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Das namenlose Schiff

 

Argus-Kriminal-Bibliothek

 

Das namenlose Schiff.

 

 

I. Teil

 

Die Glücksinsel.

 

1. Kapitel.

Endlich nach fünf wilden Sturmtagen hatte sich der furchtbare Orkan, der den von Samoa nach San Franzisko bestimmten deutschen Frachtdampfer ‚Herta‘ aus seiner Fahrtrichtung verschlagen hatte, soweit gelegt, daß auch die unter den fünfzehn Reisenden befindlichen Damen sich wieder an Deck wagen konnten.

Die beiden auf der ‚Herta‘ befindlichen teuersten weit geräumigsten Kabinen hatten für diese Fahrt eine junge Deutsch-Amerikanerin, Fräulein Alice Baumert, zusammen mit einer älteren Gesellschaftsdame, einer waschechten Engländerin, inne, während die billigste, eigentlich nur einen besseren Verschlag, ein Deutscher namens Marten bewohnte. Dieser war Alice Baumert bereits auf Samoa vorgestellt worden, wo deren Vater eine große Zweigniederlassung besaß, die in letzter Zeit einen derartigen Aufschwung genommen hatte, daß der alte Baumert sich veranlaßt fühlte, dort einmal persönlich nach dem Rechten zu sehen und sein San Franziskoer Hauptgeschäft so lange der Obhut eines bewährten Prokuristen zu überlassen.

Auf dieser Reise, die zunächst für ein halbes Jahr veranschlagt war, hatte ihn sein einziges Kind, die nach dem Tode der Mutter doppelt verhätschelte und verwöhnte Alice, unter der Ehrenobhut von Miß Fargeson begleitet. Aber der Aufenthalt in Samoa dehnte sich infolge allerlei Umständen schließlich derart aus, daß Alice sich auf Samoa bald fürchterlich langweilte und dann auch durchsetzte, daß der Vater ihr die Erlaubnis gab, ohne ihn unter dem Schutze der englischen Gesellschafterin nach Frisko, wie die Kalifornier ihre Hauptstadt nennen, zurückzukehren.

Fritz Marten, der aus der vorläufigen Zweck- und Ziellosigkeit seines Daseins gar keinen Hehl machte, war ungefähr zu derselben Zeit nach Samoa gekommen wie die kleine amerikanische Reisegesellschaft, hatte bei einer deutschen Firma seine Empfehlungsbriefe abgegeben und daraufhin eine Anstellung als Korrespondent erhalten, die jedoch einmal sehr bescheiden bezahlt wurde, dann aber auch, wie der Inhaber dieses Postens sehr schnell herausmerkte, nicht die geringste Aussicht auf ein baldiges Vorwärtskommen bot.

Das Dunkel, das zunächst über Martens Person geschwebt und ihm daher der deutschen Kolonie interessant gemacht hatte, war bald gelichtet worden, da er wie gesagt jedem, der es hören wollte, erzählte, daß man ihn, nachdem er sich in allerlei Berufsarten drüben in der Heimat vergeblich versucht hatte, als ‚europauntauglich‘ nach den Kolonien abgeschoben habe. Was er jedoch ursprünglich gewesen war – eine Anzahl Hiebnarben auf der Stirn und der linken Backe deuteten auf eine akademische Studienzeit hin –, erfuhr niemand. Allzu neugierige Frager fertigte Marten mit einer liebenswürdigen Grobheit ab, die ihm, weil sie nur zu häufig mit treffendem Witz und beißender Ironie getränkt war, als Anmaßung ausgelegt wurde und die Zahl der ihm Wohlgesinnten ständig verringerte.

Alice Baumerts Auftauchen auf Samoa richtete nun in den Köpfen der dortigen ‚salonfähigen‘ Europäer eine ziemlich heillose Verwirrung an, da die Millionen einer reichen Erbin erfahrungsgemäß zuerst recht prosaische, gewinnsüchtige Gedanken hervorrufen, die dann stets durch angebliche ‚reine Herzenswünsche‘ bei der beginnenden Jagd auf das Goldfischlein mehr oder weniger geschickt verschleiert werden.

Zu Fritz Martens Ehrenrettung sei hier jedoch gleich erwähnt, daß er diesen allgemeinen Tanz um das goldene Kalb, welches damals auf Samoa allerdings durch eine sehr liebreizende, aber ebenso eigenwillige junge Dame verkörpert wurde, in keiner Weise mitmachte.

Man kann nicht gerade sagen, daß das Verhältnis der jungen Kalifornierin – sie war in der alten Minenstadt Sakramento geboren und nicht wenig stolz darauf – zu dem Korrespondenten von Schleswiger & Co. ein schlechtes gewesen wäre. Eigentlich war es gar keins. Beide beschränkten sich bei den häufigen Begegnungen im größeren Kreise auf einen kühlen Gruß, wechselten wohl auch hier und da ein paar Worte, wobei die blonde Alice stets kalt und unnahbar wie ein Eisblock tat, und Fritz Marten sie dafür durch sein Monokel ebenso regelmäßig mit ironischer Überlegenheit musterte.

Im Gegensatz zu seiner Tochter hatte der alte Baumert, ein ebenso gerissener wie menschenkundiger Geschäftsmann, sehr bald an dem Deutschen geradezu einen Narren gefressen. Und er war es auch, der Marten eines Tages in seinem verdorbenen Deutsch ansprach – ersterer sprach nämlich, obwohl er fünf fremde Sprachen fließend beherrschte, nur im äußersten Notfall etwas anderes als Deutsch und verlangte auch eine ebensolche Antwort.

„Mann“, hatte der Millionär gesagt und ihn dabei derb auf die Schulter geschlagen, „das hier ist doch kein Feld der Tätigkeit für Sie! Wenn’s Ihnen paßt, so kommen Sie zu mir nach Frisko. Einhundert Dollar monatlich Anfangsgehalt. – Einverstanden?“ –

Worauf Marten in die dargebotene Hand eingeschlagen hatte mit einem kurzen: „Abgemacht!“ Er wußte ja, daß er hier in Samoa nie Seide spinnen würde. Dazu gab’s zu viele, die sich nach den freien Stellen rissen.

Alice Baumert hatte die Nachricht, daß Fritz Marten in kurzem zu den Angestellten ihres Vaters gehören würde, mit derselben Gleichgültigkeit hingenommen wie den Vorschlag ihres Vaters, daß der ‚anmaßende‘ Deutsche für die Überfahrt nötigenfalls ihren Beschützer spielen könne. Beim Abschied hatte Baumert das Wohl seines Kindes Marten nochmals warm ans Herz gelegt und ihm ebenso einen Vorschuß angeboten, wozu der aber nur geäußert hatte: „Wenn’s die Umstände verlangen, wird Ihre Tochter mich zu jeder Hilfeleistung bereit finden. Vorschuß – nein! Danke! Ich habe mich Ihnen nur auf ein Probevierteljahr verpflichtet in dem Gefühl, daß auch die Stellung bei Ihnen die bisherige Ziellosigkeit meines Lebens nicht bessern wird. Vorschuß verpflichtet – und ich will freie Hand haben!“

So bezog Fritz Marten denn die billigste Kabine auf dem Hinterdeck, während die beiden seiner Fürsorge anvertrauten Damen vornehm im Mittelaufbau der ‚Herta‘ ein Unterkommen gefunden hatten. –

Der Dampfer, dem die Sturmtage ziemlich übel mitgespielt hatten, schlingerte in der noch sehr hoch gehenden See wie ein Betrunkener hin und her. Trotzdem arbeiteten die Matrosen mit Feuereifer, um die aus Palmölfässern bestehende Decklast, die stellenweise ins Rollen gekommen war und sich verschoben hatte, wieder ordentlich zu vertauen.

Kurz nach neun Uhr morgens erschien auch Alice Baumert an Deck. Marten, der neben Kapitän Bolling auf der Kommandobrücke stand, machte ihr lediglich eine steife Verbeugung und lächelte sein berüchtigtes ironisches Lächeln, als Bolling sich nun wortreich nach dem Ergehen der jungen Damen erkundigte.

Nachdem der dicke Kapitän Bolling seine Höflichkeitsfragen vom Stapel gelassen, Alice aber kurz und ausweichend geantwortet hatte, sagte Marten, indem er seine Pfeife wieder zwischen die blendend weißen Zähne schob:

„Also Ihrer Berechnung nach befinden wir uns jetzt genau auf der Mitte zwischen den Hawaii- und den Galapagos-Inseln. Da sind wir von dem gewöhnlichen Dampferwege also sehr weit abgekommen.“

„Sehr weit,“ knurrte Bolling. „Jedenfalls verdient dieser Teil des Großen Ozeans, in dem wir uns jetzt befinden, mit Recht den Namen ‚Stiller Ozean‘, wie man den ‚Großen‘ ja auch nennt; denn hierhin verirrt sich sogar ein stinkender Walfischfänger höchst selten, und Land gibt es hier im Umkreise von einigen hundert Seemeilen nicht.“

Die Sonne, deren Stand an dem von grauen Dunstmassen überzogenen Himmel bisher als ein heller Fleck sichtbar gewesen war, hatte sich in der letzten halben Stunde wieder gänzlich versteckt. Die bleigraue See, die in träger Dünung auf- und abwogte, nahm immer mehr eine tintenähnliche Färbung an. Auch der Wind war jetzt völlig eingeschlafen. Dazu lagerte über dem endlosen Meere eine so drückende, feuchtwarme Hitze, daß die geringste Bewegung den Schweiß aus allen Poren trieb.

Bolling hatte mit Marten das Thema der Einsamkeit dieser Meeresteile weiter erörtert. Jetzt rief ihm der Erste Steuermann, der eben aus seiner Kabine kam, mit seiner rauhen Grogstimme zu: „Käpten – in zehn Minuten um achtzehn Striche gefallen!“

Diese Nachricht von dem unheimlich schnellen Sinken des Barometers gab dem dicken Bolling einen ordentlichen Ruck durch den Körper.

„Jungs, sput’ euch!“ schrie er nach dem Vorderdeck hin, wo die Leute noch schweißtriefend die schweren Fässer verstauten. „Der Tanz beginnt von neuem!“

Der Kapitän hatte nur richtig prophezeit. Eine Stunde später schon war die ‚Herta‘, der eine dicke Insel treibenden Seetangs die Schraube unklar gemacht hatte, ein Spielball des neu entfachten, noch ärgeren Orkans.

Eine furchtbare Welle spülte den armen Bolling gerade in dem Augenblick von der Kommandobrücke in die See, als die schwerere Deckslast abermals ins Rutschen kam, sich dann auf der Steuerbordseite übereinander türmte und dem infolge der Schraubenhavarie steuerlosen Fahrzeug eine schwere Schlagseite gab, so daß der Bug des Dampfers jetzt fortgesetzt von den unheimlichen Wogen überflutet wurde.

Der stets etwas angeheiterte, jetzt aber total betrunkene Steuermann, der nunmehr das Kommando übernahm, zeigte sich der Lage in keiner Weise gewachsen. Als einer der Maschinisten meldete, daß im Vorschiff ein Leck entstanden sein müsse, ließ er, nachdem einige Fässer Öl zur Beruhigung der tobenden See über Bord gegossen waren, zunächst die Boote zu Wasser bringen, was auch leidlich gelang.

Die angstzitternde Miß Fargeson, die Alice Baumert eng umschlungen hielt, sollte ebenso wie die anderen Passagiere in das Langboot einsteigen, das eben zum Ausschwingen klar gemacht wurde. Jetzt wandte sie sich an Marten, der einige Schritte abseits von dem Haufen der vor Furcht halb wahnsinnigen Menschen stand und mit unerschütterlicher Ruhe den Steuermann beobachtete, der wie ein Tollhäuser die widersinnigsten Kommandos abgab und offenbar völlig den Kopf verloren hatte.

„So kommen Sie doch, Herr Marten,“ rief sie in deutscher Sprache. „Sie werden uns in dieser schrecklichen Situation doch nicht allein lassen.“

„Nur dann, wenn Sie auf mich nicht hören,“ brüllte Marten, um sich nicht nur der Engländerin, sondern auch den übrigen verständlich zu machen. „Ich habe schon einmal gesagt, daß ich es für einen Wahnsinn halte, das Schiff zu verlassen. In dem Sturm kann sich kein Boot halten. Die ‚Herta‘ hat wasserdichte Abteilungen und kann gar nicht wegsacken, falls die Wellen sie nicht auseinander schlagen, was aber bei ihrer Eisenkonstruktion fast unmöglich ist.“

Doch niemand hörte auf ihn. Nur Alice Baumert löste sich von ihrer Begleiterin, drängte von der Reling weg und stolperte auf ihn zu.

„Herr Marten – ist das wirklich Ihre feste Überzeugung?“ fragte sie, sich an denselben Eisengriff des Ventilators anklammernd, der auch ihm auf dem nassen Verdeck einigen Halt bot.

„Ja!“ schrie er dicht an ihrem Ohr, um das Heulen des Orkans zu überbieten. „Ja – und ich beschwöre Sie – bleiben Sie!“

„Gut ich bleibe!“ sagte sie da fest. Er verstand die Worte bei dem fürchterlichen Lärm ringsum nur halb. Aber ihr Gesicht, dessen Mienen das Starre verloren hatten, verrieten ihm den Rest.

Inzwischen war auch das Langboot von der ‚Herta‘ abgestoßen. Soweit die Wirkung des Öls reichte, war die See, im Umkreise von zweihundert Metern etwa, tatsächlich ruhiger geworden. Und dies war auch die Strecke, die man bei der trotz der frühen Nachmittagsstunde herrschenden Dunkelheit übersehen konnte.

Jetzt hatte das Langboot diese Grenze unter den kräftigen Ruderschlägen der Matrosen erreicht und verschwand in den Dunstschleiern.

„Ich fürchte, wir werden die Ärmsten nie wiedersehen,“ sagte Marten wie zu sich selbst. Dann raffte er sich auf. „Gehen Sie in eine der Kabinen des Mittelganges, Fräulein Baumert,“ stieß er hastig hervor. „Ich habe jetzt zu tun. Sie können mir nichts nützen.“

Aber sie blieb trotzdem. Während er mit einer Axt einem der auf der Steuerbordseite zu einem wüsten Haufen aufgetürmten Palmölfässer nach dem anderen den Boden einschlug, so daß der Inhalt durch die Abflußlöcher der Reling in dicken Strahlen sich in die See ergoß und um die ‚Herta‘ einen immer weiteren schützenden Kreis bildete, stand sie an der Vorschifftreppe und hielt sich dort an derem eisernen Geländer fest. Der Sturm hatte längst ihr Haar gelöst, das nun mit wehenden Strähnen das Gesicht umflatterte. Unablässig beobachtete sie den Mann, der immer wieder, oft von überkommenden Wogen überrollt wie in einem Fontänenregen stehend, seine Axt auf die Holzfässer niederschmettern ließ.

Langsam richtete der Dampfer nach halbstündiger Arbeit sich wieder auf, nachdem auch das letzte leere Faß von Martens kräftigem Arm über Bord geschleudert war. Nun kam er auf sie zu, nickte aufmunternd und sagte: „So, das wäre getan. Merken Sie, wie still die See rings um uns geworden ist? Das Öl ist doch wirklich ein vorzügliches Mittel bei solchen Anlässen. Der Mensch schluckt Bromkali, um sich zu beruhigen. Dem Meere muß man einen Eßlöffel Palmöl verschreiben. –

Nun seien Sie aber bitte folgsam, Fräulein Baumert. Die größte Gefahr ist für den Dampfer vorläufig beseitigt. Sie aber sind bis auf die Haut durchnäßt und werden sich unfehlbar erkälten, wenn Sie sich nicht sofort umkleiden. Ich werde indessen in den Raum hinabsteigen, um nachzusehen, ob es mit dem Leck wirklich so schlimm ist.“

Folgsam wie ein Kind ließ sie sich zu ihrer Kabinentür geleiten.

 

2. Kapitel.

Fritz Marten tat in der Nacht, die auf diesen neuen Sturmtag folgte, kein Auge zu. Denn der Dampfer sank langsam. Daran war nichts zu ändern. Die schweren Sturzseen, die das steuerlose Schiff nur zu oft mit voller Wucht getroffen und wie mit einer Riesenfaust in die tiefen Wellentäler hinabgeschmettert hatten, mußten mehrere der Bodenplanken losgeschlagen haben, zumal die ‚Herta‘ auch häufig unter einem Wasserberge vollständig verschwand und dabei durch die undicht gewordenen Ladeluken von oben vollschöpfte.

Gewiß, der Orkan hatte erheblich nachgelassen, war aber noch immer stark genug, um den Dampfer nach Belieben hin und her schleudern zu können. Die besänftigende Wirkung des Öles war ja längst vorüber, da die Wogen die Fettschicht immer mehr verteilt und in wenigen Stunden ganz fortgetrieben hatten.

Auch Alice Baumert war wachgeblieben. Gegen Mitternacht gelang es ihr, in der Schiffsküche für sich und ihren Leidensgefährten frischen Tee aufzubrühen. Dazu aßen sie Brot und Fleischkonserven.

Sehr schnell hatten sie sich in einen zwanglosen, kameradschaftlichen Verkehrston eingewöhnt. Marten war ein völlig anderer geworden. Nicht minder das junge Mädchen. Die gemeinsame Todesgefahr, die beide bedrohte, enthüllte jetzt die wahren Charakteranlagen dieser beiden Menschen, die bisher aus ihrer gegenseitigen Abneigung kein Hehl gemacht hatten.

