverwalter bestimmt worden, – bis die Sachlage sich geklärt hat.“

„Eine böse Enttäuschung für den Stölner!“ meinte der Staatsanwalt, indem er Magnus das Schreiben zurückreichte. „Wie nun, wenn der Mann Schwierigkeiten macht und etwa einen Prozeß anstrengt?“

„Er wird sich hüten. Kein Kollege von mir würde eine solche Klage vertreten. Jeder wird ihm sagen, daß die Geschichte vollkommen aussichtslos ist.“

Die beiden Herren waren inzwischen die Strandpromenade entlang gewandert und sahen sich nun plötzlich dem Ortsgendarmen Haßlinger gegenüber, den sich Möller gleich morgens hierher bestellt hatte.

„Herr Staatsanwalt“, meldete Haßlinger in strammer Haltung, „hier ist die Stelle, wo die Leiche gefunden wurde. Sie lag dicht vor diesem von Brombeerranken durchwucherten Haselnußstrauch.“

Möller ließ sich nun von dem Beamten genau die Örtlichkeit erklären und auch die Kiefer zeigen, hinter der Belsard die Gestalt gesehen haben wollte.

„Sind irgendwelche Fußspuren gefunden worden?“ fragte er dann den Gendarmen.

„Nein, Herr Staatsanwalt. Der Waldboden nimmt schwer Fährten an, und die Eindrücke, die ich hinter dem Haselnußstrauch fand, waren zu undeutlich ausgeprägt. Sie können auch schon vor längerer Zeit entstanden sein. Dieser Dünensand ist für die Feststellung von Spuren sehr ungünstig.“

„Die Vermutung liegt nahe, daß der Täter aus dem Haselnußstrauch heraus auf Hillgreen feuerte, nicht wahr?“ forschte Möller weiter.

„Falls die Angaben des Schriftstellers Belsard stimmen – ja“, antwortete der Beamte festen Tones.

Der Justizrat wurde aufmerksam. Irgend etwas in dieser Bemerkung des Gendarmen gefiel ihm nicht.

„Hegt man denn Zweifel an der Richtigkeit der Beobachtungen dieses Herrn?“ meinte er, den Beamten forschend anblickend.

Haßlinger machte ein sehr dienstlichstes Gesicht.

„Bedaure, Herr Justizrat, darüber darf ich nicht sprechen.“

Magnus schüttelte unzufrieden den Kopf.

„Es wäre meiner Ansicht nach ein grober Fehler, wenn die Polizei etwa den Schriftsteller beargwöhnen wollte und hierüber die Verfolgung anderer Spuren vernachlässigen würde“, wandte er sich an Möller. „Ich möchte Ihnen in dieser Beziehung nachher noch einige Winke geben, Herr Staatsanwalt.“

In demselben Augenblick gesellte sich Berndt, der von der Strandpromenade kam, zu den unter den Bäumen stehenden Herren. Haßlinger wurde nun von Möller entlassen. Dann meinte dieser zu dem Kriminalkommissar, offenbar mit lebhafter Spannung: „Alles schon erledigt?“

Berndt nickte ernst.

„Ich hatte Glück und bekam sehr schnell telephonischen Anschluß nach Berlin, so daß ich die Depesche gar nicht abzusenden brauchte.“

„Nun – und der Erfolg?“

Der Kommissar zögerte und schaute dabei fragend auf den Justizrat, der sich eben eine Zigarre anzündete.

„Sprechen Sie ohne Scheu. Der Herr Justizrat hat dasselbe Interesse daran, daß der Mörder gefunden wird, wie wir. Er ist zum Nachlaßverwalter bestimmt worden“, zerstreute Möller die Bedenken des Kriminalkommissars.

Berndt schien beruhigt.

„Das, was ich den Herren mitzuteilen habe“, erklärte er, „läßt sich mit ein paar Worten nicht erledigen. Wie wär’s, wenn wir uns dort oben in den Anlagen auf eine Bank setzten? Das Wetter ist ja so herrlich, daß man froh ist, wenn man im Freien sein kann.“

Dieser Vorschlag wurde ohne weiteres angenommen.

„Gleich am ersten Tage“, begann der Kommissar darauf, „fiel mir bei der Untersuchung zweierlei auf. Erstens fand ich nämlich in der Brieftasche des Ermordeten, die Haßlinger an sich genommen hatte, auf einem Zettel einen Testamentsentwurf, nach dem Hillgreen seinen Freund Belsard zu seinem Universalerben einsetzte. Der Zettel trug das Datum des Todestages des Rittergutsbesitzers Müller, war also noch in Berlin geschrieben. In der Annahme, daß der Maler nun vielleicht nach diesem Entwurf ein Testament angefertigt und in seiner Berliner Wohnung aufgehoben haben könnte, schrieb ich an das Polizeipräsidium der Reichshauptstadt und bat, nach dem Testament suchen zu lassen. – Zweitens bemerkte ich dann bei der Besichtigung der Waffe, mit der die Tat verübt ist, am Handgriff der Pistole einen deutlichen, sogar ziemlich intensiven Parfümgeruch. Und dasselbe Parfüm, das einen eigenartigen, nicht gerade häufig vertretenen Geruch hat, spürt man stets, wenn man auch nur in die Nähe des Schriftstellers Belsard kommt. Mithin lag die Möglichkeit vor, daß die Pistole diesem gehörte. Ich betone – die Möglichkeit! – Diese beiden Feststellungen nun waren geeignet, einen leisen Verdacht gegen Belsard entstehen zu lassen, da er ja von dem Tode Hillgreens nur Vorteile haben konnte. Hatte er von dem Testament seines Freundes Kenntnis gehabt, so war ja das Motiv zu dem Verbrechen gegeben: Geldgier, – die Triebfeder zu den meisten aller Gesetzesübertretungen. – Vorsichtig suchte ich nun aus ihm herauszuholen, ob er wußte, daß Hillgreen die Absicht hatte, zu seinen Gunsten eine letztwillige Verfügung zu treffen. Anscheinend war er jedoch völlig ahnungslos. Und vor zwei Stunden hatte ich auch noch die Überzeugung, Belsards Person müsse hier trotz des Testamentsentwurfes und trotz des Parfümgeruchs am Pistolengriff ganz ausscheiden. Jetzt bin ich anderer Meinung geworden. Denn Belsard hat ja selbst vorhin zugegeben, Hillgreen zu dem Spaziergang an jenem Abend aufgefordert zu haben. Schon das machte mich stutzig. Weiter ist auch einwandfrei erwiesen, daß der Maler ein Testament hinterlassen und den Schriftsteller zum Erben eingesetzt hat. Dieses Testament wurde in Hillgreens Schreibtisch von Beamten der Berliner Polizei entdeckt, wie mir soeben telephonisch mitgeteilt worden ist. Schließlich hat die Waffenhandlung Merkert mir auf meinen Anruf die Auskunft gegeben, daß die von Belsard seinerzeit gekaufte Mauserpistole die Nummer D 18243 hatte. Und dieselbe Nummer ist in den Lauf der neben der Leiche aufgefundenen Waffe eingestanzt.“

Der Justizrat hatte mit atemloser Spannung zugehört. Jetzt, als Berndt einen Augenblick schwieg, warf er erregt ein:

„Aber Herr Kriminalkommissar, – – das sind doch alles nur Indizien, die einen leicht irreführen können. Auf mich hat Belsard einen selten günstigen Eindruck gemacht. Nie und nimmer traue ich ihm eine solche Untat zu, nie und nimmer!“

„Mehr als Indizien werden wir in diesem Falle überhaupt nicht sammeln können, Herr Justizrat“, meinte Berndt höflich. „Die Tat hat keinen Zeugen gehabt. Der einzige Mensch, der in den verhängnisvollen Minuten mit Hillgreen zusammen war, ist der Schriftsteller.“

Der Justizrat krauste ärgerlich die Stirn.

„Ich verdächtige nicht gern einen Menschen“, stieß er unwillig hervor. „Jetzt aber halte ich es für direkt geboten, Sie auf einen zweiten aufmerksam zu machen, der ebensosehr wie Belsard belastet scheint, – auf den Gutsverwalter Stölner, der heute schon mit seinen Ansprüchen auf die Müllerschen Millionen herausrückt. Wie nun, wenn Stölner dem Schriftsteller die Pistole in einem günstigen Moment gestohlen hat und dann selbst in der Annahme, daß er nach Hillgreens Tode die Erbschaft erhalten müsse, den Maler beseitigt hat?! Kann er nicht z. B. die Waffe neben der Leiche liegen gelassen haben, um den Verdacht auf Belsard zu lenken? Und trauen Sie diesem wirklich die Dummheit zu, daß er die Pistole, die ihn so leicht verraten konnte, an jener Stelle zurückließ, wo es ihm doch ein leichtes gewesen wäre, sie beiseite zu schaffen?! – Nein, mir kommt dieser Umstand, daß die Pistole neben dem Toten aufgefunden wurde, höchst merkwürdig vor.“

Berndt lächelte etwas überlegen, als er jetzt erwiderte:

„Alles ganz gut und schön, Herr Justizrat. Aber wir haben einwandfreie Zeugen, daß der Gutsverwalter Stölner an jenem Abend das Wohnhaus in Balliden nicht verlassen hat. Er kann also gar nicht der Täter sein. – Sie sehen, an diese Möglichkeit habe ich auch gedacht und sie ebenfalls nachgeprüft. Der Erfolg war negativ.“

Der Anwalt schüttelte wie ungläubig den Kopf.

„Und doch steckt Stölner dahinter“, erklärte er hartnäckig. „Ist Ihnen zum Beispiel bekannt, daß auffallenderweise auch der erste Erbe des Rittergutsbesitzers Müller unschädlich gemacht wurde, indem man ihn wegen eines angeblichen Giftmordversuchs ins Zuchthaus schickte?! Wissen Sie, daß dieser Boto Hillgreen bis zuletzt unter heißen Tränen seine Unschuld beteuert hat?! Daß weiter nie nachgewiesen worden ist, woher er sich die große Menge Gift, die später in seinem Zimmer entdeckt wurde, verschafft hat! Und schließlich, daß dieser Giftmordversuch sich in Räumen abspielte, zu denen Stölner jederzeit Zutritt hatte – eben im Gutshause von Balliden?!“ Der Staatsanwalt war diesen heftig hervorgestoßenen Worten mit zunehmender Ungeduld gefolgt.

„Sie sind also der Ansicht, daß hier ein Justizirrtum vorliegt, und jener Boto Hillgreen zu Unrecht verurteilt ist?!“ sagte er erregt. „Nun, ich für meine Person setze in unsere Geschworenengerichte größeres Vertrauen. Wenn zwölf unparteiische Bürger jemanden für schuldig halten, so wird er es wohl auch sein.“

„Die Geschworenen sind auch nur Menschen, und als solche können sie irren“, meinte der Justizrat kühl. „Vielleicht kommt noch der Tag, Herr Staatsanwalt, wo auch Sie erkennen werden, daß unsere Justiz nicht unfehlbar ist, vielleicht sogar sehr bald.“

Er hatte sich erhoben und den Rest seiner Zigarre vorsichtig zertreten.

Möller stand gleichfalls auf. Ihm war es sehr unangenehm, daß er seine Meinung eben in so schroffer Weise geäußert hatte. Und daher sagte er mit einem Versuch zu scherzen: „Im übrigen ist dieser Hillgreen ja bereits wieder in Freiheit, wenn auch ohne die Erlaubnis der Behörden. Wir brauchen uns also wirklich über diesen Jahre zurückliegenden Kriminalfall nicht weiter aufzuregen.“ – Über des Justizrats kluges Gesicht huschte blitzschnell ein etwas ironisches Lächeln.

„Was Sie sagen, Herr Staatsanwalt! Das ist mir ja völlig neu. Also ausgebrochen ist der Boto Hillgreen?!“

„Wenigstens behauptete das Belsard heute“, erwiderte Möller, indem er neben Magnus der Strandpromenade zuschritt.

Und Berndt, der hinter den beiden herging, setzte seinerseits hinzu: „Und zwar nannte er den Namen Boto Hillgreen in einem Zusammenhang, als ob er uns auf den Zuchthäusler als den mutmaßlichen Täter aufmerksam machen wollte.“

Wieder lächelte er Justizrat so merkwürdig.

