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Falsches Geld

Erster Teil

 

Falsches Geld

 

1. Kapitel.

Wo die Dürftigkeit wohnt …

Detektiv Fritz Schaper reichte seinem Gegenüber die Banknote zurück.

„Tadellos, Herr Geheimrat, wirklich tadellos, da gebe ich Ihnen recht“, meinte er ernst. „Aber die Leute suchen – das hieße einen Heuhaufen nach einer Stecknadel durchstöbern – um einen etwas abgedroschenen Vergleich heranzuziehen“, fügte er hinzu.

Der Geheime Regierungsrat Winter hatte den Fünfhundertmarkschein sorgfältig in seine Brieftasche zurückgelegt und seufzte.

„Sie haben nur ausgesprochen, was mir schon seit einiger Zeit klar ist, Herr Schaper“, sagte er, seinen wohlgepflegten grauen Spitzbart durch die Finger gleiten lassend. „Zwei Monate, nein, bereits länger, ist unsere Berliner Kriminalpolizei nun schon hinter den Leuten her – vergeblich, total vergeblich! Noch nicht einmal einen geringen Anhalt hat man dafür entdeckt, wo diese Menschen zu suchen sind, ob es sich um ein größeres Gauner-Konsortium handelt oder ob nur wenige bei dieser unglaublichen Geschichte beteiligt sind. Dabei hat die Kriminalpolizei nichts unversucht gelassen, um den Fälschern auf die Spur zu kommen. Nun bin ich in meiner Not zu Ihnen gelaufen, nachdem mir heute morgen die Deutsche Bank abermals sechs dieser leider Gottes nur allzu gut gelungenen Falsifikate zugestellt hat, die bei einer großen Revision der Banknotenbestände herausgefunden worden sind. Und wer weiß, wie viele von den Dingern den Beamten trotz aller Achtsamkeit noch durchgeschlüpft sind! Denn die Fälschungen sind ja nur an ganz, ganz winzigen Unterschieden zu den echten Scheinen erkennbar.“

„Die Sache kann allerdings eine böse Unsicherheit auf dem Geldmarkt hervorrufen, wenn man die Fabrikanten dieser Falsifikate nicht bald kaltstellt“, meinte Schaper zerstreut.

Ihm war dieser Besuch des Vorstandes der zweiten Abteilung der Reichsdruckerei, in der die Reichskassenscheine hergestellt werden, nämlich zur Zeit recht wenig angenehm. War er doch gerade dabei gewesen, mit seinem Bürovorsteher alles Nötige genau zu vereinbaren, um dann mit dem Mittagszuge endlich einmal als freier Mann eine längere Erholungsreise antreten zu können, die ihm nach diesen ersten zwei Jahren seiner Tätigkeit als Detektiv dringend not tat, da er bisher kaum einen Tag zur Ruhe gekommen war und seine pekuniären Verhältnisse ihm recht wohl gestatteten, einige Wochen vollständig ausspannen und seinen lange gehegten Plan, die Schweiz und Italien zu durchwandern, ausführen zu können.

Daher brachte er diesem Kriminalfall, der seit zwei Monaten nicht allein die Berliner, sondern auch die Polizei der benachbarten Staaten in Atem hielt, recht wenig Interesse entgegen. Mit voller Absicht, da er eben nur zu gut wußte, daß, wenn sein ruheloser Geist sich erst einmal mit dieser Fälschergeschichte zu beschäftigen begann, er davon nicht wieder ablassen konnte.

„Wie wär’s, wenn Sie sich dieser Sache annehmen würden? – Bedenken Sie – es sind dreitausend Mark für die Feststellung der Fälscher ausgesetzt!“

Schaper, der eben in Gedanken ausgerechnet hatte, daß ihm bis zur Abfahrt des Schnellzuges nach München nur noch eine Stunde blieb, schaute auf.

„Ich selbst bin leider nicht imstande, mich der Angelegenheit zu widmen“, erwiderte er diplomatisch, da er es mit dem Beamten nicht verderben wollte. „Noch heute gedenke ich für einige Zeit zu verreisen, da ich meinen Nerven endlich einmal eine Weile Ruhe gönnen muß. Ich werde jedoch meinen Leuten Anweisung geben, daß sie die Sache im Auge behalten.“

Der Geheimrat schien sichtlich enttäuscht zu sein.

„Schade, sehr schade“, sagte er unmutig. „Gerade von Ihrer persönlichen Hilfe hatte ich mir so viel versprochen. Ihr Personal in Ehren, Herr Schaper! Aber es gibt doch nun einmal nur einen Fritz Schaper auf der Welt, und der kann doch seine Findigkeit und seinen Scharfsinn nicht hierlassen – leider nicht!“

Der Detektiv verbeugte sich leicht.

„Vielen Dank für das Kompliment, Herr Geheimrat. – Wollen wir uns nicht dahin einigen, daß ich Ihnen verspreche, sofort zurückzukehren, sobald auch nur die leiseste Spur von den Fälschern gefunden ist? – Sie werden selbst einsehen, daß bei der augenblicklichen Lage der Sache sich nichts tun läßt, gar nichts. Die Kriminalpolizei hat ja nicht einmal festzustellen vermocht, woher auch nur ein einziges der Falsifikate stammt – ich meine, wer es ausgegeben hat. Wo sollte ich also mit meinen Ermittlungen beginnen?“

Winter nickte. „Das stimmt leider! – Gut also, Herr Schaper, lassen wir es dabei. Auf ein Telegramm von mir stellen Sie sich uns zur Verfügung. Nur müssen Sie mich von Ihrem jeweiligen Aufenthaltsort verständigen.“ –

Die Herren trennten sich dann mit freundschaftlichem Händedruck.

* * *

Am Abend desselben Junitages, an dem diese Unterredung stattgefunden hatte, saßen in einem sehr bescheiden eingerichteten Zimmer drei Personen um einen von einer Gaslampe bestrahlten Tisch und verzehrten schweigend ihr einfaches Abendbrot.

Jetzt schob Horst-Günther v. Molnar den Teller beiseite und faltete die Serviette, zwischen deren vielfach geflickten Stellen die in gelber Seide gestickte Adelskrone beinahe komisch wirkte, sorgfältig zusammen. Dann zog er die Uhr, ein schweres, altväterliches Ding, und schaute nach der Zeit.

„Ich werde noch ein wenig ausgehen“, meinte er zögernd. „Der Juniabend ist zu schön, um ihn hier in der Stube zuzubringen.“

Schon wollte er den Stuhl zurückschieben und sich erheben.

Aber ein strenger Blick der Majorin bannte ihn noch an seinen Platz.

„Astrid, räume den Tisch ab“, sagte Frau v. Molnar kurz zu ihrer jüngsten Tochter, einem elfenhaft zarten Geschöpfchen, dessen feines Antlitz mit den großen, dunklen Augen unfehlbar schön zu nennen gewesen wäre, wenn es nicht einen so krankhaft bleichen Teint gehabt hätte.

Und zu ihrem einzigen Sohne gewandt, fügte die Majorin hinzu:

„Bleibe noch hier, Horst-Günther. Ich habe mit euch zu reden.“

Wieder herrschte Schweigen in dem kleinen Zimmer, dessen wertvollster Schmuck die alten Ölgemälde derer von Molnar waren, die man ohne jede Spur von Geschmack dicht nebeneinander an den Wänden aufgehängt hatte und die in ihren leuchtenden Offiziersuniformen der letzten zwei Jahrhunderte in diese ärmliche Umgebung gar nicht hineinpaßten. – Flink und geschickt trug Astrid indessen die Teller und Schüsseln hinaus in die Küche, in der nur ein trübes Lämpchen brannte, das ständig einen unangenehmen Petroleumduft verbreitete und trotzdem immer wieder benutzt wurde, weil es die billigste Art von Beleuchtung blieb.

Mutter und Sohn hatten jeder einen Teil der Abendzeitung vorgenommen und vertrieben sich mit Lesen die Zeit, bis Astrid sich dann zu ihnen an den Tisch setzte und ihre Stickerei vor sich ausbreitete.

Die Majorin faltete die Beilage zusammen. Ihr fiel es offenbar schwer, das vorzubringen, was sie ihren Kindern zu sagen hatte, denn sie beeilte sich beim Fortlegen des Blattes keineswegs.

Endlich begann sie dann, indem sie sich in ihrem Korbsessel zurücklehnte und starr vor sich auf das Muster der bunten Tischdecke blickte:

„Ich habe heute nachmittag einen Ausgaben-Überschlag über das verflossene Vierteljahr gemacht. Das Resultat ist ein trauriges. Wir haben vierhundert Mark mehr verbraucht, als unsere Einnahmen dies zulassen, das heißt, wir haben – – diese Summe von dem kleinen, uns gebliebenen Kapital verausgabt.“

Eine Weile war es totenstill in dem Zimmer. Dann meinte Horst-Günther leicht gereizt, wobei er die Mutter merkwürdig forschend anblickte:

„Ich begreife das nicht. Maximiliane zahlt uns doch monatlich eine – Beihilfe von dreißig Mark, Astrid verdient durchschnittlich zwanzig und ich gebe von meinem Riesengehalt gleichfalls dreißig Mark ab. Wir stehen also doch besser als früher! Und trotzdem ist das Kapital angegriffen worden?! Mir unverständlich!“

„Du vergißt, daß diese Wohnung, die wir seit Ostern inne haben, monatlich fünfunddreißig Mark mehr kostet als unsere erste hier in Berlin“, erwiderte die Majorin streng. „Ferner übersiehst du, daß die Lebensmittel in der letzten Zeit jetzt hier geradezu horrend teuer sind und daß du, lieber Horst-Günther, insofern nur scheinbar seit einem halben Jahre den Zuschuß zur Wirtschaft gibst, als ich dir dafür deinen Sommerulster und zwei neue Anzüge mit zusammen 195 Mark angeschafft habe. Schließlich dürfte es dir entgangen sein, daß Astrid in durchaus notwendiger Rücksicht auf ihre zarte Gesundheit in den drei letzten Monaten so gut wie nichts gearbeitet und daher auch nichts verdient hat.“ –

Horst-Günther v. Molnar stieg deutlich eine tiefe Röte in das feingeschnittene Gesicht, das trotz des leicht blasierten, hochmütigen Zuges um den Mund recht sympathisch wirkte. Und dann fuhr es ihm heraus, schroffer, als er es wohl beabsichtigt hatte:

„So, nun machst du mir also auch noch die fertig gekauften Kleider, die wahrlich bescheiden genug sind, zum Vorwurf! Sollte ich denn wirklich weiter in den ausgewaschenen, abgeschabten Sachen herumgehen, die schon die kritischen, spöttischen Blicke meiner Kollegen auf sich zogen!!“

Die Majorin, deren blasses, von Leidensfurchen bedecktes Antlitz mit dem grauen, vollen Scheitel über der edlen Stirn noch immer die Spuren einstiger Schönheit verriet, schaute ihren Sohn strafend an.

„Ich verbitte mir diesen Ton“, sagte sie streng. „Du hast in letzter Zeit schon einige Male gewagt, mir mit Redensarten gegenüberzutreten, die sich für einen Molnar nicht ziemen! Ich wünsche ähnliche Ausfälle, die der krasseste Undank sind und nur von deiner völligen Verständnislosigkeit für unsere Lage zeugen, nie wieder zu hören!“

Die Majorin machte eine kurze Pause. „Leider muß ich annehmen“, fuhr sie dann fort, „daß du auch dem Vorschlage, den ich euch machen wollte, aus einer Selbstsucht heraus, die bei dir nur zu stark ausgebildet ist, nicht die rechte Würdigung schenken wirst. Trotzdem wird das geschehen, was ich mir vorgenommen habe. Wir werden dein Zimmer vermieten, Horst-Günther, und du selbst kannst in die jetzt nur als Schrankkammer benutzte Mädchenstube ziehen, die, da sie ein volles Fenster hat, trotz ihrer Kleinheit für einen zwanzigjährigen jungen Menschen vollauf genügt.“

Horst-Günther v. Molnar wagte keinen Widerspruch, so sehr ihn auch der Verlust seiner gemütlichen „Bude“, die einen besonderen Eingang vom Flur hatte, schmerzte und empörte. Und um seine Ungehörigkeit von vorhin wieder gut zu machen, zwang er sich sogar zu einer freilich nicht ganz aufrichtig klingenden zustimmenden Erwiderung.

Die Majorin schien diese Antwort als selbstverständlich hinzunehmen. Sie richtete jetzt an Astrid das Wort, die mit niedergeschlagenen Augen dasaß und nur einen Wunsch hatte: daß diese peinliche Aussprache recht bald beendet sein möchte.

„Ich rechne damit, daß wir einen soliden Herrn in gesetztem Alter in Pension nehmen, der monatlich etwa siebzig bis achtzig Mark bezahlen könnte – natürlich bei voller Verpflegung. Wo drei satt werden, ißt der vierte so gut wie umsonst mit. Jedenfalls dürften uns immer noch vierzig Mark Überschuß bleiben, denke ich.“

In demselben Augenblick klingelte es draußen an der Flurtür. – Astrid eilte hinaus, um nach kurzer Zeit in Begleitung der ältesten Molnar, die den wenig häufigen Namen Maximiliane trug, zurückzukehren. –

Maximiliane v. Molnar war das vollständige Ebenbild ihres nach langem Krankenlager verstorbenen Vaters. Während Astrid und Horst-Günther ihre zarte Gesichtsfarbe und die blonde Haarfülle ihrer Mutter verdankten, besaß ihre Schwester dasselbe dunkle, leichtgewellte Haar, das auch das energische Gesicht des Majors gekrönt hatte. Um Kopfeslänge fast überragte Maximiliane ihre Geschwister, und wo in deren Zügen nur weiche Linien zu finden waren, da standen in ihrem Antlitz seltene Energie, Zielbewußtsein und Entschlossenheit geschrieben. Trotzdem machte ihre Erscheinung einen durchaus mädchenhaften Eindruck, und dies wohl hauptsächlich infolge des Ausdruckes ihrer stets halbverschleierten grauen Augen, die in der Erregung, sogar schon bei lebhafteren Gesprächen, schnell den matten Glanz verloren und in denen dann ein Feuer aufglomm, das von einem leidenschaftlichen, heißen Herzen sprach.

Maximiliane begrüßte zunächst die Majorin durch einen Kuß auf die Stirn und reichte dann Horst-Günther die Hand.

„Nun, Herr Bankdirektor, wie geht’s?“ meinte sie scherzend zu dem Bruder, der nicht gerade gutgelaunt schien. „Für einen Menschen, dessen Lehrzeit am ersten Oktober beendet ist und der dann auf 125 Mark Anfangsgehalt rechnen kann, siehst du recht trübselig aus, Söhnchen!“

Horst-Günther entzog ihr ziemlich schroff seine schmale, wohlgepflegte Hand.

„Laß den Unsinn, Maxi!“ sagte er kurz. „Wir haben jetzt hier alle nicht die rechte Lust zu Neckereien.“

„So? – Und weshalb denn nicht?“ forschte die älteste Molnar, indem sie sich auf einen Stuhl neben der Mutter niederließ.

Die Majorin klärte sie kurz auf.

„Mama, das wäre sehr vernünftig von euch“, erwiderte Maximiliane dann. „Horst-Günther wird einsehen, daß es nicht anders geht“, setzte sie schnell hinzu. „Er muß sein Zimmer abgeben. Schließlich braucht er bei seiner Tätigkeit, die ihn den Tag über von Hause fernhält, doch nur einen netten Schlafraum.“

Die Sache wurde nun nochmals nach allen Seiten hin erörtert. Das Resultat war, daß die Majorin gleich am kommenden Morgen ein entsprechendes Pappschild unten an der Haustür befestigen lassen und auch eine Zeitungsannonce einrücken wollte.

Gegen einhalb zehn Uhr brach Maximiliane, die bei einem berühmten Augenarzt als Empfangsdame und Buchhalterin tätig war, wieder auf …

„Ich werde dich noch ein Stück begleiten“, meinte Horst-Günther, froh, daß er auf diese Weise noch ins Freie konnte.

Die verwitwete Frau Majorin Agnes v. Molnar bewohnte in einem älteren Hause in dem Berliner Vorort Schöneberg eine aus drei Zimmern bestehende, im ersten Stock gelegene Vorderwohnung. Als die Geschwister die Flurtür hinter sich zuzogen, öffnete sich gleichzeitig die gegenüberliegende Entreetür, die zu der zweiten, in derselben Etage befindlichen Wohnung gehörte, und heraus trat ein schlanker, gut gekleideter Herr, der tief den Hut zog und Horst-Günther mit wortreicher Liebenswürdigkeit begrüßte, wobei seine Blicke immer wieder Maximilianes stattliche Erscheinung bewundernd musterten.

Horst-Günther konnte unter diesen Umständen nicht anders, als den ihm persönlich bekannten Flurnachbarn die Schwester vorzustellen.

„Liebe Maximiliane – du gestattest: Herr Ernesto Sagnali – meine Schwester.“

Der Italiener, der seit ein paar Monaten in den Räumen seiner Wohnung eine Fabrik für künstlerische Stickschablonen eingerichtet hatte, freilich zunächst noch in recht bescheidenem Umgang, verbeugte sich tief.

„Mein gnädiges Fräulein“, sagte er mit dem etwas scharfen Akzent des Ausländers, sonst aber in tadellosem Deutsch, „ich bin entzückt, daß der Zufall mir endlich Gelegenheit gibt, Ihre Bekanntschaft zu machen. Eigentlich von Hause aus Maler, bin ich ein Verehrer jener eigenartigen Frauenschönheit, wie sie die alten Meister der italienischen Schule auf ihren Gemälden mit Vorliebe festzuhalten pflegten, einer Schönheit, wie mein Künstlerauge sie bereits seit längerer Zeit an Ihnen zu bewundern wagt. – Bitte, bitte, Gnädigste, nicht dieses stolze, abweisende Gesicht! Ich habe Sie doch nicht verletzen wollen, habe nur Gedanken ausgesprochen, die jeder künstlerisch veranlagte Mensch bei Ihrem Anblick empfinden muß – aus reinster Freude an der Schönheit, nur deshalb, nur – –!“

Sagnali, der selbst ein auffallend schöner Mann war, hatte eine so bezwingende Art von Liebenswürdigkeit, daß selbst die unnahbare Maximiliane ihm die Hand hinstreckte.

„Mein Bruder hat uns bereits viel von Ihnen erzählt, Herr Sagnali. Sie treiben gelegentlich mit Horst-Günther italienische Konversation. Dafür muß er Ihnen sehr dankbar sein. Heutzutage kann man sich ja an Sprachkenntnissen nie genug aneignen.“

Dann schritten sie nebeneinander die Treppe hinab. Unten vor dem Hause bat Sagnali bescheiden, ob er sich den Geschwistern anschließen dürfe.

So gingen die drei dann eifrig plaudernd durch die abendlich vornehmen Straßen dem vornehmen Teile des Berliner Westens, dem sogenannten Bayrischen Viertel, zu, wo die Wohnung Professor Neubers lag, ein stattliches Gebäude, an dem nur ein kleines, weißes Porzellanschild an der Haustür den Leidenden den Namen des berühmten Arztes anzeigte. Hier verabschiedeten sich die beiden Herren. Und Horst-Günther wunderte sich nicht wenig, als die stolze Maximiliane dem Italiener abermals mit einem gewinnenden Lächeln die Hand hinreichte und sagte:

„Leben Sie wohl, Herr Sagnali. Und – nehmen Sie sich meines Bruders auch ferner ein wenig ein. Er kann von Ihnen viel lernen. – Auf Wiedersehen!“

Damit war sie in der Haustür verschwunden.

Schweigend durchquerten die beiden Zurückgebliebenen einige Straßen. Dann fragte der Italiener, ob man nicht noch eines der Cafés am Kurfürstendamm aufsuchen wolle.

Horst-Günther, in dem ein gut Teil unbefriedigter Lebensgier und Genußsucht steckte, hätte nur zu gerne ja gesagt. Aber der Gedanke an seinen allzeit leeren Geldbeutel ließ ihn schnell eine Ausrede gebrauchen.

Doch Sagnali durchschaute ihn.

„Tun Sie mir schon den Gefallen, Herr v. Molnar“, bat er liebenswürdig. „Ich plaudere so gerne mit Ihnen. Bitte, seien Sie nur dies eine Mal mein Gast.“

Da gab Horst-Günther nach.

Erst kehrten sie in dem neuen Café Berlin ein, das der junge Bankbeamte bisher stets nur von außen bewundert hatte. Das Leben und Treiben in den eleganten Räumen, die rauschende, lockende Musik versetzten ihn bald in einen wahren Taumel von sprühender Lebensfreude. Am Nebentisch ließen sich nach einiger Zeit ein paar elegante Damen nieder, die für Horst-Günthers rassiges Aristokratengesicht bald das lebhafteste Interesse zeigten. Unwillkürlich schaute er immer häufiger zu ihnen hinüber. Und dann – er wußte selbst nicht, wie es gekommen war, befanden sie sich auch schon im einem mit allerhand vorläufig noch recht harmlosen Neckereien gewürzten Gespräch, an dem Sagnali zunächst wenig Anteil nahm. Schließlich taute aber auch er immer mehr auf. Und eine halbe Stunde später saßen die vier – die dritte der Damen hatte inzwischen einen Freund gefunden, der sie zu sich an den Tisch rief, in einem Auto und fuhren nach einer jener Weinkneipen, an denen der Westen der Reichshauptstadt so reich ist und wo in verschwiegenen Nischen Leichtsinn und Liebe ihre Orgien feiern.

Inzwischen hatte Horst-Günther Gelegenheit gefunden, den Italiener um – „eine Kleinigkeit für kurze Zeit“ anzuborgen. Bereitwilligst und diskret schob Sagnali ihm gleich drei Hundertmarkscheine in die Hand. Der junge Molnar atmete auf. Nun brauchte er diesen entzückenden Mädels gegenüber doch nicht weiter den armen Schlucker zu spielen.

Erst gegen vier Uhr morgens schlich Horst-Günther dann mit weinschwerem Kopf in sein Zimmer. Ein Glück, daß die seinen nicht hören konnten, wann er heimgekehrt war. Aber ein Jammer war’s, daß er diese Bude mit dem famosen Eingang vom Flur gerade jetzt aufgeben mußte, wo er die süße Lizzie vom Nollendorf-Theater kennengelernt hatte, die mit ihm recht, recht oft zusammen sein wollte. – –

 

2. Kapitel.

Widerspruchsvolle Charaktere.

Ernesto Sagnali saß seiner Schwester, die ihm trotz ihrer Jugend selten pflichttreu und umsichtig den Haushalt führte, beim Morgenkaffee gegenüber.

Mariette Sagnalis temperamentvolles Gesichtchen war von einer Wolke des Unmuts überschattet und umsonst versuchte ihr Bruder immer wieder eine Unterhaltung in Fluß zu bringen. Schließlich streckte er ihr die wohlgepflegte Künstlerhand über den Tisch hin und meinte scherzend:

„Aber kleines Schwesterlein, was hast du nur? Grollst du mir? Und wenn – aus welchem Grunde?“

Sie übersah absichtlich seine Hand. Und wie eine kleine, allerliebste Katze fuhr sie ihn an:

„Ernesto, wenn du selbst schon daran Gefallen findest, die Nächte durchzubummeln, so solltest du wenigstens nicht andere zu ähnlichem Treiben verführen. Ich weiß sehr wohl, daß ihr beide, Horst-Günther und du, erst heute morgen, als es draußen bereits hell wurde, nach Hause gekommen seid.“

Sagnalis Gesicht nahm augenblicklich einen anderen Ausdruck an. Die harmlose Heiterkeit verschwand daraus, und ein Zug von stiller Seelenqual prägte sich immer deutlicher in seinen Mienen aus.

Mechanisch strich er sich mit den Fingern über die Stirn. Dann blieb sein nachdenklicher Blick eine ganze Weile auf dem liebreizenden Antlitz seiner Schwester haften.

„Gefällt dir Horst-Günther, Mariette?“ fragte er unvermittelt.

Sie wich seinen Augen nicht aus. „Gefallen? – Wie meinst du das?“ erwiderte sie trotzdem mit leiser Verwirrung.

„So wie ich’s aussprach. Er ist ein hübscher Mensch, und alle Weiber schauen nach ihm. Warum solltest du da gerade eine Ausnahme bilden?“

Ihre vollen roten Lippen preßten sich fest aufeinander. Und leidenschaftlich stieß sie hervor:

„Ich will nicht, daß du Herrn v. Molnar an deinen sogenannten Zerstreuungen teilnehmen läßt – verstehst du mich! Ich will es nicht!“ Der Blick, den sie dem Bruder zuwarf, hatte etwas Drohendes, etwas, das Ernesto Sagnali zur Vorsicht mahnte.

Unwillkürlich war ihm eine deutliche Blutwelle in das bleiche Gesicht geschossen. Verlegen schaute er vor sich hin. Und seine Stimme klang merklich unsicher, als er fragte:

„Soll das eine Drohung sein, Mariette? – Fast schien es mir so.“

Sie hatte sich erhoben und begann das Kaffeegeschirr auf das Tablett zu stellen.