Als der Tag anbrach, verschwanden auch die Dunstmassen, die wie zähe, undurchsichtige Schleier über dem Meer gelagert hatten. Immer heller und klarer wurde es ringsum. Aber noch immer rollten die Wogen vor dem aus Westen blasenden Orkan wie drohende Berge gen Osten, rissen die ‚Herta‘ von Wellental zu Wellental, wirbelten sie oft wie einen Kreisel umher, als ein willenloses Spielzeug der empörten Naturgewalten.

Marten, der wieder in den Raum hinabgestiegen war, um die Zunahme des eindringenden Wassers festzustellen, hatte dort mit Entsetzen gesehen, daß das gierige Element bereits bis zur halben Höhe des Maschinenraumes angewachsen war, – also in einer Stunde um etwa drei Fuß. Eine kurze Berechnung sagte ihm weiter, daß die ‚Herta‘ sich somit höchstens noch einige Stunden halten könne, da mit dem Tiefersinken des Rumpfes notwendig die Wellen immer häufiger das Deck überfluten mußten, und durch die Luken noch mehr Wasser eindringen würde.

Aus seinen trüben Gedanken schreckte ihn die Stimme Alice Baumerts auf. Das Mädchen war ihm nachgeklettert und stand auf der schmalen, in den Maschinenraum hinabführenden Treppe.

„Herr Marten – Herr Marten, – wir treiben auf eine Insel zu. Kommen Sie schnell …!“

Im Nu waren sie wieder auf Deck. –

Wahrhaftig – da, keine zwei Seemeilen nach Osten zu, ragte aus der wildbewegten See ein kleines, einsames Felseneiland empor. –

Noch immer voll ungläubigen Staunens starrte Marten die zerrissenen Felsschroffen an, gegen die das Meer mit furchtbarer Wut stets aufs neue seine Wellenberge anstürmen ließ. Das Donnern dieser Brandung, deren weißer Gischt die Insel wie mit einem hellen, leuchtenden Schleier umgab, tönte bis zu den beiden Schiffbrüchigen herüber wie eine neue Todesdrohung. Wurde die ‚Herta‘ gegen dieses Felsgestade geworfen, so gab es keine Rettung. Die Brandung mußte alles Leben notwendig vernichten.

Kaltes Entsetzen kroch dem Manne zum Herzen. Er hatte ja gehofft, daß die Entscheidung, der Endkampf mit dem mordgierigen Meere, erst nach Stunden erfolgen würde. Jetzt sah er, wie kurz nur noch die Spanne Zeit bemessen war, die ihm für seine letzten Vorbereitungen verblieb. Doch ein Blick nach dem Eiland hinüber, ein Prüfen, Berechnen. Kein Zweifel! Der Dampfer wurde gerade nach der Insel hingetrieben und mußte in einer knappen halben Stunde zerschellen.

Da wieder die Stimme des jungen Mädchens, jetzt voll unterdrückten Jubels …: „Sehen Sie – da rechts, – ein Schiff – ein Schiff! Soeben fährt es um die Insel herum.“

Es war eine schlanke, weißgestrichene Dampfjacht, die jetzt in schneller Fahrt die dem Eiland südlich vorgelagerten Riffe umsteuerte und dann auf die ‚Herta‘ zuhielt. Es mußte ein Schiff mit sehr großer Maschinenkraft sein, da es sich fast unheimlich rasch näherte.

Marten eilte nach der Kajüte des Kapitäns und holte sich ein Fernrohr. Durch das Glas vermochte er nun deutlich die Jacht zu übersehen, die trotz des schweren Seeganges nur wenig stampfte und dadurch ihre Seetüchtigkeit aufs beste bewies. An der Reling des fremden Schiffes drängte sich eine große Menge von Menschen zusammen, die unverwandt nach dem havarierten Frachtdampfer hinüberblickten.

Immer näher kam die elegante Jacht, eine dichte Rauchfahne aus ihren zwei etwas schräg stehenden Schornsteinen hinter sich lassend. Die beiden Schiffbrüchigen sprachen kein Wort. Die freudige Erregung machte sie stumm. Fritz Marten ließ das Fernrohr nicht von den Augen.

Da – jetzt fiel der schlanke Dampfer etwas nach Backbord ab, beschrieb einen kurzen Bogen um die ‚Herta‘ und … und …

Marten drückte seiner Gefährtin das Glas in die Hand, riß sich sein Jackett vom Körper, sprang auf die Kommandobrücke und schwenkte es wild hin und her. Es half nichts. Das Fernrohr hatte ihm das Richtige gezeigt, die Jacht, von der die beiden Unglücklichen unfehlbar bemerkt worden waren, stürmte mit westlichem Kurs davon, ohne auch nur den Versuch gemacht zu haben, die Unglücklichen von dem treibenden Wrack zu retten. –

Das als Notflagge benutzte Jackett sank herab. Mechanisch zog Fritz Marten es wieder über. „Die Schufte!“ preßte er zwischen den Zähnen hervor, „die elenden Schufte!“ Dann warf er einen Blick nach dem Felseneiland hin, nach dem weißen Brandungsschleier, dem man bereits auf eine knappe Seemeile nahe gekommen war. Das Tosen und Brüllen der gegen das Eiland anlaufenden Wogen war schon hier in seiner ganzen furchtbaren Stärke zu vernehmen. Wie lange noch – und zwei zerfetzte Leichname würden dort von einer Welle an den schmalen Strand geworfen werden …! –

Wieder biß Marten die Zähne knirschend zusammen. Ein Blick nach West hatte ihn belehrt, daß die Jacht unverändert ihren Kurs beibehielt. Sie war nur noch undeutlich als weißer Fleck dort draußen am Horizont zu erkennen.

Schon wollte Fritz Marten die Kommandobrücke verlassen, als abermals etwas Unerwartetes seine Aufmerksamkeit fesselte. Nochmals schaute er hin, seine Augen weiteten sich … Kein Zweifel, – um das Eiland mußte eine kräftige Strömung in nördlicher Richtung herumgehen, deren Einfluß die ‚Herta‘ unwiderstehlich folgte. Sie trieb jetzt nach Nord um sie herum, so daß die gefährliche Brandung zur Rechten liegen blieb.

Und wie wirkte diese Strömung …! Der Dampfer schoß jetzt förmlich vorwärts, dicht vorbei an ganzen Reihen von Riffen, die unter der Wasseroberfläche verderbenbringend lauerten.

Im Augenblick war Martens Entschluß gefaßt. Er eilte auf das Vordeck hinab, wo Alice Baumert kraftlos, bleichen Antlitzes an der Wand des Mittelaufbaus lehnte. Als sie ihn erblickte, hob sie nur die Hand und wies auf den feinen, verschwindenden Rauchstreifen der Dampfjacht hin.

„Sadi Sahikari,“ sagte sie wie im Traum. „Sadi Sahikari mit seiner ‚Sonne‘.“

Marten schaute sie fragend an. Aber jetzt war keine Zeit Erklärungen zu fordern. Fliegenden Atems setzte er ihr seine Absichten auseinander.

„In spätestens zwei Stunden wird die ‚Herta‘ sinken. Wir müssen also versuchen, jenes Eiland zu erreichen. Legen Sie noch zwei Korkwesten an. Ich werde Ihnen dabei helfen. Und – haben Sie Mut! Ich werde Sie retten!“

Die drei dicken Schwimmwesten schützten wie ein Panzer den Leib des jungen Mädchens. Auch Marten sicherte sich in gleicher Weise vor einem Anprall an die Felsen. Dann packte er in einen Ölmantel, den er wie einen Sack fest verschnürte und mit Hilfe mehrerer daran gebundener Schwimmgürtel vor dem Sinken bewahren wollte, allerlei Gegenstände eiligst ein, die ihnen später von Nutzen sein konnten.

Inzwischen war die ‚Herta‘ mit der Strömung an der äußeren nördlichen Riffreihe entlang getrieben. Schon zweimal war der Schiffsboden mit heftigen Stößen auf verborgene Felskanten getroffen, jedoch ohne daß der Dampfer sich festrannte. Im allgemeinen war die See hier etwas ruhiger, da eine weit nach Nord vorragende Felsenzunge, auf der unzählige Seevögel kreischend Rast hielten, den stärksten Wogenprall auffing.

Fritz Marten schaute scharfen Auges unausgesetzt nach dem Eiland hinüber. Das Verdeck der ‚Herta‘, die sich immer schneller füllte, lag kaum noch einen Meter über der Wasserfläche. Schwerfällig hin und her schwankend trieb sie dahin wie ein sterbendes Seeungeheuer. – Da – wieder eine Barriere zackiger Felsschroffen, und dahinter ruhiges Wasser. Marten ergriff schnell das Bündel, an das er eine lange Leine befestigt hatte, und warf es über Bord. Das Ende der Leine hatte er sich um den Arm geschlungen.

„Springen Sie!“ befahl er kurz. –

Gerade neigte der Dampfer sich tief nach Backbord, so tief, daß das Wasser über die Reling sich auf das Deck ergoß. So wurde es kein Sprung, sondern ein sanftes Hinabgleiten in das nasse Element. Marten folgte der Gefährtin sofort. Nun galt es schleunigst aus der Strömung sich in das stille Wasser hinter der Felsbarriere hinzuarbeiten. Zum Glück war Alice Baumert ebenso gewandt und ausdauernd im Schwimmen wie Marten, so daß er sie nur wenig zu unterstützen brauchte und dafür seine überflüssigen Kräfte dem Bündel widmen konnte, das er wie eine mächtige, aufgeblasene Stoffkugel hinter sich herzog.

Der Kampf mit der Strömung war schwer, aber er gelang. Zuerst erreichte Marten ein flaches Riff, kletterte hinauf und streckte dann seiner Leidensgenossin hilfreich die Hände entgegen. Der Weg bis zum Ufer der etwa zweihundert Meter entfernten Insel bot weiter keine besonderen Schwierigkeiten, wenn die beiden auch noch des öfteren kurze Strecken schwimmend zurücklegen und auch viele schlüpfrige, aus dem Wasser hervorragende Felsen übersteigen mußten.

Jetzt war der schmale Sandstreifen des Ufers, der weiterhin sehr bald in Felsgeröll überging, erreicht. Erschöpft ließ das junge Mädchen sich niedersinken. Die furchtbare Nervenanspannung dieser letzten Stunden löste nunmehr einen heftigen Tränenstrom bei ihr aus. Marten setzte sich neben sie und wartete. Sie würde schon wieder ruhiger werden.

„Fräulein Baumert,“ sagte er dann, als er bemerkte, daß ihre Tränen nachgelassen hatten, „ich werde mich für eine Viertelstunde hinter jenen großen Stein setzen. Nehmen Sie sich aus dem Bündel alles Nötige heraus, um sich umkleiden zu können. Die drei Felsplatten dort schützen Sie gut gegen den Wind. –

Auf Wiedersehen.“ Und schon schritt er davon.

Alice gehorchte schweigend. Als sie ihm dann in einem dunkelblauen, fußfreien Sportkleid wieder gegenübertrat, leuchteten ihre Augen in aufrichtiger Dankbarkeit. Beide Hände streckte sie ihm entgegen, ohne alle Ziererei, und sagte warm: „Nie werde ich Ihnen vergessen, was Sie für mich getan haben, Herr Marten!“

Er lächelte fast heiter. „Also mußte erst ein Schiffbruch kommen, um uns zu guten Freunden zu machen.“ Er drückte ihre Finger mit Kraft. „Lassen Sie uns treue Kameradschaft halten! Wer weiß, was uns noch bevorsteht.“

Nach kurzer Rücksprache begannen die beiden Leidensgefährten nun die felsigen Uferberge zu erklimmen, um von deren nahe gelegener, scheinbar höchsten Erhebung einen Überblick über das rettende Gestade zu gewinnen, das sich ihnen von der bisher gesehenen West- und Nordseite als eine ziemlich kreisrunde Insel dargestellt hatte.

Der Aufstieg zu dem etwa vierzig Meter hohen Kamm des Felsmassivs, das aus dem Geröll wie eine mächtige, das Ufer schützende Mauer emporwuchs, ging ohne große Beschwerden von statten.

Nun waren sie oben, nun schweiften ihre Blicke voll banger Neugier in die Runde. Von ihrem Standort aus vermochten sie das Eiland in seiner ganzen Ausdehnung bequem zu überschauen. Der Felsenkranz säumte das Ufer nur auf der Ostseite und zur Hälfte im Norden und Süden ein, während der übrige Strand einen zum Teil zerklüfteten, aber stellenweise auch flachen und sandigen Charakter hatte. Nach Südwesten hin war der Insel eine Unmenge abenteuerlich geformter Klippen vorgelagert, die weiterhin in mehrere Riff-Barrieren überging, um die dauernd die weißen Gischtwellen einer starken Brandung aufbäumten. Durch diese zum Teil haushohen Klippen, die wie eine schmale Halbinsel sich kilometerweit ins Meer erstreckten, zog sich wohl nur von hier oben bemerkbar, eine riffreie Fahrrinne als blinkender Wasserstreifen hin und verbreiterte sich, fast bis in die Mitte des Eilandes einschneidend, zu einer sicherlich vor allen Stürmen aufs beste geschützten Bucht. Auf den terrassenartigen Abstufungen der felsigen Uferhöhen aber grünte und blühte eine reiche Vegetation. Bäume, Sträucher und grüne Grasflächen nahmen dem Eiland den ersten Eindruck der starren, kalten Unfreundlichkeit. Um das Nordufer der Bucht zog sich sogar bis zum Strande ein dichter Wald von hochstämmigen Bäumen hin. Ungezählte Scharen von Seevögeln belebten die Riffe und Klippen. Und über alldem lag der gleißende Sonnenschein eines tropischen, heißen Maitages.

Die beiden Schiffbrüchigen standen und schauten, – schauten auch gleichzeitig auf ein am Südufer der Bucht liegendes Schiff. Die ‚Herta‘!!

Doch nein! Der Rumpf dieses Schiffes war in einer eigenartig stumpfen, roten Farbe gestrichen, die weithin leuchtete.

„Ein Dampfer!“ rief Alice Baumert da jubelnd.

Schon einmal hatte sie heute hoffnungsfroh einen ähnlichen Ausruf getan, als die weiße Jacht hinter der Insel aufgetaucht war.

Marten sagte nichts. Er nahm das mitgebrachte Schiffsfernrohr zur Hand und blickte lange hinunter zu dem einsamen Fahrzeug, auf dem sich nichts Lebendiges zeigte. Dann schob er das Glas wieder zusammen.

„Ein Dampfer – allerdings!“ meinte er ernst. „Aber einer, dessen Wände mit dickem Rost bedeckt sind und der daher hier schon jahrelang liegen dürfte. Der Rost ist es, der den Rumpf so rot gefärbt hat. – Kommen Sie, Fräulein Baumert, – wir wollen das Eiland genauer durchsuchen. Groß ist es ja nicht. Sein Durchmesser dürfte keine anderthalb Meilen betragen.“

 

3. Kapitel.

Dann begannen sie den Abstieg nach den Terrassen. Auf diesen hatte sich im Laufe der Zeit eine starke Schicht fruchtbaren Bodens abgelagert, der, wie schon erwähnt, eine tropisch üppige Vegetation trug. Neben Oliven- und Kastanienbäumen wuchsen auch Palmen und Seeföhren, und in Form von Büschen Tamarinden, Myrten- und Mastixsträucher, dazwischen Riesenfarne und Gräser der verschiedensten Arten. Lustige, kreischende Papageienvölker belebten die Baumwipfel.

In einer knappen halben Stunde waren die beiden Schiffbrüchigen an die Bucht gelangt, die ein durchsichtig klares Wasserbecken von etwa eintausend Meter Durchmesser darstellte, das rings von einem teils felsigen, teils sandigen Ufer umgeben war und nur nach Südwesten zu eine schmale, zwischen Felsmassen sich hindurchschlängelnde Einfahrt besaß, die wieder in den zwischen den Klippen der Halbinsel sich entlangziehenden Wasserweg einmündete.

Der mit rotem Rost über und über bedeckte Dampfer, von dessen Masten alles Tauwerk entfernt war, lag nicht, wie Marten zuerst angenommen hatte, vor Anker, sondern war zwischen zwei Riffen an der Südseite der Bucht dicht am Ufer festgekeilt, – wahrscheinlich für alle Ewigkeit. In dem klaren Wasser ließ sich vom Ufer aus deutlich erkennen, daß die Zacken des einen Riffs den Schiffsboden durchbohrt hatten und somit das Fahrzeug wie steinerne Riesennägel an seinem Platze festhielten.

Nichts deutete darauf hin, daß, ebensowenig wie das Eiland von Menschen bewohnt zu sein schien, sich zur Zeit auf dem wracken Dampfer Leute befanden. Marten mochte noch so laut rufen, – auf dem Schiffe rührte sich nichts. Es lag in einer Entfernung von etwa vier Metern von dem hier schroff abfallenden Ufer weg, so daß, da keine Landungsplanke eine Verbindung mit dem Gestade herstellte, der Deutsche sich schon entschließen wollte, hinüber zu schwimmen, als Alice ihn auf ein starkes Tau aufmerksam machte, welches vom Bug nach dem Ufer zu herabhing und bei näherem Zusehen unter Wasser bis zu einem Felsgrat reichte, wo es befestigt war.

Marten hatte sehr bald das Tau straff um eine in der Nähe stehende junge Palme geschlungen, so daß er nun daran, ohne naß zu werden, nach dem Dampfer hinüberturnen konnte.