„Dann hätten wir jetzt also glücklich drei Personen, die in Betracht kämen“, meinte er. „Hoffentlich erweitert sich dieser Kreis nicht noch mehr.“

Möller lenkte jetzt absichtlich das Gespräch auf ein anderes Thema über. Als die drei dann dicht vor der Villa angelangt waren, bat der Justizrat den Staatsanwalt:

„Sie könnten mir bei der Inventuraufnahme des Nachlasses als Zeuge dienen, falls Ihre Zeit dies zuläßt. Die Sache ist ja auch schnell erledigt. Mir liegt nur daran, den Inhalt des Schreibtisches und des Geldspindes genau durchzusehen.“

„Gern. Ich habe nichts vor. Oder brauchen Sie mich, Herr Kommissar?“

„Nein. Die wenigen Fragen, die ich jetzt sofort an Belsard richten will, sind kaum von besonderer Wichtigkeit. Ich muß erst die Abschrift des Testaments des Malers hier haben, bevor ich die Angelegenheit energisch weiter verfolgen kann. Sehen Sie, meine Herren, da oben auf der Terrasse steht der Schriftsteller neben dem alten Geschütz. Ein malerisches Bild, fürwahr! Schade, daß ich Belsards Einsamkeit jetzt stören muß.“

Der Justizrat rief dem Schriftsteller absichtlich einen freundlichen Gruß zu und verschwand dann mit Möller im Hause, während Berndt in den rechten Gartenweg einbog und auf Belsard zuschritt.

„Ich möchte Sie noch einiges fragen“, meinte er, leicht den Hut lüftend.

„Bitte.“

Mit über der Brust verschränkten Armen blieb Belsard ruhig stehen. In seinem Gesicht lag ein Ausdruck von Bitterkeit und feindseliger Abwehr.

„Aus welchem Grunde haben Sie eigentlich Ihre Pistole mit hierher genommen?“ begann der Kommissar, den anderen scharf fixierend.

„Weil ich auf alles vorbereitet sein wollte“, entgegnete Belsard widerwillig.

„Was heißt das? Ich verstehe Sie nicht?“

Berndts Stimme klang zurechtweisend und unfreundlich. Glaubte er doch, der Schriftsteller suche ihn durch bloße Redensarten loszuwerden.

„In der Nacht vor unserer Abreise ging mir eine Warnung zu“, erklärte Belsard kurz. „Und deshalb nahm ich die Waffe mit.“

„Eine Warnung? – Geben Sie mir genauere Auskunft darüber.“

Der Schriftsteller zögerte noch. Er dachte daran, daß jener Unbekannte von ihm strengstes Stillschweigen verlangt hatte. Aber so, wie die Verhältnisse jetzt lagen, mußte er sprechen, da seine eigene Sicherheit volle Offenheit notwendig machte. Daher erzählte er nun sein Erlebnis in jener Nacht mit allen Einzelheiten und reichte schließlich dem Kommissar auch den Zettel hin, den er in seiner Brieftasche verwahrt bei sich trug.

Berndt hatte aufmerksam und offenbar mit wachsender Spannung zugehört. Als er den Zettel überflogen hatte, fragte er sofort: „Und haben Sie bereits eine weitere von diesen geheimnisvollen Benachrichtigungen erhalten?“

„Nein. Bisher nicht.“

„Sie selbst haben dies nicht geschrieben? – Denn auch solche Dinge kommen vor?!“ fragte er streng.

Der junge Schriftsteller begriff zunächst gar nicht den beleidigenden Sinn diese Sätze. Dann schoß ihm die helle Röte der Empörung ins Gesicht.

„Darauf verlangen Sie doch wohl keine Antwort, Herr Kommissar!“ sagte er kalt. „Ich hasse die Lüge als eine Feigheit. Und feige bin ich nie gewesen.“ Er hatte sich dabei hoch aufgerichtet.

„Wünschen Sie noch etwas von mir?“ sagte er dann.

„Nein, Herr Belsard.“

Worauf dieser kurz kehrt machte und mit schnellen Schritten dem Hause zuging.

 

7.

Es war an demselben Tag nachmittags gegen vier Uhr. Manuel Belsard, der nach Tisch einen Spaziergang nach dem Kirchhof gemacht hatte, um nachzusehen, ob das Grab des Rittergutsbesitzers auch seinen Wünschen entsprechend ausgeschmückt war, saß im Fremdenzimmer, finster vor sich hingrübelnd, am Fenster und schaute wie geistesabwesend auf die knorrigen Bäume des Hochwaldes, der sich hier an der Rückfront der Villa ist dicht an das Haus heranzog. Nur ein schmaler Fahrweg trennte das Grundstück von dem parkähnlich gehaltenen Walde.

Tiefe Mutlosigkeit hatte sich Belsards bemächtigt. Er fühlte deutlich, daß irgendein dunkles Verhängnis sich ihm drohend näherte. Und er war machtlos, konnte sich nicht wehren gegen diese Verdachtsgründe, die man langsam gegen ihn zusammengetragen hatte, vermochte sie nicht zu zerstreuen.

Da wurden seine trüben Gedanken plötzlich in eine andere Richtung gelenkt. Denn dort vor ihm war zwischen den Bäumen mit einemmal eine Männergestalt aufgetaucht, die, sich vorsichtig immer aufs neue umschauend, langsam näher kam. Wie ein Ruck ging es durch Belsards Körper. Er hatte den Mann im Pelerinenmantel erkannt, jenen Fremden, der ihm damals den Zettel zugesteckt hatte. Kein Zweifel, er war’s! Der breitrandige Filzhut und der dichte dunkler Vollbart schlossen jeden Irrtum aus.

Mit angehaltenem Atem spähte der Schriftsteller zu dem Unbekannten hinüber. Dieser blieb jetzt, halb verborgen hinter einer alten Eiche stehen und winkte Belsard mit der Hand zu. In dieser Hand flatterte deutlich ein weißer Zettel.

Der Schriftsteller war aufgesprungen, beugte sich weit zum Fenster hinaus und beobachtete scharf jede Bewegung des Fremden, der sich soeben zur Erde herabbückte und den Zettel unter einen vor ihm liegenden Stein schob. Noch eine grüßende Bewegung mit der Hand, – – dann eilte er schnellen Schrittes in die Tiefe des Waldes zurück.

Belsard hatte alles begriffen. Ohne Säumen verließ er das Haus durch die Hintertür und näherte sich auf einem Umwege jener Stelle, wo das Papier von dem Fremden versteckt worden war. Dann setzte er sich, um jeden heimlichen Beobachter zu täuschen, in das Moos und begann anscheinend eifrig in dem mitgenommenen Buch zu lesen. Erst nach einer Weile schob er die Hand unauffällig unter den Stein, knüllte den Zettel zusammen und ließ ihn in der Tasche verschwinden. Noch eine gute Viertelstunde blieb er dann sitzen, obwohl er seine Ungeduld kaum zu zügeln vermochte.

Endlich war er wieder auf seinem Zimmer. Aufatmend schob er den Riegel vor. Mit bebenden Händen entfaltete er das Papier. Er ahnte, daß diese Nachricht eine wichtige Entscheidung bringen würde.

„Verlassen Sie gegen halb fünf Uhr nachmittags das Haus. Nehmen Sie nichts als Hut und Stock mit. Sollte Sie jemand anhalten, so sagen Sie, Sie wollten nochmals nach dem Kirchhof hinaus. In der Nähe des Bahnhofs werden Sie ein Automobil bemerken, das vor dem Restaurant „Zum gemütlichen Sachsen“ hält. Begrüßen Sie den Insassen kurz wie einen alten Bekannten und steigen Sie schnell ein. Sie müssen fliehen, da Ihre Verhaftung nahe bevorsteht und da Sie sich Ihre Freiheit bewahren sollen, um bei der Überführung des wirklichen Täters mitzuwirken. Hillgreen hat ein Testament hinterlassen, das Sie zum Erben ernennt. Die Polizei nimmt daher an, Sie hätten Ihren Freund aus Habgier ermordet. – Denken Sie doch an meinen ersten Brief! Gute Freunde „wachen“ und lassen Ihnen diese „Warnung“ zukommen!“

Belsard las die letzten Sätze immer wieder. Also deswegen – deswegen! Jetzt verstand er erst, wie man gerade ihm dieses Verbrechen zutrauen konnte! Von dem Testament hatte er ja bisher nichts gewußt, nichts! Gerade dieser eine Punkt war ihm verschwiegen worden, – die Hauptsache eigentlich, das belastendste Moment!

Und weiter flogen seine Gedanken. Wer konnte nur dieser Fremde sein, woher nur hatte dieser so genaue Kenntnis von den Absichten der Behörde? – Er fand keine Antwort, keinen Ausweg aus diesem Labyrinth von Fragen, die sich ihm immer zahlreicher aufdrängten. Minuten vergingen so. Noch ein Blick auf das Papier. Halb fünf Uhr stand da. Erschreckt zog er die Uhr. Es war die höchste Zeit! – – – –

Kaum hatte Belsard in dem wartenden Auto Platz genommen, als der Unbekannte ihm auch schon zuflüsterte:

„Drehen Sie sich nicht um, auch wenn man hinter uns her ruft. Und jetzt sprechen Sie möglichst laut mit mir – –“

Und so schrie der Schriftsteller denn beinahe allzu vernehmlich für eine harmlose Unterhaltung seinem Begleiter zu:

„Famoses Wetter heute, nicht wahr? Eine Wärme fast wie im Juli. Regen fehlt uns, Regen. Die Saaten stehen auch schlecht.“

„Sehr schlecht. Wird sicher wieder eine mäßige Ernte geben, sicher! – Traurige Zeiten überhaupt. Der Balkankrieg hat auch uns sehr geschadet. Meine Firma lieferte sonst für Tausende Maschinen nach Serbien und Bulgarien. Ein böser Ausfall.“

Da bog das Auto aus der Dorfstraße in die Chaussee ein. Der Fremde machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand.

„Es ist geglückt“, sagte er aufatmend. „Wir können wieder leise sprechen. Ich wollte vorhin durch unsere Unterhaltung nur verhindern, daß der Chauffeur die Halt-Rufe hörte, die ich befürchtete. Ein Kriminalbeamter war nämlich dicht hinter Ihnen, Herr Belsard.“

„Nicht möglich!“ flüsterte dieser erschreckt. „So wurde ich also wirklich bereits überwacht?“

„Allerdings. Es war die höchste Zeit für Sie, zu verschwinden. Sonst hätten Sie heute abend wohl schon im Amtsgerichtsgefängnis in Wolgast Quartier bezogen.“

„Und wo führen Sie mich jetzt hin?“ fragte Belsard, indem er nun endlich einmal Gelegenheit fand, den Unbekannten aus nächster Nähe zu betrachten.

„Darüber später. Zuerst heißt es für uns, auch den zweiten Teil der Flucht ebenso glücklich bewerkstelligen wie den ersten. Sie müssen nicht vergessen, daß man in kürzester Zeit alles aufbieten wird, um Sie wieder zu ergreifen.“ – Dann beugte er sich vor. „Anhalten, Chauffeur!“

Das Auto verlangsamte seine Fahrt.

„Folgen Sie mir!“ befahl der Fremde, noch bevor der Wagen still stand, „und schweigen Sie.“

Wie im Traum gehorchte Belsard. Wie im Traum sah er das Auto davonrollen, schritt er neben seinem Begleiter her, der von der Chaussee in den Wald abbog und einen schmalen Fußpfad einschlug, dessen Windungen sich schnell in einer dichten Schonung verloren. Hier auf dem Wege mußten sie einer nach dem anderen gehen. Schweigend legten sie so eine weite Strecke zurück, wobei sie sich immer vorsichtig von den Fahrstraßen fernhielten. Das eine merkte Belsard jedenfalls sehr bald: Sein Führer mußte hier auf Schritt und Tritt tadellos Bescheid wissen. Auch nicht ein einziges Mal stutzte er, wenn sie an einen Kreuzweg gelangten. Und immer suchte er Pfade auf, die sich als solche kaum von der Umgebung abzeichneten und wohl nur Förstern und Waldarbeitern bekannt waren.