„Drohung? – Nein“, sagte sie leise, „Nur – eine Warnung!“

Damit verließ sie das bescheiden eingerichtete Zimmer und ging in die Küche hinaus.

Ernesto Sagnali blieb regungslos sitzen. Starr blickte er vor sich auf den Fußboden, wo die durch das Fenster hineinflutende Morgensonne helle Vierecke malte, wo in den breiten Strahlen des Tagesgestirns die feinen Staubteilchen, sonst für das Auge unsichtbar, in wildem Tanz hin und her wirbelten. Dann seufzte er tief auf. – –

Draußen im Flur schlug die Glocke an. Acht Uhr war’s. Die Arbeiterinnen kamen, die er, vorläufig nur fünf an der Zahl, beschäftigte. Er stand auf und ließ sie ein. Schnell verschwanden sie in dem größten der vier Zimmer, das nach der Straße hinaus lag, und in dem die beiden Stanzmaschinen mit ihren blinkenden Hebeln und Stempeln aufgestellt waren.

Die übliche Tagesarbeit begann. Ernesto Sagnali beaufsichtigte die Mädchen, die wie Automaten an den Stanzen tätig waren, die immer neue, dünn gewalzte Zink- und Kupferblätter unter die scharfen Stempel schoben, die Hebel herabdrückten und die fertigen Schablonen dann zu Häufchen aufschichteten.

Dann kam der Briefträger. Der Italiener nahm die Korrespondenz in Empfang und betrat den Nebenraum, den er als Arbeits- und Schlafzimmer benutzte.

Flüchtig sah er die eingelaufene Post durch, unlustig machte er sich daran, einige Antwortbriefe zu schreiben. Das schwere, beklemmende Gefühl, das seit der heutigen Aussprache mit Mariette seine Seele bedrückte, wollte nicht weichen. Mitten in einem Satz ließ er die Feder sinken, lehnte sich in den geschweiften Sessel zurück und blickte sinnend auf ein großes Gemälde, das über dem Schreibtisch hing. Ein bitteres Lächeln huschte um seine Lippen. Das Bild da bedeutete das Grab seiner ehrgeizigen Hoffnungen. Vor fünf Jahren war es entstanden, als er noch in Mailand in der Künstlerkolonie der Umberto-Straße gewohnt und gestrebt hatte – gestrebt nach Ruhm und Ehren. Acht Monate hatte er daran gearbeitet. Dann war sein Werk, das er „Die Sünde“ taufte, fertig, dann schickte er es nach Rom an die Ausstellungsleitung ein und – – erhielt es zurück als – nicht geeignet. Damals war es gewesen, als in Ernesto Sagnali vieles, das Beste in ihm, zusammenbrach.

Die Sünde! – Gedankenverloren schaute er noch immer auf das Bild, das einen alten, von Malern unzählige Male verkörperten Gedanken in neuer Form darstellte. – Eine ärmliche Gasse. Darin lehnte an einer Haustür, zu der ein paar Steinstufen hinaufführten, ein selten schönes, schlankes Weib. Zwei angetrunkene Matrosen, die Mützen schief auf dem Kopf, torkelten die Gasse entlang. Die Frau lächelte ihnen vielsagend entgegen – die Sünde! – Und dazu der Kontrast. Auf der anderen Seite spielten im Schatten eines Vorbaus drei kleine Mädchen mit ein paar aus Flicken kunstvoll hergestellten Puppen, während neben ihnen in einem altersschwachen Lehnstuhl ein Greis saß, dessen faltiges Gesicht bereits vom Engel des Todes gezeichnet schien. – –

Das Gemälde wirkte in seiner zwanglosen Kombination geradezu ergreifend. Und doch war es von der Jury der Kunstausstellung zurückgewiesen worden. Der Gedanke fand Anerkennung, aber die Ausführung wurde getadelt. Dem, der es geschaffen, fehlte es an der nötigen Technik. Die Ausbildung, die Ernesto Sagnali genossen hatte, genügte nicht. Aus Mangel an Mitteln mußte er sich stets mit Lehrern begnügen, die nicht zu den ersten Vertretern der modernen Richtung gehörten. Das rächte sich bitter. Sagnalis Talent reichte nicht hin, um aus sich selbst heraus ohne Anleitung wahrhaft Großes zu schaffen. So ging es eben abwärts mit ihm – von Stufe zu Stufe. –

Der Italiener raffte sich auf. Was half all das Grübeln? – Nichts, nichts! Die Vergangenheit lag längst hinter ihm. Der Gegenwart, der Zukunft mußte er leben. Das Schicksal hatte es ja nicht anders gewollt. – –

Schnell erledigte er den Rest seiner Korrespondenz und schritt dann über den zu der Wohnung gehörenden Korridor auf die dem Flureingang zunächst liegende Tür zu. Hier klopfte er in besonderer Weise an – erst dreimal kurz hintereinander, darauf vier Schläge in immer längeren Pausen.

Nach einer Weile wurde drinnen ein Riegel zurückgeschoben und Sagnali schlüpfte hinein.

Der Bewohner dieses Raumes, ein Mann mit einem aufgedunsenen Gesicht, aus dem ein paar kleine Schlitzaugen vergnügt und listig hervorleuchteten, war noch in recht mangelhafter Toilette und hatte offenbar eben erst das an der einen Wand hinter einem Schirm stehende Bett verlassen. Er begrüßte Sagnali in unverfälschtem Berliner Dialekt und zwar mit einer Vertraulichkeit, die diesem offenbar wenig behagte.

„Nehmen Sie Platz, Ernesto“, sagte er dann mit einer einladenden Handbewegung nach dem Sofa hin. „Und – nun raus mit den Neuigkeiten, verehrtester Kompagnon. Ist es Ihnen geglückt, den jungen Molnar so etwas an die Strippe zu bekommen?“

Sagnali legte warnend den Zeigefinger auf die Lippen.

„Leise, ich bitte Sie! Wenn Mariette uns hört!“

Der andere zuckte die Achseln. „Dann ist sie auch noch um nichts klüger geworden“, meinte er gleichmütig. Trotzdem gab er sich aber alle Mühe, sein kräftiges Organ etwas zu dämpfen.

Der Italiener erzählte dann von dem Verlauf des vorigen Abends und der anschließenden Sektkneiperei das Notwendigste.

„Also mit dreihundert Mark sitzt der Jüngling nun bei Ihnen in der Kreide – das ist ja großartig“, erklärte der mit dem fahlen Teint hochbefriedigt. „Dreihundert Mark! Die soll er mal versuchen abzugeben! Wird ihm schwer fallen! Nun heißt es, die Sache weiter so elegant befingern. In zwei Wochen muß der junge Mensch derart eingewickelt sein, daß er ganz und gar uns gehört. – Na, Ernesto, war mein Plänchen nicht großartig? Ja, ja, verlassen Sie sich nur immer auf mich, dann werden wir bald unsere Schäfchen im Trockenen haben.“ – –

Sagnali hatte sich eine Zigarette angezündet und blies mit leicht gerunzelter Stirn die blauen Rauchwölkchen von sich.

„Die Idee mag gut sein“, sagte er dann zögernd. „Trotzdem widerstrebt es mir, sie weiter auszuführen. Ich mag diesen harmlosen Menschen, der mir so blindlings vertraut, nicht in so schuftiger Weise auszunutzen.“

„Auszunutzen?!“ Der andere lachte spöttisch. „Vorläufig nutzt er Sie doch nur aus, indem er sich für Ihr beziehungsweise unser Geld amüsiert. Das Weitere soll ja erst später folgen. Und – es wird folgen! Auf jeden Fall müssen Sie versuchen, das – Geschäft mit ihm in die Wege zu leiten, auf jeden Fall! Ich habe es satt, noch monatelang hier wie eine Eule im Bau zu hausen, die nur nachts im Freien herumstreift, nachts, wo ihre Feinde schlafen und nur ihresgleichen auf Beute ausgeht. Unsere Sache muß in spätestens vier Wochen erledigt sein. Dann trennen wir uns wieder, und jeder kann fernerhin tun und lassen, was er will.“

Sagnali lenkte das unerquickliche Gespräch absichtlich auf ein anderes Thema über.

„Wollen Sie Ihr Frühstück haben, Merwinski?“ fragte er, indem er in den Ton seiner Stimme etwas wie liebevolle Fürsorge legte.

„Ob ich will! – Mag Ihre Schwester mich doch bedienen, Ernesto“, bat er zögernd. „Ich langweile mich ja hier in diesen vier Wänden zu Tode! Man will sich auch mal über was anderes unterhalten als nur über – geschäftliche Dinge.“

Der Italiener schüttelte bedauernd den Kopf.

„Mariette hat in der Wirtschaft zu tun. Das wissen Sie, amigo. Außerdem – –“

Er machte eine kleine Pause.

„Nun – außerdem?“ fragte Merwinski, seine Schlitzaugen noch mehr zusammenkneifend.

„Ja – hm – ehrlich: Sehr sympathisch sind Sie Mariette gerade nicht, und da erscheint es für beide Teile besser, wenn sie sich möglichst wenig begegnen.“

Dann verließ Sagnali das Zimmer, und wie immer schloß der Zurückbleibende sofort hinter ihm ab.

Man war eben in der Wohnung des Schablonen-Fabrikanten sehr, sehr vorsichtig. –

* * *

Sagnali hatte das Servierbrett auf den Tisch gestellt.

„Ernesto, besorgen Sie mir doch heute eine anständige Reisetasche, eine Brille mit blauen Gläsern und einen Kasten mit Schminken“, sagte Merwinski und goß sich eine Tasse Kaffee ein. „Ich muß ein paar Tage ins Freie – ich muß unbedingt! Plötzlich ist da eine so mächtige Sehnsucht nach der frischen Luft, rauschenden Wäldern und im Sonnenschein glitzernden Gewässern über mich gekommen, daß ich’s hier nicht länger aushalten kann. Noch in dieser Nacht reise ich als harmloser Schulmeister nach Potsdam und besuche all die Stätten wieder, wo ich als Knabe und junger Mensch gewandelt bin – so oft, so oft – wo ich mich an jeder Blüte, jeder summenden Biene erfreut habe und – dann ganz, ganz zufrieden war.“

Der Italiener hatte den anderen einen Augenblick fast argwöhnisch gemustert. Aber dieses Mißtrauen verflog ebenso schnell. Er kannte ja Merwinskis Naturschwärmerei zur Genüge. Trotzdem hielt er sich für verpflichtet, ihn auf das Gefährliche eines solchen Ausfluges aufmerksam zu machen. Doch jener ließ sich von dem einmal gefaßten Entschluß nicht mehr abbringen.

„Keine Sorge, Ernesto“, meinte er zuversichtlich. „So leicht stecke ich meinen Kopf in keine Schlinge, so leicht nicht! Außerdem – Sie werden erstaunt sein, wie vortrefflich ich mein edles Antlitz durch Schminken zu verändern vermag. – Nein, reden Sie nichts mehr dagegen. Es bleibt dabei!“ –

Und wirklich verließ der völlig unkenntlich gewordene Merwinski kurz vor Mitternacht das Haus und fuhr in einem in der nächsten Straße zufällig haltenden Auto dem Potsdamer Bahnhof zu.

 

3. Kapitel.

Der neue Zimmerherr.

Es war am folgenden Tage um die Mittagstunde. Vor dem Hause Gerberstraße Nr. 14 in Schöneberg stand ein älterer Herr und las bedächtig das Pappschild, das die Frau Major v. Molnar durch den Portier neben der Haustür hatte befestigen lassen und das den Vorübergehen ankündigte, daß hier in der ersten Etage zur linken Hand ein freundlich möbliertes Zimmer nebst voller Verpflegung an einen soliden Herrn zu vermieten sei.

Wenige Minuten später saß das bescheiden gekleidete Männchen, das vorhin das Pappschild so interessiert überflogen hatte, der Majorin gegenüber.

Frau v. Molnar hatte den Anwärter auf das bisher von Horst-Günther bewohnte Zimmer zunächst recht eingehend gemustert. Diese Prüfung war sehr zu Gunsten des Besuchers ausgefallen. Äußerlich war an diesem Manne, der mit seiner Brille, seinem grauen Spitzbart und dem sauber gehaltenen Anzug einen recht würdigen Eindruck machte, nichts aufzusetzen.

Die Majorin ließ die Lorgnette, eine Erinnerung an bessere Tage, sinken. Jedenfalls schien es den Herrn, der sich als „Bernhard Marlow“ eingeführt hatte, nicht weiter gestört zu haben, daß er diese eingehende Prüfung seiner Erscheinung sich gefallen lassen mußte.

„Dürfte ich fragen, welchen Beruf Sie haben, Herr Marlow?“ begann Frau v. Molnar das weitere Verhör.

„Aber gewiß, gnädige Frau“, erwiderte Marlow freundlich. „Ich bin Kolporteur für eine Buchhandlung, das heißt, ich hausiere mit allerlei Schriften.“

„Und – haben Sie sich auf diese Weise schon immer Ihren Lebensunterhalt verdient?“ forschte die Majorin vorsichtigerweise.

Der Herr lächelte. Es war ein fröhliches, humorvolles Lächeln, das nur für ihn einnehmen konnte.

„Schon immer? Das ist ein dehnbarer Begriff“, meinte er. „Bis zu meinem zwanzigsten Lebensjahre unterhielt mich mein Vater auf der Universität. Dann starb er, und ich wurde Kaufmann. Kolporteur bin ich erst seit fünf Jahren, nachdem die Firma, bei der ich zwanzig Jahre lang als Buchhalter tätig war, in Konkurs geriet und mich alten Mann niemand mehr einstellen wollte. Also die Not war’s, gnädige Frau, die mich zum Bücherhausierer machte – bittere Not. Nun – jetzt geht es mir gut, wenigstens kann ich zufrieden sein. Freilich, ich muß den ganzen Tag treppauf, treppab laufen – in meinem Alter kein großes Vergnügen mehr, wenn man auch dabei schlank bleibt.“

„Also auch einer, dem das Leben hart mitgespielt hat“, dachte die Majorin. Und sofort wuchs ihre Sympathie für diesen freundlichen Herrn, dessen ganzes, so ruhiges und feines Benehmen den Gebildeten verriet.

Daher fragte sie auch schon in bedeutend freundlicherem Tone und nicht mehr so ganz den strengen Verhörrichter spielend:

„Können Sie mir irgend jemand nennen, Herr Marlow, der bereit wäre, über Sie ein wenig Auskunft zu geben? Sehen Sie, Sie dürfen mir diese Vorsicht nicht verübeln. Ich nehme zum ersten Mal einen fremden Herrn sozusagen in meine Hausgemeinschaft auf, und da – –“

„Ah – bitte, gnädige Frau“, unterbrach der Kolporteur liebenswürdig. „Ich kann das vollständig verstehen. Und deshalb werde ich Ihnen einige Adressen aufschreiben, wo Ihnen gern jede Frage beantwortet wird.“ –

„Danke, es wäre mir sehr lieb. – Nun wäre noch ein Punkt zu ordnen. Ich möchte das Zimmer nur mit voller Verpflegung abgeben. Wie denken Sie darüber?“

Der frühere Buchhalter lächelte die Majorin beinahe strahlend an.

„Aber deswegen bin ich ja gerade zu Ihnen gekommen, gnädige Frau. Zimmer mit voller Verpflegung bei wirklich feinen Leuten findet man selten.“

Frau v. Molnar war hocherfreut. Und als man sich dann noch über den Preis – neunzig Mark – geeinigt und Marlow den Raum, der ihn für die Zukunft beherbergen sollte, besichtigt und überaus gemütlich gefunden hatte, trennte man sich. Der Kolporteur wollte sich am folgenden Vormittag Bescheid holen, ob er – das hing ja wohl von den Auskünften ab – als Zimmerherr genehm sei oder nicht. –

Unter den drei Adressen, die Marlow der Majorin dagelassen hatte, erschien dieser als die für ihre Zwecke geeignetste gleich die erste: „Auskunftei und Detektivinstitut Argus, Berlin, Dresdener Straße 16.“ Und bereits eine Stunde später saß Frau v. Molnar auf der Elektrischen und fuhr dem Südwesten der Reichshauptstadt zu.

In dem Büro des Detektivinstituts wurde ihr dann mitgeteilt, daß der Inhaber Fritz Schaper allerdings für längere Zeit verreist sei, daß sie aber trotzdem ebenso gut bedient werden würde.

So brachte sie denn ihr Anliegen vor.

Herr Marlow? – Oh, den kenne man ganz genau. Ein Ehrenmann vom Scheitel bis zur Sohle, für den man jede Garantie übernehme, jede!

Die Majorin atmete auf. Sie freute sich ehrlich über diese Antwort. Als sie dann bescheiden fragte, wieviel sie für die Auskunft zu entrichten habe, meinte der Bürovorsteher mit tadelloser Verbeugung:

„Für solche Kleinigkeiten erheben wir keine Gebühren, gnädige Frau. Es war uns ein Vergnügen, Ihnen dienen zu können.“ –

So kam es, das Bernhard Marlow bereits am Abend des folgenden Tages mit einem großmächtigen Reisekorb und einigen Kleinigkeiten – Bildern, einem Zigarrenschränkchen und sonstigem Junggesellenhausrat, seinen Einzug in dasselbe Zimmer hielt, das Horst-Günther grollend kurz vorher geräumt hatte.

In einer halben Stunde war er mit dem Fortpacken seiner Sachen fertig. Da klopfte es auch schon. Auf sein Herein erschien Astrid v. Molnar, die nachfragen wollte, ob Marlow auch heute schon daheim speisen würde.

„Wenn es Ihnen keine Umstände macht, gnädiges Fräulein?“ erwiderte er, indem er ihre schlanke Gestalt mit dem feingeschnittenen Antlitz unauffällig musterte.

„Durchaus nicht, Herr Marlow. – Wünschen Sie Tee oder Bier zum Abendessen?“

„Bitte Tee. Ich bin nämlich halber Antialkoholiker“, meinte er scherzend. –

Dem Kolporteur schmeckte die einfache, aber peinlich sauber und höchst appetitlich servierte Mahlzeit vortrefflich. Mit Astrid, der jede Anwandlung von Stolz fremd war, kam er bald in ein zwangloses Gespräch, als sie dann den Tisch wieder abräumte. Das junge Mädchen merkte sofort, daß dieser Herr Marlow nicht nur über tadellose Umgangsformen, sondern auch über jenen natürlichen Takt verfügte, der mehr Herzenssache als Produkt einer guten Erziehung ist.

„Mit unserem Zimmerherrn haben wir fraglos einen sehr guten Griff getan“, sagte Astrid nachher zu ihrer Mutter. „Er hat in durchaus unaufdringlicher Weise seine Bibliothek, die sehr reichhaltig zu sein scheint, mir zur Verfügung gestellt.“

Horst-Günther, der mit der Abendzeitung am Fenster saß, lachte etwas spöttisch.

„Da scheinst du ja mit dem Hausierer recht schnell Freundschaft geschlossen zu haben! Na – ich werde mir den Mann schon vom Leibe halten.“

Die Majorin zuckte zu dieser Mitteilung nur mitleidig die Achseln. Sie wußte – aus ihrem Sohne sprach lediglich der Ärger, weil er sein Zimmer hatte aufgeben müssen.

Gleich darauf verabschiedete sich Horst-Günther und ging zu Sagnali hinüber.

Mariette öffnete ihm, als er an der Korridortür klingelte. Auf seinen Gruß senkte sie nur sehr kühl und förmlich den Kopf.

„Mein Bruder ist nicht daheim, Herr v. Molnar. Er mußte plötzlich in einer dringenden Angelegenheit nach der Leipziger Straße, hat aber für Sie einen Brief dagelassen. – Hier – bitte.“

Der junge Molnar nahm das Schreiben hastig entgegen. Mariettes Augen wich er ängstlich aus. Er empfand ihr gegenüber etwas wie Schuldbewußtsein. Und deutlich merkte er auch, daß sie ihn in letzter Zeit mit geradezu eisiger Unnahbarkeit behandelte.

Dann schritt Horst-Günther langsam die Treppe hinab. Er war in merkwürdiger Stimmung. Unzufriedenheit, Sorge vor der Zukunft, anderseits wieder die Sucht nach rauschenden Vergnügungen quälten sein Herz und ließen darin Kämpfe erstehen, bei denen das Gute in ihm mit dem nur zu stark vorhandenen Hang zum Leichtsinn stritt.

Im Hausflur blieb er stehen und riß den Umschlag auf. Darin befand sich ein Zettel mit wenigen Sätzen. „Wir können uns um einhalb elf Uhr im Café des Westens treffen. Bis dahin bin ich frei. Anbei Ihrer Bitte gemäß 300 Mark. – Gruß E. S.“

Diese Mitteilung war Horst-Günther nur insofern wichtig, als ihm der neue Pump bewilligt war. Als er jetzt die drei Scheine in seine Brieftasche schob, hatte er bereits wieder alle guten Vorsätze vergessen. Auch der anfängliche Groll gegen den neuen Mieter war geschwunden. Schließlich – Mutter und Schwester würden auch jetzt kaum hören, wann er heimkehrte. Die Schlösser der Korridor- und der anderen Tür zu seiner Bude hatte er ja vorhin heimlich gut eingeölt. Und die Stiefel – nun, die zog man eben schon auf der Treppe aus. – –

Kurze Zeit nach Horst-Günther verließ auch der Kolporteur das Haus. Gemächlich schritt er die Gerberstraße entlang, indem er sich fest auf seinen Spazierstock stützte. Trotz seiner etwas vornübergebeugten Haltung war er eine recht stattliche Erscheinung. Wie er jetzt in die nächste Querstraße einbog, begann er seine Gangart zu beschleunigen. Scharf musterte er jedes einzelne Gebäude der Krusiusgasse, die ebenfalls zumeist aus älteren Mietshäusern bestand. Dann blieb er vor Nr. 21 stehen, schaute sich um und verschwand in der Haustür.

Nr. 21 war ein Durchgangsgebäude. Über zwei Höfe, die einem Speditionsgeschäft für die Wagen als Unterkunftsplatz dienten, gelangte man in die nächste Parallelstraße. Dort befand sich wenige Schritte entfernt eine Autohaltestelle. – Marlow sprang leichtfüßig – für sein graues Haar fast zu leichtfüßig! – in einen geschlossenen Wagen, nachdem er dem Schofför schnell eine Adresse zugerufen hatte. Bequem lehnte er sich in die Polster zurück und nahm dann sofort die goldene Brille mit den leicht grau gefärbten Gläsern ab. Der Bügel hatte in die Nase eine tiefe, rotschimmernde Stelle eingedrückt. Diese rieb der Kolporteur sich jetzt so lange, bis das Blut wieder ordentlich zirkulierte.

„Ich hätte das Ding weglassen sollen“, brummelte er vor sich hin. „Stets bekomme ich davon Kopfschmerzen. Aber, was hilft’s, die grauen Gläser bilden einen so vorzüglichen Schirm für die Augen.“ – Inzwischen jagte das Auto die Kaiserallee entlang und hielt schließlich vor einem neuen, modernen Hause in einer der Seitenstraßen des Kurfürstendamms.

Bernhard Marlow bezahlte und stieg dann die mit roten Plüschläufern bedeckte Marmortreppe des Vorgebäudes empor. Im zweiten Stock links war unter dem Löwenkopfgriff der elektrischen Klingel ein Messingschild mit der Aufschrift „Winter, Geheimer Regierungsrat“ angebracht.

Hier läutete der Kolporteur. Ein Stubenmädchen, ganz in Schwarz gekleidet, außer dem weißen Tändelschürzchen und dem ebenso zarten Häubchen, öffnete nach einer Weile.

Marlow hatte Glück. Der Geheimrat war zu Hause.

„Dürfte ich um die Karte des Herrn bitten?“ sagte die Zofe etwas von oben herab.

Der Kolporteur hatte schon seine Brieftasche hervorgezogen und reichte ihr das Gewünschte. Auf dem schmalen Karton stand, mit Tinte geschrieben, nichts als „Bernhard Marlow“.

Die Flurtür klappte ins Schloß und das Stubenmädchen verschwand. Der Kolporteur, den man so formlos draußen im Treppenhaus warten ließ, lächelte ironisch.

„Der Donna war ich wohl nicht vornehm genug in Kleidung“, dachte er.

Da öffnete sich die Flurtür schon wieder, und die Zofe bat den Besucher – jetzt mit der größten Unterwürfigkeit – näherzutreten. Ihr rotes, verlegenes Gesicht zeigte Marlow, daß es drinnen fraglos einen kleinen Anschnauzer gegeben hatte.

Der Geheimrat empfing den späten Gast – mittlerweile war es fast einhalb zehn Uhr geworden – bereits an der Tür seines Arbeitszimmers.