Während Alice sich am Ufer im Schatten der Palme niederließ, nahm ihr Gefährte eine eingehende Besichtigung des Schiffes vor. Das Verdeck bot, da man alles, was nicht niet- und nagelfest war, entfernt hatte, einen trostlosen Anblick. Kein Boot, kein Messingbeschlag, – nichts, nichts. Nur die schmutzigen Deckplanken und rostigen Eisenteile, nur die geländerlose Kommandobrücke über dem Mittelaufbau, von deren Treppe sogar der Gummischutz gelöst war. Die Deckluken waren geschlossen, aber die Eingänge zum Mittel- und Hinterschiff offen.

Im Innern dasselbe Bild. Leere Räume, leere Kabinen. Überall hatte man sogar die Messinggriffe der Türen abgeschraubt. Der mittelgroße Seedampfer konnte kaum vollständiger ausgeplündert sein. Der Maschinenraum stand voll Wasser, ebenso wie die Laderäume. Nichts regte sich in dem zwischen den Riffen festgekeilten eisernen Fahrzeug. Selbst die Ratten schienen die ungastliche Stätte verlassen zu haben. Nur in einer Vorratskammer entdeckte Marten einen Haufen wertlosen Gerümpels, – wertlos freilich nur für die Menschen, die in kultivierten Gegenden leben durften. Für die beiden Schiffbrüchigen sollte diese Kammer mit ihrem Inhalt von alten Segeln, zerrissenen Decken und Ölanzügen, zerbrochenen Petroleumlaternen usw. noch von großem Wert werden.

Eine Stunde fast dauerte es, bis Marten mit der Besichtigung des Fahrzeuges fertig war. Dann kehrte er zu seiner Leidensgefährtin zurück und erstattete Bericht.

„So werden wir also wohl gezwungen sein,“ meinte sie, „hier auf dieser einsamen Insel eine Weile Robinson zu spielen.“ Und schüchtern setzte sie hinzu: „Ich muß Ihnen ein Geständnis machen, Herr Marten. Ich habe furchtbaren Hunger.“

Er lächelte fast glücklich. „Das ist brav von Ihnen, daß Sie so offen sind. So muß es immer sein. Dann werden Sie sich hier unter meinem Schutze bald leidlich wohl fühlen und später einmal vielleicht gern an diese abenteuerliche Episode Ihres Lebens zurückdenken. –

Ein Mittel gegen den Hunger dürften uns die zahlreichen Eier der nistenden Seevögel bieten. In zehn Minuten bin ich wieder da. Sammeln Sie bitte inzwischen trockenes Reisig.“

Von dem kurzen Ausflug nach den nächsten Klippen kehrte Fritz Marten tatsächlich mit einigen Dutzend Möveneiern, die er in sein zum Beutel umgeformtes Jackett getan hatte, zurück. Ebenso brachte er ein paar große, flache Muscheln mit, die als Kochgeschirr dienen sollten. Wo aber das zum Kochen notwendige Feuer hernehmen? – Doch auch über diese Schwierigkeit kam Martens praktischer Sinn leicht hinweg. Er schraubte das Fernrohr auseinander und gebrauchte eine der Linsen als Brennglas. Allerdings gelang es ihm erst nach einigen Versuchen, mit dessen Hilfe trockene Gräser zum Kohlen und bald auch zum lichterlohen Aufflammen zu bringen. Wasser zum Kochen lieferte die Bucht, und ein kleiner Herd aus Felstrümmern bewies dann seine volle Gebrauchsfähigkeit.

Während der Mahlzeit, die den beiden Schiffbrüchigen vortrefflich mundete, fand Marten nun auch Zeit, mit seiner Gefährtin über jene Jacht zu sprechen, die sie doch offenbar wiedererkannt hatte.

„Das Fernrohr brachte mir die auf der Kommandobrücke stehenden Personen so nahe, daß ich die Gesichter deutlich erkennen konnte,“ erklärte Alice auf seine Frage hin. „Der eine Mann war der japanische Millionär Sadi Sahikari, der in San Franzisko jedem Kinde bekannt ist, obwohl sein listiges Asiatengesicht noch vor vier Jahren hinter dem Schenktisch einer verrufenen Hafenkneipe nach Gästen ausschaute, denen er seine selbstgebrannten Alkoholmischungen aufschwatzen konnte. Dann wurde plötzlich aus dem verachteten Kneipenwirt ein gerissener Spekulant und in kurzem ein Millionär, der heute einem Exportgeschäft vorsteht, das meinem Vater scharfe Konkurrenz macht. Seit etwa drei Jahren besitzt er auch eine seetüchtige, außerordentlich schnell laufende Jacht, die er ‚Sonne‘ getauft hat. Ich habe dieses Luxusfahrzeug mehr wie einmal aus nächster Nähe mir angesehen, wenn es im Hafen von Frisko lag. Und daher kann ich nicht nur mit größter Bestimmtheit behaupten, daß es des Japaners Vergnügungsjacht gewesen ist sondern auch, daß es Sadi Sahikari selbst war, der an Bord jenes unsere Notzeichen völlig außerachtlassenden Dampfers sich befand.“

Fritz Marten entfernte langsam die Schale eines weiteren Möveneis und sagte dabei:

„Merkwürdig! Das Verhalten der Jacht ist mir völlig unverständlich. Ich weiß nicht – ich habe auch das Gefühl, daß hier auf unserem Eiland irgend etwas nicht richtig ist und daß der elende Japs uns absichtlich dem drohenden Verderben der nahen Brandung überließ. –

Sie schauen mich so verständnislos an, Fräulein Baumert. Ich muß mich also wohl näher erklären. –

Die Jacht kam doch hinter der Insel hervor, nicht wahr? Nun, da liegt also die Möglichkeit nahe, daß sie hier in dieser Bucht Schutz vor dem Orkan gesucht hatte. Ich zeigte Ihnen ja schon vorhin von jener Felsenspitze aus die natürliche Einfahrt, die zwischen den Klippen als deutlich sichtbarer Wasserarm hindurchläuft. Diese Einfahrt, die nicht ganz leicht zu finden sein dürfte, muß die ‚Sonne‘ also passiert haben, wenn sie in der Bucht hier geankert hat. Und sie hat hier noch vor ganz kurzer Zeit gelegen. Beweis? Dort drüben habe ich an einer flachen Stelle des Ufers dieses sicheren Hafens einige ölgetränkte Lappen gefunden, die ohne Frage einer der Maschinisten der Jacht über Bord geworfen hat und die dann ans Land getrieben sind, da der Fettgehalt sie über Wasser hielt. Die Lappen riechen noch so stark nach Maschinenöl, daß die Luft und die Sonne noch nicht Zeit gehabt haben, den Geruch auch nur im geringsten zu milderen. Ein Dampfer ist mithin kürzlich hier gewesen. Und daher ist die Schlußfolgerung geradezu gegeben, daß dies die ‚Sonne‘ gewesen ist. –

Jetzt drängt sich uns eine weitere Frage auf. Hat die Jacht zufällig vor kurzem – sagen wir auf der Flucht vor dem Orkan – die Einfahrt zwischen den Klippen entdeckt oder war ihr diese bereits von früher her bekannt, das heißt, ist sie schon häufiger hier angelaufen? Da gibt es meines Erachtens nur eine Antwort: Die Jacht muß mit diesem Eiland sehr genau Bescheid gewußt haben. Kein Schiff wird es wagen bei einem so furchtbaren Sturm, wie er in diesen Breiten seit fast acht Tagen geherrscht hat, sich auch nur einem Gestade zu nähern. Der Seemann flieht bei solchem Unwetter jede Küste, um sein Schiff vor dem Scheitern zu bewahren. Ist die ‚Sonne‘ also während des Sturmes in diese Bucht eingelaufen, so hat ihr Kapitän die Einfahrt sehr, sogar sehr genau gekannt. Sonst hätte er dieses Wagnis, bei bewegter See zwischen Klippen einen Durchgang zu suchen, nie unternommen. Die Jacht muß also schon des öfteren hier in diesem entlegenen Winkel des Großen Ozeans geankert haben.“

„Halt – gestatten Sie einen Einwurf,“ meinte Alice, die sehr aufmerksam zugehört hatte. „Es ist doch auch möglich, daß die Jacht noch bei ruhiger See sich der Insel genähert und dann mit aller Vorsicht, erst nach Erkundung des Fahrwassers durch ihre Boote, diese Bucht angelaufen hat.“

„Unberechtigt ist diese Einwendung nicht, das stimmt,“ erklärte Marten. „Aber die größte Wahrscheinlichkeit spricht doch für meine Annahme. Bedenken Sie doch, die ‚Sonne‘ hat bei hochgehender See diesen ihren Ankerplatz verlassen und ist durch die schmale Einfahrt ins offene Meer hinausgedampft. Das wäre ein wahnsinniger Leichtsinn gewesen, wenn der Kapitän wirklich erst ein einziges Mal den Wasserarm zwischen den Klippen, der sicher hier und da durch unter der Oberfläche lauernde Riffe sehr gefährlich werden kann, passiert hätte. –

Nein, ich bleibe dabei, die Jacht kennt diesen Ankerplatz nur zu gut. Ist dies aber der Fall, dann entsteht die weitere Frage: Zu welchem Zweck sucht der Japaner dieses Eiland häufiger auf? – Aus bloßer Freude an der Weltabgeschiedenheit unserer Insel sicher nicht. Für solche Gefühle sind die gelben Affen, selbst die Millionäre unter ihnen, nicht zu haben. Es muß also hier irgendein Anziehungsmittel geben, welches Sadi Sahikari hierher lockt. Was das sein kann, weiß ich nicht, hoffe es aber auch herauszubekommen. Ich glaube – Beweise habe ich dafür freilich nicht! –, daß jenes verrostete, leere Wrack der Magnet sein dürfte. Auffällig an diesem zwischen den Riffen festgekeilten Dampfer ist nämlich das eine, – wenn man von der Frage absieht, wie das Schiff in diesem ruhigen Wasser derart fest auf die Riffe auflaufen konnte, was sehr nach Absicht aussieht –, daß überall der Name des Dampfers, sowie alle Anzeichen für seine Nationalität aufs sorgfältigste entfernt sind. Nirgends habe ich auch nur den geringsten Anhalt gefunden, woraus man auf die Heimat dieses Wrackes schließen könnte. Gerade dieses vollständige Fehlen der Inneneinrichtung, aller wertvollen Metallteile, und des Namens, der doch auch außer der Inschrift am Bug oder Heck stets einigen Planken und Balken eingebrannt zu werden pflegt, sagt mir, daß man seiner Zeit absichtlich alles beseitigt hat, was zur Feststellung des Namens und der Nationalität hätte dienen können. Mit diesem rostbedeckten Eisenhaufen muß es also notwendig eine besondere Bewandtnis haben. Ohne Grund macht sich niemand die Arbeit, eine Identifizierung eines Schiffes zu hintertreiben, das in einer stillen Bucht eines mitten im Großen Ozean gelegenen unbekannten Eilands wohl mit voller Absicht auf Grund gesetzt wurde.“

Fritz Marten war aufgesprungen. In sein Zügen war deutlich eine gewisse Erregung zu bemerken, in die ihn seine eigenen Worte versetzt hatten. „Lachen Sie mich nicht aus, Fräulein Baumert,“ fuhr er hastig fort, „aber ich wittere hier tatsächlich ein dunkles Geheimnis, mit dem auch der schlitzäugige Japaner etwas zu tun hat. Und ich werde dieses Geheimnis ergründen, so wahr ich Fritz Marten heiße! –

Doch nun genug davon. Denken wir an Wichtigeres zunächst. Wir müssen uns ein Unterkommen für die Nacht schaffen.“

Alice schoß plötzlich die helle Röte ins Gesicht. Er sah das und verbesserte sich zartfühlend schnell: „Ich wollte sagen, zwei Unterkommen, eins für Sie, eins für mich. – Das Wrack bietet uns ja nun eigentlich eine prächtige Wohngelegenheit. Trotzdem möchte ich es als Unterschlupf aus demselben Grunde nicht wählen, den ich vorhin genauer ausführte. Ich rechne mit einer baldigen oder späteren Rückkehr der Jacht, deren Besitzer bewiesen hat, daß er uns lieber tot als lebendig sieht. Sonst hätte er uns nicht so kaltblütig auf der sinkenden ‚Herta‘ unserem Schicksal überlassen. Meiner Ansicht haben wir sogar alle Ursache, für Sadi Sahikari hier möglichst unsichtbar zu bleiben. Und daher lassen Sie uns sofort aufbrechen und nach irgend einer versteckt liegenden Felsengrotte Ausschau halten, die uns oder doch wenigstens Sie, für die erste Nacht aufnimmt. Morgen können wir uns dann ein bequemeres Heim errichten. Ich habe schon so meine Idee dazu.“

Auf der Suche nach einem Unterschlupf führte ein glücklicher Zufall die beiden nach der Nordseite der Insel hin und zwar an eine Stelle der Uferberge, von der aus sie einen freien Ausblick auf das Meer hatten. Marten, der als erster die Augen über den Horizont hinschweifen ließ, riß plötzlich das Fernrohr hoch und schaute lange angespannt nach einem weißen Etwas hin, das in weiter Ferne auf den Wogen schwamm. Dann reichte er seiner Gefährtin das Glas.

„Ich wette, das da draußen ist der Japaner,“ sagte er ernst. „Die ‚Sonne‘ kehrt zurück, wie ich’s prophezeit habe.“

Das junge Mädchen blickte nur kurze Zeit durch das Rohr.

„Ja – es ist die Jacht.“ Und in aufsteigender Besorgnis schaute sie Fritz Marten wie hilfesuchend an. Der war schon mit sich ins Reine gekommen, wie man sich unter diesen Umständen zu verhalten habe. Die Anweisungen, die er Alice gab, waren kurz und treffend. Dann trennten sie sich. Die Kalifornierin eilte zum Nordstrande hinab, verbarg das dort zurückgelassene Bündel schleunigst unter einem Haufen von Steinen, streute auf ihre und ihres Gefährten in den Sand eingedrückten Fußspuren Seetang und erkletterte dann unter Vermeidung weiterer Fährten die felsige Anhöhe, um sich wieder mit Marten zu vereinen … Der hatte inzwischen ebenso sorgfältig alle Anzeichen ihrer Anwesenheit in der Nähe der Bucht vertilgt, besonders die Reste des Feuers verlöscht und die geschwärzten Steine des kleinen Herdes in das Wasser geworfen.

Immerhin war über eine Stunde vergangen, bis sie hiermit fertig geworden waren. Nun traten sie den Rückweg in die zerklüfteten Uferberge im Westen des Eilandes an, wobei sie sorgfältig darauf achteten, keinerlei Spuren zu hinterlassen. Als sie dann aber auf einer Felshöhe, die einen guten Rundblick gestattete, ein passendes Versteck gefunden hatten, wurden sie gewahr, daß sie auch keinen Augenblick zu früh sich in Sicherheit gebracht hatten. Draußen in See lag nämlich jetzt keine zwei Meilen von der Insel entfernt die weiße Jacht vor Anker. Eine flinke Motorbarkasse aber, die ja nur von der ‚Sonne‘ abgeschickt worden sein konnte, steuerte soeben in die schmale Einfahrt zwischen den Klippen hinein.

Fritz Marten, der lang ausgestreckt neben seiner Gefährtin in guter Deckung zwischen den Felsen lag, ließ das Fernrohr nicht von den Augen.

Die Barkasse landete sehr bald in der Bucht, und ihr entstiegen zehn Matrosen, die sich sodann in Trupps zu zweien über das Eiland zerstreuten und aus deren ganzem Verhalten deutlich zu erkennen war, daß sie nach Schiffbrüchigen der untergegangen ‚Herta‘, wahrscheinlich sogar nach Marten und Alice Baumert suchen sollten, von denen der Besitzer der Jacht doch vielleicht argwöhnte, daß sie gerettet sein könnten.

Zum Glück für die beiden Robinsons betrieben die Matrosen diese Nachsuche jedoch ziemlich lässig. Immerhin umwanderten zwei der Trupps in entgegengesetzter Richtung am Ufer die ganze Insel. So war also Fritz Martens Vorsicht, die ihn auch das verräterische Bündel am Strande denken ließ, durchaus nicht überflüssig gewesen. Erst bei anbrechender Dämmerung fuhr die Barkasse zu der Jacht zurück. Darauf lichtete diese den Anker und dampfte in nördlicher Richtung davon.

 

4. Kapitel.

Marten atmete auf, als die ‚Sonne‘ verschwunden war. Gerade dieser nochmalige Besuch der Matrosen des weißen Lustfahrzeugs, die sämtlich ebenfalls Japaner gewesen waren, auf dem einsamen Eiland hatte ihm den untrüglichen Beweis erbracht, daß Sadi Sahikari ihn und Alice aus kalter Berechnung hatte mit der ‚Herta‘ untergehen lassen wollen. Ohne Zweifel hatten die Matrosen ganz bestimmte Befehle für den Fall erhalten, daß sie jemand auf der Insel vorfinden würden. Und wer weiß, was mit ihnen beiden geschehen wäre, wenn die Streiftrupps sie aufgestöbert hätten. Dem Japaner war ja nach der einen Probe seiner kaltblütigen Unbarmherzigkeit das Schlimmste zuzutrauen. Alles dies deutete darauf hin, daß das Eiland, von dessen Vorhandensein selbst Kapitän Bolling offenbar nichts gewußt hatte, irgend ein Geheimnis bergen mußte, welches um jeden Preis bewahrt werden sollte. Und wie gefährlich mußte es sein, da Sahikari diesen Zufluchtsort nicht einmal ein paar armseligen Schiffbrüchigen gönnte! – –

Da die Dunkelheit jetzt mit der in den Tropen stets zu beobachtenden Schnelle hereinbrach, beeilten die beiden Robinsons sich, das Bündel vom Weststrande aus dem Steinhaufen wieder herauszuholen und nach dem Innern der Insel zu schaffen. Marten kam auf dem Wege am Strand entlang, die Felshöhen durfte man jetzt nicht mehr wagen zu übersteigen, da es bereits zu finster geworden war, – der Gedanke, daß es wohl doch das beste wäre, für diese Nacht in dem Wrack des namenlosen Schiffes ein Unterkommen zu suchen. Eine Rückkehr der Jacht war kaum mehr zu befürchten, und man schlief an Bord des Dampfers sicher behaglicher als in einer Felsengrotte, die außerdem jetzt noch schwer aufzufinden gewesen wäre.