So verflossen zwei Stunden. Sie gingen gerade an einer Schlucht vorbei, als sich zu ihrer Rechten plötzlich der Wald lichtete und eine weite Fernsicht freigab.

Der Fremde blieb stehen und deutete mit der Hand auf einen schlanken Kirchturm und einige Dächer, die in der Ferne aus dem Grün emporragten.

„Zinnowitz –!“ sagte er erklärend. „Wir haben den Ort in weitem Bogen umschritten, wie Sie sehen, und befinden uns jetzt im Westen, während wir mit dem Auto nach Osten davonfuhren. – Kommen Sie – wir müssen eilen!“

Wieder schritten sie vorwärts. Eine weitere halbe Stunde verging. Dann machte der Unbekannte an einer Stelle, wo sich drei Fahrwege kreuzten, halt und zog Belsard in ein dichtes Gebüsch von jungen Buchenschößlingen hinein, das sie vor jedem Blick sicher verbarg. –

In der Ferne wurde immer deutlicher das Klappern eines Wagens vernehmlich. Nun bog das Gefährt um die Ecke und hielt dann dicht vor dem Versteck der beiden an. Es war ein einfacher brauner Kastenwagen, auf dem sich vorne ein gepolsterter, bankartiger Sitz mit Rückenlehne befand. Das Pferd, ein grobknochiger Schimmel, ließ sofort müde den Kopf hängen.

Der eine der beiden Insassen, ein in eine grüne Försteruniform gekleideter älterer Mann, sprang von dem Sitze herab, schaute sich vorsichtig lauschend nach allen Seiten um, und warf dann die vollen Säcke, mit denen der Kasten des Wagens hochbepackt war, mit schnellen Griffen herunter. Inzwischen hielt das junge Mädchen, der zweite Wageninsasse, das der Ähnlichkeit nach eine Tochter des Forstmannes sein mußte, die Zügel. Was dann folgte, spielte sich so blitzschnell ab, daß Belsard erst richtig zur Besinnung kam, als der Wagen längst wieder in Bewegung war.

„Kommen Sie“, hatte der Fremde ihm zugeraunt und ihn mit hochgezogen. Mit ein paar Sätzen waren sie neben dem Gefährt. Flink schwang sich der Unbekannte in den mit groben Decken ausgelegten Kasten hinein und streckte sich lang auf dem Boden aus. Ganz mechanisch tat der Schriftsteller das gleiche. Dann türmte der Mann in der Försteruniform geschickt die leichten Säcke, denen der scharfe Geruch von Heu entströmte, über ihnen auf, so daß sie vollständig darunter verschwanden. Kein Wort wurde dabei gewechselt. Nur wenige Sekunden hatte der ganze Vorgang in Anspruch genommen.

Der Wagen ratterte weiter. Gemütlich war die Lage nicht. Das Lager, auf dem Belsard neben dem Fremden in dem stoßenden Gefährt ruhte, war nur allzu hart. Und dieses Deckbett, das von Minute zu Minute mehr wärmte, wurde immer drückender, so daß es ihm schwer wurde, richtig Atem zu holen. Bald brach ihm der Schweiß aus allen Poren hervor. Aber was half’s? –

Der Wagen mußte von dem holprigen Waldweg auf eine glattere Straße eingebogen sein. Wenigstens schloß Belsard dies aus der rascheren Fortbewegung und den schwächeren Erschütterungen. Aber ein Ende wollte die Fahrt noch immer nicht nehmen.

Dann hielt das Gefährt mit einem Ruck. Der Schriftsteller hörte deutlich eine rauhe Stimme, die offenbar dem Wagenlenker einen guten Abend zurief.

„Guten Abend, Herr Stölner“, klang es zurück.

„Wo kommen Sie denn her?“ fragte die erste Stimme wieder.

„Vom Vorwerk. Ich habe mir Heu geholt, wurde aber unterwegs aufgehalten. Im Jagen 13 bemerkte ich einen Fuchs, dem ich gern eins aufgebrannt hätte.“

„Wissen Sie schon, daß der Mörder des Hillgreen der Polizei heute durch die Lappen gegangen ist, Helmer?“ meinte der kräftige Baß wieder, der nur dem Gutsverwalter Stölner gehören konnte.

„Mörder –? Haben sie denn schon rausgekriegt, wer’s gewesen ist?“

Worauf Stölner mit größtem Behagen und mit allen Einzelheiten berichtete, was er kurz vorher von dem Gendarmen Haßlinger erfahren hatte, dem er auf der Chaussee begegnet war.

„Also im Auto sind die beiden ausgerückt!“ meinte der mit Helmer Angeredete, als der Verwalter mit seiner weitschweifigen Schilderung fertig war. „Das ist ja ganz modern!“ setzte er mit breitem Lachen hinzu.

„Und wird den Kerlen doch nichts helfen“, sagte Stölner schadenfroh. „Die Kriminalbeamten sind schon hinter ihnen her. Man weiß ja, daß sie nach Swinemünde zu davongefahren sind.“

Wieder eine Pause. Dann verabschiedete sich Stölner mit einem freundlichen „Gute Nacht“, und der Wagen setzte sich gleich darauf in Trab.

Bald sollte die Marterfahrt für Belsard und seinen Gefährten nun wirklich ein Ende haben. Plötzlich ertönte Hundegebell, der Wagen rüttelte wieder stärker und wurde dann angehalten. Mit einem Male spürte der Schriftsteller die Last über sich leichter werden. Die Heusäcke wurden herabgenommen, gleichzeitig sagte Helmers Stimme:

„So, nun schnell ins Haus!“

Belsard richtete sich auf. Ringsum tiefe Dunkelheit. Nur zur Rechten waren die erleuchteten Fenster eines niedrigen Gebäudes sichtbar.

Der Fremde sprang als erster von dem Wagen herab und war dann dem Schriftsteller, dessen Beine von der unbequemen Lage ganz steif geworden waren, beim Aussteigen behilflich.

„Fix, meine Herren, fix. Halten Sie sich nicht unnötig auf“, mahnte der Mann in der Försterkleidung.

Nach wenigen Minuten befanden sich die beiden dann in einem kleinen, hellgetünchten Giebelstübchen, dessen einziges Fenster mit Decken dicht verhängt war. Auf dem Tisch vor dem altmodischen Sofa brannte eine Petroleumlampe. Daneben standen zwei Teller mit Messer und Gabel, eine flache Schüssel mit Schinken und hartgekochten Eiern, Butter, Brot und einige Flaschen Bier nebst den zugehörigen Gläsern.

Der Fremde warf Hut und Mantel auf das an der anderen Wand stehende Bett.

„Machen Sie sich’s bequem, Herr Belsard“, meinte er dabei. „Ich will nur noch unsere freundlichen Wirte begrüßen gehen, dann komme ich zurück und wir können uns stärken – in aller Ruhe, da wir hier völlig sicher sind.“

„Und wo – wo befinden wir uns?“ Unwillkürlich drängte sich diese Frage über des Schriftstellers Lippen.

„Im Forsthause von Balliden“, entgegnete der andere kurz. – „Auf Wiedersehen, ich bin gleich wieder da.“ –

Jetzt kam bei Belsard nach all den Aufregungen dieses Tages der Rückschlag. Müde, wie gerädert, ließ er sich in die Sofaecke fallen. Die Zunge klebte ihm förmlich am Gaumen. Schnell goß er sich ein Glas Bier ein und trank es gierig leer. Dann lehnte er sich wieder zurück und starrte in das rötliche Licht der Lampe.

Im Forsthause von Balliden?! – Also ganz in der Nähe dieses gefährlichen Menschen, des Stölner, der ihn heute vor kaum einer halben Stunde mit solch offensichtlicher Schadenfreude als den Mörder Eduard Hillgreens bezeichnet hatte!

Der kühle Trunk hatte Belsard so sehr erquickt, daß er noch ein zweites Glas hinunterstürzte. Langsam erholte er sich wieder. Und als der Fremde dann zurückkehrte, befand sich der Schriftsteller bereits in einer ganz behaglichen Stimmung, soweit dies eben unter diesen seltsamen Umständen möglich war.

Belsards Retter zog sich jetzt einen Stuhl herbei und nahm Platz.

„Ich will Sie nicht weiter auf die Folter spannen“, sagte er dann mit einem leisen Lächeln. „Sie müssen ja begierig sein, endlich zu erfahren, wer ich bin.“

Er rückte die Lampe etwas zur Seite, faßte sich in das volle, dunkle Kopfhaar und – – hob im nächsten Augenblick die tadellos gearbeitete Perücke ab. Darunter wurde sein natürlicher, ganz kurz geschorener blonder Haarschmuck sichtbar. Ebenso löste er den starken Vollbart vom Gesicht, der auf den Wangen und auf der Oberlippe mit einem vortrefflich haltenden Klebemittel befestigt gewesen war.

Der, der jetzt Belsard gegenübersaß, hatte mit dem geheimnisvollen Fremden so gut wie gar keine Ähnlichkeit mehr. Aus der Verkleidung hatte sich ein jugendliches, glattrasiertes Gesicht herausgeschält, dessen sympathische Züge dem Schriftsteller jedoch völlig unbekannt waren.

„So sehe ich in Wirklichkeit aus“, meinte jener, indem er Perücke und Bart beiseite legte. „Mein Name aber ist … Boto Hillgreen.“

Belsard fuhr ordentlich zusammen bei dieser Eröffnung, die ihm vollkommen überraschend kam.

„Nicht möglich“, stammelte er fast ungläubig. „Sie – – – Sie – – – Boto Hillgreen – ?!“

„Ja“, sagte dieser bitter, „der entsprungene Zuchthäusler –!“

Der Schriftsteller hatte sich schnell wieder gefaßt.

„Für mich sind und bleiben Sie mein Retter“, meinte er warm und streckte dem andern die Hand über den Tisch hin. „Haben Sie Dank für Ihre treue Fürsorge, herzlichen Dank! Und lassen Sie uns mit diesem Händedruck Freunde werden!“

 

8.

Nachdem die beiden mit gutem Appetit gegessen hatten, räumte Fräulein Käthe Helmer den Tisch ab, wobei Belsard Gelegenheit fand, auch an sie einige Worte des Dankes zu richten. Dann erschien der Förster selbst mit einer Kiste Zigarren unter dem Arm. Er schüttelte dem Schriftsteller vertraulich die Hand, wehrte aber dessen aus ehrlichstem Herzen kommende Dankesbezeichnungen bescheiden ab.

„Lassen Sie doch, Herr Belsard! Eigentlich geschah’s ja nur aus purer Selbstsucht, daß wir Sie den Klauen der Polizei entzogen. Wir brauchten Sie eben für unser Werk. Hier – nehmen Sie nur! Ganz schlecht sind die Zigarren nicht. Die Kiste ist noch ein Geschenk vom seligen Herrn Müller. Und der hätte sich geschämt, mir eine billige Stinkadores anzubieten.“

Als die Zigarren brannten, begann Boto Hillgreen unaufgefordert mit der Schilderung seiner traurigen und wechselvollen Erlebnisse.

„Ich nehme an, daß sie die Geschichte jenes Prozesses, der mich ins Zuchthaus brachte, bereits von meinem Verwandten Eduard Hillgreen gehört haben. Daß ich unschuldig bin, brauche ich Ihnen wohl nicht erst zu versichern. Ich wurde damals das Opfer eines verruchten Schurkenstreiches, nachdem der Gutsverwalter Stölner vergeblich versucht hatte, mich als den Erben seines Herrn mit seiner Tochter Eva zu verloben. Ich verabscheute dieses ränkesüchtige Weib, das trotz seiner Jugend bereits alle Laster kannte, die ein Menschenherz nur herabwürdigen können. Aus meiner Verachtung, meinem Widerwillen gegen Eva Stölner machte ich um so weniger einen Hehl, da ich bereits heimlich mit meiner jetzigen Braut, Fräulein Käthe Helmer, versprochen war. Ich bin fest überzeugt und habe nunmehr ja auch die Beweise dafür, daß Eva Stölner meinem Wohltäter das Gift in den Morgenkaffee geschüttet hat.