„Mein lieber Herr – hm, ja – Marlow, ich freue mich sehr, daß Sie sich endlich blicken lassen. Ihr kurzes Billet hat mich begreiflicherweise in ziemliche Aufregung versetzt. – Bitte, nehmen Sie Platz. – So, vielleicht eine Zigarre gefällig? – Schwer? Keineswegs! Ich rauche stets nur ganz leichte Sorten. – Halt, da fällt mir eben ein – entschuldigen Sie bitte, daß unser Stubenmädchen Sie draußen stehen ließ. Diese Leute sind alle so ungewandt, sehen nur auf grobe Äußerlichkeiten und – –“

„Aber Herr Geheimrat, das ist wirklich überflüssig“, unterbrach Bernhard Marlow ihn liebenswürdig. „Als Kolporteur gehöre ich doch sogar auf die Hintertreppe. Wenn ich nächstens mal in meiner wahren Gestalt hier erscheine, wird die Zofe mich schon respektieren.“

Der Regierungsrat lächelte. „Wahre Gestalt! – Das stimmt! Sie haben sich wirklich unglaublich verändert! Hätten Sie mich nicht in Ihrem Schreiben auf diese Maske vorher aufmerksam gemacht, ich würde Sie nicht erkannt haben, nie! Und – ich soll Sie also auch weiter mit „Marlow“ anreden? Heißt das nicht die Vorsicht etwas zu weit treiben?“

„In meinem Beruf hängt von dieser Vorsicht alles ab, Herr Geheimrat“, meinte der angebliche Kolporteur ernst. „Können Sie z. B. wissen, ob die Zofe, die mich vorhin empfing, nicht irgendwelche Beziehungen zu einem Bewohner des Hauses hat, in dem ich jetzt meine Italienreise auf der Landkarte in Gedanken ausführen kann? – Es sind schon oft die merkwürdigsten Zufälle vorgekommen. Und – haben die Leute, die ich beobachten will, erst Wind davon bekommen, daß ich ein ganz anderer bin, als ich scheine, dann ist unsere Sache von vornherein verfahren.“

Winter nickte. Er mußte seinem Besucher recht geben.

Dann begannen sie das Geschäftliche zu erledigen.

Der Geheimrat leitete die Unterhaltung mit der Frage ein, die ihm am meisten das Herz bedrückte.

„Mein lieber Herr – Marlow, nun sagen Sie mir aber mal zunächst, wie es gekommen ist, daß Sie Ihre Reise noch im letzten Moment aufgegeben haben? – Ich bin mehr als neugierig auf Ihre Erklärung, wahrhaftig!“

Der Kolporteur, in Wahrheit niemand anders als der bekannte Detektiv Fritz Schaper, ließ sich nicht lange bitten.

„Der Zufall spielt bisweilen mehr wie merkwürdig, Herr Geheimrat“, begann er. „Als Sie vor vier Tagen in meinem Arbeitszimmer sich von mir verabschiedeten, war ich fest entschlossen, ungesäumt meine Erholungsreise anzutreten. Aber kaum waren Sie zwei Minuten fort, da nahte sich schon die Überraschung, fast möchte ich sagen, das Verhängnis in Gestalt meines Freundes Bornemann. Dieser hatte nämlich – –“

„Pardon, eine Zwischenfrage“, fügte hier der Geheimrat ein. „Bornemann?! Der Name dieses Herrn ist mir nicht fremd. Handelt es sich um den Millionär Fritz Bornemann aus der Tiergartenstraße?“

„Allerdings, um denselben. – Also Bornemann war es, der in demselben Moment, wie ich eben in meinen Reiseulster schlüpfen wollte, in mein Zimmer hineinplatzte und mir, obwohl ich mich beinahe mit Händen und Füßen sträubte, folgendes erzählte, was natürlich, wie ich schon ahnte, wieder auf eine Berufsangelegenheit hinauslief.

Bornemann ist Besitzer einer ganzen Anzahl von Häusern, die er von seinem Vater, der das Riesenvermögen zusammenscharrte, geerbt hat. Er hat sich die Verwaltung der Gebäude nun insofern sehr leicht gemacht, als er in jedes Haus einen Mann als Portier hineinsetzte, der völlig vertrauenswürdig und auch befähigt ist, alles das zu besorgen, was ein Grundstücksbesitzer zu erledigen hat. Diese Leute sind nun verpflichtet, sich an Bornemann nur in ganz wichtigen Fällen mit Anfragen zu wenden, im übrigen aber möglichst selbständig zu handeln. Trotzdem hielt es einer dieser Portiers und zwar der des Hauses Schöneberg, Gerberstraße 14, für notwendig, Bornemann vor fünf Tagen aufzusuchen und ihm von einer Sache Mitteilung zu machen, die dem selten intelligenten und gewitzten Manne nicht recht reinlich erschien. Vor einiger Zeit hat sich nämlich in jenem Gebäude eine Schablonenfabrik etabliert, deren Besitzer ein Italiener ist. Ich betone – Schablonenfabrik, Herr Geheimrat! Der Italiener, Ernesto Sagnali ist sein Name, stellt in einem großen Zimmer seiner Wohnung mittels Spezialmaschinen künstlerische Metallschablonen aus dünnen Zink- oder Kupferplatten für Stickmuster und ähnliche feine Handarbeiten her. Dieser Gewerbebetrieb wäre nun an sich natürlich völlig unverfänglich, wenn eben nicht verschiedene andere Momente die Person dieses Italieners in ganz besonderem Lichte erscheinen ließen.“

Fritz Schaper machte eine kurze Pause und zündete sich die ausgegangene Zigarre wieder an.

Dann fuhr er fort.

„Der Portier des betreffenden Hauses, in dessen erster Etage der Italiener die rechter Hand gelegene Vierzimmerwohnung gemietet hat, beobachtete nun eines Nachts kurz nach dem Einzug jenes Ernesto Sagnali einen Menschen, der, ohne zu den Bewohnern des Hauses zu gehören, die Haustür aufschloß, die Treppe hinaufstieg und offenbar dann zu so ungewöhnlicher Stunde dem Italiener einen Besuch abstattete. Da sich dies bald wiederholte, in letzter Zeit sogar jede Nacht, legte der Portier sich in seiner neben dem Haupteingang befindlichen Loge auf die Lauer und stellte so fest, daß dieser Unbekannte, der einen fraglos falschen langen Bart trug und immer nur zur Nachtzeit auftauchte, ohne Zweifel sich bei Sagnali verborgen halten müsse und nur in der Dunkelheit ausging. Polizeilich angemeldet hatte der Italiener nämlich nur sich und seine Schwester Mariette, die ihm die Wirtschaft führt. – Dieser Fremde, der so ängstlich das Licht des Tages mied, erregte nun unwillkürlich den Verdacht des Portiers, der sich jedoch in die Angelegenheit nicht einmischen wollte, bevor er nicht mit Bornemann darüber Rücksprache genommen hatte. Sagnali bezahlte ja seine ziemlich hohe Miete stets außerordentlich pünktlich, und mit solchen Leuten verdirbt es ein Hausverwalter nicht gerade gern. – Mein Freund Bornemann ließ sich alles genau erzählen und kam dann zu mir. Und kaum hatte er seine Neuigkeit ausgekramt, kaum hatte er mir von dem Schablonenfabrikanten und dessen geheimnisvollem Gast mit möglichst vielen Einzelheiten berichtet, als mich auch bereits der in mir nur zu lebendige Berufseifer packte und in meinem Hirn blitzschnell Gedanken entstanden, die diese Schablonenwerkstatt zum Banknotenfälscher-Unterschlupf umwandelten.“

Der Geheimrat konnte sich nicht enthalten, etwas zweifelnd den Kopf zu schütteln.

„Waren diese Gedanken nicht ein bißchen sehr weit hergeholt, Herr – Herr Marlow?“ meinte er nachdenklich. „Sie hatten doch für solchen Verdacht so gut wie gar keine Anhaltspunkte, wenn man – –“

„Ja, wenn man eben nicht das eine als recht schwerwiegend ansieht, daß solche Stanzmaschinen für Schablonen ganz vorzügliche Druckpressen für Papiergeld abgeben“, unterbrach ihn der Detektiv eifrig. „Man braucht nämlich nur die scharfen Stahlstempel, mit denen die Muster aus den Schablonenblättern ausgeschnitten werden, mit Druckplatten zu vertauschen, und die tadelloseste Presse ist fertig. – Hieran dachte ich sofort, Herr Geheimrat, und deshalb gab ich meine Reise auf – eben um zu ermitteln, ob ich mich wirklich in dieser Beziehung geirrt haben sollte.“

„Und Sie haben sich nicht getäuscht?“ fragte Winter ungeduldig. Man merkte ihm an, wie begierig er auf die Antwort war.

„So weit sind wir leider noch nicht, Herr Geheimrat, um darüber ein Urteil fällen zu können“, erwiderte der Detektiv. „Die ganze Sache befindet sich ja erst im Anfangsstadium. – Gestatten Sie, daß ich zunächst in meinem Bericht fortfahre. Eventuelle Fragen, die Sie stellen möchten, beantwortete ich dann nachher. – Getreu meinem Grundsatz, bei allen Dingen lieber etwas zu viel als zu wenig Vorsicht aufzuwenden, verreiste ich – anscheinend wirklich noch an demselben Tage. In Wahrheit verließ ich aber bereits auf einer der nächsten Stationen den Zug und kehrte abends nach Berlin zurück, wo ich meine zweite, für solche Zwecke stets bereit gehaltene Wohnung aufsuchte, die im Norden der Reichshauptstadt in der Vinzentstraße liegt und die ich schon vor längerer Zeit als harmloser Geschäftsreisender Fritz Müller gemietet hatte. Dort verbrachte ich die Nacht und begann dann weiter am nächsten Morgen in meiner jetzigen Verkleidung meine Spürtätigkeit. Meine Absicht ging dahin, mich womöglich auf irgendeine Weise in das Haus als solider Mieter einzuschmuggeln. Nun – etwas Glück gehört immer zum Handwerk. Und so traf es sich denn auch, daß ich bei einer Frau Major v. Molnar als „möblierter Herr mit voller Pension“ Unterkunft fand.“

Der Detektiv erzählte nun dem Geheimrat ganz eingehend, wie er als Nachfolger Horst-Günthers in das Zimmer seinen Einzug halten durfte.

„Eigentlich war sogar mehr als Glück dabei“, meinte er. „Die eine Wand meiner neuen, nunmehr also dritten Behausung, stößt nämlich an die Wohnung des Italieners an. Vielleicht gibt es da so einiges zu erlauschen, wenn man so kleine Vorbereitungen zu diesem Zwecke trifft. Inzwischen habe ich mir aber auch hinsichtlich der Person dieses Ernesto Sagnali einige Auskunft besorgt, die für uns recht vielversprechend ist. Ich habe ja die verschiedensten Mittel zur Verfügung, um mich über das Vorleben einer mich interessierenden Person zu unterrichten. Jedenfalls steht folgendes fest: Der Italiener ist von Hause aus Kunstmaler. Seine Vaterstadt Mailand, wo er anscheinend in künstlerischer Hinsicht nur Enttäuschungen erlebte, verließ er vor vier Jahren und kam dann nach Deutschland, wo er in Dresden sich als – Graveur und – Kupferstecher, Herr Geheimrat, ausbilden ließ. Er war dann nacheinander in verschiedenen Kunstanstalten der sächsischen Residenz tätig, bis er vor zwei Jahren aus der berühmten Dresdner Gemäldegalerie in einem unbewachten Augenblick einen alten italienischen Meister stahl, Marcellis berühmtes Bild „Die Verbannten“. Er hatte es samt dem Rahmen unter seinem Pelerinenmantel verborgen, wurde aber im letzten Moment, kurz vor dem Verlassen der Ausstellungsräume, abgefaßt, später vor Gericht gestellt und zu sechzehn Monaten Gefängnis verurteilt. Diese verbüßte er in der sächsischen Strafanstalt Dippoldsburg. Nach seiner Freilassung kehrte er nach Italien zurück, wo mittlerweile seine Eltern gestorben waren, verkaufte deren kleines Anwesen und reiste in Begleitung seiner einzigen Schwester Mariette nach Berlin. Hier mietete er sofort jene Wohnung, die er noch heute innehat, und begann ganz als fleißiger Geschäftsmann zu leben, arbeitete von früh bis spät und schien so seine ehemalige Verfehlung, jenen Bilderdiebstahl, wieder gutmachen zu wollen. – So, Herr Geheimrat, das ist alles, was ich Ihnen bis jetzt mitteilen kann. Ich will nur noch erwähnen, daß zwei meiner Angestellten heimlich das Haus Gerberstraße Nr. 14 seit gestern ständig beobachten und auch dem Ernesto Sagnali und dessen Bekannten eine von diesem wohl kaum geahnte Aufmerksamkeit schenken.“

Geheimrat Winter strich sich nachdenklich den grauen Spitzbart.

„Also Kunstmaler, später Graveur und Kupferstecher, hm – sehr belastend, das muß ich sagen“, meinte er. – Und nach einer kurzen Pause fragte er dann:

„Mein lieber Herr – richtig, Marlow – ich werde mich nie an den verflixten Namen gewöhnen – eines ist mir unverständlich: Weshalb in aller Welt wollen Sie denn durchaus die Annahme aufrecht erhalten, als ob Sie verreist seien?“

Der Detektiv lächelte fein.

„Ich will mich gewiß nicht selbst herausstreichen, Herr Geheimrat“, erwiderte er offen. „Aber ich bin doch nun einmal eine Persönlichkeit, mit der die Herren Verbrecher aller Spezialitäten rechnen, das heißt, vor der sie einen ganz netten Respekt haben. Wenn nun z. B. gestern in den Abendzeitungen zu lesen stand, daß Fritz Schaper für einige Wochen auf Erholungsurlaub gegangen ist, so atmet sicher eine ganze Anzahl jener Leute, die heimlich gegen die Gesellschaft und ihren Besitz ankämpfen und sich auf Kosten anderer zu bereichern suchen, wie befreit auf, da sie eben vor einem ihrer hartnäckigsten Verfolger für einige Zeit Ruhe haben. Und vielleicht befinden sich unter diesen Menschen auch Sagnali und sein geheimnisvoller Gast, vielleicht bewegen sie sich freier, wenn sie die Notiz, die nebenbei auf meine Veranlassung eingerückt wurde, zu Gesicht bekommen. Und dieses „sich freier bewegen“ heißt bei Verbrechern stets „eine Dummheit begehen“. Aus diesem Grunde mag das Märchen von meiner Abreise bestehen bleiben. Auch der Kolporteur Bernhard Marlow gerät dann weniger leicht in den Verdacht, ein verkappter Detektiv zu sein.“

„Hm – ganz einleuchtend“, meinte Winter. „Noch etwas, Herr Kolporteur –“ fügte er schnell hinzu. „Haben Sie eigentlich diesen Unbekannten, der da bei Sagnali hausen soll, schon gesehen?“

„Leider nicht. Der Mann ist plötzlich unsichtbar geworden.“

„Er wird doch nicht etwa Argwohn geschöpft haben und – verduftet sein?“ meinte der Geheimrat fast ängstlich.

„Hoffentlich nicht. Wissen kann man’s freilich nicht. Nur das eine ist ausgeschlossen: Von argwöhnisch werden kann keine Rede sein. Wodurch? Ich bin ja erst gestern im Hause Gerberstraße 14 aufgetaucht. – Nein, wenn er abgereist sein sollte, so hat das einen andern Grund.“

Der Geheimrat strich bedächtig die Asche seiner Zigarre in dem Becher ab.

„Wäre es nicht vielleicht das Richtigste, wenn wir die Polizei in Vertrauen zögen?“ sagte er unsicher.

Der Detektiv antwortete erst nach einer geraumen Weile.

„Ganz wie Sie wollen, Herr Geheimrat. Nur würde ich in demselben Augenblick, wo die Behörde diese Sache in die Hand nimmt, meine Tätigkeit einstellen.“

„Nein – um den Preis verzichte ich darauf!“ lachte der Geheimrat. „Und“, fügte er gutgelaunt hinzu, „daß ihr Privatdetektivs doch stets allein arbeiten wollt! Der reine Konkurrenzneid!“

„Ein sehr wahres Wort“, entgegnete Schaper ehrlich. „Für mich ist diese Angelegenheit wie jede andere Unternehmung ein Geschäft, von dem ich lebe, an dem ich verdienen will und muß, Herr Geheimrat. Und deswegen suche ich mir natürlich die Konkurrenz vom Leibe zu halten.“ –

Bald darauf verabschiedete sich der Detektiv, nachdem er Winter noch versprochen hatte, sofort zu ihm zu kommen, falls etwas von Wichtigkeit sich ereignen sollte.

 

4. Kapitel.

Eine Maus, die die Wand durchknabbert …

Zwei Tage später.

Über der Reichshauptstadt spannte sich ein wolkenloser, tiefblauer Himmel aus, von dem die Sonne mit ihren erwärmenden, belebenden Strahlen freundlich auf das unendliche Häusermeer herablachte, dessen Bewohner bereits am frühen Morgen in Scharen in die Umgebung gepilgert waren, um diesen herrlichen Sonntag draußen im Freien zuzubringen.

Auch die drei Geschwister Molnar hatten schon am Sonnabend den Plan gefaßt, eine längere Wanderung zu Fuß zu unternehmen. Und bei der Beratung dieser Idee, der auch die stolze Maximiliane beiwohnte, war Horst-Günther dann etwas zögernd mit der Frage herausgerückt, ob man nicht Ernesto Sagnali und Mariette bitten solle, sich ihnen anzuschließen.

Niemand widersprach. Im Gegenteil, alle nahmen diesen Gedanken bereitwilligst auf, und besonders Maximiliane, die sonst sehr zurückhaltend war, äußerte so mancherlei, was bei dieser Unterredung den Ausschlag gab. Sie meinte, eigentlich sei man doch dem Italiener, der sich so viel Mühe um Horst-Günthers Sprachkenntnisse gebe, sehr zu Dank verpflichtet. Und er sei doch auch ein durchaus gebildeter Mensch, mehr Künstler als bloßer Kaufmann. –

So kam es, daß um zehn Uhr vormittags die fünf jungen Leute, wohlversehen mit Proviant, nach dem Ringbahnhof Schöneberg pilgerten und von dort weiter nach Wannsee fuhren, von wo aus sie zu Fuß durch den Wald und am Rande der idyllisch gelegenen Seen entlang nach der Residenzstadt Potsdam gehen wollten. Die Majorin blieb daheim. Derartige Anstrengungen vertrug sie nicht mehr. Außerdem hatte sich auch bei ihr für den Nachmittag ihre intime Freundin, die gleichfalls verwitwete Frau Hauptmann v. Lostrau, zu einem Plauderstündchen angemeldet.

Fritz Schaper erfuhr von Astrid, die ihm wie immer den Morgenkaffee ins Zimmer brachte, von dieser gemeinsamen Partie.

„Viel Vergnügen, gnädiges Fräulein“, sagte er herzlich zu dem jungen Mädchen, mit dem er sich dank seiner heiteren Liebenswürdigkeit schnell auf kameradschaftlichen Fuß gestellt hatte.

„Sie sollten auch einmal hinaus ins Freie, Herr Marlow“, meinte Astrid mit strahlenden Augen, die schon die Vorfreude auf den Ausflug verrieten. „Sie haben’s doch schwer. Da müssen Sie sich etwas Erholung gönnen, wirklich. Locken denn die Sonne und die frischen, harzduftenden Wälder Sie gar nicht?“

Der freundliche alte Herr nickte eifrig.

„Freilich, freilich. Ich möchte schon auch so hin und wieder mir die Welt außerhalb dieser Steinkolosse von Häusern beschauen! Aber – heute geht es nicht. Ich habe eine wichtige Arbeit vor.“

Astrid v. Molnar ahnte nicht, welcher Art diese Arbeit war.

Dann war Fritz Schaper wieder allein.

Sinnend schaute er vor sich hin. „Also die Sagnalis machen mit! Eigentlich eine selten gute Gelegenheit. – Ob ich’s wirklich wagen soll? – Das einzige, was mich stört, ist die Sorge, daß der geheimnisvolle Freund des Italieners sich in der Wohnung befinden könnte. Das wäre fatal, mehr als fatal!“ –

Gleich darauf machte er sich zum Ausgehen fertig. Wie er dann an dem Nebenhause vorüberschritt, in dem sich eine Kneipe befand, blieb er plötzlich vor deren Schaufenster stehen und zündete sich umständlich eine Zigarre an. Hinter der Spiegelscheibe aber saß ein einfach gekleideter Mann vor einem runden Tischchen und hatte neben dem Weißbierglase ein Zeitungsblatt liegen, in dem er eifrig zu lesen schien. Ein aufmerksamer Beobachter hätte nun vielleicht bemerkt, daß der Detektiv mit diesem Manne, der schon am Sonntagmorgen seine Zeit im Restaurant totzuschlagen schien, ein paar Blicke wechselte, die bewiesen, daß die beiden sich wohl recht gut kennen mußten.

Schaper benutzte dann, um etwaige Aufpasser zu täuschen und ihnen zu entgehen, denselben Durchgang, den er schon damals durchschritten hatte, als er sich zu Geheimrat Winter begab.

Auch heute bestieg er wieder ein Auto und nannte dem Schofför als Ziel der Fahrt „Dresdenerstr. 20“. Hier verließ er den Wagen und ging zu Fuß bis zu seinem nahen Büro, dessen Eingang er nach vorsichtiger Umschau öffnete und eilig hineinschlüpfte.

Lemke, des Detektivs Vertrauter und rechte Hand, wunderte sich nicht wenig, als sein Herr hier so plötzlich auftauchte, wo er doch eigentlich als „Italienreisender“ zur Zeit nichts zu suchen hatte.

Die beiden Herren, die schon so manchen harten Strauß gegen verbrecherisches Gesindel Schulter an Schulter ausgefochten hatten, besprachen dann mit jener angenehmen Kürze und Sachlichkeit, die sie sich im Verkehr miteinander angewöhnt hatten, alles Nötige.

„Ich habe Hiller, der in der Kneipe im Nebenhause auf Posten saß, verständigt, daß er mich hier treffen soll“, erwähnte der Detektiv im Laufe des Gesprächs. „Hiller ist doch der Gewandteste von unseren Leuten, und die Sache, die ich für heute vorhabe, verlangt ebensoviel Unverfrorenheit wie Geistesgegenwart.“

Wenige Minuten später erschien der Erwartete auch schon.

Schaper instruierte ihn genau, vergaß dabei auch nicht die geringste Kleinigkeit zu erwähnen und gab seinem Angestellten für jeden nur möglichen Fall die nötigen Verhaltungsmaßregeln.

Zum Schluß sagte er dann: „So, nun wird wohl alles klappen. – Auf Wiedersehen also.“

Schon vorher hatte er sich ein kleines Schächtelchen, das er seinem Schreibtisch entnahm, zurechtgelegt. Dies steckte er nun zu sich und verließ darauf das Büro.

Eine Viertelstunde später klingelte er in der eleganten Etage, die der Millionär Edgar Bornemann im eigenen Hause in der teuersten Wohngegend Berlins, in der Tiergartenstraße, innehatte.

Bornemann, der schon daran gewöhnt war, daß Fritz Schaper hin und wieder in den seltsamsten Verkleidungen bei ihm erschien, betrachtete den Freund erst eine Weile lächelnd von oben bis unten und sagte dann anerkennend:

„Vorzüglich, Herr Bernhard Marlow, ganz vorzüglich! Der Hintertreppen-Kolporteur, wie er im Buche steht! Solide, vertrauenerweckend, freundlich, gesetztes Alter – alles da!“

Dann nahmen sie in dem Arbeitszimmer des jungen Millionärs, einem mit fürstlicher Eleganz, dabei keineswegs überladen eingerichteten Raume, Platz.

„Edgar“, begann Schaper sofort ohne Umschweife, „ich komme mit einer Bitte zu dir. Du kannst, wenn du Lust hast, mir auch bei dieser Sache, die mich augenblicklich beschäftigt, wieder hilfreich zur Hand gehen.“

„Aber gern, sehr gern sogar“, erklärte Bornemann, indem er die Likörgläser füllte.

„Zunächst aber – prosit, Fritz! Freue mich, daß du mal wieder bei mir bist. Bei einem so vielgeplagten Menschen, wie du es bist, genießt man nicht oft dieses Vergnügen.“

Schaper erzählte dann, wie weit die Untersuchung seines neuesten Falles gediehen war.