Alice ging auf diesen Vorschlag sofort ein. An dem wieder straff gespannten Tau turnten beide also auf das Wrack hinüber, wobei Marten noch das Bündel auf den Rücken nahm. Schnell hatte er eine der leeren Kabinen für seine Gefährtin hergerichtet, so gut es eben ging. Ihre inzwischen wieder getrockneten Kleider und sein mitgenommener Reserveanzug, ferner der Ölrock und die ebenfalls in dem Bündel gewesenen Wäschestücke schufen ihr ein wenigstens einigermaßen weiches Lager. Er selbst legte sich in der Nebenkabine auf ein paar zerfetzte Segel, die er trotz der Dunkelheit noch aus der Gerümpelkammer hervorgesucht hatte.

Mit einem festen Händedruck sagten sie sich gute Nacht. Nichts störte ihren Schlaf, den die Aufregungen und Anstrengungen der letzten Tage fest und traumlos machten.

Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als Fritz Marten erwachte und sofort leise auf das Deck eilte. War es doch seine Pflicht, schleunigst für ein Frühstück zu sorgen. Sicherlich würde ja seiner tapferen Leidensgenossin der Magen ebenso knurren wie ihm selbst. Ein Besuch auf den Klippen brachte wieder einige Dutzend Möveneier und das nötige Salz ein. Gleichzeitig benutzte er diesen Ausflug dazu, den für ihn von den Klippen aus sichtbaren Horizont nach einem Schiff abzusuchen. Aber das Fernrohr zeigte ihm nichts als die unendliche, einsame Wasserwüste. Ein Herd war dann auch bald wieder errichtet, und die Sonnenstrahlen und die Fernrohrlinse halfen ebenso schnell ein Feuer entfachen, über dem in den großen Muscheln in kurzer Zeit das Wasser zu kochte begann.

Gerade als Marten die ersten hartgesottenen Eier abseits tat und neue in die primitiven Kochtöpfe hineinlegte, rief Alice ihm von dem Wrack einen beinahe fröhlichen Morgengruß zu. Dann saßen sie nebeneinander im Grase wie alte, gute Kameraden und frühstückten.

Nach diesem Frühimbiß stärkten sie sich noch durch einen Trunk Wasser aus einem Bache, der in die Bucht mündete und aus drei Quellen entsprang, die auf dem Westabhang der Uferberge ziemlich dicht bei einander lagen. Dann begannen sie mit der wichtigsten Arbeit, der Auswahl eines geeigneten Platzes für eine Wohnung und deren schleuniger Einrichtung.

Der Platz war bald gefunden. Ein Zufall führte sie nämlich zu einer etwa fünf Meter hohen, schroffen Felswand, an deren Fuß ein uralter Laubbaum, ähnlich einer deutschen Eiche, wuchs. Marten hatte nun von einer höher gelegenen Stelle aus bemerkt, daß oberhalb dieser Wand, zum Teil durch die starken Äste beschattet, eine kleine Felsterrasse lag, die bei einem Flächenraum von vielleicht zwanzig Quadratmeter von allen Seiten völlig unzugänglich war. Da kam ihm der Gedanke, daß man vielleicht über das weit ausladende Geäst auf dieses Plateau gelangen könne. Kaum gedacht, führte er diese Idee auch schon aus, schwang sich von Ast zu Ast und erreichte so tatsächlich die Felsterrasse, die ihm sofort als sicheres Versteck sehr geeignet erschien. Zu seiner Freude sah er nun, daß eine gütige Vorsehung ihnen in Gestalt einer breiten Felsplatte, die sich nicht allzu tief in die Felsenrückwand hineinzog, eine treffliche Wohngelegenheit beschert hatte. Ebenso bemerkte er, daß die Mastixbüsche, die auf dieser Terrasse in einzelnen Exemplaren wucherten, diesen Schlupfwinkel auch gegen Sicht von beiden Seiten schützten. Sehr befriedigt kehrte er auf demselben Wege durch das Geäst zu seiner Gefährtin zurück. Alice war sofort einverstanden, daß sie hier ihre primitive Behausung einrichteten. Während das junge Mädchen dann trockenes Gras für die Lagerstätten und Lianenranken zu einem Strick sammelte, begab sich Marten selbst in den Wald auf dem Ostteil der Insel, um dort starke Äste abzubrechen, aus denen er in der Felsspalte ein Dach herstellen und für sich selbst eine kleine Hütte auf dem Plateau errichten wollte.

Bei dieser mühseligen Arbeit, für die ihm nur sein Taschenmesser zur Verfügung stand, gelangte er auch an den sandigen Teil des Nordoststrandes, wo er eine große Anzahl von Krebstieren fand, die die Ebbe in Wasserpfützen zurückgelassen hatte.

Dann aber entdeckte er noch etwas, eine frisch aufgegrabene, ziemlich große Stelle im Sande unter einem dichten Buschwerk. Deutlich war zu erkennen, daß Leute hier vor kurzem mit Spaten tätig gewesen waren. Ein unbestimmter Verdacht veranlaßte ihn, mit Hilfe einer großen, flachen Muschel den lockeren Sand aufzuwühlen um festzustellen, zu welchem Zweck man an dieser Stelle die Spaten gebraucht hatte.

Er war noch nicht zwei Fuß tief gekommen, als er auf etwas Weiches stieß. Er griff neugierig mit dem Arm in das ausgebuddelte Loch, fühlte einen Schuh in seinen Fingern, zog und zerrte und ließ erschreckt den Schuh wieder fahren. Da unten lag eine Frauenleiche, deren mit einem Schnürstiefel bekleideten Fuß er ein Stück hervorgezerrt hatte. Doch – er mußte Gewißheit haben. Nach einiger Zeit hatte er auch das Gesicht der Toten freigelegt. Es war Miß Fargeson, die Gesellschaftsdame Alice Baumerts.

Ungläubig starrte Marten eine ganze Weile in das bleiche Antlitz, dessen Züge von dem Ausdruck einer furchtbaren Angst grausig verzerrt waren. – Und weiter grub der Deutsche. Für einen Leichnam war die von ihm bemerkte, frisch umgegrabene Stelle des Sandbodens viel zu groß. Nach kurzer Zeit stieß er auf den Zipfel eines Ölrocks. Die gedrungene Gestalt eines Seemannes legte er nun nach und nach frei. Dann erkannte er auch diesen Toten. Es war der Steuermann der ‚Herta‘. Was aber dem Deutschen fast einen Ruf wirklichen Schreckens und ungläubigster Überraschung entlockte, war eine deutliche Schußöffnung in der Stirn des Steuermanns. Obwohl sie mit Sand und Blut verklebt war, konnte man über die Natur dieses kleinen, kreisrunden Fleckes keinen Augenblick im Zweifel sein, zumal am Hinterkopf unter den Haaren sich auch die Ausschußöffnung unschwer finden ließ. Diese Entdeckung veranlaßte Marten, auch die Leiche der ihm im Leben so feindlich gesinnten Miß langsam näher zu untersuchen. Auch an ihr sah er zwei Schußwunden, beide in der Brust, eine davon in der Gegend des Herzens. –

Er wußte genug. Diese Toten waren also nicht in der Brandung nach dem Scheitern des Langbootes umgekommen, sondern hier auf dem Eiland ermordet worden. Von wem – die Frage war leicht zu beantworten. Hier gab es ja nur eine Erklärung: das Langboot hatte an der Insel anlegen wollen, war bei dem Orkane gekentert, und von seinen Insassen hatten wahrscheinlich nur der Steuermann und die Engländerin das rettende Gestade erreicht, wo sie dann von der Besatzung der Jacht des Japaners beiseite geschafft worden waren. –

So mutmaßte Fritz Marten. Und er dankte jetzt aus vollem Herzen dem Schöpfer, daß er gestern so vorsichtig gewesen war, sich und seine Gefährtin vor den Landungstrupps zu verbergen.

Die Suche nach weiteren Toten an dieser Stelle war ergebnislos. Schnell bedeckte er daher die Körper wieder mit Sand, stampfte diesen fest und streute trockenen Seetang und Zweige über die Stelle, damit sie Alice gelegentlich nicht etwa auffalle. War er doch entschlossen, ihr diesen furchtbaren Fund zu verheimlichen, um sie nicht unnötig zu beunruhigen.

Doppelt eifrig machte er sich nun wieder an die Arbeit. Galt es doch unter diesen Umständen, die Unterkunft auf dem Felsplateau so bald wie möglich fertigzustellen, da er es nicht wagte, noch eine Nacht in dem Wrack zuzubringen, wo die Mordbande des Japaners Alice und ihn nur zu leicht überraschen konnte.

Das Heranschleppen der Äste kostete ihm manchen Tropfen Schweiß. Da aber das Wetter klar blieb, hatte er doch schon bis zum Nachmittag so viele starke Äste in den Felsspalt zwischen den Wänden in etwa zwei Meter Höhe festgekeilt, daß er über dieses Sparrenwerk wieder dünnere Zweige ausbreiten konnte, die er mit einer Schicht Gras bedeckte, worüber dann das allerdings schadhafte, in dem Wrack gefundene Segel gebreitet wurde. Da das Dach nach vorn etwas schräg abfallend gebaut war, konnte auch der Regen bequem abfließen. In ähnlicher Weise verbaute er bis auf einen engen Durchlaß die Vorderseite der überdachten Felsspalte, freilich nur als vorläufigen Notbehelf, mit dichten Zweigen und Ästen. Dann ging er an die Errichtung seiner eigenen Hütte, die er, da es bereits zu dunkeln begann, nur höchst einfach baute. Die Lagerstätten wurden aus Blättern und trockenem Gras hergestellt und mit den Resten des Segels bedeckt, wenigstens die für Alice, der ihre Kleider und der Ölrock als Zudeck genügen mußten, während Marten bei der warmen Witterung gern auf jede Hülle für sein Grasbett verzichtete. Sein grünes Blätterzelt hatte er so an der einen Seite des Felsplateaus zwischen Mastixsträuchern aufgestellt, daß es von unten nicht zu bemerken war. Und nach oben hin schützte die etwas überhängende, sehr hohe Felswand ebenso sicher gegen jeden spähenden Blick.

Die beiden Robinsons hatten während des Tages noch drei Mal eine Mahlzeit eingenommen, die außer aus Eiern auch aus in Salzwasser gekochten Krabben bestand. Als Nachtisch gab es Bananen, die man im Walde wildwachsend gefunden hatte. Aus dem Wrack hatte Marten auch alle die Dinge nach der Terrasse gebracht, die ihnen irgendwie von Nutzen sein konnten. Die Rumpelkammer im Vorschiff war bei näherem Zusehen doch eine recht wertvolle Fundstätte geworden. So hatten sich dort außer einer großen Petroleumlaterne mit nur zwei Glasscheiben noch eine Anzahl großer Nägel, ferner ein schartiges Handbeil, einige Stricke und ein halbes Fäßchen Teer gefunden, außerdem noch ein löchriger Teppich und weitere Reste von Segeln, – alles Gegenstände, die für die Schiffbrüchigen wahre Schätze bedeuteten. Aus den Lianen und den Stricken wurde ein festes Tau hergestellt, das, an einem der oberen Äste des Baumes befestigt, das durch sein Erklettern den Zugang zu dem Plateau wesentlich erleichterte.

Dieser eine Tag regster Tätigkeit hatte Alices Benehmen gegenüber ihrem männlichen Beschützer noch freier und ungezwungener gemacht. Sie, der als einer freien Kalifornierin überhaupt jede Ziererei fremd war, fand schnell den richtigen, kameradschaftlichen Ton, der in dieser Lage das einzig Natürliche war. Als die beiden in der Dämmerstunde vor dem Eingang der Felshütte saßen und ihr Nachtmahl verzehrten, sagte Alice plötzlich, indem sie Marten in herzlicher Offenheit die Hand hinstreckte:

„Ist’s nicht töricht von uns, hier so fern von jeder Kultur an den alten Formen zu hängen und uns, wo wir doch auf einander als Robinson Crusoe und weiblicher Freitag angewiesen sind, mit ‚Herr‘ und ‚Fräulein‘ anzureden?! – Ich bin Ihnen auch zu so unendlichem Dank verpflichtet, – nennen Sie mich also einfach Alice, wie ich Sie auch mit Ihrem Vornamen Fritz anreden will.“

Fest, vertrauend lagen ihre Finger in den seinen.

„Gut, Kamerad, so sei’s! Das war eben ein verständiges Wort, Alice!“

 

5. Kapitel.

Der neue Tag brachte neue Arbeit. Die Felsspalte erhielt jetzt auch eine Rückwand aus Ästen und Segeltuch, um ein abgeschlossenes Gemach herzustellen. Der dahinter liegende Teil der Höhlung wurde ebenfalls überdacht und als Vorratskammer und Küche eingerichtet, zu der man durch eine mit dem Teppich überspannte Rahmentür gelangte. Der Herd, als dessen Rauchfang ein aus dem Wrack unauffällig ausgestemmtes Lüftungsrohr aus Blech benutzt wurde, genügte bescheidenen Ansprüchen vollkommen.

Bei einem Besuch der Klippen an diesem Tage hatte Marten verschiedentlich Seehunde bemerkt, die sich an sandigen Stellen sonnten. Diese Tiere brachten ihn auf den Gedanken, die Petroleumlaterne, in der noch ein langes Stück Docht vorhanden war, zu einer Öllampe herzurichten. Wirklich gelang es ihm auch gegen Abend, eines der Tiere, einen großen, fetten Burschen, mit dem Revolver zu erlegen. Das Rückenfett schmolz er in Muscheln aus und erhielt so recht guten Tran, der das fehlende Petroleum zur Freude der Schiffbrüchigen über Erwarten gut ersetzte. Heute blieben sie denn auch länger zusammen, saßen in Alices Gemach beim Scheine der Laterne bei einander, unterhielten sich über alles Mögliche und verrichteten kleinere Arbeiten, zu denen sie das Tageslicht nicht brauchten.

So ging auch dieser Tag, der dritte ihres Aufenthaltes auf der einsamen Insel, vorüber.

Von Tag zu Tag schufen die beiden Robinsons sich neue Bequemlichkeiten, bauten die Felshütte weiter aus und errichteten auch für Marten ein gemütlicheres, kleines Hüttchen.

Dabei vergaßen sie jedoch nie, alles für ihre persönliche Sicherheit Erforderliche zu tun. Täglich wurde alle zwei Stunden wie zu Beginn ihrer Verbannung der Horizont mit dem Fernrohr abgesucht, und ebenso vermieden sie es stets, an sandigen Stellen allzu deutliche Fußspuren oder sonst Merkmale ihrer Anwesenheit zu hinterlassen.

Inzwischen hatte Marten bei einem seiner häufigen Ausflüge nach der Klippen-Halbinsel, wo die Seehunde hauptsächlich sich einfanden, weitere Beweise dafür entdeckt, daß die Glücksinsel, wie sie ihre neue Heimat genannt hatten, des öfteren von einem Schiffe – und dieses konnte sicher nur die Dampfjacht Sadi Sahikaris sein – besucht werden mußte, da in der Fahrrinne zwischen den Klippen an bestimmten Stellen, wo versteckte Riffe drohten, unauffällige Zeichen in grüner Ölfarbe angepinselt waren, die die Einfahrt in die Bucht wesentlich erleichterten. Ferner entdeckte er eines Tages auch in einer von den Klippen gebildeten natürlichen Grotte dicht an der Westseite des Eilandes einen vollständigen Taucheranzug sowie eine kleine Luftpumpe, wie sie zur Ausrüstung der Taucher gehört. Vergebens sann er aber darüber nach, zu welchem Zwecke diese Apparate, die sich in tadellosem Zustande befanden und in geölte Leinwand eingehüllt waren, hier auf der Insel benutzt worden waren oder vielleicht noch benutzt wurden, wenn der japanische Millionär dem Eilande einen Besuch abstattete.

Zwei Monate vergingen, und von der ‚Sonne‘ war ebensowenig zu erblicken wie von einem anderen Fahrzeug. Tag für Tag blieb die Kreislinie des Horizontes leer. Nicht einmal die entfernte Rauchfahne eines weit draußen vorüberfahrenden Dampfers wurde gesichtet.

Dann kam jener bedeutsame 15. Juli heran, der so wesentliche Änderungen brachte. Nach ein paar stürmischen, regnerischen Tagen hatte sich das dichte Gewölk wieder verzogen, und strahlender Sonnenschein begrüßte das Erwachen der beiden Insulaner. Nach dem Morgenimbiß begab Fritz Marten sich wie immer als erster zur Bucht, um dort in einer bassinähnlichen Ausbuchtung das gewohnte Bad zu nehmen. Alice tat dies regelmäßig eine Stunde später, während ihr Gefährte dann am Strande oder im Walde Schnecken, Krabben, Schildkröten oder Früchte sammelte. Vorher war Marten jedoch – das wurde morgens nie versäumt! – auf den Ausguck geklettert und hatte das Meer mit dem Fernrohr abgesucht.