Alexander Müller brachte damals einige Zeit im Gutshause von Balliden zu, und jenes Weib hatte es verstanden, sich durch ihre Liebenswürdigkeit und scheinbare Ergebenheit in seine Nähe zu drängen, so daß sie ihm bald so gut wie unentbehrlich war. Er ließ sich stets von ihr den Morgenkaffee bringen, um dann noch eine Weile mit ihr plaudern zu können. Eva Stölner hatte also weit eher Gelegenheit, das Arsenik in die Tasse zu tun, als ich, – ein Moment, dem die Geschworenen freilich wenig Bedeutung beimaßen. Zu meinem Unglück war zu jener Zeit, als der Prozeß zur Verhandlung kam, Justizrat Magnus fast ein halbes Jahr lang krank und konnte daher meine Verteidigung nicht übernehmen, obwohl er dies sonst unter allen Umständen getan hätte, da er nie an meine Schuld glaubte und seine Überzeugung überall offen aussprach, selbst meinem Verwandten gegenüber, der aber zu große Stücke auf Magnus hielt, um ihm das zu verübeln. Mir wurde deshalb ein Offizialverteidiger bestellt, dessen Ungeschick ich es hauptsächlich zu verdanken habe, daß die Sache für mich einen so schlimmen Ausgang nahm, und daß nachher auch alle meine Revisionsanträge zurückgewiesen wurden.

Kurz, ich wanderte ins Zuchthaus. Und nahm doch einen Trost mit in die düsteren Mauern: die Zuversicht, daß liebe Menschen im geheimen weiter für mich tätig sein würden, um ein Wiederaufnahmeverfahren zu erzwingen. Und diese treuen Freunde waren die Familie Helmer und Justizrat Magnus, mit denen ich, soweit sich dies bewerkstelligen ließ, ständig in Verbindung blieb. Niemand ahnte etwas hiervon. Wir waren in jeder Beziehung äußerst vorsichtig, da wir Stölner und die Seinen weiter bei dem Glauben belassen wollten, ich hätte mich in mein Schicksal ergeben. Hier mein Schwiegervater war es, der mich während der zwei Jahre einige Male im Zuchthaus besuchte, wobei erst große Schwierigkeiten zu überwinden waren. Doch meine tadellose Führung in der Strafanstalt und das Wohlwollen des Direktors halfen uns. Bei einem dieser Besuche gelang es meinem Schwiegervater nun, mir trotz der scharfen Aufsicht heimlich einen Zettel zuzustecken, auf dem er mir mitteilte, daß er in dem Wald dicht bei der Strafanstalt an einer bestimmten Stelle alles das verborgen habe, was mir bei einer Flucht nützlich sein könne.

Noch ein halbes Jahr verging wieder, bis ich eine günstige Gelegenheit wahrnahm und mich mit einem Transport Fässer in die Freiheit hinausfahren ließ. An dem vereinbarten Orte fand ich dann wirklich im Wurzelwerk einer alten Eiche verborgen ein in Wachsleinwand gehülltes Paket, das außer den nötigen Kleidern, Perücke und Bart, auch einen Spiegel, Klebestoff, dunkle Schminke für die Augenbrauen und eine Summe Geldes enthielt. In kürzester Zeit hatte ich mich umgezogen und völlig unkenntlich gemacht. Meine Sträflingskleider verbarg ich an derselben Stelle, wo vorher das Paket gelegen hatte. Dann näherte ich mich auf einem kleinen Umwege der Stadt, kaufte mir in einem Trödlerladen einen alten Handkoffer und begab mich in ein nahe am Bahnhof gelegenes Gasthaus, wo ich mich als Bauunternehmer in das Fremdenbuch einschrieb. Meine List hatte Erfolg. Die Behörde suchte mich überall, nur nicht in Mewe selbst. Und so konnte ich es nach einigen Tagen wagen, mit der Eisenbahn nach Berlin zu fahren.

Hier in der Reichshauptstadt mietete ich mir, unter falschem Namen natürlich, ein Zimmer und setzte mich dann mit jenem Privatdetektiv in Verbindung, den mein Schwiegervater gleich nach meiner Verurteilung ins Vertrauen gezogen und mit der Beobachtung der Mitglieder der Familie Stölner beauftragt hatte. Der Detektiv, ein feiner Kopf, wie sich bald herausstellte, teilte mir sofort mit, daß es ihm geglückt sei, den Drogisten zu ermitteln, der dem Gutsverwalter Stölner vor etwa zweieinviertel Jahren eine große Dosis Arsenik, angeblich zur Vertilgung von Ratten, geliefert hatte. Dieser Drogist Bechert war ein alter Freund Stölners und erschien nach meiner Verurteilung auffallend häufig als Gast in Balliden, wo er sich und die Seinen dann oft wochenlang durchfüttern ließ. Diese intime Freundschaft war es, die Sochinski, so heißt der Detektiv, zuerst argwöhnisch machte, zumal ja des Drogisten Besuche ganz plötzlich erst nach meiner Bestrafung begonnen hatten. Sochinski ließ sich daher im April dieses Jahres als Saisonarbeiter in Balliden anwerben, um diesem Herrn Bechert etwas genauer auf den Zahn zu fühlen.

Ich will mich kurz fassen. Der Detektiv hatte Glück, da er sehr bald feststellen konnte, daß es mit der Freundschaft der beiden Männer doch nicht so sehr weit her war. Und eines Tages gelang es Sochinski denn auch, eine Unterredung zwischen Stölner und Bechert im Park zu belauschen, bei der der Drogist unter versteckten Drohungen von dem Gutsverwalter Geld forderte. Es kam zwischen den beiden zu einer erregten Szene, in deren Verlauf Bechert eine Bemerkung fallen ließ, aus der klar hervorging, daß er einmal an Stölner ein größeres Quantum Gift aus Stettin – dort hatte er sein Geschäft – gesandt haben mußte.

Alles Weitere reimte Sochinski sich selbst zusammen. Fraglos hatte Bechert von dem Prozeß gelesen, bei dem ja Arsenik eine so bedeutende Rolle spielte, und sofort das Richtige vermutet, nämlich, daß Stölner der wirkliche Urheber jenes Giftmordversuchs war und für seinen Schurkenstreich eben jenes ihm gelieferte Gift benutzt hatte, dessen größter Teil nachher in meinem Zimmer gefunden wurde. Diese Kenntnis diente Bechert, der mindestens ein ebenso großer Halunke wie Stölner ist, dazu, den Verwalter nach Herzenslust auszupressen.

Dies alles erzählte mir der Detektiv gleich am Tage nach meiner Ankunft in Berlin. Weiter wußte er mir aber auch zu berichten, daß mein Verwandter, der Millionär Müller, sich mit der Absicht trage, den Kunstmaler Eduard Hillgreen zu seinem Erben zu ernennen und das Eva Stölner sich bereits in Berlin befinde, um nach altem Rezept diesen neuen Anwärter auf die Müllerschen Millionen für sich einzufangen. Wem Sochinski diese Wissenschaft verdankte, brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen, Herr Belsard. Justizrat Magnus war eben nicht nur ein treuer, sondern auch ein hilfsbereiter Freund.

Da ich mit dem Detektiv über den weiteren Feldzugsplan gegen Stölner nicht recht einig werden konnte – Sochinski riet mir, erst noch weitere Beweise gegen jenen zu sammeln, während ich in meiner Ungeduld, die ja leicht verständlich war, sofort gegen den Mann, der mich ins Zuchthaus gebracht hatte, vorgehen wollte – fragte ich bei Justizrat Magnus schriftlich an, welchen Rat er mir gebe. Der Detektiv hatte nämlich seine Stellung in Balliden erst an demselben Tage aufgekündigt, an dem ich in Berlin eintraf, und keine Gelegenheit mehr gefunden, dem Rechtsanwalt seine wichtige Entdeckung, woher das Arsenik stammte, mitzuteilen.“

„Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Hillgreen“, unterbrach ihn Belsard hier. „Hatten Sie denn Sochinski benachrichtigt, daß Ihnen Ihre Flucht geglückt war?“

„Richtig, das vergaß ich zu erwähnen. An meine Schwiegereltern wagte ich natürlich nicht zu schreiben, da ich mit Recht fürchtete, daß die Behörden diese überwachen lassen würden, in der Annahme, ich könnte hier einen Unterschlupf suchen. Tatsächlich ist ja auch der Gendarm Haßlinger aus Zinnowitz in den Tagen nach meinem Verschwinden aus der Strafanstalt auffallend häufig hier in der Försterei gewesen. Aus diesem Grunde schickte ich erst zwei Tage nach meiner Flucht aus einem großen Dorfe bei Mewe ein Telegramm an Justizrat Magnus, dessen für Uneingeweihte völlig unverfänglicher Inhalt dem Anwalt alles sagte. Die Depesche unterzeichnete ich mit „B. H., Bräutigam“ – ein Name, der den scharfsinnigen Juristen sofort darüber aufklärte, wer der Absender war. Der Justizrat hat darauf meinen Schwiegervater verständigt und dieser wieder den Detektiv, der nun schleunigst seine Stellung kündigte und nach Berlin zurückkehrte.

Sochinskis Adresse hatte mir mein Schwiegervater bei einem seiner Besuche im Zuchthaus mitgeteilt, so daß es für mich ein leichtes war, ihn – natürlich wieder in vorsichtigster Weise – zu einer Unterredung zu bestellen. – Um nun nicht, bis die Antwort des Justizrats eintraf, ganz untätig zu sein, versuchte ich, auch auf eigene Faust den Detektiv zu spielen. Abwechselnd habe ich bald Ihren Freund Eduard Hillgreen, bald wieder Eva Stölner beobachtet. Ich brachte damals die ganzen Tage, oft auch die halben Nächte, auf der Straße zu, immer die Personen umschleichend, für die ich ein so verschiedenartiges Interesse hatte.

Dann traf des Justizrats Brief ein, den er an Sochinski adressiert hatte. Magnus riet mir, ich solle noch warten, bis wir noch stärkere Beweise gegen Stölner gefunden hätten. Denn es sei mit Sicherheit anzunehmen, daß der Drogist Bechert nie zugeben würde, Stölner das Arsenik geliefert zu haben, da er sich sonst darauf gefaßt machen müsse, selbst wegen unerlaubten Verkaufs von Giften ins Gefängnis zu wandern. Ebenso würde sich Bechert auch ganz richtig sagen, daß wenn er Stölner verriet, dieser ihn wegen Erpressung denunzieren würde. Weiter meinte der Justizrat dann, daß mit dem Zeugnis des Privatdetektivs, der die Unterredung zwischen den beiden belauscht hatte, nicht viel anzufangen sei. Die Gerichte ständen gerade den Aussagen der Privatdetektive sehr skeptisch gegenüber, da sich in vielen Fällen herausgestellt hätte, daß sie im Interesse ihrer Klienten mehr gehört und gesehen haben wollten, als tatsächlich gesprochen und geschehen wäre. Die Beantragung des Wiederaufnahmeverfahrens meines Prozesses müßte daher erst noch auf unzweideutigere Feststellungen gestützt werden, – das sei sein wohlmeinender Rat.

Der Justizrat entwickelte hier genau dieselben Bedenken, die auch schon Sochinski mir gegenüber geltend gemacht hatte. Es hieß daher für mich abwarten, so schwer mir dies auch wurde. Immerhin hoffte ich, bald ans Ziel zu gelangen, da mir eine unbestimmte Ahnung sagte, daß Stölner jedenfalls auch mit dem neuen Erben dasselbe Spiel versuchen würde, das er mit mir getrieben hatte, wobei er sich leicht eine Blöße geben konnte, die sich vielleicht für meine Zwecke ausnutzen ließ.

Ich nahm also wieder meine Spürtätigkeit auf, bei der ich auch einige Erfolge hatte. So bekam ich bald heraus, das Eva Stölner mit ihrem Vetter Willie Marholz auf recht vertrautem Fuße stand, weiter, daß Eduard Hillgreen auf dem besten Wege war, in die Netze dieses ränkesüchtigen Weibes zu geraten.