„Ich möchte nun gern, daß jemand nach der sächsischen Strafanstalt Dippoldsburg fährt und dort Nachfrage hält, mit wem der Italiener Sagnali damals in einer Zelle zusammengesessen, weiter, mit wem er sich so etwas angefreundet zu haben schien und ob und wer von den Gefangenen, die mit Sagnali zusammen ihre Strafe verbüßten, entlassen worden ist, und wann dies geschah.“

Der Millionär nickte. „Verstehe! Du willst auf diese Weise festzustellen versuchen, wer der merkwürdige Bekannte des Italieners ist, dieser Mann, der so ängstlich das Tageslicht scheut und offenbar doch ein Komplize Sagnalis zu sein scheint, als wir eben in diesem einen der Banknotenfälscher vor uns haben.“

„Stimmt, Edgar“, bestätigte der Detektiv. „Du hast wie immer schnell begriffen.“

„Und ebenso schnell werde ich auch handeln, das heißt, nach Dippoldsburg reisen. Nur ein Bedenken habe ich. Wird die Direktion der Strafanstalt mir als Privatmann Auskünfte erteilen?“

„Natürlich nicht. Du wirst ja aber auch keineswegs dich als Millionär Edgar Bornemann dort vorstellen, sondern als Angestellter meines Detektivinstituts, wirst ein Beglaubigungsschreiben feierlichst den hoffentlich recht gemütlichen Herren Sachsen überreichen und dann bei deiner Schlauheit bald alles wissen, was uns zu erfahren not tut.“

„Dann hat die Sache allerdings ein anderes Aussehen. – Gut, wird gemacht. – Wo liegt eigentlich Dippoldsburg? Ich fahre natürlich mit meinem Mercedes-Wagen hin, bei dem schönen Sommerwetter das einzig richtige.“

„Meinetwegen. Nur lasse bitte dein Luxus-Auto im Städtchen, das etwa zwischen Dresden und Leipzig an der Hauptchaussee in einem bewaldeten Tale gelegen ist, halten und begib dich zu Fuß nach der Anstalt. Denn so elegante Autos kann ein Privatdetektiv sich nicht halten. Da würde dir kein Mensch den Angestellten Fritz Schapers glauben.“

Noch eine Stunde blieben sie zusammen. Dann verabschiedete der Detektiv sich, obwohl Bornemann ihn dringend bat, er möge doch bei ihm zu Tisch bleiben.

„Geht wirklich nicht, Freund Edgar, wirklich nicht! Ich bin jetzt als Bernhard Marlow verpflichtet, pünktlich zu den Mahlzeiten, die mir die brave Majorin zurechtbraut, daheim zu sein. Aber ein andermal sehr gern – das weißt du ja.“

„Ein andermal! Als ob man deiner so leicht habhaft würde!“ seufzte der Millionär.

Und dann trennten sie sich mit festem Händedruck, nachdem Schaper dem Freund noch das sogenannte Beglaubigungsschreiben aufgesetzt hatte, in dem natürlich kein Wort davon stand, daß es sich hier um Ermittlungen handelte, die die Aushebung jenes Fälschernestes bezweckten, von dem aus Deutschland seit einigen Monaten mit so vorzüglich nachgemachten Banknoten überschwemmt wurde. Hiervon durfte vorläufig niemand etwas erfahren. Fritz Schaper ließ sich nie vor dem letzten Hauptschlage in die Karten sehen. Das war auch eines seiner Prinzipien.

* * *

Zwei Stunden später. – Hiller, der Angestellte des Detektivinstituts, betrat wie ein harmloser Besucher das Haus Gerberstr. 14 und stieg mit sicheren Schritten die Treppe empor. Vor der Flurtür, an der das große Porzellanschild mit der Aufschrift „E. Sagnali, Fabrik künstlerischer Schablonen“ hing, machte er halt und drückte auf den Knopf der elektrischen Klingel.

Ruhig wartete er. Niemand öffnete. Nichts regte sich hinter der verschlossenen Tür.

Wieder läutete Hiller, nur anhaltender.

Da öffnete sich die andere Tür auf dem Treppenpodest und Frau v. Molnar schaute heraus.

„Bei den Herrschaften ist niemand daheim“, sagte sie kurz. „Sie läuten vergebens.“

Hiller lüftete den Hut, murmelte ein leises „Danke“ und schritt die Treppe wieder hinab. Aber nicht ganz. Als er hörte, daß die alte Dame oben ihre Tür wieder ins Schloß gedrückt hatte, blieb er stehen und schlich nach einer Weile wieder zurück. Nachdem er aufmerksam gelauscht hatte, zog er einen komplizierten Dietrich aus der Tasche, schob ihn in das Schlüsselloch und – befand sich wenige Sekunden später im Korridor von Sagnalis Wohnung.

Horchend verharrte er minutenlang an der Tür. Es wäre ja möglich gewesen, daß die Dame von vorhin ihn durch das Guckloch beobachtet hätte. Aber drüben regte sich nichts.

Nun begann er schnell die Zimmer oberflächlich zu durchsuchen. Er sollte ja nur feststellen, ob sich der geheimnisvolle Gast des Italieners zur Zeit in der Wohnung verborgen hielt. Die Vermutung sprach zwar dagegen, weil der Unbekannte sich in den letzten Nächten nicht mehr hatte sehen lassen. Trotzdem wollte Fritz Schaper aber sicher gehen und zwar in jeder Beziehung.

Mit voller Berechnung hatte er angeordnet, daß zunächst Hiller das Terrain erkunden sollte. Wurde dieser bei dem immerhin waghalsigen Unternehmen von dem Freunde Sagnalis abgefaßt, so konnte doch niemand ahnen, daß auch der neue Zimmerherr der Majorin seine Hand mit im Spiele hätte. Und darauf kam es dem Detektiv hauptsächlich an. Seine Person durfte auf keinen Fall irgendwie beargwöhnt werden, sonst war es mit seiner Spürtätigkeit hier im Hause zu Ende und auch der Erfolg seiner bisherigen Arbeit in Frage gestellt. Würde dagegen Hiller von dem Fremden gesehen, so war tausend gegen eins zu wetten, daß jener den Angestellten des Detektivinstituts ruhig wieder fortlassen würde, da der Mann ja offenbar alle Ursache hatte, mit der Polizei in keine Berührung zu kommen. –

Hiller hatte sich sehr bald überzeugt, daß in den Räumen der Wohnung außer einem Kanarienvogel kein lebendes Wesen sich augenblicklich aufhielt.

So trat er denn ebenso vorsichtig den Rückweg an. Als er an des angeblichen Kolporteurs Stubentür vorüberschritt, pfiff er sogar sehr sorglos ein paar Takte aus der Oper Carmen vor sich hin – laut genug jedenfalls, daß Schaper sie hören konnte.

Es war dies das zwischen ihnen vereinbarte Signal, daß alles sicher sei.

Nun konnte Schaper selbst in Aktion treten. Die Luft war rein. Die Ausflügler würden vor Einbruch der Dunkelheit sicherlich nicht zurückkehren und der zur Zeit nicht anwesende heimliche Gast des Italieners war ja noch nie während des Tages im Hause aus und ein gegangen. Mithin konnte der Detektiv sich mit ziemlicher Ruhe an seine Aufgabe machen.

Mit einem ähnlichen Nachschlüssel, wie Hiller ihn benutzt hatte, ausgerüstet, verließ Schaper sein Zimmer und blieb erst eine Weile lauschend auf dem Treppenpodest stehen, bevor er die Tür der fremden Wohnung öffnete und blitzschnell dahinter verschwand.

Dann begann er ganz eingehend jedes einzelne der vier Zimmer zu besichtigen. Mit dem ersten zur linken Hand begann er.

Aber all seine Mühe war hier vergeblich. Er fand auch nicht die geringste Kleinigkeit, die irgend einen Schluß auf die Persönlichkeit des Bewohners dieses Zimmers zugelassen hätte.

Unzufrieden blieb er mitten in dem schmalen Gemache stehen und beschaute sich die eine Wand, die dieses Zimmer mit seinem eigenen, nebenan liegenden gemeinsam hatte. Plötzlich leuchteten seine Augen auf.

„Richtig – das darf ich nicht vergessen!“ murmelte er vor sich hin. „Wer weiß, ob ich sobald wieder eine Gelegenheit finde, die so günstig ist wie die heutige.“

Nun fing er mit Hilfe eines Maßes, das er sich aus einer zusammengelegten Zeitung provisorisch herstellte, diese gemeinsame Wand der beiden Zimmer in besonderer Weise auszumessen an. Erst legte er die Entfernung von der Fensterwand nach einer auf einem großen Paneelbrett stehenden schweren Porzellanvase fest. Dann maß er wieder die Höhe genau, in der Paneelbrett und die Vase sich über dem Fußboden befanden. Die einzelnen Zahlen schrieb er in sein Notizbuch ein.

Hierauf nahm er die Vase herunter und schnitt an der Stelle, die bisher die Vase beschattet hatte, ein etwa acht Zentimeter großes, quadratisches Stück aus der Tapete mit Hilfe seines Federmessers heraus. Dies tat er mit größter Sorgfalt, um die Tapete, die zum Glück nicht allzu fest an der Mauer haftete, möglichst wenig zu beschädigen. Nachdem er so den Kalk der Wand freigelegt hatte, bohrte er mit seinem Messer in die auf die Ziegelsteine aufgetragene Mörtelschicht ein Loch von etwa drei Zentimeter Durchmesser. Hiermit fertig, machte er sich auf die Suche nach etwas Klebstoff. Diesen fand er sehr bald in einem Fläschchen vor, das auf Sagnalis Schreibtisch in dem gegenüberliegenden Vorderzimmer stand.

Jetzt bohrte er in das losgelöste Tapetenstück eine ganze Anzahl feiner Löcher, die so gelegt waren, daß der siebähnlich gewordene Teil dieses Tapetenfetzens nachher genau auf das in den Mörtel eingekratzte Loch paßte und dieses wie das Schutzblech eines Telephonhörers überspannte.

Nachdem er die Tapete festgeklebt hatte, entfernte er mit größter Sorgfalt jedes Stäubchen des Mörtels, das bei seiner Arbeit auf das Paneelbrett gefallen war, stellte das Fläschchen mit dem Gummi Arabikum an seinen Platz zurück und brachte auch die große Vase wieder an ihren Standort auf dem Paneel, so daß schon ein sehr argwöhnisches und sehr scharfes Auge dazu gehört hätte, um hier im Zimmer auch nur die geringste Änderung zu bemerken.

Nochmals beschaute er sich jetzt sein Werk. – Er konnte zufrieden sein. Daß das Tapetenstück wie ein Sieb durchlöchert war, konnte man nur erkennen, wenn man das Auge ganz dicht an jene Stelle heranbrachte.

Nunmehr widmete er sich den übrigen Räumen. Ganz eingehend beklopfte er möglichst leise alle Teile der Wände, die ihm geeignet schienen, dahinter ein Versteck anzubringen. Doch sein Suchen blieb umsonst. Selbst in Sagnalis Arbeitszimmer hatte er zunächst ebenso wenig Erfolg. Schon wollte er alle weiteren Bemühungen aufgeben, als er in einem Romane, der achtlos auf das Fensterbrett gelegt war, ein als Lesezeichen zusammengefaltetes Stück Papier bemerkte. Er nahm es heraus, glättete es. Da stutzte er schon beim ersten Hinsehen.

Es war eine Quittung, ausgestellt vom ersten Juni dieses Jahres, über „den Lagerspeicher Wendelholzgasse 3“. Unterzeichnet war die auf 125 Mark lautende Quittung mit „Robert Eichler“ oder „Seidler“ – genau ließ der Name sich nicht entziffern. Der Bezahler aber war – und das blieb die Hauptsache! – Ernesto Sagnali gewesen, der mithin noch irgendwo einen Lagerraum für solche Zwecke gemietet hatte.

Fritz Schaper notierte sich den Inhalt der Quittung ebenso genau wie vorhin die Zahlen der Maße, die er festgestellt hatte und die jenen Fleck der Mauer betrafen, den er für einen bestimmten, sehr präzise arbeitenden kleinen Apparat derart vorbereitet hatte.

Fünf Minuten später befand er sich schon wieder in seinem eigenen Zimmer.

Wie er jetzt nach der Uhr schaute, war er äußerst überrascht, daß ihm die letzten Stunden geradezu im Fluge vergangen waren. Nicht weniger als drei und eine halbe Stunde hatte er in der Wohnung des Italieners zugebracht.

Gleich darauf finden wir Fritz Schaper, der Weste und Jackett abgelegt und es sich möglichst bequem gemacht hatte, dabei beschäftigt, in ähnlicher Weise die Verbindungswand der beiden Zimmer auszumessen, wie er dies soeben drüben in dem Schlupfwinkel des geheimnisvollen Fremden getan hatte.

Mit Leichtigkeit gelang es ihm so, die Stelle zu treffen, die genau derjenigen entsprach, vor die er die durchlöcherte Tapete geklebt hatte, nachdem der Mörtel zu einem Loche entfernt worden war.

Diese Stelle lag hier in seinem Zimmer unter seinem schon etwas stark ramponierten Zigarrenschränkchen, was für seine Zwecke recht geeignet war. Nachdem er das Schränkchen von seinem Haken abgehoben und bei Seite gestellt hatte, suchte er aus seinem verschlossenen Koffer einen sogenannten Mauerbohrer hervor, mit dem es ihm leicht wurde, durch die Ziegel ein kreisrundes Loch bis an die durchlöcherte Tapete im Nebenraum zu treiben.

Seine Abmessungen stimmten so tadellos, daß das Loch wirklich genau vor dem derart präparieren Tapetenstück endete.

Den entstandenen rötlichen Ziegelstaub entfernte er sehr vorsichtig aus der Öffnung mit einem langstieligen Pinsel.

Dann befestigte er das hier ebenfalls herausgeschnittene Tapetenstück mit Hilfe von Wachs an der alten Stelle, hängte das Zigarrenschränkchen auf den Haken und packte seine Instrumente wieder weg.

Aufatmend ließ er sich nun in den am Fenster stehenden Schaukelstuhl fallen. Ihm war doch warm bei der Arbeit geworden. Besonders die geräuschlose Handhabung des Mauerbohrers hatte manchen Tropfen Schweiß gekostet. Als dann aber erst seine Zigarre brannte und er die ersten Rauchwölkchen voller Behagen von sich blies, fühlte er sich so recht von Herzen zufrieden. Dieser Tag hatte ihm doch einen gewaltigen Vorteil über die gesichert, die er um jeden Preis entlarven wollte. Er brauchte jetzt nur die kleine Messingröhre, die einen sogenannten Schallverstärker enthielt, in das Mauerloch zu schieben, auf die Röhre den Trichter aufzuschrauben und sein Ohr daran zu halten, so konnte ihm auch nicht ein Wort von dem entgegen, was drüben in dem anderen Zimmer gesprochen wurde.

Ja, diese Amerikaner! Dieser Schallverstärker war auch so eine von ihren feinen Erfindungen, die man im Kampfe gegen Verbrecher vorzüglich ausnutzen konnte. Freilich, die kleinen Nebenanlagen, die dazu gehörten, die durchlöcherte Tapete usw., die hatte Fritz Schaper selbst ausprobiert und ausgeklügelt. Und darauf war er nicht wenig stolz.

 

5. Kapitel.

Sagnalis böser Geist.

Inzwischen waren die fünf Ausflügler längst in Potsdam angelangt, wo sie in einem bescheidenen Restaurant gespeist hatten, um dann ihre Fußwanderung sofort wieder nach dem vereinbarten Plane in der Richtung Caputh–Goldow fortzusetzen, von wo aus sie mit einem der Tourendampfer bis Wannsee zurückfahren wollten.

Horst-Günther hatte auf der mitgenommenen Karte glücklich einen schattigen Weg entdeckt, der mitten durch den Wald führte und den man auch, obwohl er eine ziemliche Verlängerung des Marsches bedeutete, zu benutzen beschloß.

Astrid, Mariette und Horst-Günther waren bald ein weites Stück voraus, während Maximiliane und Sagnali ihnen in angeregter Unterhaltung folgten.

Die ältere Molnar, die in ihren Mußestunden selbst ein wenig den Pinsel führte, hatte das Gespräch bald auf künstlerisches Gebiet hinübergespielt, wodurch Sagnali wieder veranlaßt wurde, über seine eigene Tätigkeit als Maler einige sich notwendig ergebende Andeutungen zu machen.

Bald redete er sich, wie immer, wenn er auf die Tage seines Hoffens und Ringens zu sprechen kam, in eine gewisse leidenschaftliche Erregung hinein. Immer mehr nahmen seine Worte die Gestalt einer rückhaltlosen Beichte an, immer offener entblößte er vor seiner schweigend lauschenden Begleiterin seine von so widerstreitenden Empfindungen zerrissene Seele.

„Damals, als man mir „Die Sünde“ zurückschickte, als ich einsah, daß mein jahrelanges, tiefernstes Streben mich auch nicht einen Schritt vorwärts gebracht hatte, da zerriß eine Saite in meinem Innern, die bis dahin die Harmonie in den Tönen meines Seelenlebens hervorgebracht hatte. Was dann folgte, war nur noch handwerksmäßige Ausübung der Kunst, war nur die Arbeit, die jemand leistet, um den Schmerz der Enttäuschung zu betäuben.“

„Und Sie haben sich nie wieder an ein größeres Werk herangewagt?“ fragte Maximiliane leise, indem sie das in der Erregung noch anziehendere Gesicht ihres Weggefährten mit scheuem Blick musterte.

„Nie wieder! Ich hatte eben das Vertrauen zu mir verloren. Und was das bei einem Künstler bedeutet, vermag eben nur ein Künstler richtig einzuschätzen.“

Maximiliane fühlte plötzlich, daß tiefes Mitleid ihr zum Herzen quoll wie eine heiße Welle.

„Oh, ich kann das ebenfalls begreifen, obwohl ich einen prosaischen Beruf ausübe“, meinte sie herzlich. „Sehen Sie, Herr Sagnali, damals, in jener schweren Zeit, da hat Ihnen ein Freund gefehlt, der Ihnen tröstend zur Seite stand, der Sie aufrichtete, ein redlicher Freund, wie – –“

„Ja – wie man ihn so selten findet!“ lachte er rauh. „Freundschaft! Ich halte nicht viel davon!“ fuhr er schnell fort. „Das einzige Band, das uns Menschen ohne egoistische Nebenmotive umschlingt, ist und bleibt die Liebe, dieses Gefühl völligen Ineinanderaufgehens, völliger Zusammengehörigkeit. Liebe hilft alles überwinden! – Ich weiß, andere denken anders hierüber. Mögen sie! Das Beglückende, Erhebende der Freundschaft – das sind ja alles nur Phrasen, die sich schnell als solche enthüllen, wenn diese Freundschaft einmal auf eine etwas härtere Probe gestellt wird.“

„Sie sind bitter, Herr Sagnali“, meinte Maximiliane mit leisem Vorwurf.

„Vielleicht mehr verbittert“, erwiderte er, einen leichteren Ton anschlagend. „Nun, es ist ja nicht ausgeschlossen, daß auch für mich wieder bessere Tage kommen. Habe ich erst so viel Geld zusammengescharrt, daß ich meine Malstudien wieder aufnehmen kann, und zwar bei ersten Lehrern, dann werde ich der Welt beweisen, daß Ernesto Sagnali doch kein Stümper war.“ – –

Schweigend schritten sie eine Zeitlang dahin.

Vor ihnen hatten die drei Wanderer ein heiteres Wanderlied angestimmt. Aber aus dem Dreiklang der Stimmen hob sich immer wieder ein schmetternder, glockenreiner Sopran hervor – der Mariettes, die über ein selten kräftiges, modulationsfähiges Organ verfügte.

Maximiliane lauschte. „Schade – eigentlich sollten Sie Ihrem Schwesterlein Gesangstunden geben lassen. Diese Stimme dürfte nicht verkümmern. Gold steckt in ihr, Schätze, die leicht zu heben sind.“

Aber Sagnali schüttelte den Kopf.

„Nie werde ich das zulassen, nie“, entgegnet er ernst. „Mariette würde dann fraglos bald auf die Idee kommen, zur Bühne zu gehen. Und das soll sie nicht. Dazu ist sie mir zu schade.“

„Sie lieben Ihre Schwester sehr, nicht wahr?“ fragte Maximiliane lächelnd.

„Sehr“, bestätigte er einfach.

Und weiter gingen sie durch den sonnendurchleuchteten Wald, beide wie im halben Traum. Immer fester schlang ein Gefühl gegenseitiger Sympathie seine gefährlichen Bande um die beiden, immer fester. In Maximilianes bisher so unberührtem, verschlossenem Herzen war nichts als heimlicher Jubel. Sie schrieb dies lediglich dem Reize dieses wunderbaren Sommertages zu, ahnte nicht, daß etwas anderes hier mitsprach, daß auch sie jetzt den gefunden hatte, an den sie ihr starkes Herz unwiederbringlich verlieren sollte. – –

Und da sagte Sagnali plötzlich:

„Hätte ich Sie damals bei mir gehabt in Mailand – ich wäre geblieben, was ich war –“

Unwillkürlich hatte er ihre Hand ergriffen und preßte sie zwischen seinen heißen Fingern. Von diesen Fingern ging es wie ein Strom ungezügelter Leidenschaft auf das junge Mädchen über. Ihre Augen, diesen großen, ernsten Augen, verschleierten sich immer mehr.

Und dann – dann lag sie an seiner Brust, seine heißen Lippen suchten die ihren, wild preßte er sie an sich – –

„Liebst du mich auch wirklich, Maximiliane?“ Wie ein Jubelruf war diese Frage.

Und stark und selbstbewußt wie sie immer war, erwiderte sie nur, sich noch näher an ihn schmiegend:

„Ich liebe dich. – Noch nie hat mein Herz schneller um einen Mann geschlagen, noch nie – Ich bin dein, und dein bleibe ich.“ – –

Da ging es ihm wie ein schmerzhafter Stich durch das Herz.

Er erwachte. Und sah vor sich jetzt nur die Wirklichkeit, sah sich selbst – durfte er, gerade er, denn überhaupt um ein Weib freien, durfte er dieses reine Wesen an sich ketten – er, ein Verbrecher, über den jeden Tag das Verhängnis hereinbrechen konnte?

Und doch. – Er konnte nicht anders! Wie hilfe- und schutzsuchend hielt er sie jetzt umfangen, bog den Kopf etwas zurück und schaute tief in die leidenschaftlichen Augen.

„Und du bleibst bei mir, komme, was kommen mag?“ fragte er kaum hörbar.

Sie nickte nur.

Wieder fanden sich ihre Lippen. Ihre Küsse waren sengend, begierig, wie von Dürstenden. Sie hörten, sahen nichts. Ihre Seelen drängten sich ineinander, nahmen voneinander Besitz. Der enge Weg in der Tannenschonung hatte selten solche Seligkeit zweier Menschenkinder gesehen.

Dann schritten sie weiter, Arm in Arm. –

Und als sie vorüber waren, löste sich aus einer Baumgruppe die Gestalt eines Mannes heraus, der heimlicher Zeuge dieser Szene geworden war.

Ein häßliches Lachen lag um die Lippen dieses Menschen, der in Maximiliane v. Molnar nur eine neue Feindin witterte, die der Durchführung seiner Pläne hindernd in den Weg treten konnte.

Eine halbe Stunde später saßen die fünf Ausflügler in der Glasveranda des Fährrestaurants in Caputh beim Kaffee.

Ernesto und Maximiliane waren sehr schweigsam. Zum Glück merkten die andern nichts. Denn vorläufig wollten die beiden ihr Geheimnis noch für sich behalten.

Als Sagnali dann die Umsitzenden zufällig musterte, trafen seine Blicke mit denen – Merwinskis zusammen, der keine drei Tische von ihnen entfernt Platz genommen hatte.

Merwinski hatte es mit Hilfe von Schminke und durch die Brille wirklich fertig gebracht, sein Aussehen vollständig zu verändern. Heimlich nickte er Sagnali jetzt zu – der aber senkte schnell den Kopf.

Merwinski! Gerade der! – Wie eine Bergeslast legte es sich auf des jungen Malers Seele. – Der holde Traum, in dem er heute gelebt, zerrann urplötzlich. Die Gegenwart mit ihren Schrecken stand vor ihm. – –

Nur nicht denken, nur nicht denken! Was würde nur die Zukunft bringen, diese Zukunft, die jetzt so schön hätte sein können, wenn nicht dieses Unabänderliche gewesen wäre, vor dem es kein Entrinnen gab?! –

Eine trostlose Mutlosigkeit bemächtigte sich Sagnalis.

Da fühlte er seine Hand leise berührt. Maximilianes Finger schmiegten sich scheu in die seinen. Die drei anderen waren gerade aufgestanden, um einen vorüberfahrenden Dampfer zu betrachten.

Und er preßte diese Finger wie ein Verzweifelter.

Es mußte anders werden, mußte! Er würde alles von sich abschütteln, was ihn bisher am Rande eines Abgrundes entlangwandeln ließ – um ihretwillen!

Ernesto Sagnali war noch bis gegen einhalb ein Uhr in seinem Zimmer ruhelos auf und ab gegangen, ein Opfer seiner erregten Gedanken, die ihn nach einem Ausweg aus diesem Labyrinth suchen ließen.

Dann hatte er das Schloß der Flurtür schnappen gehört. Merwinski kehrte zurück.

Gleich darauf erschien dieser bei ihm. Ihre Begrüßung war kühler denn je.

„Schlechter Laune?“ fragte Merwinski, indem er sich in einen der Sessel fallen ließ und sein Zigarettenetui hervorholte.

„Ich wollte gerade zu Bett gehen“, meinte Sagnali kurz.

„Das ist keine Antwort auf meine Frage“, sagte der andere mit einem seltsamen Grinsen. Und fügte dann hinzu:

„Wie weit sind Sie eigentlich mit Horst-Günther, Freund Ernesto?“

Sagnali war inzwischen zu einem Entschluß gelangt. Einmal mußte diese Aussprache zwischen ihnen ja doch erfolgen. Und warum sollte dies nicht gleich jetzt geschehen, wo er in der doch so lebendigen Erinnerung an Maximilianes Zärtlichkeiten sich frischer und kampfbereiter als vielleicht an einem der folgenden Tage fühlte?