Später trafen sie sich dann in der Bucht. Heute sollte geangelt werden, da man eine größere Anzahl Fische als Vorrat zu räuchern gedachte. So saßen sie denn nebeneinander auf einem vorspringenden, niedrigen Felsen über dem Wasser, jeder mit einer Angelrute in der Hand, unterhielten sich und beobachteten dabei die Schwimmer, die auf der leicht bewegten Oberfläche hin und her tanzten.

Da – Alices Schnur ruckte plötzlich stark, schoß auch schon in die Tiefe. Es mußte ein ungewöhnlich großer Fisch sein, der angebissen hatte. Die Rute bog sich so krumm, daß Marten schnell zugriff, um dem Mädchen behilflich zu sein. Dabei umschloß er zufällig ihre Hand mit der seinen, halb auch noch das von der Sonne bereits ebenso gebräunte Handgelenk. Seit langem war es nicht mehr vorgenommen, daß sie bei aller guten Kameradschaft sich die Hände gereicht hatten. Beide hielt eine unerklärliche Scheu davon zurück. Und jetzt, während seine Finger auf ihrer weichen Haut ruhten, brachten es die gemeinsamen Bemühungen, die Angelrute zu heben, mit sich, daß auch ihre Schultern sich berührten. Wie ein Schlag ging es durch ihre Körper. Alice sank in völliger, unbewußter Verwirrung noch mehr an seine Brust. Er selbst war ganz blaß geworden. Dann wandte sie den Kopf und schaute ihn an. Ihre Blicke fraßen sich förmlich ineinander fest. Und nun schoß ihr dunkle Röte über das liebliche Gesicht bis unter die mutwilligen Stirnlöckchen.

Da – ein sehr kräftiger Ruck des gefangenen Fisches an der Angel. Die Rute entglitt ihren Händen, fiel ins Wasser. Alice schrie leise auf, und beider Körper flogen wieder herum, beider Augen verfolgten den Angelstock, den der Fisch schnell hinter sich her durch die Bucht zog in dem vergeblichen Bemühen, sich von dem Haken wieder freizumachen. Nur um etwas zu sagen rief das junge Mädchen: „Schade, nun ist auch die ganze Angel verloren!“

Fritz Marten jedoch sprang auf, warf nur Jacke und Schuhe ab und stürzte sich ins Wasser, um auf diese Weise des Ausreißers wieder habhaft zu werden und … um in der kühlen Flut seine besonnene Ruhe wiederzufinden. Bald hatte er die Angelrute erhascht, brachte sie ans Ufer und mit ihr den heimtückischen Fisch, der die bisherige Harmlosigkeit zwischen den beiden jungen Menschenkindern vernichtet und ihnen die Erkenntnis aufgedrängt hatte, daß es mit der Kameradschaft zwischen Mann und Weib hier auf der Glücksinsel zu Ende und etwas Köstlicheres in ihre Herzen eingedrungen war: die Allgewalt heißer, sinnbetörender Liebe.

Kaum war der Fisch geborgen, als Fritz Marten auch schon einen Vorwand suchte, um sich zu entfernen. Und bis zum Nachmittag wichen sie dann einander fast ängstlich aus, – bis zu dem Zeitpunkt, wo Alice, die gerade mit dem Fernrohr auf dem Ausguck das Meer absuchte, im Süden der Insel nicht mehr allzu weit entfernt ein Schiff bemerkte, das einen blendend weißen Anstrich haben mußte, so deutlich hob es sich von den blaugrünen Wogen ab.

Sofort lief sie in wilder Hast nach der Felsterrasse, wo sie den Gefährten mit dem Ausbessern der Dächer ihrer Wohnräume beschäftigt wußte.

„Die ‚Sonne‘ – die ‚Sonne‘!“ keuchte sie atemlos, indem sie nach Süden deutete.

Er verstand sofort, lächelte ihr sorglos zu und sagte:

„Mag das gelbe Gesindel nur kommen, Alice! Der Regen der letzten Tage hat alles, was etwa von unseren Fußspuren hier und da noch zu sehen war, ausgelöscht. – Im Herde glimmen doch nur Holzkohlen, nicht wahr? – Gut, die geben keinen verräterischen Rauch. Wir brauchen also nur noch das Tau an dem Stamm hochzuziehen und zu verbergen, dann sind wir hier so sicher wie in Abrahams Schoß. Und selbst wenn einer der Matrosen ganz in die Nähe unserer Burg gelangen sollte, wird er von den Baulichkeiten hier oben nichts bemerken.“

Marten hatte schon früher einmal festgestellt, daß er von den höchsten Zweigen der Baumkrone aus sowohl die Bucht als auch die Einfahrt zwischen den Klippen und ein Stück des westlichen Horizontes überblicken konnte. Beide kletterten nun in das grüne Blätterdach, das sie völlig verbarg, hinauf und harrten hier mehr neugierig als ängstlich der Dinge, die da kommen würden.

Sie brauchten nicht lange zu warten. Eine Viertelstunde war vergangen, dann erschien die weiße Jacht in ihrem Gesichtsfelde und steuerte auf die Spitze der Klippen-Halbinsel zu, wo sie in einer Entfernung von etwa einer Seemeile vor dem äußersten Riffgürtel Anker warf. Wieder verging eine halbe Stunde. Marten sah durch das Fernrohr jetzt deutlich, daß auf der ‚Sonne‘ die Barkasse zu Wasser gelassen wurde, die nun auch sehr bald in flotter Fahrt in die Rinne zwischen den Klippen hineinschoß und kaum fünf Minuten später zwischen dem Wrack und dem Ufer vertäut wurde, indem sie auf diese Weise eine schwimmende Brücke von dem namenlosen Schiff nach dem Lande hin bildete.

Jetzt brachte das Fernrohr dem Spähenden die vier Personen, die die Barkasse verließen und sich an Bord des Wracks begaben, so nahe, daß die Gesichtszüge beinahe zu erkennen waren. Die Männer, deren kleine Gestalten und gelbliche Gesichtsfarbe ihre Zugehörigkeit zur mongolischen Rasse verrieten, verschwanden sofort im Innern des festgerammten Dampfers, kehrten aber schon nach kurzer Zeit auf Deck zurück und stiegen über die Barkasse an das Ufer, wo sie sich in der nächsten Umgebung hin und her bewegten, als ob sie nach Spuren der Anwesenheit unerwünschter Eindringlinge suchten. Da der Boden hier jedoch meistenteils felsig war, und Alice und Marten sich stets gehütet hatten die offenen Sandflächen als Weg zu benutzen, kehrten die Japaner offenbar beruhigt wieder auf die Barkasse zurück, setzten sich auf deren Hinterdeck um einen kleinen Tisch zusammen und rauchten und nahmen auch einen Imbiß ein.

Inzwischen war jedoch die Sonne untergegangen und die Dämmerung brach schnell herein. Über dem Meere lagen dichte Dunstmassen, die im Verein mit dem bewölkten Himmel auf einen abermaligen Witterungsumschlag hindeuteten. Es wurde immer dunkler. Inzwischen hatte Marten aber doch noch feststellen können, daß sich auf der Barkasse außer den vier Japanern noch ein fünfter, großer und breitschultriger Mann, sicher ein Europäer, befand, der die Gelben bediente und seinem Anzuge nach der Maschinist des kleinen Motorbootes sein konnte.

Als die Dunkelheit dann eine weitere Beobachtung der fünf Eindringlinge unmöglich machte, litt es Marten schon nach kurzer Zeit der Untätigkeit nicht mehr in dem sicheren Versteck. Er war mit Alice nach dem Verlassen der Baumkrone in die Felshöhle zurückgekehrt, wo sie, ohne es zu wagen, Licht anzuzünden, nebeneinander saßen und hin und wieder flüsternd einige Worte wechselten. Das Bewußtsein, nicht mehr allein auf dem ihnen lieb gewordenen Eiland zu sein, raubte ihnen nun doch die Ruhe und das Sicherheitsgefühl.

Dann unterbrach Fritz Marten eine abermalige Pause drückenden Schweigens.

„Ich muß unbedingt sehen, was die gelben Affen eigentlich treiben. Ohne Zweifel gedenken sie die Nacht hier zu bleiben, sonst wären sie längst nach der Jacht zurückgefahren. Haben Sie keine Sorge um mich. Ich werde mich nicht erwischen lassen. Für alle Fälle nehme ich auch meinen Revolver mit.“

Er hatte sich erhoben und schickte sich zum Gehen an.

Da umklammerte sie seinen Arm. Er konnte ihr sicher verängstigtes Gesicht nicht sehen, hörte aber an dem Klang ihrer Stimme, was in ihr vorging.

„Nehmen Sie mich mit, Fritz, – ich flehe Sie an! Ich würde es hier allein nicht aushalten, wenn ich mir die Gefahren vergegenwärtige, die Ihnen drohen können.“

So gab er denn nach, und mit aller Vorsicht verließen sie gemeinsam die Felsterrasse und schlichen in weitem Bogen durch das dichteste Gebüsch nach dem Rande des Waldes hin, von wo aus sie das Wrack keine fünfhundert Meter vor sich hatten. Hier blieben sie eine Weile liegen, lauschten angestrengt und näherten sich dann, auf allen Vieren am Boden hinkriechend, dem Ufer der Bucht. Das hohe Felsgestade, das ihnen die Barkasse bisher verdeckt hatte, versperrte ihnen nun nicht weiter den Ausblick, da sie sich etwas seitwärts hielten und bald in einer Höhe mit dem Motorboot angelangt waren.

Die vier Japaner saßen noch immer auf dem Hinterdeck und …  spielten Karten. Auf dem kleinen Tische brannte eine offenbar durch Akkumulatoren gespeiste elektrische Stehlampe. Eine zweite elektrische Bogenlampe war an einer Stange neben dem mittschiffs gelegenen Führerstand befestigt. Der fünfte Insasse der Barkasse, der Europäer, war gerade damit beschäftigt, Schlafmatratzen, Decken, verschiedene Pakete und mehrere Jagdgewehre an Bord des Wracks zu schaffen. Vor der Brust hatte er sich eine elektrische Taschenlaterne befestigt, bei deren Schein er die Sachen in den Mittelaufbau des namenlosen Dampfers trug, wo ja auch die Passagierkabinen lagen.

So verging eine halbe Stunde. Die Japaner, ganz von ihrem Kartenspiel in Anspruch genommen, tauschten nur hin und wieder einige Worte aus. Dann erhob sich der, den Alice ihrem Gefährten vorsichtig flüsternd als Sadi Sahikari bezeichnet hatte.

„Watson!“ rief er laut. – Damit konnte nur der Europäer gemeint sein. Der erschien denn auch sofort oben an der Reling des Wracks, auf das er soeben ein paar offenbar sehr schwere Kisten und einen in einen Korb gepackten runden, glänzenden Gegenstand getragen hatte.

„Ist die Lampe in Ordnung? Auch sonst alles besorgt?“ fragte der Japaner auf englisch, den Kopf nach dem bedeutend höheren Bord des Dampfers hochreckend.

„Jawohl – alles in Ordnung, Herr,“ antwortete Watson in derselben Sprache.

„Wir bleiben schon diese Nacht hier,“ erklärte Sahikari weiter, und Fritz Marten, der inzwischen noch näher heran geschlichen war, entging keines seiner Worte. „Das Wetter dürfte sich trotz des bewölkten Himmels halten. Die Jacht holt uns dann wie immer nach zwei Tagen ab. Dann werde ich wohl genug Seehunde geschossen haben. – So, wir gehen jetzt zur Ruhe, und Sie können nach der ‚Sonne‘ zurückkehren. Sagen Sie Kapitän Taioto noch, daß er im Falle eines Sturmes sofort die hohe See aufsuchen und uns nötigenfalls erst später abholen soll.“

Jetzt kletterten auch die vier Japaner an derselben Strickleiter, die Watson benutzt hatte, flink an Bord. Sahikari indessen gab noch, in der Tür des Kabineneinganges stehend, einige Anweisungen, die das Verhalten der Jacht im Falle eines Unwetters betraf.

Fritz Marten hatte, als er kaum die Barkasse ohne Aufsicht daliegen sah, auch schon seinen Entschluß gefaßt. War ihm doch schon einmal der Gedanke gekommen, sich ihrer zu einer Flucht von dem Eilande zu bedienen. Günstiger wie gerade jetzt konnte die Gelegenheit kaum sein. Also vorwärts! Wenige Worte genügten, um Alice seinen Plan anzudeuten. Um ihre Einwilligung fragte er nicht. Mit großen Schritten liefen sie gebückt bis zum Ufer. Daß einer der Leute auf dem Wrack sie sehen würde, war nicht zu befürchten. Im Nu befanden sie sich auf der Barkasse und krochen in einen geräumigen Verschlag des Hecks hinein, über dem sich das kleine Deck befand. Die Tür des Verschlages zogen sie hinter sich zu und tasteten sich in der Finsternis weiter, bis sie zwischen einigen Kisten und nach Benzin riechenden großen Blechkannen gut verborgen waren. Und dann – eine Zentnerlast fiel ihnen vom Herzen! – das knatternde Geräusch des anlaufenden Motors und gleich darauf das Rauschen des Kielwassers. –

„Geglückt!“ flüsterte Marten seiner tapferen Gefährtin ins Ohr. Als Antwort suchte sie nur seine Hand und drückte diese fest.

Marten begann zu zählen. Vier Minuten ließ er verstreichen. Nun mußte die Barkasse, die jetzt sicher langsam in der Dunkelheit fuhr, etwa in der Mitte der Rinne zwischen den Klippen sein. Hastig erteilte er Alice seine Anweisungen, reichte ihr den Revolver zu. Dann krochen sie aus dem Verschlag heraus. In der Mitte des Motorbootes lag der etwas erhöhte Führerstand mit den Griffen zur Regelung der Maschine und dem kleinen Steuerrade. Watson stand mit dem Gesicht von ihnen abgewendet da und bediente das Steuer. Nur eine einzige Lichtquelle führte die Barkasse jetzt. Es war ein am Bug angebrachter Scheinwerfer, der nach vorn hin die Wasserrinne und die Klippen taghell erleuchtete. Das Boot lief doch schneller, als Marten vermutet hatte. Sicherlich wußte Watson hier tadellos Bescheid.

Ein Blick genügte Alices treuem Gefährten, um ihn erkennen zu lassen, daß die Barkasse kurz vor der Ausfahrt in den äußeren Riffgürtel sich befand. Also gab es kein Säumen mehr.

Der Mann, der gleichzeitig Steuermann und Maschinist spielte, merkte jetzt, daß der Wind von der See her leichte Nebelschwaden gegen die Klippen drückte. Er stellte daher den Hebel auf ‚Halbe Fahrt‘, da selbst das grelle Licht des elektrischen Scheinwerfers diese grauen, feuchten Schleier nicht mehr völlig durchdringen konnte. Dann – urplötzlich, wie aus dem Nichts hervorgewachsen – stand neben ihm die Gestalt eines Fremden mit verwildertem Bart. Entsetzt prallte Watson zur Seite, ohne jedoch das Steuerrad aus der Hand zu lassen. Und schon begann der Eindringling mit einer Stimme, die ebenso hart und befehlend klang wie die Augen des Sprechers drohend blitzten:

„Wagen Sie keinen Widerstand, Mann! Hinter Ihnen steht mein Gefährte und bläst Ihnen augenblicklich ein Loch in den Schädel, wenn Sie unsere Befehle nicht aufs pünktlichste ausführen. – Nein, drehen Sie sich nicht um, sondern achten Sie auf die Fahrtrichtung. Das mit dem Loch im Schädel ist keine leere Drohung. Als Beweis wird mein Freund Ihnen jetzt so ein wenig die Revolvermündung an das Genick halten. – Na – nun sehen Sie, daß alles seine Richtigkeit hat. Ihnen wird aber nichts geschehen, wenn Sie hübsch verständig sind.“

Watson war bei der Berührung des kalten Laufes der Schußwaffe doch zusammengezuckt.

„Sie werden also,“ fuhr Marten fort, „nicht nach der Jacht hinsteuern, sobald wir den äußeren Riffgürtel hinter uns haben, sondern scharf nach Norden abbiegend. Das weitere wird sich dann finden.“

Der Revolver tat seine Schuldigkeit. Watson gehorchte. Kaum waren die Riffe passiert, als Marten die Höchstgeschwindigkeit des Motors einstellen ließ. Gleichzeitig sperrte er den elektrischen Strom ab, so daß der Scheinwerfer verlosch.

Nach einer Stunde, während der das außerordentlich schnell laufende Motorboot ununterbrochen dichten Nebel passiert hatte, von dem auch die Jacht so vollständig eingehüllt worden war, daß man nicht einmal ihrer Lichter gesehen hatte, ließ Marten den Motor ganz abstellen. Die See ging ruhig, und die Barkasse schaukelte nun eine gute halbe Stunde auf den Wellen hin und her. Dann flammte der Scheinwerfer wieder auf, die Schraube begann abermals ihre Arbeit, und mit dem Kurs nach Nordost jagte das flinke Fahrzeug weiter.

 

 

II. Teil

 

Sadi Sahikari.

 

1. Kapitel.

Thomas Baumert brauchte gut fünf Minuten, bevor er sich von der freudigen Überraschung, die die plötzliche Heimkehr seines einzigen Kindes ihm bereitete, einigermaßen erholte. Immer wieder nahm er Alice in seine Arme, herzte und küßte sie. Endlich gab er sie frei, drückte sie in einen der mächtigen Klubsessel seines Privatkontors und sagte:

„So, und nun erzähle. Du kannst dir denken, wie neugierig ich bin. Möchte aber zuvor das eine wissen, weshalb du mir nicht eine Depesche geschickt hast von dem Orte aus, wo du …“

Alice hob mit vergnügtem, übermütigem Lächeln abwehrend die Hände.