Dann brach ein besonders ereignisreicher Tag an. Ich hatte bereits kurz vor acht Uhr morgens wieder meinen Posten vor dem Marholzschen Hause bezogen. Für eine wechselnde Verkleidung, die verhüten sollte, daß ich durch meine häufige Anwesenheit in der Straße auffiel, sorgte Sochinski aufs beste. Ich sah kurz nach acht Uhr den Kremser vorfahren, sah die Gesellschaft, darunter auch Eduard Hillgreen, einsteigen und war sofort fest entschlossen, diesen Ausflug als stiller Beobachter mitzumachen. In einem Taxameter folgte ich dem Kremser in gehöriger Entfernung, umschlich dann später zu Fuß wie eine Rothaut den Lagerplatz im Walde, wo das Picknick abgehalten wurde, und war auch von weitem Zeuge der famosen Verlobungsszene. Ich wußte genug. Eva Stölner hatte also ihren Zweck erreicht. Bei Boto Hillgreen war die Sache gescheitert, bei Eduard Hillgreen glückte sie. Fräulein Eva hatte sich den Millionenerben erobert! So fuhr ich denn nach Berlin zurück und eilte zu Sochinski, um ihm diese Neuigkeit mitzuteilen. Dort wartete meiner eine weitere Überraschung. Justizrat Magnus hatte kurz vorher den Detektiv telephonisch davon benachrichtigt, daß Rittergutsbesitzer Müller schwer erkrankt sei und ein Testament zu Gunsten Eduard Hillgreens aufgesetzt habe. Ich mußte hiernach mit Bestimmtheit annehmen, daß dieser sich sofort nach Zinnowitz begeben würde, wollte ihn aber nicht ungewarnt in den Rachen des Löwen, eben in die Nähe Stölners, gelangen lassen. Aus diesem Grunde lauerte ich Ihnen, Herr Belsard, damals vor dem Hause auf und steckte Ihnen den Zettel zu. Ich kannte ja Ihre innige Freundschaft mit Eduard Hillgreen und hoffte, daß Sie Manns genug wären, um über dem neuen Erben zu wachen.

Nachdem ich diese meine Mission erfüllt hatte und Ihnen die Warnung zugegangen war, vereinbarte ich mit Sochinski genau alle weiteren Schritte. Danach sollte er vorläufig in Berlin bleiben und Eva Stölner weiter beobachten, während ich nach Zinnowitz gehen und dort die weitere Entwicklung der Dinge abwarten wollte. Am Morgen des auf die Verlobung folgenden Tages fuhren wir in demselben Zuge vom Stettiner Bahnhof ab, Sie und Hillgreen in einem Abteil zweiter Klasse, ich bescheiden in der dritten. In Swinemünde verließ ich den Zug und blieb bis zum Abend dort, da es mir zu gewagt erschien, mich in Zinnowitz am hellen Tage sehen zu lassen. Erst mit dem Abendzuge traf ich dann in Zinnowitz ein und wanderte zu Fuß weiter, bis ich in die Nähe der Försterei hier gelangte, die ich aber erst nach elf Uhr betrat, als ich hoffen durfte, daß alles sicher war.“

„Na, und das war eine Überraschung!“ warf Helmer schmunzelnd ein. „Mein Mädel wußte sich gar nicht zu fassen vor Freude!“

„Leicht begreiflich“, lächelte Belsard, indem er Boto Hillgreen freundlich zunickte. Dieser nahm seinen Bericht wieder auf.

„Ich hielt mich also hier im Hause verborgen, ohne daß jemand etwas von meiner Anwesenheit geahnt hätte. Nur dem Justizrat teilte mein Schwiegervater meine Ankunft mit, und der Anwalt war es denn auch, der uns über die Vorgänge in der Villa ständig unterrichtete. Die Kunde von der Ermordung Eduard Hillgreens traf mich wie ein Schlag. Sofort ahnte ich, daß Stölner zweifellos auch bei diesem Verbrechen seine Hände mit im Spiele gehabt hatte und daß er versuchen würde, den Verdacht der Täterschaft auf Sie zu lenken. Um auf alles vorbereitet zu sein, begab ich mich gestern nach Swinemünde und bestellte mir dort das Auto. Wie richtig meine Befürchtungen gewesen waren – ich kannte ja Stölners Verschlagenheit nur zu gut! – zeigte sich sehr bald. Mein Schwiegervater hatte für heute mittag mit Justizrat Magnus auf dem Bahnhof in Zinnowitz ein Zusammentreffen verabredet. Dort erzählte ihm der Rechtsanwalt nun, welch’ unerwartete Wendung die Nachforschungen nach dem Täter genommen hatten und daß Sie, Herr Belsard, infolge einer merkwürdigen Verkettung von Umständen schwer verdächtig schienen. Alles Weitere wissen Sie. Mein Plan, Sie in Sicherheit zu bringen, gelang. Und jetzt wollen wir drei uns darüber schlüssig werden, was geschehen soll, um mit einem Schlage diese Verbrecherbande unschädlich zu machen. Denn wir haben ja sichere Beweise, wer einzig und allein das Verbrechen an Eduard Hillgreen verübt haben kann.“

Belsard schaute überrascht auf.

 

9.

„Ja, Herr Belsard“, bekräftigte Boto ernst, „sichere Beweise! Ich habe mir absichtlich das Wichtigste bis zuletzt aufgespart. – Hören Sie denn. Daß der Detektiv in Berlin zurückblieb, sagte ich Ihnen bereits. Und seine Tätigkeit dort war von größtem Nutzen für uns. Am Vormittag nach der famosen Verlobung bei der Kremser-Partie beobachtete Sochinski, wie Eva Stölner und Willie Marholz zu einer Radpartie aufbrachen. Er blieb dem Pärchen auf den Fersen. Zu seinem Erstaunen gaben die beiden dann ihre Räder auf dem Stettiner Bahnhof zur Aufbewahrung ab und bestiegen einen Vorortzug nach Pankow. Der Detektiv tat dasselbe. In Pankow löste Willi Marholz zwei Billetts nach Zempin, dem Nachbarorte von Zinnowitz. Merken Sie etwas, Herr Belsard?“

Dieser nickte eifrig.

„Also das ist die Lösung! Wer hätte daran gedacht!“ meinte er ganz sprachlos.

„Sochinski war nun unschlüssig, ob er dem Pärchen noch weiter folgen solle“, fuhr Boto Hillgreen fort, „schließlich entschied er sich aber doch dafür, nach Berlin zurückzukehren und nur Justizrat Magnus das Beobachtete telephonisch mitzuteilen. Zweimal versuchte er vergeblich, den Rechtsanwalt persönlich zu sprechen. Denn selbst dem Bureauvorsteher mochte er sich nicht anvertrauen, der ihm den Bescheid gab, der Justizrat befinde sich in Zinnowitz und würde voraussichtlich erst spät abends nach Wolgast zurückkommen. So verschob der Detektiv die Sache denn bis zum nächsten Morgen, wo es ihm glückte, schnell Anschluß nach Wolgast zu bekommen. Der Justizrat, der inzwischen von dem Morde bereits benachrichtigt worden war und Sochinski nun ebenfalls von dem traurigen Ereignis verständigte, schien dieser Fahrt Eva Stölners und des verbummelten Kandidaten jedoch wenig Wichtigkeit beizumessen. Möglich auch, daß er in der ersten Aufregung über das schreckliche Ende Hillgreens den wahren Zusammenhang der Geschehnisse nicht sofort übersehen konnte. Anders der Detektiv, dem diese Reise der beiden, die merkwürdigerweise als Radtour begonnen hatte, höchst verdächtig vorkam. Jedenfalls paßte er zunächst darauf auf, wann die Fahrräder wieder von der Aufbewahrungsstelle für Handgepäck abgeholt werden würden. Dies geschah mittags gegen halb zwölf Uhr, als eben ein Zug aus der Richtung von Swinemünde eingelaufen war. Sochinski, der das auffallend blaß und übernächtigt aussehende Pärchen scharf beobachtete, merkte, daß Eva Stölner kaum die Kraft hatte, das Rad zu besteigen. Dabei glückte es ihm, sich in dem lebhaften Getriebe der Invalidenstraße ganz dicht an die beiden heranzuschlängeln. Und so entging es ihm nicht, daß Willi Marholz seiner Gefährtin ärgerlich zurief: „Nimm dich gefälligst zusammen! Wir dürfen uns zu Hause auf keinen Fall anmerken lassen, daß wir die Nacht nicht geschlafen haben!“

Dies ungefähr waren die Worte, die der Detektiv erlauschte. Und sie machten seine anfängliche Vermutung zur Gewißheit: die Familie Marholz sollte eben in dem Glauben erhalten bleiben, daß die beiden nur von einem längeren Ausflug mit dem Fahrrad zurückkehrten, während sie in Wirklichkeit in diesen vierundzwanzig Stunden ein Reiseziel weitab von Berlin mit der Eisenbahn aufgesucht hatten!

Sochinski verlegte nun das Feld seiner Tätigkeit gleichfalls nach Zinnowitz, in der Überzeugung, daß seine Anwesenheit hier jetzt bedeutend nötiger sei als in Berlin. Gestern abend erschien er plötzlich hier in der Försterei, blieb allerdings nur kurze Zeit, da er sein Hauptquartier, wie er scherzend sagte, in Zempin aufschlagen wollte, von wo ihn ein Spaziergang von einer guten Viertelstunde nach Zinnowitz bringt. Eigentlich hatten wir ihn heute erwartet. Er scheint aber noch eine Abhaltung gehabt zu haben.

So, Herr Belsard, und nun sollen Sie uns noch einige Fragen beantworten, die für uns von Wichtigkeit sind. – Sie haben doch dem Kriminalkommissar Berndt gegenüber die Ansicht geäußert, daß zwei Personen bei dem Verbrechen beteiligt gewesen sein müssen, nicht wahr?“

„Allerdings. Denn die Person, die ich hinter der Kiefer stehen sah, kann unmöglich den Schuß auf Hillgreen abgefeuert haben.“

„Also halten Sie es für ausgeschlossen, daß der Mann hinter der Kiefer in einem Bogen nach der Strandpromenade zurückkehrte und den Mord verübte?“

„Das ist sogar gänzlich ausgeschlossen. Der Betreffende, den ich beobachtete, floh in den Wald hinein, als er sah, daß ich auf ihn zukam. Und wenige Sekunden später ertönte auch schon in meinem Rücken der Schuß, der meinen Freund niederstreckte.“

„Es handelte sich wirklich nur um Sekunden?“ fragte Boto nochmals. „Sie werden begreifen, Herr Belsard, wie wichtig das ist. Haben sich damals an jener Stelle zwei Personen im Walde aufgehalten, so ist das ein weiteres schwer belastendes Moment gegen Eva Stölner und den Kandidaten Marholz.“

„Es können vielleicht zwanzig Sekunden gewesen sein – im Höchstfalle!“ versicherte Belsard mit größter Bestimmtheit. „Das bin ich jederzeit zu beschwören bereit. In dieser Zeit konnte sich ein Mensch bei der Dunkelheit unmöglich um mich herumschleichen und bis zu Hillgreens Standort vordringen. – Nein – die Person, die meinen Freund niederschoß, hat sich Hillgreen im Schutze des Haselnußstrauches, der dort steht, genähert, während ich den Fremden hinter der Kiefer folgte.“

„Diese Ihre Aussage dürfte von ausschlaggebender Bedeutung sein“, meinte Boto Hillgreen freudig erregt. „Ich denke, diese Beweise werden bereits genügen. Nun noch etwas. Justizrat Magnus erzählte meinem Schwiegervater heute auch, daß Ihr Parfüm bei der ganzen Sache eine besondere Rolle spielte, ebenso daß der Mord mit einer Ihnen gehörigen Pistole verübt wurde, alles Einzelheiten, die uns noch ganz unbekannt waren. Haben Sie denn nun nicht irgendeinen Anhalt dafür, daß Stölner Ihnen die Pistole aus Ihrem Koffer gestohlen hat, und ferner, wie der scharfe Parfümgeruch an dem Pistolengriff entstanden sein kann? Es wäre doch ein großer Triumph für uns, wenn wir auch noch diese Punkte aufklären könnten.“

Belsard zuckte bedauern die Achseln.

„Hier versage ich vollständig, mein lieber Herr Hillgreen. Wie die Sache mit der Pistole zusammenhängt, weiß ich nicht. Vermuten werden wir beide ja wohl das gleiche. Aber damit läßt sich nichts anfangen.“

Der Förster hatte schon seit einer Weile mit gespannter Aufmerksamkeit gelauscht. Jetzt erhob er wie warnend die Hand.