So blieb er denn vor Merwinski stehen und lehnte sich an die Türfüllung.

„Unsere Gemeinschaft muß ein Ende haben“, sagte er schnell und energisch. „Ich mache nicht mehr mit. Sehen Sie zu, wie Sie ohne mich weiterkommen. Ich – ich will ein ehrlicher Mensch werden.“ – –

Merwinski schien etwas Ähnliches erwartet zu haben. Auch nicht die leiseste Überraschung prägte sich in seinen Zügen aus. Er pfiff spöttisch durch die Zähne.

„Ehrlicher Mensch werden! Nicht übel klingt das, lieber Ernesto. – Wissen Sie aber auch, wie schwer es fällt, so plötzlich den alten Adam auszuziehen, wie viele Hindernisse sich einer solchen Absicht entgegenstellen?“

„Hindernisse? Ich wüßte nicht, welcher Art diese sein könnten“, meinte Sagnali unsicher.

„Mein Bester, stellen Sie sich doch nicht so harmlos an, als ob Sie erst seit gestern auf dieser schönen Welt wandelten. – Nur eins. Wovon wollen Sie denn z. B. Ihren Lebensunterhalt bestreiten? Etwa von den Einnahmen der Schablonenfabrik, die bisher stets mit Verlust gearbeitet hat?

Oder wollen Sie wieder als Graveur arbeiten? – Ich fürchte nur, Sie werden schwer eine Stellung finden. Vorbestrafte Leute nimmt man ungern – hm, ja!“

Aus Sagnalis Gesicht war jede Spur von Farbe gewichen. Nur zu deutlich merkte er, wie das Verderben wieder auf ihn zugeschlichen kam wie ein häßliches Raubtier.

„Mein lieber Ernesto“, begann Merwinski wieder, „Sie mögen es mir glauben oder nicht: ich meine es nur gut mit Ihnen, wirklich. Zum Ehrlichwerden ist noch immer Zeit, wenn wir beide unser Schäfchen im Trockenen haben. Bedenken Sie auch: Unser Verbrechen bleibt als strafwürdig immer bestehen, auch wenn Sie selbst jetzt nicht weiter bei der Unterbringung unserer schönen Scheine mitwirken wollten. Mit einem Wort, Sie haben all die Mühe, all die Gefahr umsonst auf sich genommen. Außerdem – was wird aus Ihren künstlerischen Plänen, die Sie mit Hilfe dieses Geldes verwirklichen wollten?! Sie werden dann Ihr Leben lang – Handwerker bleiben! – Nein, Ernesto – arbeiten wir ruhig weiter zusammen, wenigstens so lange, bis – Sie wissen ja!“

Er schaute sein Gegenüber forschend an. Aber Sagnali ließ sich so leicht nicht betören.

„Trotz alledem – ich will nichts mehr damit zu schaffen haben, dabei bleibt’s“, sagte er hartnäckig.

Da glomm in Merwinskis Augen ein böses Flackern auf.

„Mithin sind unsere famosen Banknoten also nur noch Makulatur“, meinte er ironisch. „Für eine runde Million haben wir davon lagern, das wäre für jeden fünfmalhunderttausend Mark.“

Er betonte diese letzteren Worte besonders.

„Und die Summe wollen Sie hingeben, nur weil plötzlich Ihr Herz sich von einem Weibe hat umgarnen lassen? – Lächerlich!“

Sagnali fuhr auf.

„Was – was soll das heißen?! Antwort! Reden Sie!“ –

Er hatte die Arme wie zum Angriff vorgestreckt. Seine ganze Gestalt bebte vor Wut.

„Regen Sie sich nicht unnötig auf“, meinte Merwinski gleichmütig. Ich wurde heute im Walde bei Caputh zufällig Zeuge der Zärtlichkeiten, die – nun, kurz und gut, ich weiß Bescheid und ahnte auch schon, daß Sie plötzlich – Tugendpinsel werden wollen.“

Sagnali lehnte jetzt zusammengesunken an der Tür. Seine Arme hingen schlaff herab. Er wußte nun, welche Waffe der andere gegen ihn gebrauchen würde.

Und wirklich. Schon begann Merwinski wieder von neuem:

„Haben Sie etwa gehofft, Ernesto, daß ich Sie um eines Weibes willen freigeben würde?! Dann haben Sie sich gründlich verrechnet. Vergessen Sie nicht, daß wir beide einen feierlichen Vertrag geschlossen haben, in dem jeder von uns bestimmte Verpflichtungen übernommen hat. Ich bin den meinen nachgekommen, Sie aber wollen jetzt – treulos werden! Ehe dieses geschieht, mein Lieber, zertrümmere ich Ihr Liebesidyll, darauf können Sie sich verlassen. Ob die Dame von dem vorbestraften Banknotenfälscher noch etwas wissen will, möchte ich doch stark bezweifeln.“

Er machte eine kurze Pause.

„Nun die andere Seite der Angelegenheit, die praktische. Wenn Sie weiter mit mir Hand in Hand arbeiten, Ernesto, so steht Ihrem Wunsche, das Weib zu freien, das Sie lieben, nichts im Wege. Mit dem Gelde, das uns winkt, können Sie sich eine ganz neue, eine ehrliche Zukunft errichten, können Sie durch ein Leben treuester Pflichterfüllung alles das wieder gutmachen, was Sie gefehlt haben. – Überlegen Sie sich bis morgen meine Worte genau und sagen Sie mir dann Bescheid. – Gute Nacht, Kamerad, und – keine Dummheiten, die sich nicht wieder ausgleichen lassen!“

Damit verließ Merwinski das Zimmer.

Noch lange stand Sagnali regungslos an derselben Stelle.

Nur ein Gedanke wogte unaufhörlich durch sein Hirn: „Ich komme nicht heraus aus diesem Sumpf – mein böser Geist hat mich zu fest in den Krallen.“ –

Müde, zerschlagen und voll tiefer Hoffnungslosigkeit ging er dann zur Ruhe. Aber noch stundenlang wälzte er sich wach in den Kissen hin und her, nachgrübelnd über einen Ausweg aus dieser verzweifelten Lage.

 

6. Kapitel.

Aus den Akten einer Strafanstalt.

Am Dienstag nach jenem ereignisreichen Ausflug erhielt der Detektiv einen Rohrpostbrief von Bornemann, in dem dieser ihn zu einer dringenden Unterredung zu sich bat.

Das Schreiben verbrannte Schaper vorsichtigerweise über einer Kerze und streute die Asche zum Fenster hinaus. Dann begab er sich auf dem gewöhnlichen Wege durch das Durchgangshaus zu seinem Freunde, der ihn mit geradezu strahlendem Gesicht empfing.

„Fritz, ich habe einen glänzenden Erfolg in Dippoldsburg zu verzeichnen gehabt“, begann der Millionär, nachdem sie es sich in dessen Arbeitszimmer bequem gemacht hatten.

„So, freut mich. – Krame aber schnell deine Neuigkeiten aus, Edgar, denn ich darf nicht allzu lange meinen Lauscherposten verlassen.“

„Lauscherposten? Ich verstehe nicht ganz?“ meinte der andere verwundert.

„Davon nachher. Zunächst das Wichtigste“, erklärte Schaper jedoch, der wirklich darauf gespannt war, was Bornemann in der Strafanstalt ausgerichtet hatte.

Der Millionär holte aus seiner Brieftasche einen engbeschriebenen Zettel hervor und reichte ihn dem Freunde hin.

„Da – ich habe dir alles notiert, wenigstens die Hauptsachen. Im übrigen läßt sich über meine Expedition folgendes berichten: Gestern morgen sieben Uhr verließ ich mit meinem Auto, nur begleitet von meinem Schofför, die Reichshauptstadt. Mittags trafen wir, nachdem wir uns einmal ein wenig verirrt hatten, in Dippoldsburg ein, hielten vor dem Hotel „Zur Krone“ und nahmen dort unsere Mahlzeit ein. Um ein Uhr klingelte ich an der Pforte der hohen Ziegelmauer, die den riesigen Gebäudekomplex der Anstalt umschließt. Ich ließ mich dem Direktor melden, der mich auch sofort empfing und sich im Laufe der Unterhaltung als einer jener herzensguten Menschen entpuppte, die bei aller äußerlich zur Schau getragenen Strenge niemandem eine Bitte abschlagen können. Als ich ihm mein Anliegen vortrug und dein sogenanntes Beglaubigungsschreiben vorzeigte, befahl er sogleich den Wärter herbeizuholen, der den Italiener damals in seiner Abteilung gehabt hatte. Dieser Gefangenenaufseher besann sich auch auf Ernesto Sagnali noch sehr gut. Wie ich ihn fragte, ob er mir vielleicht angeben könne, mit wem Sagnali hier in der Strafanstalt besonders sich angefreundet habe, wurde er erst recht gesprächig und berichtete folgendes:

Sagnali war in der Buchbinderei des Gefängnisses beschäftigt worden und hatte hier einen gewissen Franz Merwinski kennengelernt, mit dem er bald ein Herz und eine Seele zu sein schien. Merwinski, ein gebildeter Mensch, war früherer Chemiker gewesen, wanderte dann aber wegen verschiedener Betrügereien und Diebstähle für längere Zeit ins Gefängnis. So hatte er zum Beispiel, wie sich aus seinen Personalakten nachweisen ließ, in der Diedenheimer Papierfabrik, wo bekanntlich unter strenger staatlicher Aufsicht das Banknotenpapier hergestellt wird, von diesem größere Mengen heimlich beiseite gebracht, ohne daß es nachher gelang, diese Papiervorräte, die er irgendwo gut verborgen haben mochte, zu beschlagnahmen. Er selbst blieb dabei, daß er sie verbrannt hätte. Gefragt, wozu er sie entwendet habe, brachte er allerlei Lügen vor. Jedenfalls ist dies Banknotenpapier bis heute nicht wieder aufgefunden worden.“

Schaper, der ebenfalls lauschend zugehört hatte, erhob sich ungestüm und begann mit eiligen Schritten das Zimmer zu durchqueren.

„Bornemann“, rief er dabei, „jetzt ist die Sache sonnenklar. Der Unbekannte im Hause Gerberstr. 14, der nur nachts ein und aus geht, und der, wie meine Leute sehr wohl beobachtet haben, Sonntag wieder aufgetaucht ist, kann nur jener Franz Merwinski sein. Und nun ist ja auch das Rätsel gelöst, warum gerade diese falschen Banknoten, die in der letzten Zeit ausgeben wurden, so tadellos geraten sind, daß sie kaum von echten unterschieden werden können: Am Papier liegts, dessen Herstellung den Fälschern ja immer die meisten Schwierigkeiten bereitete. – Nun, der Geheimrat Winter wird ein schönes Gesicht machen, wenn ich ihm erzähle, daß das verwendete Papier sogar aus der staatlich beaufsichtigten Fabrik stammt!“

Der Millionär hob jetzt bittend die Hand.

„Setz dich wieder, Fritz. Ich bin mit meinem Bericht ja noch nicht fertig.“

„So? Na, was gibt’s denn noch?“ meinte Schaper, indem er sich in den nächsten Klubsessel fallen ließ.

„Für den Rest meiner Mitteilungen scheinst du nicht gerade übermäßiges Interesse zu haben“, sagte Bornemann, indem er etwas den Gekränkten spielte. „Und dabei enthält doch gerade dieser Rest die Erklärung dafür, weswegen der geheimnisvolle Gast Sagnalis so sehr das Licht des Tages scheut.“

Nun horchte der Detektiv doch auf.

„Allerdings, Edgar, dieser Punkt war noch klarzustellen, das stimmt“, sagte er hastig. „Also bitte, schieße los.“ –

„Franz Merwinski hat seinerzeit fünf Jahre Gefängnis aufgebrummt erhalten“, berichtete Bornemann. „Von diesen fünf Jahren brauchte er aber nur drei abzusitzen.“

„Brauchte? Was heißt das? – So wurde er also begnadigt, nicht wahr?“

„Er begnadigte sich selbst, indem er einfach eines schönen Tages auskniff“, entgegnete Bornemann vergnügt.

Schaper lachte.

„Ach so! Nette Art von Begnadigung! Ich fürchte nur, der Mann wird sehr bald wieder hinter Schloß und Riegel sitzen, sehr bald!“ – –

Bornemann schaute den Freund fragend an.

„Besitzest du denn bereits genügend Beweismaterial, um gegen die beiden vorgehen zu können?“ meinte er interessiert.

„Das wohl nicht. Aber ich hoffe es demnächst zusammen zu haben.“

Und dann erzählte er dem Millionär alles, was seit ihrer letzten Zusammenkunft sich ereignet hatte.

„Leider habe ich bisher keine Gelegenheit gehabt“, sagte er zum Schluß, „von meiner Horcheinrichtung Gebrauch machen zu können. Gewiß, ich kann, wenn ich das Ohr an den aufgeschraubten Schalltrichter halte, deutlich hören, wie der Unbekannte sich drüben in seinem Zimmer bewegt, was er treibt usw., habe auch schon einige Sätze belauscht, die Sagnali mit seinem Gast austauschte – aber etwas von Bedeutung vernahm ich bisher nicht. Vielleicht habe ich auch den richtigen Moment verpaßt. Du mußt nämlich nicht vergessen, Freund Edgar, daß ich in meinem neuen Junggesellenheim nur bis zu einer gewissen Grenze Herr meiner selbst bin. Drei Stunden des Tages bringe ich sicherlich im Geplauder mit der jüngsten Molnar zu, einem zarten, dabei außerordentlich fleißigen Geschöpfchen, das für mein leibliches Wohl insofern sorgt, als es mir die Mahlzeiten ins Zimmer bringt. Möglich also, daß gerade während dieser Plauderstunde für mich wertvolle Horchgelegenheiten unbewußt vorübergegangen sind. Trotzdem werde ich diese wenig schöne Spezialität nicht einstellen, da ich eben darauf angewiesen bin. Alles kommt ja für mich darauf an, daß ich baldigst erfahre, wo die beiden Banknotenfälscher die Utensilien für ihre unerlaubte Papiergeldfabrikation verborgen haben. In der Wohnung befindet sich dieses Versteck jedenfalls nicht. Das habe ich am Sonntag festgestellt. Vielleicht ist es in jenem Speicher zu suchen, für den der Italiener monatlich 125 Mark Miete zahlt, wie mir die leichtsinnigerweise von ihm als Lesezeichen benutzte Quittung verriet.“

„So bist du also noch nicht in der Wendelholzgasse gewesen – so hieß doch die Straße, die du vorhin nanntest?“

„Stimmt. Wendelholzgasse 3. – Eine ganz interessante Baulichkeit, dieser sogenannte Lagerspeicher. Habe mir ihn zunächst gestern einmal von außen angesehen, werde ihm aber demnächst wohl auch bei Nacht einen Besuch abstatten.“

„Bei Nacht?! – Dann muß ich dabei sein, Fritz. Denn das wird interessant.“

„Allerdings. Zumal, da wir uns wie richtige Einbrecher heimlich und gewaltsam in der alten Ruine Eingang verschaffen müssen“, lächelte der Detektiv.

„Ruine? – Ich denke, es ist ein Lagerspeicher?“ fragte Bornemann zweifelnd.

„Gewiß. Aber ein sehr baufälliger. – Nebenbei bemerkt – er hat eine recht merkwürdige Geschichte, die dir wahrscheinlich unbekannt sein dürfte, ebenso wie du bisher kaum gewußt haben dürftest, daß es in Berlin eine Wendelholzgasse gibt.“

„Da hast du nur zu recht“, meinte Bornemann gespannt. „Und was hat es nun mit dem Speicher auf sich?“

„Erledigen wir zunächst die Wendelholzgasse. Du findest sie nach langem Suchen auf dem Plan von Groß-Berlin draußen in Westend – notabene wenn du sehr gute Augen hast, da sie kaum siebzig Meter lang ist und so schmal wie eine Seitenstraße in einer ostpreußischen Kleinstadt. Bebaut ist sie nur auf der einen Seite und dies auch nur recht unvollkommen. Mitten zwischen den alten Häusern der Wendelholzgasse klafft nun eine große Lücke, die von einer alten Ziegelmauer ausgefüllt wird. Hinter dieser Ziegelmauer regiert der preußische Staatsfiskus, das heißt, der freie Platz ist fiskalisches Terrain, das, wie man sich erzählt, nach einer alten Verfügung Friedrich Wilhelms des Vierten nicht verkauft werden darf. Auf diesem gut hundert Meter tiefen und zwanzig Meter breiten Terrain erhebt sich inmitten einer Wildnis von Unkraut aller Art ein nüchterner, zweistöckiger Ziegelbau, dem man sein hohes Alter schon an den merkwürdig geformten Dachpfannen von weitem ansieht. Dieses Haus soll nun vor hundert Jahren das Staatsgefängnis eines hohen Würdenträgers gewesen sein, der dort, abgeschlossen von der Welt, bis zu seinem Tode eingesperrt gehalten wurde. Ich betone: Soll gewesen sein! Ob etwas Wahres daran ist, weiß ich nicht. Ich nehme aber fast an, daß die Sache ihre Richtigkeit haben dürfte. Ich habe nämlich mal in einer Berliner Chronik etwas Ähnliches gelesen. – So – und dieses alte Gebäude ist nun heute zum Lagerspeicher degradiert worden. Den Platz hat seit Jahren ein gewisser Seidler gemietet, und von dem pachtete ihn wieder Ernesto Sagnali.“

„Du hoffst also, daß die beiden Verbrecher dort ihre Fälscherutensilien verborgen halten?“ meinte Bornemann jetzt lebhaft.

„Ich hoffe, und zwar sehr stark. Finde ich dort in dem alten, baufälligen, verwitterten Hause nichts Belastendes, so dürfte der Fall Sagnali sich für meine Geduld wohl etwas zu länglich hinziehen, als daß ich mich weiter so eingehend wie bisher damit beschäftigen könnte. Du mußt nämlich bedenken, Edgar, daß wir bisher auch noch nicht einen einzigen sicheren Anhaltspunkt dafür haben, daß wir einmal Banknotenfälscher vor uns haben, weiter dafür, ob dieser Gast wirklich der aus der Strafanstalt entwichene Chemiker Merwinski ist, und drittens, ob Sagnali je eine falsche Banknote ausgegeben hat. Besonders den letzteren Punkt möchte ich hervorheben. Ich lasse den Italiener jetzt doch beinahe eine Woche auf Schritt und Tritt beobachten und bin dadurch nur zu der Überzeugung gelangt, daß er selbst die Falsifikate nicht in den Verkehr bringt. Allerdings habe ich dafür etwas anderes ermittelt, was mir recht verdächtig erscheint: die intime Freundschaft zwischen Sagnali und dem Sohn meiner Wirtin. – Dieser junge Molnar ist Lehrling bei der Zentral-Bank!!“

Schaper betonte das letzte Wort so stark, daß Bornemann notwendig aufmerksam werden mußte. Und der Millionär begriff auch sofort, was der Detektiv mit dieser Hervorhebung sagen wollte.

„Ich verstehe, Fritz – du meinst, daß der Banklehrling vielleicht mit im Komplott ist.“

„Möglich wäre das schon. Dieser Horst-Günther v. Molnar hat anscheinend sehr noble Passionen, für die seine eigenen Geldmittel nicht reichen dürften. Woher hat er also den Mammon, der dazu gehört, um sich ganze Nächte mit vergnügungssüchtigen Damen, sogenannten Schauspielerinnen, in teuren Ballsälen herumzutreiben, wie einer meiner Angestellten dies beobachtet hat?!“

Bornemann lachte. „Das muß man dir lassen, Fritz – gründlich bist du! Sogar diesen Jüngling hast du schon unter freundliche Bedeckung gestellt!“

Worauf Schaper sehr ernst erwiderte:

„Und doch nicht gründlich genug. So hätte ich unbedingt den fröhlichen Sonntagsausflüglern, unter denen sich ja auch Sagnali und Horst-Günther v. Molnar befanden, einen Wächter nachsenden sollen. Vielleicht wäre da manches zu erspähen gewesen, was mir hätte nützlich sein können. Wenn ich’s nicht tat, so geschah es nur deshalb, um meinen Leuten den schönen Tag ebenfalls nach Möglichkeit freizugeben. Hinterher war mir die Sache leid – aber da ließen sich meine Instruktionen nicht mehr widerrufen.“

Der Detektiv schaute jetzt nach der Uhr.

„Wahrhaftig – beinahe eine Stunde sitze ich schon hier. Ich muß heim. – Adieu, Edgar. Und du kannst dich darauf verlassen, ich gebe dir rechtzeitig Nachricht, wenn ich dem Speicher einen Besuch abstatten will.“

 

7. Kapitel.

Der Versucher.

Ernesto Sagnali befand sich seit dem letzten Sonntag, wie Mariette nur zu gut merkte, in einer derart reizbaren Stimmung, daß niemand mit ihm auskommen konnte. Soeben saßen sich die Geschwister bei der Abendmahlzeit gegenüber. Sagnali rührte die Speisen kaum an. Dumpf vor sich hinbrütend starrte er ins Leere. Alle Versuche, die seine Schwester unternahm, um eine Unterhaltung in Fluß zu bringen, schlugen fehl. Schließlich hielt Mariette es in dieser drückenden Stille nicht mehr aus.

„Würdest du mir einmal ein offenes Wort gestatten, Ernesto?“ sagte sie zögernd, indem sie zärtlich ihres Bruders Hand streichelte.

„Sprich. – Aber bitte keine Vorwürfe Horst-Günthers wegen, wenn ich dich warnen darf!“ entgegnete er unmutig. „Ich bin nicht in der Laune, um auch heute von einem Kinde, wie du es noch bist, mir Vorhaltungen machen zu lassen.“

Ein trauriges Lächeln spielte um ihren Mund, als sie erwiderte:

„Horst-Günther kann tun und lassen, was er will. Er ist mir gleichgültig geworden. Am letzten Sonntag habe ich gemerkt, wie grundverschieden unsere Charaktere sind. Selbst an Gottes schöner Natur hat er keine Freude mehr. Ich merkte ihm nur zu gut an, daß er sich uns nur halb gezwungen zu dem Ausflug angeschlossen hatte.“

All das sollte gleichgültig klingen. Und doch fühlte Sagnali zu deutlich heraus, welch bittere Herzensenttäuschung Mariette in dieser stillen Neigung erfahren hatte.

Und erst nach einer Weile sagte sie dann, indem sie ihre Stimme zu leisem Flüstern dämpfte:

„Höre meine Warnung, Ernesto. – Du wirst an diesem Menschen, der heimlich bei uns wohnt, und der offenbar keinen guten Einfluß auf dich hat, zu Grunde gehen, wenn du dich nicht freimachst von ihm. Ich glaube nicht mehr daran, daß er wegen politischer Umtriebe verfolgt wird, wie du mir einstmals erklärtest, zweifle auch ebenso daran, daß er demselben politischen Geheimbunde angehört, dessen Mitglied du sein willst. Andere Bande umschlingen euch, andere Interessen.“

Sagnali war eine verräterische Glut ins Gesicht gestiegen. Und um seine Verwirrung zu verbergen, erhob er sich schnell, warf die zusammengeknüllte Serviette auf den Tisch und sagte unwirsch:

„Hirngespinste, Mariette – weiter nichts! Du willst scheinbar durchaus mich zu einem Lügner machen.“

Damit verließ er das Zimmer und ging in sein eigenes hinüber, wo Horst-Günther v. Molnar ihn bereits erwartete.

Sagnali bot seinem Gast eine frische Zigarette an und setzte sich dann ihm gegenüber in den zweiten Sessel an den mit allerlei Papieren bedeckten Mitteltisch. Dann begann er, indem er absichtlich scheinbar sehr interessiert die Lackspitzen seiner Stiefel musterte:

„Lieber Molnar, ich möchte die Gelegenheit benutzen, um mit Ihnen eine etwas peinliche Angelegenheit zu erörtern.“ Er paffte ein paar Züge in die Luft und fuhr dann fort. – „Über Geldsachen sprechen ist ja an sich schon mehr wie prosaisch und daher fast widerwärtig – besonders für Künstler, der ich doch nun einmal trotz meiner augenblicklichen Tätigkeit geblieben bin. – Hm – ja, sehen Sie, lieber Molnar, Sie schulden mir jetzt im ganzen 950 Mark. – Es stimmt doch, nicht wahr?“

Horst-Günthers feingeschnittenes Gesicht war um einen Ton bleicher geworden. Trotzdem verbeugte er sich leicht und hochmütig.

„Allerdings – es stimmt.“

„Ja – also 950 Mark. Leider befinden sich meine Kassenverhältnisse augenblicklich in recht schlechtem Zustande, das heißt, ich habe nicht einmal so viel Bargeld vorrätig, um an dem bevorstehenden Quartalsersten die laufenden Verpflichtungen erledigen zu können.“

Er machte eine kurze Pause.