„Pa, dort wo ich mich drei Monate aufgehalten habe, gab es leider kein Telegraphenamt. Und als ich dann meinen Wohnsitz zu ändern beschloß und vor …“

Sie schwieg plötzlich, um dann fortzufahren: „Nein, so begreifst du nichts, wenn ich so kunterbunt durcheinander erzähle. Also gedulde dich noch etwas! Alles hübsch der Reihe nach.“

Thomas Baumerts hageres Gesicht mit den überlegen schlauen Yankeeaugen, die für gewöhnlich jede Gefühlsäußerung so gut zu verbergen wußten, gab sich nicht die geringste Mühe all die Empfindungen, die der Bericht von seines Kindes Abenteuern in ihm auslöste, zu unterdrücken. Angst, Freude, atemlose Spannung wechselten ständig auf seinen Zügen. Bisweilen wurden ihm auch die Augen feucht vor Rührung.

Alice war jetzt mit ihrer Schilderung so weit gekommen, daß sie den zweiten Teil ihrer Flucht zu erzählen begann.

„Die Barkasse hatte, wie Marten von Watson erfuhr, Benzinvorrat und auch Proviant für etwa eine Woche bei sich, wie letzterer ja in allen größeren Booten der Seeschiffe für alle Fälle stets bereitgehalten wird. Daher hatten wir auch für die erste Zeit nichts zu fürchten und brauchten uns um die Zukunft keine Sorgen zu machen.

Watson, der nach seinen eigenen Angaben schon jahrelang in Diensten des Japaners stand, mußte von uns natürlich scharf bewacht werden. Über die Geheimnisse seines Herrn plauderte er nicht das Geringste aus, behauptete vielmehr immer wieder, daß er nichts wisse und daß Sadi Sahikari lediglich als leidenschaftlicher Jäger das Eiland hin und wieder besucht habe. –

Bei Anbruch des Tages – wir waren inzwischen fortwährend mit dem Kurse Nordost weitergejagt – hatte Fritz Marten dann einen bestimmten Entschluß gefaßt. Da er nach wie vor überzeugt war, daß unsere Glücksinsel und das namenlose Schiff Geheimnisse berge, die recht gefährlicher Natur sein mußten, erschien es ihm im Interesse der Aufdeckung dieser Geheimnisse ratsam, den Engländer für einige Zeit unschädlich zu machen. Nicht zu Unrecht erklärte mir Marten nämlich, daß es für uns unmöglich sei, Watson mit uns an Bord eines uns begegnenden Dampfers zu nehmen oder in seiner Gesellschaft bewohntes Land aufzusuchen, da der Engländer dann fraglos Sahikari sofort von dem Geschehenen benachrichtigt, oder uns sogar wegen der Entführung der Barkasse angezeigt haben würde, wodurch er Martens Absicht, die dunklen Rätsel der Glücksinsel zu enthüllen, in jedem Fall vereitelt hätte, da von dem Japaner sicherlich ohne Säumen alles Verdächtige von dem Eiland entfernt worden wäre, so besonders die beiden Leichen und die Tauchapparate, deren Auffindung mir mein Gefährte erst bei dieser Aussprache mitteilte.

Martens Plan ging nun dahin, den Engländer auf einer Koralleninsel auszusetzen. Auf der Barkasse gab es neben einem Kompaß sowie anderen seemännischen Instrumenten zur Bestimmung der Sonnenhöhe auch sehr gute Karten des Großen Ozeans. Nachdem mein treuer Beschützer nun beim Erscheinen des Sonnenballes die augenblickliche Lage unseres kleinen Fahrzeuges durch die üblichen Berechnungen, die er sich bereits auf der ‚Herta‘ von Kapitän Bolling aus Interesse an der Sache hatte zeigen lassen, festgestellt hatte, änderte er nach der Seekarte den Kurs derart, daß wir die östliche der Christmas-Inseln, die uns am nächsten lagen, anlaufen mußten.

Nach zwei Tagen tauchte vor uns denn auch wirklich ein kleines, einsames, mit Palmen bestandenes Eiland auf. Erst als das Inselchen ganz dicht vor uns lag, eröffneten wir Watson, auf welche Weise wir ihn vorläufig unschädlich zu machen gedachten. Mit einem giftigen Blick fügte der sich, wobei allerdings der Revolver wohl die überzeugende Sprache redete. Marten vergewisserte sich noch, daß das Inselchen auch eine Quelle hatte, worauf wir den Engländer, dem wir sein Taschenmesser und eine Schachtel Zündhölzer beließen, ohne weitere Gewissensbisse unsererseits aussetzten. Hunger würde er ja nicht leiden, da sowohl die reichlich vorhandenen Kokospalmen als auch das Meer ihm genügende Nahrung liefern mußten.

Wieder drei Tage später erreichten wir gegen Abend, als unser Benzinvorrat bedenklich zur Neige ging, die Hawaii-Inseln und zwar den Hafen von Pomaitu, wie wir nachher erfuhren. Bis zur völligen Dunkelheit blieben wir jedoch hinter einigen Riffen liegen, landeten dann an einer einsamen Stelle des Ufers, schlugen ein paar Löcher in den Boden der Barkasse und ließen diese ohne Besatzung mit halber Kraft in die See hinaus laufen, wo sie nach kurzer Zeit versank.

Wir selbst begaben uns zu Fuß nach dem bescheidenen Hafenort, stiegen in dem von einem Chinesen geleiteten einzigen Gasthause ab, kauften uns am nächsten Tage alles Nötige für die Fortsetzung unserer Reise und hatten das Glück, bereits am Nachmittag auf einem nach Akapulko in West-Mexiko bestimmten Frachtdampfer Aufnahme zu finden. Mit Geld war ich ja genügend versehen, auch Marten besaß noch einige Barmittel.

Von Akapulko, wo wir nach einer Woche anlangten, fuhren wir mit dem alle vier Tage verkehrenden Tourdampfer nach San Franzisko.

Nun – und da bin ich jetzt, mein guter Pa! Vorläufig allerdings inkognito, – was ich strengstens zu beachten bitte.“

„Was heißt das – inkognito?! Ich verstehe nicht, wozu …“

„Du wirst sofort in alles eingeweiht werden,“ unterbrach sie ihn ernst. „Höre also, was wir, Marten und ich, beschlossen haben. Niemand darf erfahren, daß wir gerettet sind. Du mußt also schon noch weiter deine Nachforschungen nach dem Schicksal der ‚Herta‘ und den Passagieren mit demselben Eifer fortsetzen. Ich selbst bleibe in Staaten-Point wohnen, bis diese Geschichte erledigt ist.“

„Hm, nun verstehe ich auch, Kind, weswegen du erst nach Geschäftsschluß und durch den Nebeneingang zu meinem Privatkontor, dazu noch tief verschleiert, gekommen bist,“ warf der alte Baumert ein. Und etwas zögernd fügte er hinzu: „Diese Robinsonade zusammen mit einem Herrn muß doch manchmal ein wenig peinlich für dich gewesen sein, Kind? Nun – jedenfalls müßt ihr in diesen Monaten zum mindesten euch recht gut verstanden haben – das kann ja wohl unter solchen Umständen nicht ausbleiben?“

Alice war der leise tastende, tiefere Sinn dieser Worte, die sich einem besorgten Vater über die Lippen drängten, nicht entgangen. Offen und glücklich erwiderte sie jetzt, ohne im geringsten verlegen zu werden:

„Fritz Marten ist ein Ehrenmann – und ich bin deine Tochter, Pa! Selbst wenn das Geschick uns noch länger auf der Glücksinsel gelassen hätte, wäre nie zwischen uns irgendwie zum Ausdruck gekommen, daß ein Weib und ein Mann die Einsamkeit jenes reizenden Eilandes teilten. Gute Kameraden, ja, – das waren wir. Damit sind unsere gegenseitigen Beziehungen aber auch genügend gekennzeichnet. Marten ist in seiner Korrektheit sogar so weit gegangen, mich sofort nach unserer Landung in Akapulko wieder mit Fräulein Baumert anzureden, als ob er damit andeuten wollte, daß die vertraulichere Benennung mit ‚Fritz‘ und ‚Alice‘ nunmehr ein Ende haben müsse.“

Ganz deutlich klang durch die letzten Worte etwas wie Ärger und Enttäuschung hindurch.

Der alte Baumert nickte anerkennend. „Ist ein Mordskerl, dieser Marten. Erzähle mir nun weiter von euren Plänen. Jedenfalls bin ich bis jetzt ganz damit einverstanden. Soll das Geheimnis der Glücksinsel und das des namenlosen Schiffes enthüllt werden, so müßt ihr euch noch verborgen halten. Da hat Marten ganz Recht.“

„Alles andere wollte mein treuer Beschützer mit dir selbst besprechen, Pa,“ erwiderte das Millionärs Tochter. „Er nimmt an, daß du ihn bei seinen Absichten so etwas unterstützen wirst. Es ist jetzt sieben Uhr. Um diese Zeit wollte er hier sein. Ich selbst muß jetzt fort. Der letzte Abenddampfer nach Staaten-Point geht um halb acht Uhr. Das heißt also scheiden. –

Leb wohl, Pa. – Auf Wiedersehen! Suche mich doch morgen Vormittag in meiner dortigen Wohnung auf. Aber sei vorsichtig, damit du mich nicht verrätst. Ich bin bei der Zimmervermieterin unter dem Namen eines Fräulein Doris Albana aus Sakramento als sehr erholungsbedürftige junge Dame abgestiegen.“

Noch ein Kuß, und dann verschwand sie durch den zweiten Ausgang, der auf eine Nebentreppe mündete. Ungesehen betrat sie die Straße und schritt in der Richtung auf die nächste Autohaltestelle davon. Sie fühlte sich etwas abgespannt und wollte den Weg bis zum Hafen nicht zu Fuß zurücklegen. Da kam gerade ein leeres Automobil hinter ihr her. Das war ein glücklicher Zufall. Auf das warnende Hupensignal hatte sie sich umgedreht und dem Chauffeur zugewinkt.

„Hafen, viertes Bollwerk,“ rief sie, denn von dort gingen die Tourendampfer nach Staaten-Point ab. Dann stieg sie ein.

Das Auto jagte davon. Gewandt wie ein lebendes Wesen schlängelte es sich durch den lebhaften Verkehr einiger Hauptstraßen und bog dann in eine schmale Gasse ein, die zwischen Reihen turmhoher Warenspeicher hindurch führte. Hier war’s ganz einsam und still um diese Zeit. Nur hin und wieder tauchte die Gestalt eines patrouillierenden Wächters auf, der, begleitet von seinem Hunde, die in den Speichern aufgestapelten Millionenwerte gegen lichtscheues Gesindel schützte.

Plötzlich hielt das Auto. Alice, die vor sich hinträumend in einer Ecke gelehnt hatte, schaute auf. Beide Türen wurden hastig geöffnet, zwei behende Gestalten drängten sich hinein, warfen der jungen Frau eine dicke Decke über den Kopf, hielten sie fest. Und schon raste das Auto weiter. Alice wollte schreien. Aber brutale Hände drückten ihr warnend die Kehle zu, und Todesdrohungen erreichten undeutlich ihr Ohr. Wahnsinniges Entsetzen kroch ihr zum Herzen. Ihr letzter Gedanke war: ‚Sadi Sahikari!‘ Dann wurde sie ohnmächtig. – – –

Der alte Baumert wartete umsonst bis gegen halb neun Uhr auf Fritz Marten. Schließlich klingelte er nach dem Bureaudiener, der vorn in den Gesellschaftsräumen sich stets so lange aufhalten mußte, bis auch der fleißige Prinzipal verschwand.

„Hopkins,“ sagte Baumert zu dem Eintretenden, „falls noch ein Herr nach mir fragen sollte, so schicken Sie ihn zu mir nach Hause. Der Betreffende wird sicher hier an dem Nebeneingang klopfen. Bleiben Sie also noch etwa eine Stunde in meinem Privatkontor. Da liegen Zeitungen, und zwei Zigarren sollen Ihnen weiter die Zeit vertreiben helfen. – Guten Abend, Hopkins.“

Baumerts elegantes Auto stand bereits eine Stunde vor dem großen Gebäude, in dem die Weltfirma ihr Heim aufgeschlagen hatte. Der Millionär stieg ein, drehte die Deckenlampe an und vertiefte sich in die Börsenberichte der Abendzeitungen. Zwanzig Minuten währte die Fahrt. Dann war die schloßähnliche Villa erreicht, die Baumert sich vor einigen Jahren außerhalb der Stadt erbaut hatte.

Frau Behrend, ebenfalls eine geborene Deutsche und seit langem Haushälterin des reichen Großkaufmanns, wunderte sich heute Abend nicht wenig über die gute Laune ihres Herrn.

Leider sollte das Abendessen zum Schluß noch durch einen besonderen Zwischenfall gestört werden. Einer der Diener erschien nämlich plötzlich mit allen Anzeichen großer Erregung und erklärte, daß man soeben im Erdgeschoß einen Einbrecher erwischt habe, der nach Eindruck einer Scheibe des Fensters der Vorratskammer in den Gang neben der Küche gelangt und hier von einem der Hausmädchen zum Glück noch bemerkt worden sei, bevor er sich in die herrschaftlichen Räume habe einschleichen können.

Zwei kräftige Kutscher hielten den Einbrecher fest, während der Millionär ihn auszufragen suchte.

Nur widerwillig beantwortete er einige Fragen Baumerts. Seine Stimme klang rauh wie die eines Gewohnheitstrinkers.

„Hunger hab’ ich gehabt,“ erklärte er unter anderem in einem nicht ganz reinen Englisch. „Ihr verd… Geldsäcke mästet euch, während wir darben müssen. Die Pest über Euch! Sperrt mich nur ruhig ein. Dann habe ich wenigstens für den Winter ein Unterkommen.“

Dann führte er die rechte Hand zum Munde, als wolle er sich den Bart streichen. In Wirklichkeit legte er jedoch mit einem scharfen, durchdringenden Blick auf den Millionär vielsagend einen Finger auf die Lippen und fügte, scheinbar sich selbst verspottend hinzu:

„‘ne Glücksinsel ist dies Haus hier also für mich doch geworden.“

Baumerts reger Geist hatte im Augenblick alles begriffen. Jetzt erkannte er den angeblichen Einbrecher auch wieder, nachdem er durch das eine Wort, welches er heute verschiedene Male von seiner Tochter gehört hatte, auf die richtige Spur gelenkt worden war.

„Laßt den Mann los, Leute,“ befahl er den beiden Kutschern, die von dem kleinen Zwischenspiel nichts bemerkt hatten. „Er soll sich hier an meinem Tische noch einmal satt essen, bevor die Polizei ihn holt. Wartet draußen vor der Tür – für alle Fälle. – Und Sie, Frau Behrend, besorgen schnell noch etwas kalte Speisen.“

Baumert und der Einbrecher waren allein.

„Ich bin Fritz Marten,“ flüsterte dieser hastig. „Lassen Sie mich ruhig einsperren. Kommen Sie morgen in meine Zelle im Polizeigefängnis. Dann werde ich Ihnen alles erklären. Und jetzt holen Sie sofort die beiden Männer wieder herein. Wir müssen jeden Anschein vermeiden, daß ich nicht ganz echt als Einbrecher bin. Es muß sein! Meine Gründe für dieses Verhalten werden Sie morgen schon begreifen.“

Der Millionär hätte zu gern noch etwas gefragt. Aber Marten machte eine befehlende, ungeduldige Bewegung mit der Hand, worauf Baumert die beiden Kutscher hereinrief, indem er erklärte, der Spitzbube komme ihm mit seinem finsteren Gesicht doch nicht ganz geheuer vor und es sei daher besser, daß er streng bewacht werde.

Bald kam die Polizei und nahm den zerlumpten Kerl in Empfang. Baumert aber setzte sich auf denselben Stuhl, den der Verhaftete noch eben innegehabt hatte, schüttelte den Kopf und dachte: ‚Unglaublich – unglaublich! Und wie tadellos der Mensch seine Rolle spielte! Ein Genie dieser Marten, und für mich eine erstklassige Akquisition! Bin nur neugierig, was er mir morgen für Überraschungen auftischen wird.‘

 

2. Kapitel.

Sadi Sahikari, der japanische Millionär, besaß in der Nähe des Außenhafens in einer nur von seinen Landsleuten bewohnten Straße ein älteres Gebäude, das sogar das letzte große Erdbeben, dem fast ganz Frisko zum Opfer gefallen war, überdauert hatte. Das Grundstück, auf dem das Haus stand, erstreckte sich bis zu der nächsten Parallelstraße hin. Hier hatte Sahikari für sein Geschäft einen mächtigen, modernen Palast erbauen lassen, während das Terrain zwischen diesen beiden Gebäuden von Lagerspeichern und kleinen Mietskasernen für die Angestellten ausgefüllt war, – alles dies mit praktischster Ausnutzung des vorhandenen Raumes.

Der Japaner saß zu derselben Zeit, als man bei Baumert den ‚Einbrecher‘ noch einmal satt fütterte, in dem Arbeitszimmer seiner Privatwohnung und las eine Anzahl Kabeldepeschen durch, die sein Sekretär Hajuma ihm soeben vorgelegt hatte.

Sadi Sahikari warf ärgerlich die Depesche auf die Platte seines mächtigen Schreibtisches.