„Einen Augenblick, meine Herren! Mir war es schon vorhin so, als ob ich draußen einen leisen Pfiff hörte“, flüsterte er, sich langsam erhebend. „Ich will zur Sicherheit doch einmal nachsehen gehen. Sollte Gefahr drohen, so weißt du ja Bescheid, Boto.“

Leise öffnete er die Tür und verschwand. Die steile Treppe knarrte so verräterisch unter seinen Schritten, daß Belsard nervös zusammenzuckte.

„Seien Sie ohne Sorge“, beruhigte ihn Hillgreen jedoch. „Wir haben an alles gedacht und gleich bei meiner Ankunft hier ein Warnungssignal verabredet. Bemerkt mein Schwiegervater etwas Verdächtiges, so verschwinden wir durch die Luke in der Decke dieses Stübchens auf den Boden und können von dort leicht auf das Dach gelangen, welches wieder an das des Geräteschuppens grenzt. Und neben diesem steht ein uralter Kastanienbaum, in dessen dichter Krone wir ein vorzügliches Versteck finden.“

Trotzdem legte sich Belsards Unruhe nicht eher, bis auf der Treppe laute Stimmen ertönten und Boto Hillgreen dann überrascht rief: „Das ist ja Sochinski! Auf den hätte ich nicht mehr gerechnet!“

Der Privatdetektiv, ein noch junger Mann mit einem breiten, grobgemeißelten Gesicht und einer Mähne, die jedem Klaviervirtuosen zur Ehre gereicht hätte, nahm als vierter am Tische Platz.

Helmer als aufmerksamer Wirt erkundigte sich fürsorglich, ob er Sochinski vielleicht noch einen kleinen Imbiß anbieten dürfe.

„Wenn Sie so liebenswürdig sein wollen! Ich habe seit Mittag keinen Happen genossen. Und dann, Herr Helmer: Sie müssen jetzt so gut sein und mich zur Nacht hier behalten. Weswegen, erkläre ich später.“

„Aber gern. Das macht uns gar keine Umstände. Ich werde dann gleich den Frauen Bescheid sagen, damit sie alles herrichten.“

Nachher ging der Detektiv dem saftigen Landschinken und dem ebenso vorzüglichen „Schweizer“ mit wahrem Heißhunger zu Leibe. Ebenso hatte er in kürzester Zeit drei Flaschen Bier vertilgt.

„So – jetzt bin ich erst wieder Mensch“, meinte er behaglich, indem er Messer und Gabel fortlegte. „Und nun ans Geschäft, meine Herren. Damit wir die Sache aber nicht aufhalten, will ich gleich mit meiner Wissenschaft herausrücken. Ob ich vorher noch eine Zigarre nehme, Herr Förster? Selbstverständlich! Danke, sie brennt tadellos. Na, hier an Usedomer Grabenrändern ist dies Kraut nicht gewachsen, das lehrt der erste Zug! – Dann darf ich ja wohl mein Garn abhaspeln.

Als ich Sie gestern abend verließ und nach dem Bahnhof Trassenheide wanderte, um nach Zempin zu fahren, ahnte ich nicht, daß ich schon in den nächsten Stunden äußerst wertvolle Nachrichten über die Personen erhalten sollte, denen meine liebevolle Aufmerksamkeit seit einiger Zeit gewidmet ist. Ich erreichte den letzten Zug in Trassenheide gerade noch mit knapper Not. Zehn Minuten später war ich dann schon in Zempin. Die Stationen liegen hier auf diesem gesegneten Eiland ja so dicht beieinander wie Perlen auf einer Schnur. Der Bahnhofassistent in Zempin, dem ich mich, um sein Vertrauen schneller zu gewinnen, als Berliner Kollege vom Postfach vorstellte, entpuppte sich als ein recht gesprächiger Herr. Wir setzten uns in die Bahnhofwirtschaft, und bei einem Glase Bier holte ich dann so in aller Gemütsruhe aus ihm heraus, was ich wissen wollte. Erst sprachen wir über den Fremdenverkehr. Dann flocht ich ein, daß Bekannte von mir das schöne Maiwetter zu einem mehrtägigen Ausflug nach dem seiner Billigkeit wegen berühmten Zempin hatten benutzen wollen. Ob ihm vielleicht ein Herr und eine Dame aufgefallen wären, die vor einigen Tagen eingetroffen sein müßten, so und so aussehend. Das wären meine Bekannten.

Seine Antwort veranlaßte mich, schleunigst noch eine Lage zu bestellen. Kurz, meine Herren: Der Assistent hat Eva Stölner und den Kandidaten Marholz auf dem Zempiner Bahnhof gesehen, als sie gerade aus dem Berliner Zug ausgestiegen waren. Die Stölner hatte sich durch einen dichten Schleier, den sie um ihre Sportmütze fest verknotet hatte, und durch eine Lodenpelerine unkenntlich gemacht, was ja auch dringend notwendig war, da sie hier in der Gegend jedem Kind bekannt sein dürfte. Marholz trug über seinem Radfahreranzug gleichfalls einen Umhang. Die beiden Pelerinen hatten sie, als sie in Berlin von der Marholzschen Wohnung losgondelten, an den Lenkstangen ihrer Räder festgeschnallt, nahmen sie dann aber auf dem Stettiner Bahnhof ab, – natürlich schon zu dem Zwecke, ihre Kleidung darunter zu verbergen. – Wenn ich eben sagte, daß der Assistent die beiden bemerkt hat, so wollte ich damit nicht etwa ausdrücken, daß er sie auch erkannte. Nein, er erzählte mir nur, wie die Dame und der Herr ausgesehen hätten. Und darauf erwiderte ich sehr diplomatisch, daß es dieser Beschreibung nach meine Berliner Freunde kaum gewesen sein konnten. Namen nannte er nicht. Und daher dürfte er auch nicht wissen, daß die tief verschleierte Frauensperson die schöne Tochter des Gutsverwalters von Balliden war. – Um den Assistenten nicht argwöhnisch zu machen, leistete ich ihm noch eine Weile Gesellschaft, trotzdem mich seine Schilderung des Aufschwungs von Zempin als Badeort herzlich wenig interessierte. Dann pilgerte ich nach dem Strandwirtshaus und ließ mir ein Zimmer anweisen. Heute vormittag gegen neun Uhr war ich dann schon wieder zum Aufbruch bereit. Ich wollte feststellen, ob meine Vermutungen zutrafen, daß unser Pärchen vorsichtshalber von der nächsten Station hinter Zempin, von Koserow, die Rückfahrt angetreten hatte. Auch in Koserow war der Bahnassistent harmlos genug, mir, ohne es selbst zu wissen, meine Annahme zu bestätigen. Ich kam ihm mit demselben Märchen von meinen Berliner Bekannten, und als ich die Frau meines Freundes in ihrem Reisekostüm – Lodenumhang, Sportmütze und Schleier – beschrieb, brauchte er gar nicht lange in seiner Erinnerung herumzusuchen. Ja, die Herrschaften wären vor kurzer Zeit an einem Morgen mit dem Frühzuge nach Swinemünde gefahren, und sie hätten offenbar schon eine weite Fußwanderung hinter sich gehabt, da ihr Schuhzeug auffallend beschmutzt und die Röcke der Dame am Saum ganz durchweicht gewesen wären, erklärte er mir.

Die landschaftlichen Reize von Koserow vermochten mich nicht lange zu fesseln. Schon ein Viertelstunde später saß ich auf dem Bock eines leeren Möbelwagens, der die Chaussee nach Wolgast zu verfolgte und dessen Kutscher ich durch ein Trinkgeld und einige Zigarren gefügig machte. Nach verschiedenen Ruhepausen vor sämtlichen am Wege liegenden Gasthäusern langte ich mittags ein Uhr in Wolgast an und begab mich direkt zu Justizrat Magnus, der eben erst von Zinnowitz eingetroffen war. Es hatte sehr viel Schmeichelhaftes für mich, daß der Justizrat mich in meiner Verkleidung erst wieder erkannte, nachdem ich ihm meinen Namen nannte.

Von dem Justizrat erfuhr ich dann alles, was die wohllöbliche Polizei gegen Sie, Herr Belsard, an wurmstichigen Verdachtsmomenten gesammelt hatte, auch daß Ihre Verhaftung nahe bevorstand. Nun, über letztere regte ich mich nicht weiter auf. Ich wußte ja, daß Herr Boto hier als rettender Engel auftauchen würde. Interessanter war mir aber die Geschichte von dem Parfümgeruch am Pistolengriff.

Sagen Sie mal, Herr Belsard, wußte eigentlich diese gemeingefährliche Dame, die Eva Stölner, daß Sie diese besondere Parfümmischung ständig zu benutzen pflegten? Besinnen Sie sich – vielleicht haben Sie mit ihr mal gelegentlich darüber gesprochen.“

Der Schriftsteller bejahte.

„Willi Marholz erfrechte sich einmal, als wir zusammen in einem Lichtspieltheater waren, über meine ‚weibische‘ Angewohnheit, so starkes Parfüm zu gebrauchen, einige spöttische Bemerkungen zu machen, was ich mir sehr energisch verbat. Nach einer Weile fragte mich Eva Stölner dann, wie mein Parfüm heiße. Es gefalle ihr. Und aus reiner Höflichkeit sagte ich ihr, daß es eine Mischung von Peau d’Espagne und Divinia wäre.“

„Famos – – famos!“ rief Sochinski ganz begeistert. „Jetzt haben wir sie fest – endgültig! Denn meine Herren, als mit der Justizrat heute vormittag von diesem besonderen, durch die Mischung der beiden bekannten Parfümsorten hergestellten Wohlgeruch, der so intensiv dem Pistolengriff anhaftete, Mitteilung machte, schoß mir gleich der Gedanke durch den Kopf, daß hier vielleicht ein ganz raffinierter Streich vorliegen könne. – Wissen Sie, was ich denke?! Die Sache hängt so zusammen. Der alte Stölner hat die Pistole ‚weggefunden‘ und sie dann seinem Töchterchen gegeben, mit der er irgendwo heimlich ein Stelldichein verabredet hatte. Fräulein Eva kam nun auf den schlauen Gedanken, den Kolben der Waffe recht tüchtig mit der Belsardschen Parfümmischung zu tränken, um der Polizei einen Wink zu geben, wo sie den Täter zu suchen hätte. Höchst einfach, nicht wahr!“

„Höchst einfach, aber doch nicht richtig“, meinte Boto Hillgreen lächelnd. „Oder glauben Sie etwa, bester Herr Sochinski, daß die Stölner sich auf die sogenannte Radtour ein Fläschchen Parfüm mitgenommen hat?! Sie konnte doch noch gar nicht wissen, als sie mit ihrem Helfershelfer von Berlin abfuhr, daß ihr Vater die Pistole ‚weggefunden‘ hatte, wie Sie sich so treffend ausdrückten. Also wäre das Mitnehmen einer Flasche Peau d’Espagne, vermischt mit Divinia, doch höchst überflüssig gewesen.“

„Großartig, Herr Hillgreen – – großartig!“ Sochinskis breites Gesicht glänzte förmlich vor freudiger Genugtuung. „Sehen Sie, genau so wie Sie eben habe auch ich kombiniert. Und deshalb habe ich den heutigen Nachmittag dazu verwandt, um in den einschlägigen Geschäften der in Frage kommenden Ortschaften Erkundigungen einzuziehen, ob vielleicht letztens von einer Dame das Parfüm Peau d’Espagne oder Divinia verlangt worden wäre. Das Glück war mir hold. Der Apotheker in Zempin besann sich genau, an dem und dem Tage abends gegen sieben Uhr einer ihm völlig unbekannten Dame zwei Flaschen Parfüm, und zwar die, auf die es uns ankommt, verkauft zu haben.“

„Na, wenn die Polizei sich jetzt noch nicht überzeugen läßt, daß Sie schuldlos sind, Herr Belsard, dann – dann –!“ Der brave Förster, der auf diese Weise der Ansicht aller Ausdruck gab, suchte vergeblich nach einem möglichst einleuchtenden Schlußsatz.