„Ich muß Sie daher schon bitten, mir die Summe, die Sie ja auch nur auf kurze Zeit haben wollten, baldigst zurückzuerstatten.“

Gott sei Dank – nun war es heraus. Selten waren Sagnali ein paar Sätze so schwer über die Lippen gekommen wie diese, selten hatte sich alles in ihm so stark dagegen gesträubt, Worte zu formen, wie die soeben ausgesprochenen. Daß er es dennoch tat, daß er diese Worte überhaupt fand, war ja nur jener Stunde zuzuschreiben, in der Merwinski ihm abermals gedroht hatte, ihn rücksichtslos bloßzustellen, falls er von dem Plane noch jetzt im letzten Augenblick zurücktrat. Merwinski war es gewesen, der ihm die Rolle, die er Horst-Günther gegenüber bei dieser Unterredung spielen sollte, förmlich eingelernt hatte. Und so handelte er jetzt rein automatisch, fast wie in einem Zustand von Hypnose.

Der junge Molnar hatte seine Zigarette längst mit leise bebender Hand in den Aschbecher zurückgelegt. Seine Lippen, um die sonst dieser etwas hochmütig-blasierte Zug so fest eingegraben war, bildeten nur noch eine schmale Linie, so fest preßte er sie aufeinander.

In seinem Hirn wogte eine Flut unsinniger Gedanken. Aber immer fester formte sich aus ihnen schließlich eine Idee, die er dann auch mit zynischer Ruhe ausführte, damit seinen Charakter bloßlegend, der doch noch mehr als nur leichtsinnige Seiten enthielt.

„Ich muß Ihnen zu meinem großen Bedauern gestehen“, sagte er mit kaltem Lächeln, „daß ich momentan nicht in der Lage bin, Ihnen das Geld zurückzuerstatten, lieber Sagnali.“

Etwas in dem Ton von Horst-Günthers Stimme machte den Italiener stutzig. Das war nicht die Art, wie jemand die Bitte um Verlängerung eines Darlehns einleitete. Und daher erwiderte er auch energischer als zuvor:

„So – nicht in der Lage?! Nun – dann müssen Sie sich das Geld eben irgendwo beschaffen. Ich brauche es unbedingt.“

„Tut mir leid. Woher soll ich’s nehmen?!“ Er zuckte gleichgültig die Achseln. „Ich denke, Sie belassen es mir noch einige Zeit“, fügte er schnell hinzu.

Wieder horchte Sagnali auf. Hatte er sich getäuscht? Klang nicht durch diese letzten Worte etwas wie eine Drohung hindurch? – Und um sich Gewißheit zu verschaffen, sagte er scheinbar leicht gereizt:

„Mein Bester – es geht nicht! Übermorgen sehe ich der Zahlung der 950 Mark bestimmt entgegen.“

Horst-Günther v. Molnar griff nach der Zigarette, steckte sie zwischen die Lippen und sagte dann nachlässig, während sie dabei auf und ab wippte:

„Aber Sagnali, wer wird so unhöflich einem Freunde gegenüber sein, der von Ihren Geheimnissen mehr weiß, als Sie ahnen!“ – –

Der Italiener fuhr förmlich herum. Seine dunklen Augen bohrten sich in Horst-Günthers Gesicht mit einem Ausdruck, als wollte er ihm im nächsten Augenblick an die Kehle springen.

„Geheimnisse? – – Was meinen Sie damit?“ sagte er dann leise, während seine Brust sich ungestüm hob und senkte.

„Nun – ich meine, daß Sie in Ihrer Wohnung hier und zwar dort drüben in dem kleinen Zimmer nach dem Hof zu einen Gast beherbergen, der alle Ursache zu einem möglichst zurückgezogenen Lebenswandel zu haben scheint.“

Sagnali atmete auf. – „Ist das alles?!“ lächelte er jetzt seinerseits mit offensichtlichem Spott. Denn blitzschnell hatte er sich überlegt, daß er jetzt vielleicht eine Handhabe dazu besaß, um Merwinski zum schleunigen Aufgeben dieser Zufluchtsstätte zu veranlassen. Sein Genosse mußte ja verschwinden, sobald sein Aufenthaltsort hier bekanntgeworden war und ihm dadurch eine Gefahr drohte, die nicht gering angeschlagen werden konnte.

„Alles?!“ sagte Horst-Günther nun brutal. „Oh nein, lieber Sagnali! Ich habe mir zum Beispiel letztens das Vergnügen gemacht, diesem Manne, als er an einem Sonnabend spät in der Nacht dieses Haus verließ, nachzuschleichen. Es war eine mühselige Jagd. Aber sie hatte doch einen großen Erfolg, da ich am Sonntag morgen dann, nachdem wir in einigen obskuren Cafés im Norden Berlins den Anbruch des Tages erwartet hatten – natürlich an verschiedenen Tischen – beobachten konnte, wie Ihr heimlicher Gast auf verschiedenen Postämtern größere Beträge einzahlte, wobei er stets – merkwürdige Geschichte – Fünfhundertmarkscheine wechselte. Hm – und gerade diese Art Banknoten ist in letzter Zeit in sehr tadellosen Exemplaren – gefälscht worden.“

Sagnali hatte mehr staunend als mit einem Gefühl der Furcht zugehört. – Dieser Horst-Günther war von ihm doch allzu sehr unterschätzt worden. In diesem genußsüchtigen jungen Menschen, der bisher stets nur den harmlosen Lebemann herausgekehrt hatte, schlummerten ja ganz gefährliche Talente! – Und trotzdem – konnte ihm dies nicht nur gelegen kommen? Würde er jetzt, wo er den Menschen, der das Werkzeug eines raffinierten Betrugsmanövers werden sollte, durchschaut hatte, nicht spielend leicht sein Ziel erreichen?! – Und – konnte er nunmehr nicht sein Gewissen in dem Gedanken zum Schweigen bringen, daß an diesem Burschen eigentlich kaum noch etwas zu verderben war?! – –

Sagnalis Entschluß stand fest. Hier war nur eine Taktik richtig, offen, rücksichtslos auf das Ziel lossteuern. Horst-Günther wußte alles und so hätte vorsichtiges Lavieren doch nichts mehr genützt! –

„Und wenn es so wäre, wenn mein heimlicher Gast wirklich nur Fünfhundertmarkscheine eingewechselt hätte?!“ sagte er leise. „Würden Sie denn wirklich hingehen und dies verraten, Horst-Günther, obwohl man Ihnen ein Angebot machen könnte, das Ihnen gestatten würde, das Leben mit vollen Zügen zu genießen? Würden Sie denn das auch noch tun?“

Die Antwort kam ohne lange Überlegung. Sagnali konnte kaum einen Ausruf ungläubigen Staunens unterdrücken, als ihm der Sinn dieses einen Satzes klar wurde.

 

8. Kapitel.

Der Horcher an der Wand …

Fritz Schaper hatte nach der letzten Unterredung mit Bornemann sofort durch sein Büro einen Brief an das Dresdener Polizeipräsidium schreiben lassen und dieses um Überlassung eines Abzuges des Bildes Franz Merwinskis gebeten, falls ein solches im dortigen Verbrecheralbum vorhanden sei.

Heute nachmittag war denn Hiller, als Postbote verkleidet, bei „Herrn Bernhard Marlow“ erschienen und hatte die Antwort der sächsischen Polizeibehörde überbracht.

Man bedaure, Abzüge von Bildern aus dem Verbrecheralbum an Privatpersonen, bzw. -institute nicht abgeben zu können, lautete diese Antwort sehr knapp und etwas von oben herab.

Da hatte der berühmte Detektiv, dem die Berliner Polizei regelmäßig das größte Entgegenkommen bezeigte, ärgerlich aufgelacht und zu Hiller gesagt:

„Die Herren dort in Dresden scheinen nicht recht gewußt zu haben, mit wem sie es zu tun hatten. Nun – bekommen werde ich das Bild schon, das uns dazu verhelfen soll, festzustellen, ob Sagnalis merkwürdiger Logierbesuch wirklich der flüchtige Merwinski ist. Gehen Sie also jetzt sofort zum Kriminalkommissar Trautmann und bitten Sie ihn, mir die gewünschte Fotografie zu besorgen. Natürlich kein Wort zu ihm, Hiller, wozu wir das Bild brauchen. – Wer steht zur Zeit von euch hier vor dem Hause Wache?“

„Graeser, Herr Schaper.“

„Gut. – Adieu denn also, Hiller.“ –

Am Abend desselben Tages saß der Detektiv mit einem Buche – es war Kochels Geschichte der Kriminalwissenschaften – in seinem Schaukelstuhl in seinem Zimmer und zwar unter der Stelle, wo sonst das Zigarrenschränkchen hing. Dieses selbst stand in der Ecke an der Wand gelehnt. Das nur mit Wachs befestigte Tapetenstück war herausgenommen und auf die Messingröhre des Schallverstärkers der Trichter aufgeschraubt, so daß Schaper sofort hören mußte, wenn drüben im Nebenzimmer gesprochen wurde.

Hin und wieder erhob sich der Detektiv auch leise und legte das Ohr an den Trichter. Dann vernahm er so deutlich, als ob ihn nur ein Vorhang von dem Nebenzimmer trennte, die verschiedensten Geräusche; Stuhlrücken, Räuspern, das Anzünden eines Streichholzes, vorsichtige Schritte von offenbar mit Pantoffeln oder weichen Morgenschuhen bekleideten Füßen.

Aber das war auch alles. Ein längeres Gespräch zwischen den beiden Komplizen zu belauschen, war ihm auch jetzt noch nicht geglückt.

Das Abenddunkel nahm immer mehr zu. So legte Fritz Schaper denn das Buche beiseite, zündete sich eine Zigarre an und überließ sich, zurückgelehnt in den Schaukelstuhl, seinen Träumereien.

Über ihm wurde Klavier gespielt, irgend ein schwermütiges Lied. Und die Töne versetzten den einsamen Mann in eine wunderbare Stimmung, aus der er dann doch ganz unverhofft aufgestört wurde.

Schnell, aber geräuschlos hatte er sich aufgerichtet. Stimmen, die aus dem Nebenzimmer durch den Schallverstärker zu ihm drangen, hatten ihn aufgeschreckt. Er hielt das Ohr an den Trichter. Und so wurde er unsichtbarer Zeuge folgender Unterredung, die von zwei Männern mit halblauter Stimme geführt wurde und von der ihm doch keine Silbe, keine Klangschattierung im Ton entging.

„… nie getan, Merwinski, wenn der junge Mensch mir nicht in gewisser Weise entgegengekommen wäre“, hörte er den einen sagen, der der Stimme nach nur Sagnali sein konnte, dessen Organ er von gelegentlichen Gesprächen, die zwischen dem Italiener und dem Sohne seiner Zimmervermieterin auf der Treppe geführt wurden, nur zu gut kannte.

„Entgegenkommen?!“ sagte der andere jetzt offenbar erstaunt – dieser andere, der also wirklich der entflohene Chemiker Merwinski, der Dieb der Banknotenpapiere war.

Hierauf erzählte Sagnali seinem Komplizen ganz eingehend den Verlauf der Aussprache, die er keine Stunde vorher mit Horst-Günther gehabt hatte.

„Sie können sich meine Überraschung vorstellen“, sagte der Italiener zum Schluß seines Berichtes, „als der junge Mann mir auf meinen sehr vorsichtig gefaßten Vorschlag, sich von uns für sein Schweigen bezahlen zu lassen, kaltblütig erwiderte: „Auf eine solche Offerte habe ich schon lange gehofft!“ Er sagte „gehofft“, Merwinski, und darin lag sein Einverständnis. Nun hatte ich nicht den geringsten Grund mehr, ihm gegenüber mit verdeckten Karten zu spielen. Ich setzte ihm unseren Plan auseinander und – er war sofort einverstanden, noch mehr, er hatte die Sachlage so schnell und gründlich erfaßt, daß er mir erklärte, gleich übermorgen vormittag sei die beste Gelegenheit zur Ausführung, da er dann den Boten seiner Bank nach der Reichsbank begleiten müsse, wie bereits bestimmt sei, und den Transport von einer Million neuer Banknoten übernehmen würde.“

„Eine Million“, meinte Merwinski freudig.

„Allerdings – soviel und noch mehr haben wir ja auf Vorrat gearbeitet – mithin können wir den Schlag ruhig wagen, der jetzt außerdem viel von seiner Gefährlichkeit eingebüßt hat, da Horst-Günther die Sache so einzufädeln gedenkt, daß eine Entdeckung des Austausches der echten mit den unechten Scheinen so gut wie unmöglich erscheint.“

„Da bin ich doch neugierig, wie der talentierte junge Herr die Geschichte arrangieren wird“, sagte Merwinski offenbar in bester Laune.

„Eigentlich sehr einfach. Die neuen Banknoten, die von der Reichsbank zur Verteilung an die anderen Geldinstitute gelangen, sind stets in Päckchen zu dreihundert Stück vereinigt. Jedes Päckchen enthält eine bestimmte Sorte Scheine. Anzahl und Gesamtwert ist auf der Papierhülle vermerkt, die die Unterschrift des Beamten der Ausgabestelle trägt. Wir werden also unsere eigenen Fabrikate verpacken, und der junge Molnar muß uns nach einer morgen bei seiner Bank besorgten Vorlage dann die Unterschrift auf den einzelnen Päckchen nachmachen. Das schwierigste ist nun, den Austausch der Päckchen vorzunehmen. Aber auch hierfür hat unser Bundesgenosse einen glänzenden Gedanken, den er Ihnen morgen selbst mitteilen mag. – Jedenfalls allerhand Achtung vor der verbrecherischen Veranlagung dieses jungen Menschen“, fügte Sagnali in bitterem Ton, wie Schaper deutlich heraushörte, hinzu.

Worauf Merwinski mit spöttischem Auflachen erwiderte:

„Ihre letzte Bemerkung, Freund Ernesto, klang gerade so, als ob Sie Ihr Gewissen immer noch nicht beruhigt hätten. Die Ehrlichkeit als unnötigen Ballast erkennen, ist kein Zeichen eines wahrhaft großen Geistes – wie oft soll ich Ihnen das vorpredigen!“ sagte Merwinski voller Hohn.

„Lassen Sie Ihre ironischen Scherze!“ fuhr Sagnali gereizt auf. „Sie wissen nur zu gut, daß nur Sie mich auf die schiefe Bahn geführt haben, indem Sie mich im Gefängnis stets mit Ihren Einflüsterungen verlockten und das Gute in mir langsam ertöteten. Sie waren es, der den Plan faßte, ich sollte mich als Graveur und Kupferstecher so weit vervollkommnen, daß ich imstande sei, Druckplatten für falsches Papiergeld herzustellen. Das Papier, echtes Banknotenpapier, wollten Sie liefern. Und nun – nun haben Sie mich ganz in den Händen.“

Wieder lachte Merwinski hämisch auf.

„Gut gegackert, Henne, die uns goldene Eier gelegt hat“, lachte er rücksichtslos. „Nun – all diese stille Wut auf meine selbstlose Persönlichkeit, die es nur gut mit Ihrem künstlerischen Streben meint, wird schon schwinden, wenn nur erst aus dem Schablonen-Fabrikanten ein berühmter Maler mit Hilfe desselben Geldes geworden ist, das Ihnen jetzt so viel Kopfschmerzen und Seelenangst bereitet. – Doch nun genug der müßigen Reden. – Was verlangt der junge Molnar für seine Hilfeleistung?“

„Ein Drittel der Summe, also 333 000 Mark.“

„Donnerwetter! Welche Frechheit! Nie gehe ich darauf ein, nie und nimmer!“

„Ich habe ja auch gehandelt, und – er ist bis auf 150 000 Mark herabgegangen.“

„Wozu sagen Sie das nicht gleich! Der Schreck ist mir ordentlich in die Glieder gefahren, denn – schließlich hätten wir es ihm ja doch bewilligen müssen.“

Das, was die beiden dann noch weiter besprachen, war dem Detektiv vielleicht noch wertvoller als das Vorhergegangene.

Atemlos lauschte er. Kein Wort verlor er von der leise gewechselten Rede und Gegenrede. –

Eine halbe Stunde später – es war inzwischen elf Uhr geworden – verließ Fritz Schaper das Haus und fuhr in einem Auto zu Bornemann nach der Tiergartenstraße. –

Der Millionär war soeben erst aus einem Vortrag der technischen Gesellschaft heimgekehrt.

„Ob ich mitkomme, Fritz? – Welche Frage!“ sagte er begeistert, nachdem Schaper ihm sofort nach der Begrüßung kurz seine Absicht mitgeteilt hatte.

Bald darauf fuhren sie in dem Autotaxameter, den der Detektiv vor dem Hause hatte warten lassen, nach dem Westend genannten Stadtteil von Groß-Berlin hinaus.

Unterwegs weihte Schaper den Freund in alles Nötige ein.

„So ganz ungefährlich ist unser Unternehmen jedenfalls nicht“, betonte er zum Schluß. „Merwinski dürfte kaum unbewaffnet sein, wenn er den Banknoten-Vorrat aus dem Lagerspeicher holt. Vorsicht ist daher sehr am Platze.“

„Nun, wir sind immerhin zwei gegen einen“, meinte Bornemann ruhig. „Und mit meinen Armen nimmt es so leicht kein anderer auf. Die halten, was sie einmal haben.“ Und nach einer Weile fügte er hinzu:

„Dein Schallverstärker hat sich also wieder einmal vortrefflich bewährt, Fritz. Ohne ihn hätte sich diese Untersuchung doch wohl noch etwas sehr in die Länge gezogen.“

„Das fürchte ich auch. Nun wissen wir genau Bescheid, und Herr Merwinski wird nicht wenig überrascht sein, wenn wir ihn heute abfassen, wie er dem Versteck den Bedarf an falschen Banknoten für übermorgen entnimmt.“

Weder der Millionär noch Schaper ahnten, daß die Überraschung weit mehr auf ihrer Seite sein würde und daß die Dinge einen ganz anderen Verlauf nehmen sollten, als sie voraussehen konnten.

 

9. Kapitel.

In der Falle.

Schaper ließ das Auto bereits ein ziemliches Stück vor der Wendelholzgasse halten. Die letzte Strecke des Weges legten sie dann zu Fuß zurück.

Es war eine windstille, drückend heiße Juninacht. Die Luft schien förmlich mit Elektrizität überladen. Im Westen, über dem Grunewald, diesem beliebten Berliner Ausflugsziel, stand eine dunkle Wolkenwand, über deren unteren Teil bisweilen ein helles Leuchten ging – die Anzeichen eines unter dem Horizont tobenden Gewitters.

Bornemann war aufgeregter, als er es sich anmerken lassen wollte. Während sie durch die menschenleeren Straßen dahinschritten, lüftete er wiederholt seinen Hut und trocknete sich den Schweiß ab, der ihm immer wieder in feinen Perlen auf die Stirn trat. Da der Detektiv jetzt schweigsam blieb, suchte der Millionär die innere Unruhe um jeden Preis zu übertäuben. So stumm neben seinem Begleitern herzugehen – das hielt er einfach nicht mehr aus.

„Wie werden wir uns eigentlich in das Gebäude Eingang verschaffen, Fritz?“ sagte er daher mit einer Stimme, die merkwürdig gepreßt klang.

„Auf ganz normale Art und Weise“, entgegnete Schaper, der mit seinen Gedanken ganz wo anders gewesen war. „Ich habe mir durch einen meiner Leute, die mit derlei Arbeiten vertraut ist, schon vorgestern nach Wachsabdrücken Schlüssel für die Mauerpforte sowie die Tür des Speichers anfertigen lassen. Außerdem trage ich auch meinen verstellbaren Patent-Nachschlüssel bei mir, falls es eben im Innern des Hauses verschlossene Türen geben sollte.“

„Nun – dann hätte dieser Nachschlüssel doch auch für die Pforte und den Haupteingang genügt“, meinte Bornemann, immer nur in dem Bestreben, das Gespräch in Fluß zu halten.

„Unter anderen Umständen, wohl ja“, erklärte Schaper. „Du mußt aber bedenken, Edgar, daß wir heute möglichst schnell das Grundstück und das Gebäude betreten müssen, da uns niemand sehen darf. Eigentlich wandeln wir ja auf völlig ungesetzlichen Wegen, auf denen man uns nicht ertappen darf, sonst ist der Erfolg unserer Expedition sehr stark in Frage gestellt. Für meinen Patentschlüssel brauche ich zum Einstellen des Bartes immerhin einige Zeit.“

„Ah so – nun verstehe ich. – Ist das hier etwa schon die Wendelholzgasse?“

„Ja. – Wir werden sie jetzt zunächst bis zum anderen Ende hinuntergehen, um das Terrain zu rekognoszieren. Gib acht, ob du irgendwo einen Schutzmann oder einen Wächter der Schließgesellschaft erspähst. Den Leuten müssen wir auszuweichen suchen.“

Gemächlich wie ein paar harmlose Spaziergänger schritten sie dahin. Aber ihre Augen durchsuchten jeden Torweg, jeden Mauerwinkel.

Wenige Minuten später standen sie vor der mit Eisenbändern beschlagenen Pforte, die neben der Einfahrt in die Ziegelmauer des schmalen, langgestreckten Grundstücks eingelassen war. Schaper schob den Schlüssel in das Loch – ein Kreischen schlecht geölter, verrosteter Türangeln, dann befanden sie sich innerhalb der Umzäunung.

Mehrere Minuten verhielten sie sich regungslos, lauschten angespannt, ob irgend ein verdächtiges Geräusch hörbar wurde. – Nichts regte sich. Nur von ferne drang jetzt das dumpfe Grollen des heraufziehenden Gewitters zu ihnen herüber.

„Folge mir“, flüsterte Schaper.

Mit schnellen Schritten eilten sie den Weg hinunter, der auf das alte Gebäude zuführte. Bornemann fand trotzdem noch Zeit, sich ein wenig umzuschauen. Überall wucherte hier dichtes Gestrüpp, ein Gemisch von Sonnenblumen, hochaufgeschossenen Disteln, Dornen und wilden Rosensträuchern. „Eine ungastliche Stätte“, dachte der Millionär. „So recht geeignet für einen Verbrecherschlupfwinkel.“

Gleich darauf waren sie auch schon vor der breiten Doppeltür des Hauses angelangt. Einige ausgetretene Steinfliesen führten zu ihm empor. – Wieder das Kreischen verrosteter Angeln, das Schnappen eines Schlosses. Das Gebäude, in dem einst ein politisch wohl gefährlicher Staatsmann eingekerkert gewesen sein sollte, hatte die beiden Freunde aufgenommen.

Tiefe Dunkelheit um sie her. Nun blitzte Schapers elektrische Taschenlampe auf. Der weiße Lichtkegel glitt über die mit zerrissenen, herabhängenden Tapeten bedeckten Wände einer geräumigen Vorhalle hin, aus der rechts und links je eine Tür in die Seitengemächer führte, während im Hintergrunde eine Treppe in die oberen Räume hinauflief. Der Boden dieser Halle war nur zum Teil mit zertrümmerten Steinplatten bedeckt, in deren Löchern Ratten und Mäuse hausten, die jetzt, aufgescheucht durch die späten Eindringlinge, blitzschnell ihre unterirdischen Wohnungen wieder aufsuchten.

Der Detektiv war mit der Besichtigung der Örtlichkeit bald fertig.

„Für unsere Zwecke eignet sich dieser Vorraum sehr schlecht“, meinte er leise zu Bornemann, dem sich die kühle, dumpfe Luft des alten Gebäudes wie eine Zentnerlast auf die Brust legte. „Und trotzdem müssen wir uns hier unten irgendwo verbergen, um dem Manne, den wir erwarten, nachschleichen zu können.“

„Du hast also keine Ahnung, wo das Versteck liegt“, sagte der Millionär in demselben vorsichtigen Flüsterton.

„Nein. Und deshalb ist unsere Aufgabe auch keine ganz einfache. In dieser nächtlichen Stille so lautlos einem Menschen folgen, daß dieser nicht aufmerksam wird, ist eine mißliche Sache.“

„Das schon. Aber – wäre es nicht das beste, wenn wir einfach draußen in dem verwitterten Garten blieben und dort warteten, bis Merwinski das Haus wieder verläßt? – Dann bringen wir doch am sichersten die falschen Banknoten in unsere Gewalt. Wir brauchen uns doch nur in dem Gestrüpp dicht am Wege auf die Lauer zu legen, um den Burschen abzufassen.“

„Und könnten dann nachher diesen Steinkasten von Haus von oben bis unten durchsuchen, um auch die Vorräte an Banknotenpapier, die für uns ebenso wichtig wie die falschen Scheine sind, an uns zu nehmen – falls wir sie überhaupt entdecken“, entgegnete Schaper. „Nein – halbe Arbeit tue ich nicht. Ich will, wenn diese Tragödie zu Ende ist, der Polizei das vollständige Material in die Hände geben. Das bin ich meinem Ruf schuldig.“

Damit schritt er auf die Holztreppe im Hintergrunde zu, unter der sich tatsächlich, wie er vermutet hatte, ein durch Bretter abgeschlagener Raum befand, in den eine nur angelehnte, niedrige Tür führte. Er leuchtete hinein. – Der Verschlag war leer. Einstmals mochte er wohl zur Aufbewahrung von allerlei Hausgeräten gedient haben, wie auch einige in die Wände eingeschraubte Haken zeigten.