„Keine Spur also von Watson!“ meinte er zu dem Sekretär, der an einem Nebentischen eifrig geschrieben hatte. „Alle Anfragen an unsere Agenten umsonst! Ich begreife das nicht. Wo dieser Deutsche ihn nur gelassen haben mag? Getötet, beseitigt? – Ausgeschlossen! Dazu haben diese ehrenwerten Kinder der berühmten Germania zu viel Gewissen! Also – wo steckt er?!“

Der anderen Japaner, ein noch junger Mann, zuckte die Achseln.

„Wir müssen uns eben gedulden. Gefunden wird er sicher. Bei unserer Organisation!!“

„Die dieses Mal zu versagen scheint!“ knurrte Sahikari wie eine fauchende Katze.

Das weitere Gespräch wurde durch den Eintritt eines Dieners unterbrochen, der dann den japanischen Generalkonsul von San Franzisko, Dr. Okiwata, anmeldete.

Sahikari entließ daraufhin seinen Sekretär, ging dem Gaste entgegen und geleitete ihn in sein Arbeitszimmer, wo beide nach nochmaliger Begrüßung Platz nahmen.

„Wir haben uns sehr lange nicht gesehen,“ begann der Generalkonsul, ein älterer, sehr geschniegelter Herr mit weißem Vollbart. „Deine Berichte waren recht kurz und inhaltlos. Und doch muß sich irgend etwas zugetragen haben, etwas Besonderes. Deine Jacht liegt auffallenderweise in Mazatlan statt im hiesigen Hafen, und deine Agenten zeigten heute im Laufe des Tages eine seltene Rührigkeit. Deswegen komme ich hauptsächlich zu dir. Zu welchem Zweck um alles in der Welt dieser Streich gerade gegen eine amerikanische Bürgerin? Ich begreife das nicht?! Wir müssen hier in Kalifornien peinlich alles vermeiden, um ja keinen Anstoß zu erregen, das weißt du!“

Dr. Okiwata hatte das Letzte in verhaltenem Mißton gesagt.

Sahikari lächelte nur überlegen. „Ich sehe, du bist recht gut unterrichtet. Unser weitausgedehntes Spionagenetz schließt uns selbst ebenfalls in seine Maschen ein, so daß wir keine unbeobachtete Bewegung machen können. –

Was die Tochter Thomas Baumerts anbetrifft, muß ich schon etwas ausführlicher werden. Ihr Verschwinden war nötig – unbedingt! Höre also … –

Als ich im Monat Mai mich zu der großen Reise nach Japan rüstete, wo ich allerlei persönlich zu erledigen hatte, gedachte ich zunächst unsere Insel aufzusuchen. Ich wollte mich überzeugen, ob dort noch alles beim Alten war.

Die Anreise wurde von schönstem Wetter begünstigt. Dann brach ein Sturm los, der tagelang anhielt. Ich mußte die Jacht des Orkans wegen sogar zwischen die Klippen des Eilandes laufen lassen, da sie sich im offenen Meere nicht mehr halten konnte.

Am 12. Mai nachmittags meldete der auf der Westseite der Insel aufgestellte Ausgucksmann, daß ein Rettungsboot sich mit einer größeren Anzahl von Schiffbrüchigen der Brandung nähere. Das Boot kenterte dann, und nur zwei Personen gelangten durch einen Zufall lebend an das Ufer.

Für alle Fälle hatte ich schon vorher die Besatzung an Bord der Jacht gehen lassen und war nur mit meinen sichersten Leuten auf dem Eiland geblieben. Die beiden Geretteten verunglückten leider und wurden verscharrt.“

Die letzten Sätze begleitete Sahikari mit einem teuflischen Grinsen. „Dann kam ein treibender, wracker Dampfer in Sicht. Inzwischen hatte der Sturm nachgelassen, und die ‚Sonne‘ stach in See. Auf dem Wrack befanden sich, wie wir sahen, zwei Leute, ein Mann und ein Weib. Letzteres war die Tochter Thomas Baumerts, die ich durch das Glas deutlich erkannte.“

„Ah, ich beginne zu verstehen,“ warf Okiwata ein.

„Aus Vorsicht blieben wir nun bis zum nächsten Tage außer Sicht der Insel, kehrten dann zurück und suchten nach dem Mann und der Frau, deren Rettung mir allerdings sehr unwahrscheinlich dünkte. Wir fanden nichts, obwohl ich von mehreren Trupps das Eiland durchforschen ließ. Meine Erwartung, daß uns auch diese beiden Personen nicht mehr gefährlich werden könnten, schien also eingetroffen zu sein.

Ich ging nun nach Japan und blieb dort fast drei Monate, wie du weißt! Da in der Heimat entdeckte ich auch in amerikanischen Zeitungen die Aufrufe Baumerts, in denen er dem eine hohe Belohnung zusicherte, der ihm über das Schicksal der ‚Herta‘, jenes wracken, von mir beobachteten Dampfers, und über den Verbleib der Besatzung und der Passagiere Auskunft geben könne. Niemand hat sich gemeldet. Die ‚Herta‘ gilt mit Recht als in jenem Orkane verloren gegangen. –

Auf der Rückreise von Japan lief ich dann unsere Insel in der üblichen Weise an, ging mit der Barkasse und den drei Eingeweihten an Land und schickte bei Dunkelheit erst das von Watson gesteuerte Motorboot zur Jacht zurück mit dem Befehl, mich und meine Begleiter nach zwei Tagen wieder abzuholen. Ich will noch hervorheben, daß wir auf der Insel keinerlei Anzeichen dafür fanden, daß jemand inzwischen dort gelandet sei.

Unser Dampfer saß wie früher fest zwischen den Riffen in der Bucht, war sogar wieder ein Viertel Meter tiefer gesunken, und das Wasser stand im Innern bis zu den Treppen des Maschinenraumes und bildete nach wie vor den besten Schleier für die Geheimnisse dieses rostbedeckten Schiffes, nach dem vor nunmehr drei Jahren die ganze amerikanische Flotte umsonst gesucht hat. –

Watson verließ uns also mit der Barkasse und fuhr durch die Klippenstraße nach der auf See ankernden ‚Sonne‘ hin. Ein Zufall wollte es, daß ich meine Kabine auf unserem Dampfer nochmals verließ und ohne bestimmten Zweck mit einem guten Glase dem Motorboot nachschaute, das mit seinem Scheinwerfer in mäßiger Geschwindigkeit durch die Klippen steuerte.

Da – gerade passierte es eine Stelle, wo ich den hellen Lichtkegel trotz des dunstigen Wetters deutlich zwischen den Klippen sehen konnte, erblickte ich gegen den weißen Hintergrund des leuchtenden Scheinwerfers die Silhouetten von … drei Personen, die sich plötzlich auf der Barkasse befanden. Sie standen in der Mitte des Bootes dicht zusammen, und sofort zuckte ein böser Verdacht in mir auf, der dadurch seine Bestätigung erhielt, daß sehr bald der Scheinwerfer erlosch. Draußen in See lag zwar dichter Nebel; trotzdem konnte ich aber noch feststellen, daß das Licht nicht etwa durch die Nebelmassen meinem Auge entzogen worden war. Da Watson keinerlei Veranlassung hatte, den Scheinwerfer zu löschen, mußten ihn die beiden so plötzlich auf dem Motorboot erschienenen Personen in ihrer Gewalt haben. Sofort alarmierte ich meine drei Vertrauten.

Wir nahmen unsere Gewehre und gelangten nach einer mühseligen Kletterpartie im Dunkeln bis auf die Spitze der Klippen-Halbinsel. Dort eröffneten wir ein förmliches Schnellfeuer, um die Männer der Jacht aufmerksam zu machen. Dies gelang auch wirklich. Kapitän Taioto schickte ein Boot, das nachsehen sollte, was die Schießerei zu bedeuten habe.

So kamen wir wieder an Bord. Leider war der Nebel jedoch so dicht geworden, daß an eine Verfolgung der entführten Barkasse, in die sich die beiden Fremden bei Dunkelheit eingeschlichen haben mußten, nicht gedacht werden konnte. Erst gegen Morgen wurde die Sicht klar. Wir untersuchten nun schleunigst die Insel sehr genau und entdeckten bald hier und da Eindrücke von Schuhen, die bewiesen, daß ein Mann und ein Weib sich längere Zeit auf dem Eiland aufgehalten haben mußten. Von einer Unterkunft oder dergleichen sahen wir jedoch nichts.

Da nun die größte Wahrscheinlichkeit dafür sprach, daß diese beiden Personen die Tochter Baumerts und jener zweite Insasse des treibenden, wracken Dampfers gewesen seien, da ferner anzunehmen war, daß sie versuchen würden, einen der nächsten Hafenorte der Westküste Amerikas zu erreichen, fuhr ich mit der Jacht nach Panama und gab von dort an unsere Agenten sämtlicher Häfen der Westküste chiffrierte Depeschen auf, damit mir sofort die Ankunft des Paares gemeldet werden sollte, wobei mir sehr zu statten kam, daß ich Alice Baumert genau zu beschreiben vermochte.

Nach zwei Wochen bangen Harrens traf aus Akapulko telegraphische Nachricht ein, daß dort soeben mit einem Frachtdampfer ein Mann und ein junges Mädchen, auf das meine Beschreibung passe, angekommen seien. Augenblicklich fuhr ich mit der Jacht von Panama ab, traf gestern morgen in der Nähe von Frisko ein, ließ mich an der Küste ausbooten und schickte die ‚Sonne‘ nach Mazatlan, wo sie ständig unter Dampf bleiben soll. Hier wollte ich die Jacht nicht belassen, damit meine weiteren Schritte nicht überwacht werden konnten. Muß ich doch befürchten, daß vielleicht die Behörden mir in nächster Zeit eine sehr unliebsame Beachtung schenken werden.

Freilich – nützten wird ihnen das nicht viel. Die Besatzung meiner Jacht gehört bis zum letzten Mann zum Bunde und würde sich eher hängen lassen, ehe sie ein Wort verriete. Selbst Watsons bin ich ganz sicher. Der ist ja außerdem spurlos verschwunden. Vielleicht haben meine Nachforschungen nach ihm, die ich ebenfalls durch unsere Agenten anstellen ließ, noch Erfolg, obwohl ich dies kaum mehr annehme. In allen Häfen des Stillen Ozeans ist angefragt worden, in allen. Dort auf meinem Schreibtisch liegen noch die eingegangenen Depeschen. Sie lauten sämtlich verneinend. –

Doch zurück zu Alice Baumert und ihrem Gefährten. Infolge der schlechten Verbindung von Akapulko nach hier – es geht nur alle vier Tage ein Dampfer, und die beiden mußten daher volle sechsunddreißig Stunden auf den nächsten warten – traf ich also vor ihnen hier ein. Der Landweg kam für sie ja überhaupt nicht in Frage, da sie sonst sehr zeitraubende Umwege bis zur Eisenbahnhauptstrecke Mexiko-Yuma-San Franzisko hätten machen müssen. So konnte ich für ihren Empfang das Nötige vorbereiten.

Der Tourendampfer von Akapulko hatte hier kaum am Kai angelegt, als auch schon meine Leute da waren und Schiff und Passagiere keinen Augenblick unbeobachtet ließen. Unser Pärchen bewies nun sofort, daß es besondere, heimliche Zwecke verfolge. Anstatt sich an Land zu begeben, bestellte es ein Motorboot und fuhr mit diesem nach Staaten-Point hinaus, wo Alice Baumert sich unter anderem Namen ein Zimmer mietete, während ihr Gefährte bald darauf nach Frisko zurückkehrte und in einem billigen Hotel unter dem Namen Fritz Marten, – wahrscheinlich in der Hoffnung, daß er es nicht nötig habe, als hier gänzlich Unbekannter seine Personalien zu ändern. Er heißt nämlich tatsächlich Marten, wie ich aus der Passagierliste der verschollenen ‚Herta‘ festgestellt habe, auf der ein Deutscher dieses Namens zusammen mit Thomas Baumerts Tochter von Samoa gleichzeitig abgefahren war.

Somit kennen wir nun auch diesen Menschen, der damals sich von dem wracken Dampfer auf unsere Insel retten konnte und dort mit Alice Baumert zusammen so lange gehaust hat, bis sich beiden Gelegenheit bot, mit der Barkasse zu entfliehen. Und gerade diese heimliche, ebenso verwegen wie geschickt ausgeführte Flucht beweist uns, wie sehr wir das Paar zu fürchten haben. Ich bin überzeugt, daß der Deutsche, der ein heller Kopf sein muß, aus dem Vorhandensein des verrosteten Dampfers, von dem alles entfernt ist, was auf dessen Heimathafen einen Schluß zuläßt, sowie aus der wiederholten Anwesenheit meiner Jacht bei dem Eiland und anderen Umständen zu der Überzeugung gelangt sein muß, welche Gefahren ihm und seiner Begleiterin von uns drohen würden, falls wir die beiden auf der Insel erwischt hätten.

Mit einem Wort – er hatte gegen uns Verdacht geschöpft. Wie weit er unsere Geheimnisse kennt, weiß ich nicht. Es genügt jedoch schon, daß diese zwei Personen von der Existenz des Eilandes und des dort in der Bucht auf Grund gesetzten Dampfers Kenntnis erlangt haben, um sie uns als gefährliche Feinde erscheinen zu lassen.

Deshalb meine Bemühungen ihnen auf der Spur zu bleiben, deshalb mein heutiger Anschlag auf Baumerts Tochter, der leider erst erfolgte, nachdem diese bei ihrem Vater gewesen war. Dies ließ sich jedoch nicht vermeiden. Mithin haben wir es nunmehr mit einem weiteren Gegner zu tun – mit Thomas Baumert, dem seine Tochter sicherlich alle Einzelheiten ihres Aufenthaltes auf dem Eiland und ihrer Flucht von dort erzählt hat. Trotzdem wird er, bevor er die Behörden uns auf den Hals hetzt, sich erst mit jenem Marten ins Einvernehmen setzen wollen um dessen Rat zu hören. Bisher ist dies nicht geschehen. Wir haben das Hotel, in dem der Deutsche wohnt, scharf bewacht. Seit seiner Ankunft in demselben hat er es nicht wieder verlassen.

Und – tut er es, so gelangt er lebend nicht zu Thomas Baumert. Dafür ist gesorgt. Ich erwartet noch heute Abend einen Bericht unseres Agenten über ihn. –

So liegen die Dinge.“

Der Generalkonsul hatte ohne eine Miene zu verziehen zugehört. Sein von unzähligen Falten und Fältchen durchkreuztes Gesicht nahm jetzt einen nachdenklichen Ausdruck an.

„Sehr gut das alles. Nur – was unternehmen wir gegen Baumert? Auch er muß unschädlich gemacht werden. Das verlangt unsere Sicherheit.“

Ganz geschäftsmäßig, als handle es sich um die gleichgültigsten Dinge, hatte seine Stimme geklungen. Sahikari zuckte die Achseln. „Es wird nichts anderes übrig bleiben, als ihn noch in dieser Nacht auszulöschen. Morgen schon kann er zum Verräter werden. Ich dachte daran, bei ihm einbrechen zu lassen. Dann ist er eben von Dieben erstochen oder erschossen worden.“

Die beiden Vertreter jenes Inselvolkes, das sich nicht ganz zu Unrecht ‚die Engländer des Ostens‘ nennt, – an Gewissenlosigkeit, Schlauheit und brutaler Energie gleichen die beiden Völker sich ja tatsächlich nur zu sehr! – erwogen nun kaltblütig, was vorteilhafter sei, entweder Baumert sofort ermorden zu lassen oder sich ebenfalls nur seiner Person fürs erste zu bemächtigen.

Okiwatas Vorschlag wurde schließlich angenommen. Und unverzüglich ging man auch an deren Ausführung. Ein verkleideter Diener Sahikaris gab auf einem entfernten Postamt ein Stadttelegramm an Thomas Baumert auf, das folgendermaßen lautete:

Muß dich sofort sprechen. Halb zwölf warte im Auto Kansas-, Ecke Regentstreet. Betrifft Insel.

Alexander.

Diese Depesche war in ihrer Art ein kleines Kunstwerk von verruchtem Raffinement. Der Hinweis auf die Insel und der Name Alexander mit der Ähnlichkeit mit Alice mußten ihre Schuldigkeit tun. –

Dann ließ Sahikari durch seine Leute schleunigst ein geschlossenes Mietsauto besorgen, das gegen Hinterlegung seines Wertes von dem Besitzer auch ohne Chauffeur einem bescheiden aussehenden Japaner zu einem zweitägigem, eiligen Ausflug nach Sakramento zur Verfügung gestellt wurde und mit dem derselbe dann sofort davonfuhr.

Sehr bald stiegen in dieses Auto zwei weitere Gelbe ein, von denen der eine in die übliche Chauffeurtracht gekleidet war. Dieser übernahm nun die Leitung des Wagens, der bereits zehn Minuten vor der angegebenen Zeit an der Ecke Kansas- und Regentstreet, einer sehr stillen Gegend, anlangte. Hier wartete schon eine dicht verschleierte weibliche Gestalt, – niemand anders als Sahikaris vielseitiger Sekretär Hajuma, der sich sofort in das Auto setzte und zu dem Fenster hinausschaute, das der Häuserfront am nächsten lag. In dem dunklen Innern des Wagens hockten außerdem noch die beiden Helfershelfer.

Thomas Baumert hatte auf die Depesche hin sogleich sein Auto bestellt und war dann bis in die Nähe der Regentstreet gefahren, wo er dem Chauffeur zu warten befahl und zu Fuß bis zur nahen Ecke der Kansasstreet ging. Ahnungslos folgte er dem Wink der verschleierten Frauengestalt, in der er seine Tochter vermutete, die ihm ohne Frage wichtige Mitteilungen zu machen hatte. Er öffnete die Tür des fremden Autos, wurde sofort ergriffen, sein Kopf verhüllt, sein Körper hineingezerrt und die Tür hinter ihm zugeschlagen, worauf der Kraftwagen davonraste. Die Decke, die man dem so Überrumpelten über den Kopf geworfen hatte, war mit Chloroform getränkt. Schnell erstickten seine Hilferufe, schwanden sein Bewußtsein und damit sein Widerstand.