„In erster Linie handelt es sich hier doch wohl um Herrn Boto“, wehrte Belsard jedoch diese allzu große Berücksichtigung seiner Person ab.

„Ob Sie oder Herr Hillgreen – das bleibt sich gleich“, erklärte der Detektiv siegesgewiß. „Denn der Bande, die diesen raffinierten Mord an dem Maler beging, wird das Gericht jetzt auch ohne weiteres zutrauen, jenen Giftmordversuch in Szene gesetzt zu haben!“

 

10.

Kriminalkommissar Berndt saß im Speisezimmer der Müllerschen Villa beim Morgenkaffee. Aber es schmeckte ihm nicht. Die verschiedenen Sorten Aufschnitt, die weichen Eier, die frisch geöffnete Sardinenbüchse – alles ließ ihn kalt. Und mitten in seinem trübseligen Sinnen und Grübeln unterbrach ihn plötzlich ein Geräusch, das ihn herumfahren ließ. Die Tür, die von der Diele in das Speisezimmer führte, war mit einem Ruck geöffnet worden.

Auf der Schwelle stand Manuel Belsard, hinter ihm ein zweiter Herr, den der Kommissar nicht kannte.

Alles andere hatte Berndt erwartet, nun nicht diesen Besuch.

„Herr Belsard – – – Sie – – – Sie – – –?“ stotterte er ganz sprachlos.

Der Schriftsteller lächelte freundlich.

„Guten Morgen, Herr Kommissar – Gestatten Sie, daß ich Ihnen den Privatdetektiv Sochinski aus Berlin vorstelle“, fügte er mit einer Handbewegung nach seinem Begleiter hin hinzu.

„Was hat das alles zu bedeuten, meine Herren?“ fragte Berndt, noch immer völlig fassungslos.

„Nichts anderes, Herr Kommissar, als daß wir Ihnen die Beweise gegen die wahren Mörder meines Freundes bringen – Herr Sochinski hier wird Ihnen das Nötige mitteilen.“

„Unter diesen Umständen möchte ich Sie bitten, noch einen Augenblick zu warten“, meinte Berndt, der auch nicht einen Augenblick mehr zweifelte, daß wichtige Enthüllungen bevorstanden.

„Staatsanwalt Möller wohnt drüben im Strandwirtshaus. Ich werde Ihn sofort herüberholen. Bitte, nehmen Sie inzwischen Platz.“

Bereits nach fünf Minuten betraten der Staatsanwalt und Berndt das große Speisezimmer, wo die beiden anderen Herren in leisem Gespräch am Fenster standen.

Belsard machte Möller nur eine sehr knappe Verbeugung. Dann nahm man an dem Eßtisch Platz, den das Stubenmädchen inzwischen abgeräumt hatte.

Der Detektiv begann nun mit allen Einzelheiten zunächst den Giftmordversuch zu schildern, dessentwegen Boto Hillgreen vor zwei Jahren verurteilt worden war. Die Ausführungen Sochinskis waren so logisch und wurden in so übersichtlicher Weise vorgetragen, daß die beiden Beamten ihn auch nicht ein einziges Mal mit einer Zwischenfrage unterbrachen.

Von dem Giftmordversuch ging er dann zu dem jetzigen Verbrechen über. Nichts verschwieg er. Er sprach von der Flucht Boto Hillgreens, von dessen Beobachtungen, erwähnte seine eigene so erfolgreiche Spürtätigkeit und kam dann zum Schluß mit seinem größten Trumpf heraus: wo Eva Stölner und der Kandidat sich das Parfüm besorgt hatten.

Jetzt war er mit seinem Bericht zu Ende.

„Und nun, Herr Staatsanwalt, überlasse ich Ihnen alles Weitere“, fügte er hinzu. „In der Beweiskette gegen die Schuldigen fehlt kaum mehr ein Glied. Ich denke, wir haben ganze Arbeit getan!“

Die fernere Unterredung zwischen den vier Herren trug nun schon ganz den Charakter einer freundschaftlichen Aussprache, nachdem sowohl Möller als auch Berndt sich bei Belsard in höflichster Weise entschuldigt hatten.

„Irren ist menschlich“, meinte der Kommissar, seinen wackligen Kneifer etwas verlegen gerade rückend. „Ich habe in meinem Leben wohl an hundert schwere Kriminalfälle bearbeitet. Dies ist der erste, wo ich von Anfang an auf falscher Fährte war.“

Die Herren kamen dann überein, daß man vorsichtshalber Belsard noch weiter als halben Gefangenen behandeln wollte, damit Stölner nicht gewarnt würde, der sonst bei seiner Verschlagenheit sicher Verdacht geschöpft hätte. Gleich nach dem Begräbnis Eduard Hillgreens, das auf elf Uhr angesetzt war, sollte der Verwalter dann verhaftet werden.

Diese Anordnungen erfuhren jedoch, kaum daß sie getroffen waren, eine Abänderung. Denn eben als die Herren sich erhoben hatten, um sich für den Gang auf den Kirchhof zu rüsten, erschien der Unterinspektor aus Balliden mit einem an den Staatsanwalt gerichteten Brief, in dem Stölner sein Fernbleiben von dem Begräbnis zu entschuldigen bat. Er hätte soeben eine Depesche aus Berlin von seiner Schwester, der Rechnungsrätin Marholz, erhalten, daß seine Tochter plötzlich an Lungenentzündung schwer erkrankt sei, und er wolle daher mit dem Mittagszuge bereits nach der Hauptstadt fahren.

Der Inspektor fügte dann noch hinzu, Herr Stölner befinde sich in verzweifelter Stimmung, da er sein einziges Kind über alles liebe und die Depesche so dringend gehalten sei, daß man nur annehmen könne, es stünde mit Fräulein Eva sehr schlecht.

Berndt und Sochinski reisten darauf ebenfalls mit dem Elf-Uhr-Zuge nach Berlin, und zwar stiegen sie zu Stölner in dessen Abteil ein, ohne ihn jedoch merken zu lassen, daß sie ihn überwachen wollten. Den Detektiv stellte Berndt dem Gutsverwalter als Kriminalbeamten vor. Als Zweck dieser Reise gab er an, er wolle die Berliner Wohnung Belsards durchsuchen lassen und auch Einsicht in das Testament Eduard Hillgreens nehmen. Stölner war viel zu sehr mit seinem Schmerz beschäftigt, als daß ihm irgendein Argwohn gekommen wäre, ebensowenig wie er auch in Sochinski den Arbeiter wieder erkannte, der fast vier Wochen lang bei der Frühjahrsbestellung in Balliden mitgeholfen hatte. Stumm alles – – alles hatte er über der Angst um seine Tochter vergessen.

* * *

In der Marholzschen Wohnung schlichen die Familienmitglieder auf Zehenspitzen umher. Denn drinnen in dem verdunkelten Schlafzimmer rang ein junges Menschenleben mit dem Tode.

Soeben hatte sich der Arzt verabschiedet. An der Tür flüsterte er der Rechnungsrätin noch zu:

„Wann kann Ihr Bruder eintreffen, gnädige Frau? Hoffentlich haben Sie dringend genug depeschiert – –.“

Die Rätin blickte verzweifelt zu dem Doktor auf.

„Steht es denn wirklich so schlecht mit unserer Patientin?“ fragte sie schluchzend.

Der Arzt zuckte die Achseln.

„Der linke Lungenflügel ist ebenfalls bereits in Mitleidenschaft gezogen – Machen Sie sich auf das Schlimmste gefaßt.“

Die Rätin weinte still vor sich hin. Die willensstarke Frau war völlig gebrochen.

„Mein Bruder kann nachmittags gegen fünf Uhr hier sein. Er hat ja zurückdepeschiert, daß er gleich mit dem nächsten Zuge abfahren will.“

Der Doktor schaute ernst vor sich hin.

„Um fünf – –?! Das wären noch vier Stunden. Hm – ich weiß nicht, ob – ob er da noch zur Zeit kommt.“

Frau Marholz taumelte gegen die Türfüllung, vermochte sich kaum mehr aufrecht zu halten.

„Mein Gott, mein Gott – also so – so bald befürchten Sie das Ende?! – Verlassen Sie mich nicht, Herr Doktor, bleiben Sie hier – Ich ertrage das allein nicht.“

„Sie haben doch Ihren Sohn hier – Ich verspreche auch, ich komme gegen zwei Uhr nochmals nachsehen.“

„Mein Sohn!“ Wie ein Schrei klang es. „Der ist ja selbst ein Kranker, Herr Doktor. – Wie ein Irrer sitzt er da und brütet nur vor sich hin, seit Eva in ihren Fieberphantasien all dies Gräßliche von Mord und Gift unaufhörlich schwatzt, – unaufhörlich, daß es einem wie Eiseskälte über den Rücken kriecht.“

„Dann lassen Sie doch Ihren Gatten aus dem Geschäft holen“, schlug der Arzt schon etwas ungeduldig vor. Auf ihn warteten ja noch andere Patienten, und seine Zeit war voll besetzt.

„Ja – ja, das werde ich tun. – Adieu, Herr Doktor. Und – die Eisumschläge, die soll ich weiter machen – so sagten Sie doch wohl.“

Er nickte nur. Helfen würde es nichts, das wußte er. Die Auflösung konnte jeden Augenblick eintreten.

– – – – – – –

Als der Eilzug von Swinemünde gegen halb fünf Uhr nachmittags in den Stettiner Bahnhof einlief, stand an einem Fenster eines Abteils zweiter Klasse eine wuchtige, breite Männergestalt, Heinrich Stölner, der mit angstvoll klopfendem Herzen den Bahnsteig überschaute und nach einem Mitglied der Familie Marholz ausspähte. Denn daß ihn jemand abholen würde, nahm er als sicher an.

Und dann erblickte er unter der Uhr neben dem Gepäckaufzug ein dürres Männchen, seinen Schwager Marholz. Dessen Gesicht war bleich, die Augen wie vom Weinen gerötet. Und um den schmalen Mund lagen ein paar tiefe Falten bittersten Seelenschmerzes. Mit wenigen Schritten war Stölner neben ihm.

„Franz – – mein Kind, was ist’s?“ Die Stimme versagte ihm.

Wortlos streckte Marholz ihm die Hand entgegen.

„Sei stark, Schwager – Noch lebte Eva – Vielleicht geschieht ein Wunder.“

Und seinen Arm unter den des willenlosen Riesen schiebend, zog er ihn halb mit sich fort dem Ausgang zu.

Berndt und Sochinski, die aus nächster Nähe jedes Wort mit angehört hatten, ließen die beiden vorangehen und folgten dann langsam.

„Der würde nicht an Flucht denken, und wenn man ihm jetzt einen Mord auf den Kopf zusagte“, meinte der Detektiv ernst.

Der Kommissar nickte nur.

„Trotzdem werden wir ihn nicht aus den Augen lassen“, fuhr Sochinski fort. „Rücksicht wäre hier schlecht angebracht. – Wann gedenken Sie ihn zu verhaften, ihn und den Kandidaten? Denn das junge Mädchen ist Ihnen ja sicher.“

„Sobald ich mir zwei Beamte vom Berliner Präsidium zur Unterstützung geholt habe“, erklärte Berndt nachdenklich. „Sie würden mir nun einen Gefallen tun, Herr Sochinski, wenn Sie bis dahin das Marholzsche Haus im Auge behalten wollten. Ich hoffe in einer Stunde etwa dort zu sein.“

Der kleine Rechnungsrat und Stölner ahnten nicht, daß dich hinter ihrem Taxameter sich ein zweiter durch das Straßengewühl schlängelte, in dem der Privatdetektiv saß. Nach einer fast halbstündigen Fahrt war die von lärmenden Kinderscharen erfüllte Straße am Halleschen Tor erreicht, in der Marholz in einem billigen Mietshause seit Jahren wohnte.

Schwerfällig stieg der Gutsverwalter die Treppen empor. An der Korridortür empfing ihn seine Schwester. Aufweinend umarmte sie ihn und half ihm dann beim Ablegen des Überrocks.

„Sie ist bei Bewußtsein“, flüsterte sie ihm tröstend zu. „Seit einigen Minuten erst – Der Arzt ist bei ihr.“

„Und – darf ich denn hinein?“ fragte Stölner, sich gewaltsam aufraffend.