„Wir haben doch mehr Glück gehabt, als es anfangs scheinen wollte“, lächelte der Detektiv gutgelaunt. „An diesen Winkel hier dachte ich nicht gleich. – Bitte, tritt näher, Edgar, geniere dich nicht. Vorläufig werden wir uns in diesem bescheidenen Kabinett wohl oder übel niederlassen müssen. Setz’ dich nur auf den Boden nieder. Wir dürfen unsere Beine durch unnötiges Stehen nicht überanstrengen. Und – zieh’ dir deine Schnürschuhe aus. Jeder Schuh, und wäre es der beste, ist weniger geeignet zum lautlosen Schleichen als ein paar Socken. Bevor du dich aber auf dem etwas niedrigen Diwan, Fußboden genannt, niederläßt, mußt du mir noch dabei behilflich sein, eine Ritze herauszufinden, durch die wir die Eingangstür beobachten können. Ich werde daher jetzt in die Vorhalle gehen und das Licht meiner Laterne auf die Treppe fallen lassen. Die Bohlen sind alt und rissig. Vielleicht dringt irgendwo durch einen genügend breiten Spalt das Licht hindurch. Dann haben wir, was wir wollen.“

Tatsächlich entdeckten sie so eine klaffende Fuge in einer Treppenstufe, die etwa einen Meter über dem Erdboden lag.

„Wie geschaffen für uns“, erklärte Schaper zufrieden. „So – nun setzen wir uns hier vor diesen Ausguck nieder und warten der Dinge, die da kommen sollen. – Halt – noch eins!“

Er probierte jetzt an der Tür des Verschlages, ob sie auch nicht in den Angeln kreischte oder knarrte.

„So, das wäre auch in Ordnung“, meinte er dann. „Das Pförtchen läßt sich geräuschlos öffnen – eine große Hauptsache.“

In demselben Moment schob er auch den Knopf seiner Taschenlaterne zurück. Das Licht erlosch. Undurchdringliche Finsternis hüllte die beiden Freunde ein.

„Wenn man sich jetzt wenigstens eine Zigarre anstecken könnte“, flüsterte der unsichtbare Bornemann mit einem leisen Stoßseufzer.

„Gewiß – und dann noch einen Klubsessel, ein Schachspiel und eine Flasche Rotwein!! – Warum nicht gar! Na, lieber Edgar, so leicht ist der Beruf eines Detektivs denn doch nicht! Einige kleine Entbehrungen muß man sich schon auferlegen können.“

Eine Weile schwiegen sie und lauschten auf die verschiedenartigen Geräusche, die immer vernehmlicher in ihr Versteck hineindrangen. – Das Mäuse- und Rattenvolk war aus seinen Löchern wieder hervorgekommen und jagte quiekend und polternd in der Halle herum. Dicht neben ihnen aber waren in den alten Balken ein paar Holzwürmer bei eifriger Arbeit. Das Ticken der Freßwerkzeuge dieser unermüdlichen Zerstörer klang fast wie der Gang ebensovieler Taschenuhren. Und in der Ferne dröhnte jetzt schon mit warnender Stärke das Grollen des Gewitters.

„Eine ungemütliche Geschichte“, meinte Bornemann mit unterdrückter Stimme. „Hier in diesem Loch herrscht ein ganz widerwärtiger Gestank. Und kalt ist’s! Ich friere schon jetzt.“

„Das wird wohl die Aufregung sein“, beruhigte Schaper. „Freilich, der Geruch ist auch mir nicht gerade angenehm. Dieses Haus ist mindestens seit ein paar Jahrzehnten nicht mehr ordentlich gelüftet worden. – Doch nun wollen wir uns lieber still verhalten. Die Ratten machen ohnehin einen ganz verwünschten Lärm.“

Eine Stunde, eine endlose Stunde verging so. – Schaper schaute nach der Uhr, indem er einen Moment das Licht der kleinen Laterne aufblitzen ließ.

„Einhalb eins“, sagte er leise. „Merwinski läßt sich Zeit.“

„Oder kommt überhaupt nicht“, fügte Bornemann hinzu. „Vielleicht schlagen wir uns diese Nacht umsonst um – –“

Er schwieg plötzlich, denn der Detektiv hatte seinen Arm mit hartem Griff umspannt.

„Hörst du – er kommt doch!“ hauchte Schaper triumphierend.

Die Haustür knarrte. – Jetzt schnappte der Drücker ein, und ein Schlüssel wurde von innen ins Schloß geschoben. Gleich darauf sah der Detektiv, der sein Auge dicht an den Spalt hielt, in der Vorhalle eine Flamme aufblitzen – ein Streichholz. Und dann zuckte ein heller Schein empor, vergrößerte sich zusehends. Merwinski hatte die mitgebrachte Azetylenlaterne angezündet, deren weißes Licht den unwirtlichen Raum jetzt mit blendender Helle erfüllte.

Merwinski stand noch immer an der Tür. Überall hin ließ er den Lichtschein fallen, als wolle er sich vergewissern, daß er auch wirklich allein sei.

Von seinem Gesicht konnte Schaper nur wenig erkennen, weil es zumeist im Schatten lag, und die Laterne den Detektiv auch nur zu sehr blendete.

Merwinski verharrte noch immer regungslos auf demselben Fleck. In seiner Haltung drückte sich etwas wie argwöhnische Spannung aus. Schon fürchtete Schaper, daß jener Verdacht geschöpft haben könnte – da schritt der frühere Chemiker aber bereits auf die Tür zur Linken zu, öffnete sie und verschwand. Die Tür blieb halb offen, wie der Detektiv schnell feststellte, indem er lautlos aus dem Verschlage hinausschlüpfte und vorsichtig um die Ecke schaute.

Auch Bornemann hatte sich erhoben und tappte mit vorgehaltenen Händen, um nirgends anzustoßen, dem Freunde nach. – Dann standen sie in dem Zimmer, das Merwinski eben durchschritten hatte. Plötzlich war eine blendende Helle draußen, die ihnen ermöglichte, sich schnell zu orientieren. Ein Blitz war herniedergezuckt, dem wenige Sekunden später ein furchtbarer Donnerschlag folgte, der das Haus erdröhnen und die Fenster erklirren ließ.

Zur rechten Hand lag eine Tür, die weit offen gelassen war. Dorthin mußte Merwinski gegangen sein. Schnell glitten sie darauf zu. Sie durften jenen ja nicht aus den Augen verlieren.

Der Detektiv schob den Kopf vor, blickte nach links, wo ein undeutlicher Lichtschein den breiten Korridor, der jetzt vor ihnen lag, einigermaßen erhellte.

Von Merwinski war nichts mehr zu sehen. Und doch mußte er sich hinter jener Biegung des mit Dielen ausgelegten Korridors befinden, eben dort, wo seine Laterne aufleuchtete.

Inzwischen hatte der Regen, der erst mit einigen schweren Tropfen begonnen hatte, an Stärke zugenommen. Wie Hagelschauer klapperte es gegen die Fenster. Und unaufhörlich folgte Donnerschlag auf Donnerschlag. – –

Der junge Millionär spürte, solcher Abenteuer nicht gewöhnt, merkte, wie ihm der kalte Schweiß auf die Stirn trat, wie sein Herz in immer schnellerem Tempo klopfte. – Schaper hatte jetzt seine Hand ergriffen – ganz unwillkürlich. Auch er war erregt.

Da wurde der Lichtschein schwächer. Und sogleich trat auch der Detektiv auf den Gang hinaus und schritt unhörbar vorwärts, dicht hinter ihm Bornemann, der schon längst die Freude an dieser nächtlichen Expedition verloren hatte.

So kamen sie bis auf etwa zwei Meter an die Biegung des Korridors heran. Hier machten sie wieder halt. Der helle Schimmer, der sie bisher geleitet hatte, war urplötzlich verschwunden. Und im gleichen Moment wich auch der Boden unter ihren Füßen. – Schaper wollte noch einen Satz nach vorwärts machen – zu spät – –

Metertief fielen sie herab, stürzten einer auf den andern und blieben regungslos liegen, vollständig betäubt von dem ersten Schreck und dem schweren Aufschlagen auf dem Grund dieser teuflischen Falle. Als erster rappelte sich Schaper empor, brachte sich in sitzende Stellung und griff dann in die Tasche nach seiner elektrischen Lampe. Zum Glück hatte dieser der Sturz nicht weiter geschadet. Ihr Lichtkegel zuckte in alter Stärke auf, und der Detektiv beugte sich nun in den etwa zwei Meter im Quadrat fassenden Schacht über den jungen Millionär, der noch immer kein Glied rührte.

„Bornemann!“ – Das Rütteln half. Der andere schlug die Augen auf und stierte wild um sich. Und indem er sich auf die rückwärts gestemmten Arme stützte, fragte er noch ganz heiser vor Entsetzen:

„Was war das, Fritz?“ – –

Schaper mußte lächeln.

„Eine regelrechte Menschenfalle, mein lieber Freund, in die wir blindlings hineingetappt sind.“

Er wollte noch mehr hinzufügen, aber eine Stimme, die jetzt plötzlich über ihren Köpfen erklang, ließ ihn schweigen.

Merwinski war’s, der das an Scharnieren hängende und nach unten klappende Dielenstück etwas geöffnet hatte und nun voll beißender Ironie sagte:

„Dürfte ich vielleicht erfahren, meine Herren, mit wem ich die Ehre habe?“

Schaper hatte seine Lampe schnell ausgeknipst. So befanden sie sich wieder in völliger Dunkelheit. Nur oben war ein weißer Streifen sichtbar – der durch Merwinskis Laterne erhellte Spalt der Falltür. Und hastig flüsterte der Detektiv nun dem Freunde zu: „Überlaß mir das Antworten.“

Dann sagte er laut, mit einem kläglichen Stöhnen:

„Wer Sie auch sein mögen, haben Sie Erbarmen mit uns und lassen Sie uns heraus. Wir wollen auch nie wieder hier eindringen, wahrhaftig, nie wieder.“

Der Mann oben lachte unterdrückt auf.

„Da werdet ihr euch wohl noch etwas gedulden müssen. Rein kommt man in ein Mauseloch ja sehr leicht, aber heraus – das ist schon schwieriger. – Zunächst aber: wer seid ihr, und was suchtet ihr hier? Die Wahrheit will ich wissen! Sonst gehe ich sofort zur Polizei und erstatte Anzeige.“

Schaper jubelte innerlich auf. Es war klar – Merwinski ahnte nicht, mit wem er es zu tun hatte.

„Herr, wir wollten nur in diesem Hause nächtigen“, sagte er daher etwas zögernd. „Nichts weiter. Sie können uns durchsuchen. Wir haben noch nichts gestohlen.“

„Noch nichts gestohlen – vorzüglich!!“ höhnte der Chemiker. „Noch nichts! Das heißt also, meine Burschen, ihr hättet etwas geklemmt, wenn ich nicht dazwischen gekommen wäre.“

Absichtlich schwieg der Detektiv eine Weile.

Da fragte die Stimme auch schon wieder: „Wollt ihr mir nun die Wahrheit sagen oder nicht? Ich warte nicht mehr lange.“

Sehr stockend und anscheinend ängstlich kam Schapers Antwort.

„Wenn’s denn schon nichts hilft, Herr – wir hofften hier so ein paar verwendbare Türdrücker zu finden, aus Messing vielleicht, auch sonst noch einiges. – Und nun, um der Barmherzigkeit willen – geben Sie uns frei. Wir sind Familienväter, und niemals werden wir wieder den Versuch machen, uns an fremdem Eigentum zu vergreifen.“

Das alles klang so echt und kläglich, daß Merwinski völlig beruhigt war, wie aus seinen folgenden Worten hervorging: „Freigeben – nein, das kann ich jetzt noch nicht. Ihr seid immerhin zwei gegen einen und könntet mich hinterrücks überfallen. Wann ich euch herauslasse, werde ich mir noch überlegen. Im übrigen aber einen guten Rat: wenn ihr wieder mal in ein unbewohntes Gebäude eindringt, so schaut euch die Tür vorher genau an. Hier hatte ich nämlich zwei schmale, braune Papierstreifen derart über beide Flügel oben und unten geklebt, daß sie durchreißen mußten, wenn die Tür geöffnet wurde. Und da ich den Streifen zerrissen fand, wußte ich sofort, daß Besucher dagewesen oder noch da waren und paßte deshalb auf, merkte auch, wie ihr hinter mir her schlicht und ließ dann meine Falle spielen, nachdem ich euch an die richtige Stelle gelockt hatte. – Feine Sache, was, meine Burschen?!“

Merwinski kicherte vergnügt.

Da beugte sich Schaper zu Bornemann hin und flüsterte:

„Wir müssen heraus, und zwar sofort, um jeden Preis! Das Loch hier ist, soweit ich vorhin schätzen konnte, etwa vier Meter tief.“ – –

Und der Millionär verstand alles. Nur kurz waren des Detektivs weitere Anordnungen. Aber sie genügten.

 

10. Kapitel.

Wie Fritz Schaper den Spieß umkehrte!

Ernesto Sagnali hatte eine schlechte Nacht hinter sich. Es war nicht nur das schwere Gewitter gewesen, das ihm den Schlaf geraubt hatte. Jetzt, da der schurkische Plan, bei dem Horst-Günther so gut wie freiwillig eine Hauptrolle übernommen hatte, kurz vor der Vollendung stand, waren in des Italieners Seele Gewissensqualen erwacht, die von Stunde zu Stunde wuchsen und schließlich sein Herz mit wildem Abscheu vor sich selbst erfüllten. Er fand keinen Schlummer. Mit offenen Augen lag er da und lauschte auf das Toben des Unwetters. Stunde auf Stunde verrann. Längst war der Tag heraufgezogen, längst war der Himmel wieder klar geworden. Draußen wurde es heller und heller. Noch immer kehrte Merwinski nicht zurück. Auch das begann Sagnali zu beunruhigen. – Er sann und sann. Wenn er nur einen einzigen Ausweg gewußt hätte, – nur eine Möglichkeit, sich noch im letzten Moment freizumachen von diesem seinem Gefährten, der seine Charakterschwäche nur zu klug ausgenutzt und ihn in verbrecherische Wagnisse verstrickt hatte, vor deren Folgen ihm jetzt graute. –

Müde, körperlich und geistig wie zerschlagen, erhob er sich. Dumpf brütend saß er der Schwester am Kaffeetisch gegenüber. – Wo nur Merwinski blieb? Ob ihm etwas zugestoßen war? – Dann läutete es. Die Arbeiterinnen kamen. Das Tagewerk begann. Ruhelos schritt Sagnali von einem Zimmer in das andere. Nirgends litt es ihn lange. Eine beklemmende Angst wie vor einem unaufhaltsam sich nähernden Verhängnis preßte sein Herz zusammen. Allen Ernstes dachte er daran, zu fliehen, irgendwohin, wo ihn niemand kannte. – Nur entgehen wollte er dem, was die nächsten Tage bringen mußten: dem letzten großen Streich, der ihm das Geld verschaffen sollte, um als selbstständig schaffender Künstler weiterleben zu können. – Früher, da hatte er sich noch in diesem Gedanken berauscht, da hatte sein Ehrgeiz nach Ruhm und Anerkennung sein Gewissen immer wieder zum Schweigen gebracht. Jetzt – jetzt sah er die Zukunft anders vor sich liegen. Er war erwacht. Und dieses Erwachen hatte die Liebe bewirkt, die Liebe zu einem Mädchen, das er in einem Augenblick der Leidenschaft an sich gerissen und von dessen reinen Lippen er Seligkeit getrunken.

Wieder läutete die Flurglocke. Der Briefträger war’s. Und dann saß Ernesto Sagnali ganz verstört in seinem Schreibsessel und las Maximiliane v. Molnars Antwort auf seinen Absagebrief. – – Feste, klare Schriftzüge waren es, aus deren Linienführung die ganze starke, energische Persönlichkeit sprach:

„Seit langem habe ich es mir angewöhnt, eine wichtige Entscheidung erst zu treffen, nachdem ich mir diese reiflich überlegt habe. Du willst mich aufgeben, weil, wie Du schriebst, Du meiner unwürdig wärest, weil Deine Vergangenheit nicht so beschaffen wäre, daß Du die Zukunft mit einem Weibe, das Du ebenso achtest wie liebst, teilen könntest. Mir scheint, daß irgendeine Schuld Deine Seele bedrückt. Welcher Art diese Schuld aber auch sei: ich traue Dir Verfehlungen, die nicht durch ehrliche Reue und ein ferneres, nur dem Guten geweihtes Leben gesühnt werden könnten, nicht zu. Damals, als ich Dich zum ersten Male sprach, fiel mir ja gleich ein besonderer Ausdruck in Deinen Augen auf, etwas Schwermütiges, Trostloses. Ich sagte mir sofort, daß Dein Leben nicht glatt dahingeflossen sein könnte. Dann erzähltest Du von Deinen künstlerischen Enttäuschungen, von Deinem Unbefriedigtsein in Deinem jetzigen Beruf. Durch alles, was Du sprachst, klang jedoch mehr als nur die Äußerungen einer verbitterten Seele hindurch. Es lag darin das Klingen von Herzenssaiten, die nur edle Töne geben, Töne, die vielleicht für einige Zeit verstummen, aber nie ganz ersterben können. Mit einem Wort: Ich glaube an Dich, Ernesto, und weil ich es tue, gebe ich Dich nicht auf. Ich will als treue Kameradin zu Dir stehen, komme was kommen mag. Weise mich nicht zurück! Ich will den guten Kern Deines Ichs wieder zur Entfaltung bringen – weil ich Dich liebe, Ernesto! – Professor Neuber ist gestern verreist. Ich werde die Dienstboten für den morgigen Vormittag beurlauben. Wir werden ganz ungestört sein. Ich warte auf Dich, auf Deine Beichte. – – Maximiliane.“

Lange saß der Italiener regungslos da. Den Kopf hatte er in die Hände gestützt, die halb sein Gesicht bedeckten. Bisweilen ging es wie ein Beben durch seinen Körper. – Und als er sich dann erhob, schimmerten seine Augen feucht. Um seinen Mund aber lagerte ein Zug unerschütterlicher Entschlossenheit.

Eine Stunde später, gegen zehn Uhr vormittags, machte er sich auf den Weg zu Maximiliane. Merwinski war noch immer nicht zurückgekehrt. Sagnali dachte daran kaum mehr. Diese Vergangenheit, die der Name Merwinski für ihn bedeutete, lag endgültig hinter ihm. – –

* * *

Der freundliche Leser muß uns nochmals zurück in das alte Gebäude in der Wendelholzgasse begleiten.

Merwinski hatte den beiden in dem gemauerten Schacht eingeschlossenen Freunden noch ein spöttisches „Angenehmen Zeitvertreib, meine Herren!“ zugerufen und wollte eben die Falltür wieder schließen, als Schaper sich nochmals aufs Bitten verlegte und dabei die Befürchtung aussprach, jener würde sie vielleicht hier vergessen, und sie müßten dann elend umkommen. Worauf der ehemalige Chemiker beinahe ärgerlich hinabrief:

„Ich bin kein Mörder, zum Donner! Seid ihr aber auch Memmen! Verhaltet euch still und ich lasse euch morgen bestimmt heraus.“

„Oh – wir werden keinen Laut von uns geben, Herr, darauf können Sie sich verlassen“, versicherte Schaper weinerlichen Tones. „Nur haben Sie Erbarmen mit unseren Familien und übergeben Sie uns nicht der Polizei!“

Merwinski, der nun ganz sicher ein paar harmlose Gelegenheitsdiebe vor sich zu haben glaubte, lachte ironisch.

„Werde mich hüten! Bin selbst kein Freund der Uniformierten“, sagte er gutgelaunt. „Im übrigen möchte ich euch davon abraten, irgendwelche Befreiungsversuche zu machen. Es gibt nur einen Ausgang aus eurem festen Verließ – und der ist hier durch die Falltür, die für euch nicht erreichbar ist – oder aber ihr müßtet gerade die Fähigkeit besitzen, an einer glatten Steinwand wie eine Eidechse hinaufzulaufen. – Und nun – addio, verehrte Freunde – laßt euch die Zeit nicht lang werden.“

Die Falltür schnappte ein. Schritte erklangen, die schwächer und schwächer wurden.

Wie elektrisiert sprang der Detektiv empor. Das Licht der Lampe blitzte auf und beleuchtete den Deckel dieser feuchtkalten Gruft, der mit einem einfachen, aus einem schweren Gewicht und einer Kette, die über drei Räder lief, bestehenden Mechanismus versehen war, der die Falltür stets sofort in ihre alte Lage, in der sie sich in die Dielen des Korridors einschmiegte, zurückschnellen ließ. Dieses Gewicht war es, worauf Schaper seine Hoffnung setzte.

Im Augenblick hatten die beiden ihre Jacketts ausgezogen und je einen Ärmel derselben zusammengeknotet. So besaßen sie eine Art von Strick, der eine ziemliche Länge hatte. Dann nahm Bornemann die kleine Lampe in die Hand, beugte sich vornüber und ließ den geschmeidigen Detektiv an sich hochklettern. Bald stand dieser aufrecht auf des anderen Schultern. Aber noch immer trennte ihn ein Abstand von fast einem halben Meter von dem Gewicht, das nahe der Wand vielleicht ebenso tief von der Falltür herabhing.

„Ordentlich feststehen – ich wage den Sprung!“ rief Schaper mit unterdrückter Stimme. – Im nächsten Moment hatte er sich auch schon von den Schultern Bornemanns abgeschnellt und mit beiden Händen die Kette des Eisengewichtes umklammert. Sie hielt, trotzdem sie arg verrostet war, auch diese neue Last aus.

Nun hatten die beiden Gefangenen gewonnenes Spiel. Dicht unter der Decke war ein starker Eisenhaken mit einer Rolle in die Mauer eingelassen. Über diese Rolle lief das zweite Ende der Kette durch eine Öffnung weiter und endigte wahrscheinlich in dem Korridor hinter jener Biegung, hinter der Merwinski gelauert hatte, bis seine Opfer sich auf der Falltür befanden, deren Verschluß er dann durch einen Ruck an der Kette ausgelöst haben mußte. Um diesen Haken schlang Schaper nun die beiden zusammengebundenen Jacketts, klammerte sich daran fest, erst mit einer, dann der anderen Hand, und ließ die Kette los. Da er jetzt auch mit den Füßen an diesem provisorischen Tau Kletterschluß nehmen konnte, hatte er die rechte Hand frei und vermochte die Falltür, wenn auch erst nach einiger Anstrengung, ein Stück herabzuziehen. Bald gelang es ihm auch, den Rand des Dielenbelags vom Korridor zu erfassen, und dank seiner turnerischen Geschicklichkeit zwängte er sich schließlich auch durch den Spalt nach oben – in die Freiheit. Hinter ihm schloß sich der Deckel dieser Menschenfalle wieder mit leisem Rasseln.

Jetzt erst, als er schnell in die Vorhalle schlüpfen wollte, um dort die Rückkehr Merwinskis zu erwarten, der inzwischen sicherlich die Banknoten aus ihrem Versteck hervorholte, merkte der Detektiv, daß er sich bei dem Sturz in das Verlies das linke Bein doch böse beschädigt haben mußte. Vorhin, bei seinem meisterhaften Turnkunststück, war ihm der Schmerz in der Aufregung entgangen. Nur hinkend vermochte er sich bis an die Haustür zu schleppen, wo er sich, die entsicherte Pistole in der Hand, gegen die Mauer lehnte und gespannt in die Dunkelheit hinaushorchte.

Merwinskis Nahen kündigte sich durch tappende Schritte, die im Obergeschoß des Hauses laut wurden, bereits wenige Sekunden später an.

Jetzt erschien zunächst oben auf der Treppe, die Schaper gerade vor sich hatte, ein heller Lichtschein. Der Detektiv bückte sich, so tief er konnte, in die Türnische hinein. Trotzdem mußte Merwinski ihn, wenn er zufällig dorthin sah, schon von weitem bemerken, zumal seine Azetylenlaterne eine erhebliche Leuchtkraft besaß, während für Schaper sowohl die Gestalt als auch das Gesicht seines Gegners stets im Dunkeln blieb. Mithin war die Situation für den Detektiv recht unangenehm. Ihm lag sehr viel daran, daß er den Chemiker erst aus möglichst kurzer Entfernung anrief, damit dieser ihm nicht noch im letzten Augenblick entschlüpfen konnte. Diese Entfernung aber richtig abmessen – darin lag ja gerade die Schwierigkeit, weil er nie wissen konnte, ob der andere ihn nicht schon bemerkt hatte.

Inzwischen war Merwinski oben auf der Treppe erschienen. Schaper sah sofort, daß jener die Laterne herabgeschraubt hatte, wohl aus Furcht, das Licht könne von draußen her beobachtet werden.

Gemächlich kam der Chemiker die laut knarrende Treppe herab. Am ihrem Fuße machte er halt und schien zu überlegen. Noch war der Detektiv sicher, daß er von seinem Feinde bisher nicht erspäht worden war. Dazu brannte die Laterne zu niedrig.