Die Rätin bejahte eifrig. Daß der Doktor ihr eben erst gesagt hatte, daß gerade diese plötzliche Besserung und das völlige Nachlassen des Fiebers das nahe bevorstehende Ende ankündigten, verschwieg sie ihm. Nie hätte sie es fertig gebracht, ihm diese fürchterliche Nachricht zu übermitteln.

Zögernd überschritt Stölner die Schwelle des Krankenzimmers. Die Fenstervorhänge waren auf Wunsch Evas aufgezogen worden.

Matt und bleich, kaum mehr zu erkennen, lag sie in den Kissen. Als ihr Vater jetzt beinahe taumelnd nähertrat, flog etwas wie ein Lächeln über ihr vom Todesengel bereits gezeichnetes Antlitz.

Stölner war auf den neben dem Bett stehenden Stuhl gesunken. Seine mächtigen Hände glitten streichelnd über ihr aufgelöstes Haar hin.

„Mein Kind – – mein Kind“, flüsterte er. Weiter brachte er kein Wort hervor.

Schweigend, erschüttert standen im Hintergrunde das Ehepaar Marholz und der Arzt.

„Laßt uns allein“, hauchte die Kranke mit kaum noch hörbarer Stimme.

Die drei entfernten sich leise.

In Evas Augen war ein seltsames Glänzen gekommen. Und diese fast überirdischen Augen ruhten fest auf Heinrich Stölners bleichem Gesicht.

„Vater“, flüsterte sie dann, „die Strafe ist schneller hereingebrochen, als wir ahnten.“

Bei jedem Wort pfiff und röchelte es unheimlich laut in ihrer Brust. Und nur stoßweise rang sich jede Silbe hervor, wie mit äußerster, letzter Kraft herausgedrängt.

Ängstlich schaute Stölner sich um. „Schweig! Kind, quäle dich nicht mit solchen Gedanken“, bat er trostlos. „Noch weiß niemand etwas –.“

Mit einem Ruck hatte sie sich zu halb sitzender Stellung aufgerichtet.

„Aber sie sollen es wissen, – alle, alle! – Ich will nicht mit dieser Last auf dem Gewissen hinübergehen“, keuchte sie. „Der Tod ist mir nahe. – Ich fühle es. – Und wenn du mich je geliebt hast, Vater, so hole einen Geistlichen. – Ich muß mein Herz erleichtern – muß –.“

Tränen rannen über ihre gelblich verfärbten Wangen, Tränen bitterster Reue. – Ihr Körper flog plötzlich wie im Fieberfrost, ihre Zähne schlugen klappernd aneinander und ihre Augen, groß und weit und doch ohne Blick, stierten ins Leere. – So sank sie in die Kissen zurück, krampfhaft, wie einen Halt suchend, mit den Händen um sich greifend.

Und dann ein letztes, – ein dumpfer Schrei, als ob eine Mollsaite mitten in dem Klingen zerrissen wird:

„– – ich will vergelten, spricht der Herr –.“

Eva Stölner war nicht mehr.

Schluchzend warf sich der Vater über das Bett seines einzigen Kindes. Sein wildes Weinen, seine halbirren Reden, seine Verwünschungen gegen sich selbst, gegen seine Geldgier, gegen Gott und die ganze Welt riefen auch die andern herbei.

Und in diese Szene mit ihrer trotz allem, was die Beteiligten verschuldet, so tief erschütternden Tragik platzte als Vertreter der irdischen Gerechtigkeit Kriminalkommissar Berndt hinein.

Auf sein Klingeln hatte ihm das Mädchen die Korridortür geöffnet und auf seine Frage nach dem Gutsverwalter stumm auf die Tür des Krankenzimmers gewiesen, die nur angelehnt war.

Mit dem ersten Blick überschaute er die Situation. Vieles war ihm schon in seinem Leben begegnet. Aber von der Leiche seines Kindes weg einen Vater verhaften, das stellte Anforderungen an sein Beamtenherz, denen dieses kaum gewachsen war.

Zaudernd blieb er stehen. Aller Augen waren auf den fremden Eindringling gerichtet, der die Stille dieses Totengemachs zu stören wagte. Jetzt schaute auch Heinrich Stölner auf. Sein Blick begegnete denen des Kommissars. Er ahnte, was diesen hierhergeführt hatte. Nun erhob er sich langsam, streichelte noch ein letztes Mal zärtlich die erkaltende Hand seines Kindes und trat dann auf Berndt zu.

„Kommen Sie“, sagte er einfach. Und hochaufgerichtet schritt er in den Korridor hinaus, setzte wie mechanisch den Hut auf, nahm den Mantel vom Haken und ging die Treppe hinunter.

Auf der Straße vor dem Hause hielt ein geschlossenes Auto. Darin fuhr Heinrich Stölner in Begleitung von zwei Beamten dem Polizeipräsidium am Alexanderplatz zu. In einem zweiten Wagen folgten Berndt und Sochinski. – – – – –

Erst am nächsten Morgen ließ der Stettiner Kommissar sich die beiden Gefangenen – denn auch Willi Marholz war am gestrigen Nachmittag zur selben Stunde wie sein Onkel in seiner Junggesellenwohnung verhaftet worden, nacheinander zum ersten Verhör vorführen.

Stölner, der als erster vernommen wurde, schien völlig gebrochen. Sein bisher graumeliertes Haupthaar war in dieser einen in der Zelle des Polizeigefängnisses verbrachten Nacht weiß geworden. Der, der Berndt jetzt gegenübersaß, hatte mit dem kraftstrotzenden Riesen auch nicht die geringste Ähnlichkeit mehr. Ein müder, gleichgültiger Greis beantwortete mit tonloser Stimme die Fragen des Kommissars, ohne auch nur einen Versuch zu machen, irgend etwas zu leugnen.

Es zeigte sich, daß die Vermutungen hinsichtlich des Giftmordversuchs an dem Rittergutsbesitzer in allen Punkten zutrafen. Der Drogist Bechert hatte Stölner das Arsenik geliefert und später dann diesen Umstand tatsächlich zu den schamlosesten Erpressungen benutzt.

Nur über etwas verweigerte Stölner jede Auskunft, – wer das Gift in den Morgenkaffee geschüttet und das übrige Arsenik in Boto Hillgreens Zimmer eingeschmuggelt hatte.

Berndt wußte ja, daß nur Eva Stölner allein dies getan haben konnte. Trotzdem wollte er es sich von dem Gutsverwalter bestätigen lassen.

Doch der schwieg beharrlich. Und als der Kommissar immer dringender wurde, erklärte er schließlich leise: „Nun denn, – ich bin’s gewesen.“

„Das glaube ich nicht“, erwiderte Berndt in verweisendem Ton. „Die ganzen Umstände sprechen dafür, daß Ihre Tochter allein es getan haben kann.“

„Lassen Sie eine Tote aus dem Spiel“, flehte Stölner mit einem Blick, der den Kommissar fast rührte. „Ich war’s, ich! Und nie werden Sie etwas anderes von mir hören.“

„Sie geben auch zu, daß Sie Boto Hillgreen nur deswegen beseitigen wollten, um sich selbst in den Besitz der Erbschaft zu bringen“, fragte Berndt wieder.

„Beseitigen?! – Nein, nur mit seinem Onkel verfeinden wollte ich ihn.“

„Ich habe mich im Ausdruck vergriffen“, berichtigte sich Berndt schnell. „Aber das kommt ja auf eins heraus.“

Dann stellte er die erste Frage wegen der Ermordung Eduard Hillgreens. Wieder schwieg Heinrich Stölner, schaute nur teilnahmslos vor sich hin.

Der Kommissar wiederholte die Frage nochmals.

Da hob Stölner den Kopf. In seinen Augen lag derselbe müde, verzweifelte Ausdruck wie vorhin.

„Wozu quälen Sie mich unnötig?!“ sagte er leise. „Ich leugne ja nichts – nichts. Lassen Sie sich von Willi Marholz erzählen, wie alles zusammenhängt. Sind Sie denn so wenig Mensch, daß Sie nicht begreifen können, wie unsäglich gleichgültig mir jetzt die Zukunft, die Gegenwart und die Vergangenheit ist, jetzt wo – wo mein Kind nicht mehr lebt! – Geben Sie mir ein paar Tage Ruhe, dann werde ich Ihnen vielleicht besser Rede stehen –.“

Da ließ Berndt ihn wieder in seine Zelle zurückbringen. Er würde ja auch ohne Stölner das Letzte erfahren, was er noch wissen mußte.

Um Willi Marholz, der gleich darauf zum Verhör vorgeführt wurde, stand es nicht viel besser als um den Gutsverwalter.

Ein körperlich völlig gebrochener und auch seelisch gleichfalls vollkommen niedergedrückter Mensch wankte in das Zimmer hinein und ließ sich schwer auf den Stuhl fallen, auf dem eben noch Heinrich Stölner gesessen hatte.

Aus des verbummelten Kandidaten Geständnis ging folgendes hervor: Der Plan, Eduard Hillgreen aus dem Wege zu räumen, war dem verbrecherischen Hirn Eva Stölners entsprungen, die infolge des Absagebriefes des Malers einen wilden Haß auf diesen geworfen hatte, da sie sich in ihren ehrgeizigen Hoffnungen getäuscht sah. Auf gut Glück waren die beiden dann nach Usedom gefahren und in Zempin ausgestiegen. Während Eva Stölner sich im Walde in der Nähe von Zinnowitz verborgen hielt, mußte der in der Gegend unbekannte Marholz auf Kundschaft ausgehen. Es glückte ihm, den Gutsverwalter, der gerade mit dem Jagdwagen nach Balliden zurückkehrte, zu treffen und ihm einen heimlichen Wink zu geben, woraufhin Stölner den Wagen halten ließ, ausstieg und verborgen hinter einem Gebüsch eine kurze Unterredung mit seinem Neffen hatte, in deren Verlauf er diesem die Pistole aushändigte, die er, wie er sich ausdrückte, „für alle Fälle“ zu sich gesteckt hatte. Der Kandidat kehrte dann zu seiner Gefährtin zurück, nachdem er noch im alten Dorfe, dem an der Chaussee gelegenen Ortsteil von Zinnowitz, die nötigen Eßwaren eingekauft hatte. Nach Einbruch der Dunkelheit umschlichen die beiden dann die Villa, um eine Gelegenheit zu erspähen, wie sie ihr Vorhaben am besten ausführen könnten. Die Zwischenzeit hatten sie dazu benutzt, sich in Zempin das Parfüm zu besorgen, mit dem der Pistolengriff begossen wurde. Auch dieser hinterlistige Gedanke stammte von Eva Stölner. – Als Belsard und Hillgreen dann auf der Strandpromenade erschienen, folgte ihnen das Pärchen, durch den Wald gedeckt, eine Weile. Dann mußte Marholz auf des Mädchens Vorschlag vorauseilen und den Schriftsteller vom Wege fortlocken, was ja auch nur zu gut gelang. Den tödlichen Schuß feuerte Eva Stölner ab, die nachher im Schutze der Dunkelheit ebenfalls entkam und an einer vereinbarten Stelle mit Marholz wieder zusammentraf. Die beiden hatten dann die ganze Nacht frierend im Walde verbracht und waren erst am Morgen mit dem Frühzuge von Koserow aus nach Berlin zurückgekehrt. In jener Nacht aber holte sich Eva Stölner den Keim zu ihrer Krankheit, die nach zwei Tagen sofort mit hohem Fieber einsetzte und zu ihrem Tode führen sollte.

* * *

Der Gutsverwalter und Willi Marholz wurden später wegen Beihilfe zum Morde zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt. Beide erlebten das Ende ihrer Strafzeit nicht mehr. Stölner starb bereits nach einem halben Jahre, und einige Monate nachher auch der Kandidat, dessen durch Ausschweifungen verwüsteter Körper das harte Dasein im Kerker nicht ertrug.

Die Müllerschen Millionen, die der Rechtslage nach unzweifelhaft Manuel Belsard als dem Erben des Kunstmalers gehörten, teilte der Schriftsteller mit seinem neu gewonnenen Freunde Boto Hillgreen, der im Wiederaufnahmeverfahren in kürzester Zeit freigesprochen wurde.