Dieser Augenblick, wo Merwinski so unschlüssig dastand, schien Schaper der geeignetste.

Mit einem mächtigen Satz, wobei sein Bein ihm freilich geradezu wahnsinnige Schmerzen bereitete, sprang er vorwärts, den Revolver in der erhobenen Rechten haltend.

„Rühren Sie kein Glied, oder ich knalle Sie nieder wie einen tollen Hund!“

Er brüllte es förmlich heraus, um den Überfallenen noch mehr einzuschüchtern. Aber dieses Schreckmittel versagte. Ein Donnerschlag, wohl der schwerste des Gewitters, ließ das Haus in seinen Grundfesten erbeben und verschlang auch die ernstgemeinte Drohung.

Schaper selbst, halb betäubt durch die Plötzlichkeit dieser furchtbaren elektrischen Entladung, verpaßte den richtigen Zeitpunkt, seinem Gegner zuvorzukommen. Merwinski, der fraglos über eiserne Nerven verfügte, hatte beim Anblick der auf ihn einstürmenden Gestalt blitzschnell seinen linken Arm erhoben. Das Aufleuchten eines Schusses – dicht am Ohr des Detektivs sauste das Geschoß vorüber. –

Aber unmittelbar darauf ertönte auch schon eine zweite Detonation, noch bevor der Chemiker Zeit fand, den Zeigefinger abermals um den Abzug seiner Waffe zu krümmen.

Die Wirkung folgte augenblicklich. Merwinski ließ beide Arme sinken, Laterne und Revolver entfielen seinen Händen und er selbst sank kraftlos mit ächzendem Laut in sich zusammen. Schwer schlug sein Kopf auf die Fliesen der Vorhalle auf, seine Beine streckten sich wie im Krampf. Dann lag er regungslos da.

Schon hatte der Detektiv die Laterne ergriffen und kniete neben ihm. Aber ein einziger Blick auf die kleine, nur wenig blutende Einschußöffnung, die gerade in der Herzgegend saß, sagte Schaper auch, daß Merwinski nicht nur ohnmächtig war. Dieses Leben mußte in der nächsten Sekunde entfliehen, falls es nicht überhaupt schon geendet hatte.

Mit einem Gefühl stillen Grauens, in das sich bittere Selbstvorwürfe mischten, beobachtete Schaper die Veränderung in den Gesichtszügen des Mannes, der jetzt starr und stumm vor ihm lag. Merwinskis weit aufgerissene Augen verloren den Glanz. Wie ein Schleier legte es sich über die Pupillen. Leichenblässe überzog die Wangen, das ganze Antlitz wurde schmaler, spitzer. – Kein Zweifel mehr: die Kugel hatte nur zu gut getroffen. Der Chemiker war tot. – –

Langsam erhob der Detektiv sich und hinkte zurück nach jener Stelle des Korridors, die vorhin ihm und Bornemann so verderblich geworden war. Weiter schritt er den Gang entlang, um die Biegung herum. Bald hatte er gefunden, was er suchte. Unter einem der vorspringenden Fensterbretter entdeckte er einen eisernen Ring, der etwas in die Mauer eingelassen war. Als er jetzt daran zog, ließ sich der Ring ein ganzes Stück herauszerren. An ihm war eine eiserne Kette befestigt, die nun sichtbar wurde. Noch ein Ruck, ein deutliches Schnappen wie das Einschlagen eines Hakens in die Kettenglieder, und der Ring ließ sich nicht weiter bewegen.

Der Detektiv ging zur Falltür zurück und trat vorsichtig mit einem Fuße darauf. Sie gab nach. Schaper stützte sich nun auf die Hände und setzte sich auf den Dielenboden nieder, indem er gleichzeitig die bewegliche Holzklappe noch mehr herabdrückte, bis er zu Bornemann hinabschauen konnte.

Nachdem er diesen von dem Vorgefallenen kurz verständigt hatte, sannen sie auf ein Mittel, um den jungen Millionär aus dem Verlies zu befreien.

„Es wird nicht anders gehen“, meinte Schaper. „Ich muß versuchen, ob ich nicht das Längsstück des Treppengeländers, das mir vorhin schon recht wackelig vorkam, losbrechen kann.“

Dies gelang nach einiger Anstrengung tatsächlich. Der Detektiv vermied bei dieser Arbeit ängstlich, nach dem Toten hinzusehen, der mit gläsernen Augen in die Höhe starrte.

Für den körperlich wenig geschickten Bornemann war es nicht leicht, mit Hilfe dieser primitiven Kletterstange so weit emporzuklimmen, bis Schaper seine Hände ergreifen und ihn vollends emporziehen konnte.

„Merwinski ist also wirklich tot?“ war seine erste Frage.

Der Detektiv nickte nur.

Dann zogen sie ihre Jacketts, die Schaper glücklich von dem Haken heruntergeangelt, wieder an und verließen das einsame Gebäude, in dem sich soeben ein schreckliches Drama abgespielt hatte. Bornemann warf beim Passieren der Vorhalle nur einen scheuen Blick auf die Leiche Merwinskis. Diese Nacht hatte ihm gezeigt, daß seines Freundes von vielen für so romantisch gehaltener Beruf doch Gefahren barg, von denen sich die Uneingeweihten so leicht nichts träumen ließen.

 

11. Kapitel.

Seine Retterin.

Kriminalkommissar Heinroth, der seinen Kollegen vom Nachtdienst um acht Uhr morgens auf dem Polizeipräsidium in Schöneberg ablöste, war nicht wenig überrascht, als ein Schutzmann ihm kurz nach Übernahme des Dienstes den Detektiv Fritz Schaper meldete.

„Wie – ich denke, Sie sind verreist, Herr Schaper?!“ begrüßte er den ihm persönlich bekannten Detektiv mit einer Liebenswürdigkeit, die einen großen Teil fast ehrerbietiger Hochachtung enthielt.

„Ich wünschte, ich wäre wirklich verreist“, meinte Schaper düster, indem er auf dem ihm angebotenen Stuhle Platz nahm. „Dann hätte ich wenigstens nicht das Unglück gehabt, ein Menschenleben opfern zu müssen, um mein eigenes zu retten“, fügte er ernst hinzu.

Der Kommissar horchte hoch auf.

„Also Sie haben in der Notwehr jemand getötet?“ fragte er unsicher.

„Leider. Es ist das erste Menschenblut, das ich vergossen habe. Und ich werde lange und schwer daran zu tragen haben. Bisher durfte ich den gewünschten Erfolg stets erreichen, ohne zu solchen Gewaltmitteln der Selbstverteidigung greifen zu müssen. Dieses Mal war mir das Schicksal weniger günstig. Es ist einer der von der Polizei seit längerer Zeit gesuchten Banknotenfälscher, den ich erschossen habe.“

Heinroth, ein noch junger Mann, besaß doch schon die für einen Kriminalbeamten so unbedingt notwendige Selbstbeherrschung. So sehr ihn auch diese Nachricht überraschte, so bezwang er doch seine Erregung und bat nur in höflichem Tone:

„Erzählen Sie, Herr Schaper, Sie werden verstehen, wie sehr mich gerade diese Sache interessiert.“

In seiner klaren, übersichtlichen Weise entwickelte der Detektiv nun den Hergang dieser Untersuchung, der es an dramatischen Momenten wahrlich nicht gefehlt hatte. Von allem sprach er, nichts vergaß er – nur eines, und dies mit voller Absicht: Horst-Günther v. Molnars Name, die Rolle, die dieser in dem vorliegenden Kriminalfalle gespielt hatte, wurde mit keiner Silbe erwähnt. Schaper stellte die Sache so dar, als ob die Verbrecher deshalb ihren Banknoten-Vorrat aus dem alten Hause hatten fortschaffen wollen, um ihn mit Hilfe eines von ihnen in ihren Gesprächen nicht näher bezeichneten Bankangestellten in die Kassen eines großen Geldinstituts einzuschmuggeln. Hierbei hoffte er, daß Sagnali, der doch nur halb gezwungen sich zu diesem Schurkenstreich hergegeben hatte, ebenso wie er den jungen leichtsinnigen Menschen schonen dürfte, indem der Italiener nach seiner Verhaftung, die nun unmittelbar bevorstand, ebenso wenig wie er Horst-Günther als Mitschuldigen nennen und dadurch in sein Verderben mit hineinziehen würde. Bornemann hatte der Detektiv ja in gleicher Weise instruiert, so daß auch von dieser Seite keine Gefahr drohte. Auf diese Weise gedachte Schaper unendliches Leid von der ohnehin schon so schwer vom Schicksal niedergedrückten Majorsfamilie fernzuhalten.

* * *

Gegen zehn Uhr vormittags hielt ein Auto vor dem Hause Gerberstraße 14. Ihm entstiegen Kriminalkommissar Heinroth sowie Fritz Schaper – letzterer nur recht mühsam, da sein verletztes Bein ihm böse Schmerzen bereitete.

Mariette öffnete ihnen auf ihr Läuten die Flurtür.

Der Detektiv, der inzwischen seine Maske abgelegt hatte und wieder in seiner wahren Gestalt auftrat, übernahm auch hier die Führung des Gesprächs, die der Kommissar ihm als dem Erfahreneren ohne weiteres überließ.

„Mein Bruder ist nicht zu Hause. Vor ganz kurzer Zeit, vielleicht fünf Minuten, entfernte er sich. Wohin sagte er nicht. Er wollte aber zu Tisch pünktlich wieder hier sein.“

Dies war Mariettes fraglos der Wahrheit entsprechende Antwort auf Schapers Frage, ob Herr Sagnali daheim sei.

„So leid es uns tut, mein Fräulein“, sagte der Detektiv nunmehr, „wir haben hier eine sehr ernste Pflicht zu erfüllen. Gestatten Sie, daß wir nähertreten. Es ist nicht nötig, daß jemand von den Hauseinwohnern uns belauscht.“

Mariette verfärbte sich leicht. Aber dennoch bewahrte sie ihre Haltung, öffnete die Tür zum Arbeitszimmer ihres Bruders und ließ die beiden Herren eintreten. Es konnte sich ja nur um Ernestos Freund, um Franz Merwinski handeln. – Und selbst wenn ihr Bruder diesen in seiner Wohnung verborgen gehalten hatte, so war das doch kein so schweres Vergehen, um sich deswegen allzu sehr zu beunruhigen. – Die Wahrheit ahnte das arme Kind nicht.

Schaper wandte sich jetzt abermals an Mariette, die abwartend neben der Tür stehen geblieben war.

„Dieser Herr da ist ein Kriminalkommissar, mein Fräulein. Er hat den Auftrag, diese Räume zu durchsuchen. Schicken Sie also zunächst die Arbeiterinnen fort. Die Tätigkeit Ihres Bruders als Schablonenfabrikant dürfte für immer vorüber sein.“

Deutlich zeigte sich jetzt auf Mariettes Antlitz der Ausdruck einer zunehmenden Unruhe.

„Dürfte ich bitten, mir zu erklären, worum es sich hier handelt?“ fragte sie unsicher.

„Später, später“, erwiderte der Detektiv kurz, aber nicht unfreundlich. – Mariette verschwand.

Kaum hatte sie das Zimmer verlassen, als Schaper auch schon einen Briefumschlag, der achtlos auf die Schreibtischplatte geworfen zu sein schien, aufnahm und prüfend musterte. Dieser trug Sagnalis Adresse. Auf der Rückseite aber stand in ebenso steilen, energischen Schriftzügen: „Abs.: Max. v. Molnar, Berlin W. 16, Ansbacherstr. Nr. 22.“ Der Stempel zeigte, daß dieser Brief erst gestern abend abgesandt war.

Der Detektiv wußte von Astrid, daß die älteste Molnar Empfangsdame bei einem Professor in Berlin war. Und schnell teilte er dem Kommissar nun seine Vermutung mit.

„Vielleicht erfahren wir von der jungen Dame, wo Sagnali geblieben ist“, meinte er. „Denn daß der Italiener zur Zeit nur einen harmlosen Spaziergang oder eine geschäftliche Besorgung vor sich hat, glaube ich nicht. Das Wahrscheinlichste ist, daß er, durch das Ausbleiben Merwinskis stark beunruhigt, nach dem sogenannten Lagerspeicher geeilt ist, um dort nachzusehen, ob sein Komplize etwa die Banknoten an sich genommen hat und – geflohen ist. Mit dieser Möglichkeit kann er ja immerhin rechnen. Wie soll er sich auch anders die lange Abwesenheit des Chemikers erklären. Begibt er sich aber wirklich nach der Wendelholzgasse, so läuft er unseren dort postierten Leuten in die Arme und ist in diesem Moment vielleicht schon abgefaßt. Wenn nicht – nun, so werden wir jetzt sofort für alle Fälle zu dem Professor gehen und dort Fräulein v. Molnar so etwas ins Gebet nehmen. Sollte mich wundern, wenn dieser Brief, der heute morgen in Sagnalis Hände gelangt ist, nicht auch mit seinem Ausfluge zusammenhängt.“

Eine knappe Viertelstunde später verließen die beiden dann wieder die Wohnung des Italieners und fuhren dem Westen der Reichshauptstadt zu. Vor dem Hause aber blieben zwei Kriminalbeamte in Zivil postiert, die Sagnali, den Schaper ihnen genau beschrieben hatte, sofort festnehmen sollten, wenn er ihnen in die Arme lief.

* * *

Im Wartezimmer Professor Neubers hatte sich indessen zwischen Maximiliane und Ernesto Sagnali eine bewegte Szene abgespielt.

Der Italiener, von der Geliebten mit einem zärtlichen Händedruck empfangen, hatte nicht den geringsten Versuch gemacht, bei der nun folgenden Beichte sein Tun und Lassen irgendwie zu beschönigen. Nur ein Bestreben leitete ihn: sich sein Herz ganz frei zu reden! Und geduldig wollte er dann ihr Urteil hinnehmen.

So sprach er dann zuerst von den Enttäuschungen, die er als Künstler erlebt hatte. Nur kurz streifte er diesen Abschnitt seines Lebens, da das meiste Maximiliane ja schon bekannt war. Ganz eingehend schilderte er erst die Dresdener Zeit, wo man ihn als angeblichen Bilderdieb verhaftet und verurteilt hatte.

„So wahr ich dich mit aller Kraft meines Herzens liebe, Maximiliane, nie habe ich das Bild stehlen wollen“, rief er eifrig. „Nur kopieren wollte ich es, um die Technik daran studieren zu können. Zu diesem Zweck gedachte ich es für einige Wochen aus der Galerie zu entfernen, da gerade das Kopieren dieses Gemäldes streng verboten war. Nachher hoffte ich es dann anonym wieder zurücksenden zu können. Glaube mir, Geliebte: ich hatte damals keine anderen Absichten! – Was sollte ich auch mit dem Bilde, das in der ganzen Welt berühmt und daher völlig unverkäuflich war! – Nein, nur eine Verkettung unglücklicher Zufälle brachte mich damals ins Gefängnis. Die Richter hielten meine Entschuldigungen, meine Erklärungen für glatte Lüge. Kurz vorher hatte ein anderer zwei kleine Stahlstiche aus der Galerie gestohlen, ein Mensch, der nie entdeckt worden ist. Nun schob man mir auch dieses Vergehen zu. So mußte ich für Taten büßen, die ich nie begangen hatte.“

Und dann kam für Sagnali das Schwerste: das Geständnis seines schmachvollen Bündnisses mit Merwinski, der nach seiner Flucht das aus der Papierfabrik geraubte Banknotenpapier aus seinem Versteck in einem verlassenen Steinbruch hervorgeholt und damit zu ihm nach Berlin gekommen war, wo sie die Schablonenfabrik eingerichtet und mit Hilfe der Stanzmaschinen für fast eineinviertel Millionen Mark falsches Papiergeld hergestellt hatten, welches Merwinski in der Weise einzuwechseln suchte, daß er von allen möglichen Postämtern Geldsendungen an Sagnali abschickte, eben in der Hoffnung, bei dem Andrange an den Schaltern würden die Beamten nicht Zeit finden, die ohnehin ja vorzüglich geratenen Falsifikate genau zu prüfen.

Sagnali schonte sich nicht. Ohne aufzublicken ließ er Satz auf Satz folgen – Enthüllungen, die Maximiliane wie Keulenschläge trafen.

Stumm, bleichen Antlitzes saß das junge Mädchen da. Welche Abgründe einer menschlichen Seele schauten ihre Augen hier. – Und das war der Mann, den sie liebte, dem sie nach kurzer Bekanntschaft in die Arme geflogen war, den sie geküßt hatte. – –

Aber es kam noch schlimmer. Horst-Günthers Name wurde genannt. – Ein Plan, wie er nur einem raffinierten, verbrecherischen Hirn entspringen konnte, entrollte sich mit allen Einzelheiten vor ihr.

Endlich, endlich war Sagnali zu Ende.

„Maximiliane“, sagte er leise und erhob sich aus dem Sessel, in dem er bisher vornübergebeugt wie ein Schwerleidender gehockt hatte, „zu meiner Verteidigung habe ich nur eins anzuführen: Nicht um mir die Mittel zu einem ausschweifenden Leben zu verschaffen, beging ich dieses Verbrechen, nein, sondern um die Träume meines künstlerischen Ehrgeizes, der mir wie Feuer die Seele zerfraß, verwirklichen zu können. Mein Verhängnis war meine zu Unrecht erfolgte Bestrafung. Im Kerker lernte ich Merwinski kennen. Er wurde mein böser Geist, er war der geistige Urheber alles dessen, was ich getan. – Mein Urteil weiß ich, Maximiliane. Unsere Wege trennen sich von heute. Lebe wohl! Aber stolz kannst du in dem Gedanken sein, daß du mich gerettet hast. Ich werde nach Italien zurückkehren, werde ein ehrlicher Mensch werden. – Lebe wohl – und habe Dank für die wenigen Stunden reinen Glückes, die du mir geschenkt hast.“

Er wandte sich zur Tür. Aber die erhobene Hand, welche die Türklinke erfassen wollte, sank matt herab.

Draußen hatte die Flurglocke geschrillt – lange, anhaltend, als ob jemand dringend Einlaß fordere.

Sagnali erbleichte. In jagender Hast eilten seine Gedanken. – Merwinski war nicht heimgekehrt. – Vielleicht hatte man ihn verhaftet. – Vielleicht drohte ihm dasselbe Schicksal. – –

Auch Maximiliane war erschreckt zusammengezuckt. Draußen hing doch das Pappschild: „Professor Neuber auf zwei Tage verreist.“ Also konnte es kein Patient sein. – Und sonst? – Doch zu langem Überlegen blieb keine Zeit.

Wieder schlug die Glocke an. Da hob Maximiliane schnell einen an der Rückwand des Zimmers befestigten Vorhang empor, der eine niedrige Tapetentür verdeckte. Dahinter lag ein kleiner Alkoven, in dem der Professor seine Bibliothek aufbewahrte. –

Schaper und Kommissar Heinroth standen jetzt Maximiliane im Wartezimmer gegenüber. Nachdem der Kriminalkommissar sich legitimiert hatte, ging er sofort auf sein Ziel los.

„Ich möchte Sie bitten, mir anzugeben, wo Herr Sagnali, an den Sie, mein Fräulein, gestern abend einen Brief geschrieben haben, sich zur Zeit aufhält.“

Absichtlich hatte der Kommissar auf Schapers Vorschlag hin dieser Aufforderung eine so unbestimmte Fassung gegeben.

In dem schönen Gesicht des jungen Weibes spiegelte sich auch nicht eine Spur von dem wilden Seelenkampfe wider, der in ihrem Innern tobte.

„Ich begreife nicht, wie die Herren gerade von mir die Auskunft haben wollen?! Ich weiß nicht, wo Herr Sagnali ist.“ Das klang so ruhig und stolz, daß selbst der Detektiv sich täuschen ließ.

Mit einer Entschuldigung entfernten die beiden sich wieder.

Wenige Minuten später. – –

Sagnali liegt vor Maximiliane auf den Knien. Er weint und schluchzte, bedeckte ihre Hände mit Küssen.

Und dann streichelte sie sanft sein dunkles, leicht gewelltes Haar, zog ihn empor und lächelte gütig. –

„Ich will deine Retterin bleiben“, sagte sie einfach. „Du brauchst eine starke Hand, die dich stützt.“

* * *

Die Polizei entwickelte noch an demselben Tage eine fieberhafte Tätigkeit, um des flüchtigen Italieners habhaft zu werden. Aber trotzdem alle Bahnhöfe der Reichshauptstadt sofort abgesperrt wurden und der Telegraph nach allen Richtungen spielte, blieb Ernesto Sagnali verschwunden. Daß er, von Maximiliane sehr geschickt als Dame verkleidet, geflohen war, ahnte niemand. Sein jetzt glattrasiertes und gepudertes Gesicht sowie die gutsitzende Perücke machten die Maskerade so vollständig, wie kein Theaterfriseur es hätte geschickter fertig bringen können.

Zu derselben Nachmittagsstunde, als der Italiener in einem gemieteten Auto zunächst nach Frankfurt an der Oder fuhr, um von dort seine Flucht fortzusetzen, hatte Schaper mit Horst-Günther v. Molnar, den er vor dem Gebäude der Zentralbank nach Geschäftsschluß erwartet hatte, eine sehr ernste Unterredung.

Der Detektiv gab sich dem jungen Menschen, der beinahe zum Verbrecher geworden wäre, als der Zimmerherr seiner Mutter zu erkennen und hielt ihm dann eine Strafpredigt, die Horst-Günther schweigend hinnahm.

„Nur aus Rücksicht auf Ihre Familie habe ich Sie geschont“, sagte er streng. „Lassen Sie sich dieses Vorkommnis, bei dem Sie leicht mit dem Gefängnis hätten Bekanntschaft machen können, zur Warnung dienen.“

Horst-Günther stammelte ein paar unverständliche Dankesworte. Er war völlig gebrochen. Jetzt, wo der Detektiv ihm gezeigt hatte, welche Folgen sein Leichtsinn hätte haben können, erkannte er erst, wie weit es schon mit ihm gekommen war. Dieses Abenteuer wurde für ihn so zur heilsamen Lehre. Einmal war er vom rechten Wege abgewichen. Er tat es nie wieder. –

Gleich darauf fuhr Fritz Schaper zu Geheimrat Winter, dem er alles Nötige mitteilte.

„Wir haben nicht nur die sämtlichen falschen Banknoten, sondern auch die Papiervorräte in dem alten Hause gefunden – erstere bei dem toten Merwinski, letztere in einem Versteck unter einer Diele eines Zimmers des Obergeschosses“, erklärte er im Laufe seiner Ausführungen. „Damit ist die Sache erledigt, Herr Geheimrat. Für mich wird die Angelegenheit kein unangenehmes Nachspiel haben, da ich ja in Notwehr auf den Chemiker feuerte.“ –

Mariette Sagnali fand fürs erste bei Molnars eine freundliche Unterkunft. Dann reiste sie nach ihrer Heimat, wo ein entfernter Verwandter ihrer Mutter sich ihrer annehmen wollte. Die Majorin aber war nicht wenig erstaunt, als sie einen Tag nach Sagnalis Flucht von dem Kolporteur Bernhard Marlow, der seine Wohnung so plötzlich verlassen hatte, einen Brief erhielt, in dem er ihr mitteilte, er sei zu seinem Bedauern genötigt, sofort auszuziehen und werde seine Sachen am Nachmittag abholen lassen. Dem Schreiben lag der Miets- und Pensionspreis für ein Vierteljahr bei. – Es erschien dann wirklich ein elegant gekleideter Herr bei Molnars, der einen schriftlichen Ausweis Bernhard Marlows mitbrachte und dessen Kleider, Bücher usw. in die Koffer verpackte. Astrid, hilfsbereit wie immer, leistete dem Fremden, der sich als „Herr Müller“ und intimer Freund des Kolporteurs vorgestellt hatte, bei dieser Gelegenheit Beistand. Und nachher sagte Astrid zu ihrer Mutter, die den Fortzug des freundlichen Herrn ehrlich bedauerte, in ihrer offenen Art:

„Herr Müller sah wirklich aus wie ein Schauspieler mit seinem bartlosen Gesicht und seinen scharf markierten Zügen. Trotzdem er nun bedeutend jünger war wie unser lieber Marlow, gefiel er mir doch nicht so gut wie dieser.“

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Maximiliane v. Molnar verließ ein halbes Jahr später Deutschland und nahm eine Stellung als Erzieherin in Valparaiso in Südamerika an. Dort heiratete sie bald darauf einen Farmbesitzer namens Ernst Meinhard. Als das junge Paar der Majorin sein Bild schickte, meinte Horst-Günther verwundert:

„Ich kann mir nicht helfen – dieser Schwager hat eine merkwürdige Ähnlichkeit mit Sagnali. Meinst du nicht auch, Mama?“

Die Majorin zuckte die Achseln. „Ähnliche Gesichter findet man häufig, mein Junge. Wem mein Schwiegersohn ähnlich sieht, ist mir ganz gleichgültig. Die Hauptsache bleibt, daß Maximiliane offenbar sehr, sehr glücklich ist.“

Und das war auch tatsächlich der Fall.