Ratlos harrte Baumerts Chauffeur in der Regentstreet auf die Rückkehr seines Herrn bis gegen Morgen. Dann erst fuhr er nach Hause.

Während die verschwiegenen Untergebenen Sadi Sahikaris die Vorbereitungen für den Anschlag auf Thomas Baumert trafen, war einer der mit der Bewachung Fritz Martens betrauten Agenten zur Berichterstatter bei seinem Auftraggeber erschienen.

Doktor Okiwata, der bei seinem Landsmann und Freunde noch den Erfolg des gegen Baumert geplanten Streiches abwarten wollte, hörte diesen Bericht ebenso kaltblütige mit an wie Sahikari selbst. –

Der Agent meldete folgendes:

„Erst um halb neun Uhr abends hat der Deutsche das Hotel verlassen und sich in den Washington Park begeben, wo er sich auf eine Bank setzte und eine Zigarre rauchte. Er trug noch genau dieselbe Kleidung wie bei seiner Ankunft in San Franzisko, nur hatte er den Bart anders verschnitten und einen weichen Filzhut tief in die Stirn gedrückt. Aus seinem ganzen Benehmen war zu schließen, daß er unauffällig nach heimlichen Verfolgern ausschaute. Nach einer halben Stunde erhob er sich wieder und betrat den nur schwach beleuchteten Aussichtspavillon auf der obersten Parkterrasse. Hier ist er lautlos verunglückt.“

Weder Doktor Okiwata noch Sadi Sahikari hielten es für nötig, noch eine weitere Frage an den Agenten zu richten. Der Mann bekam ein reichlich bemessenes Geldgeschenk und verschwand.

Und wieder eine Stunde später betrat der Sekretär das Arbeitszimmer. Die Verkleidung hatte er bereits abgelegt.

„Der Befehl ist ausgeführt,“ meldete er kurz. „Ohne jeden Zwischenfall,“ fügte er noch hinzu.

„Gut. – Telegraphiere sofort nach Mazatlan, daß die ‚Sonne‘ übermorgen Nacht in der Bai von Staaten-Point eintreffen muß. Die beiden Gefangenen werden bis dahin in ihrem Versteck gelassen und dort verpflegt und bewacht in der Weise, wie ich dies schon anordnete – von Sinto Oki, der sein Gesicht sorgfältig verhüllt halten muß. Alles weitere bestimme ich nach der Ankunft meiner Jacht.“ –

Sahikari machte eine kurze Pause.

„Nebenbei bemerkt, Hajuma, – was dich interessieren dürfte – der Deutsche ist erledigt!“

Der Sekretär nickte kalt. „Es ist nicht ratsam, mit uns anzubinden. Das haben schon viele erfahren,“ sagte er dabei mit grausamem Spott.

 

3. Kapitel.

Der Polizeigefangene, der wegen Einbruchs in die Villa Thomas Baumerts verhaftet worden war, wurde am nächsten Morgen zum ersten Verhör dem zuständigen Beamten vorgeführt, weigerte sich aber hartnäckig, seinen Namen, überhaupt seine Personalien, anzugeben. Ebenso hüllte er sich über die Beweggründe zu seinem Eindringen in das Haus des Millionärs in recht verdächtiges Stillschweigen. Die übliche Ausrede, daß er nur Hunger gehabt habe und etwas zu Essen ergattern wollte, glaubte ihm hier niemand.

Der Beamte zeigte mit überlegenem Lächeln auf das Dolchmesser und den geladenen Revolver, die man dem Diebe abgenommen hatte und die jetzt auf dem Tische als schwerbelastende Beweisstücke lagen. Aber auch hierzu zuckte der Mensch mit dem verwilderten Vollbart nur in aller Seelenruhe die Achseln, wie er denn überhaupt durch nichts aus der Fassung zu bringen war und sich aus der ihm drohenden Strafe offenbar nicht das Geringste machte.

Nach dieser vorläufigen Vernehmung in seine Zelle zurückgekehrt, wartete Fritz Marten – er war ja tatsächlich der Verhaftete – mit einer gewissen Ungeduld auf das Erscheinen Thomas Baumerts. Sein Plan, wie er jetzt den Feldzug gegen Sadi Sahikari eröffnen wollte, war bereits in allen Einzelheiten fertig. Innerlich freute er sich sehr, den Japaner so schlau überlistet und von seiner Fährte abgebracht zu haben. Nur eins bereitete ihm etwas Sorge: Die Ungewißheit, ob Alice auch den Brief erhalten hatte, der von ihm nach Staaten-Point geschickt worden war, nachdem er bemerkt hatte, daß ein paar von den gelben Affen ihm stetig auf den Fersen blieben. In dem Briefe, den er durch einen der Bedienten des Gasthauses, wo er abgestiegen war, besorgen ließ, hatte er seiner Verbündeten genau angegeben, auf welche Weise sie sich den Spionen des gefährlichen Sahikari entziehen sollte und wie und wo sie dann wieder miteinander in Verbindung treten wollten.

Der Vormittag verging. Aber Thomas Baumert erschien nicht. Der Nachmittag und der Abend verstrichen ebenfalls. Niemand fragte nach dem Verhafteten. Da wurde Fritz Marten schließlich doch von einer seltsamen Unruhe befallen. Er ahnte, daß irgend etwas inzwischen passiert sein mußte, wodurch seine Lage jetzt beinahe verzweifelt wurde.

Der Gefangene schlief wenig in der nur zu schnell hereinbrechenden Nacht. Sorge und Ungewißheit verscheuchten den Schlummer.

Der neue Tag kam. Aber auch dessen Stunden gingen dahin, ohne daß sich etwas ereignete. Nur eine jetzt fast fieberhafte Ungeduld beherrschte den Verhafteten, die ihn ruhelos die enge Zelle durchwandern ließ.

Gegen Abend wurde ihm dann eröffnet, daß er noch an diesem Tage in das Gerichtsgefängnis überführt und dort alsbald vor dem Richter die Verhandlung gegen ihn stattfinden werde. Da zuckte zum ersten Mal ein böser Schreck durch sein Hirn, der seiner eigenen Person galt. Grübelnd saß er auf dem Holzschemel und starrte vor sich hin. Aber auch jetzt bewies Fritz Marten, daß der alte Baumert ihn nicht falsch eintaxiert hatte. Und bald war ein Plan für einen Weg gefunden, der ihm gestattete, seine Geheimnisse auch weiter der Öffentlichkeit zu entziehen.

Der nächste Morgen fand ihn bereits in einer der Zellen des Gerichtsgefängnisses für Untersuchungsgefangene. Dann, zum zweiten Mal zum Verhör vor einen anderen Beamten gebracht, blieb er bei seinem hartnäckigen Stillschweigen. Nur die Gestellung eines Verteidigers verlangte er, denn darauf hatte er nach kalifornischem Gesetz Anspruch.

„Nennen Sie mir bitte den zuverlässigsten Anwalt für Kriminalsachen,“ sagte er höflich zu dem Beamten. „Ich weiß keinen, da ich bisher mit den Gesetzen noch nie in Konflikt geraten bin und daher einen Verteidiger nicht brauchte.“

Daß er überhaupt in Frisko unbekannt war, verschwieg er schlauer Weise.

Der Beamte nannte ihm widerwillig einige Namen. Darunter war auch einer, der so vertrauensvoll deutsch klang: Doktor Ernst Müller.

Am späten Nachmittag erschien dieser Doktor Ernst Müller dann wirklich bei Marten in der Zelle. Er war ein stattlicher Mann in mittleren Jahren, sah recht vertrauenerweckend aus und hatte gleich dem Untersuchungsgefangenen ein paar Schmisse auf der linken Wange.

Dann waren die beiden allein. Der Aufseher hatte die Zellentür hinter dem Anwalt wieder verschlossen. Dieser setzte sich jetzt nach kurzem Gruß auf den Schemel, legte seine Aktenmappe auf den kleinen Tisch und begann geschäftsmäßig, aber freundlich:

„Sie wünschen, daß ich Ihre Verteidigung übernehme?“

Er bediente sich dabei der englischen Sprache.

Marten, der vor ihm stand, beugte sich tief zu dem Landsmann hinab und erwiderte in vorsichtigem Flüsterton:

„Sprechen wir Deutsch mit einander. Und – wenn Sie vielleicht drüben in Europa Korpsstudent gewesen sind, was ich aus Ihren Schmissen schließe, so will ich Ihnen gleich verraten, daß auch ich in Deutschland studiert habe und im Korps Lusatia-Leipzig aktiv war. Meine Mensurandenken im Gesicht sind jetzt nur durch den Urwald von Bart verdeckt.“

Doktor Müller, der hier eine der vielen gescheiterten Existenzen, wie sie von Deutschland nach Amerika abgeschoben werden, vor sich zu haben glaubte, reichte Marten herzlich die Hand.

„Ich begrüße Sie als Landsmann! Wenn ich auch vor einigen Jahren aus Geschäftsrücksichten amerikanischer Bürger geworden bin, – im Herzen blieb ich Deutscher. Gern will ich Ihnen helfen, sehr gern. Nur fürchte ich, wird dies schwer halten, wenn Sie auch mir gegenüber so verschwiegen sind, wie Sie’s bei den Vernehmungen waren. Die Protokolle darüber sind mir vorgelegt worden. Beinahe habe ich daraus den Eindruck gewonnen, daß dieser Einbruch bei dem Millionär mit irgend einem Geheimnis zusammenhängt. Auch die Zeugenaussagen der beiden Kutscher, durch die Sie Thomas Baumert vorgeführt wurden, habe ich nämlich eingesehen. Dabei fiel mir nur auf, daß Baumert einen Augenblick seine Leute hinausschickte und mit Ihnen im Speisezimmer allein blieb. Ich vermute, daß …“

Marten unterbrach ihn durch eine Handbewegung.

„Ich habe Vertrauen zu Ihnen und will Ihnen reinen Wein einschenken, Herr Doktor. Unsere Unterredung dürfte ziemliche Zeit in Anspruch nehmen. Daher müssen wir alles Überflüssige vermeiden. –

Vorher nur eine Frage: Wollen Sie Ihre Zeit einem Kriminalfalle widmen, der Ihnen vielleicht keine großen pekuniären Vorteile, dafür aber sicherlich Ruhm und somit die beste Reklame einbringen wird? Es handelt sich um eine Angelegenheit, deren Fäden bis zu den einsamsten Breiten des Stillen Ozeans hinreichen, um einen Kampf mit verschlagenen, brutalen Feinden.“

Müller hatte aufgehorcht. Er witterte hier einen Fall, der, wenn nichts anderes, so doch jedenfalls die Möglichkeit zu schnellem Bekanntwerden seines Namens bot. Wie ein Phantast, der aus einer Mücke einen Elefanten machte, sah dieser Landsmann hier nicht aus. Seine Andeutungen mußten einen tatsächlichen Hintergrund haben. Und daher erwiderte der Anwalt festen Tones:

„Ich will. Verfügen Sie ganz über mich.“

„Sie werden diese Zustimmung kaum zu bereuen haben, Herr Doktor,“ fuhr Marten fort. „Doch noch eins! Geben Sie mir Ihr Ehrenwort, daß Sie nur mit mir gemeinsam und nach vorheriger Vereinbarung mit mir in Tätigkeit treten. Mein ganzes Sinnen und Trachten hängt so sehr an den Geheimnissen, denen ich durch eine Schicksalsfügung auf die Spur gekommen bin, daß ich selbst handelnd und aufklärend in dieses dunkle Getriebe eingreifen will. –

Gut, ich habe jetzt Ihr Wort. Und dieser Handschlag, ausgetauscht zwischen zwei Landsleuten, macht uns zu Verbündeten.“

Was der Anwalt dann zu hören bekam, war nun wirklich so abenteuerlich, daß, wenn nicht ganz bekannte Tatsachen wie der Verlust des Dampfers ‚Herta‘ sowie Thomas Baumerts Nachforschungen nach seiner Tochter dabei mitgespielt hätten, wohl doch gerechte Zweifel an der Wahrheit dieser Mitteilungen in ihm aufgestiegen wären.

Nachdem Marten, der dem Landsmann auch seinen Namen, Herkunft und Bildungsgang kurz angegeben hatte, mit dem Bericht der glücklichen Flucht und der Ankunft in San Franzesko zu Ende gekommen war, fuhr er fort:

„Nachdem ich meine Gefährtin in Staaten-Point zurückgelassen hatte, bezog ich selbst in einem bescheidenen Gasthause in Frisko Wohnung. Schon auf dem Wege dorthin merkte ich jedoch, daß mir ständig zwei Leute, und zwar Asiaten, auf den Fersen blieben. Durch allerlei Tricks überzeugte ich mich, daß ich mich nicht irrte und wirklich verfolgt wurde. Meine Überraschung war nicht gering über diese Entdeckung. Hatte ich doch gehofft, daß wir unbeachtet und, soweit Alice Baumert in Betracht kam, auch unerkannt bleiben würden.

Ein Blick durch das Fenster zeigte mir dann ebenfalls, daß draußen vor dem Gebäude sich stets ein paar dieser gelben Schufte herumdrückten. Da ich annehmen mußte, daß auch meine Gefährtin in derselben Weise von den Japs unter Bewachung gestellt würde, schickte ich ihr durch einen Angestellten des Hotels, der gerade dienstfrei war, einen Brief nach Staaten-Point, in dem ich sie aufforderte, schleunigst zu ihrer eigenen Sicherheit den Aufenthaltsort zu wechseln und dabei alle nur mögliche Vorsicht walten zu lassen.

Ob dieses Schreiben in Fräulein Baumerts Hände gelangt ist, weiß ich nicht. Jener Angestellte, dem ich es übergab, hatte bis Mitternacht frei und hat mich nicht mehr angetroffen, da ich gegen halb neun Uhr abends meine Unterkunft verließ, um mich zu Thomas Baumert zu begeben, dem Alice meinen Besuch anmelden sollte. Die Umstände verlangten jedoch eine Änderung dieser Verabredung. Ursprünglich hatte ich nämlich den Millionär in seinem Kontor sprechen wollen. Jetzt, nachdem ich Spione auf meiner Spur wußte, hielt ich es für ratsam, diese Begegnung mit Baumert unter den größten Vorsichtsmaßregeln stattfinden zu lassen. Sagte ich mir doch mit Recht, daß nur Sahikari es sein könne, der mich beobachten ließ und daß der vor keinem Mittel zurückschrecken würde, alle die, die ihm gefährlich werden könnten, unschädlich zu machen. Wie er allerdings so bald herausbekommen hat, daß gerade Alice Baumert und ich die Barkasse entführt und vorher drei Monate auf der Glücksinsel gelebt haben, ist mir unklar. –

Ich hielt mich also bis zum Abend in meinem Zimmer auf. Inzwischen hatte ich den Tagesportier, der ungefähr meine Gestalt besitzt und auch einen gleichfarbigen Vollbart trägt, durch ein Geldgeschenk dazu bewogen, meine Kleider anzulegen und zu versuchen, die Leute, die mich belauerten, zu täuschen und von mir abzulenken. Ich erzählte dem Manne eine gut erfundene, harmlose Geschichte, die ihm die Erklärung für dieses immerhin eigentümliche Ansinnen und den Grund, weswegen man mich beobachte, gab. Ob er mir geglaubt hat, weiß ich nicht. Jedenfalls nahm er die zehn Dollar, besorgte mir dieses Strolchkostüm und zog sich meine Sachen an, in denen er um halb neun Uhr abends das Haus verließ. Diese List hatte Erfolg. Bei der Straßenbeleuchtung hielten die Japaner tatsächlich den Portier für Fritz Marten und schlichen ihm nach, wie ich sofort feststellte, da ich mir über meinen Vagabundenanzug eine in Akapulko erstandene Gummipelerine gehängt hatte und so verkleidet wiederum dem Portier eine Strecke nachging. Dann erst begab ich mich nach Thomas Baumerts Villa hinaus, fest entschlossen, heimlich bei ihm einzusteigen und, nachdem dort alles zur Ruhe gegangen war, eine Unterredung mit ihm herbeizuführen. Die Gummipelerine versteckte ich in einem Gebüsch, wurde dann aber im Hause ertappt und vor Baumert geschleppt, dem ich mich durch eine nur ihm verständliche Andeutung zu erkennen gab und ihn bat, mich im Polizeigefängnis zu besuchen, wo wir alles weitere besprechen könnten. Meine Absicht ging dahin, vorläufig als Gefangener, der standhaft seinen Namen und alle anderen Angaben verweigerte, in meiner Zelle zu bleiben, bis ich mit Baumert die gegen Sahikari zu unternehmenden Schritte genau vereinbart hatte. Hierdurch hoffte ich zu verhüten, daß der Japaner die Sachlage klar überschauen könne, zumal ja auch Alice in jenem Briefe von mir Anweisung erhalten hatte, nur in einer gelungenen Verkleidung und nach Abschüttelung der für ihre Person gestellten Verfolger ihren Vater aufzusuchen.

Und ich hege auch die Hoffnung, daß Sadi Sahikari unser beider Fährte verloren und nun in Ungewißheit ist, was er weiter tun soll. Das gibt uns die Zeit, die Gegenschachzüge vorzubereiten.“

Doktor Müller sprang jetzt, als Marten schwieg, erregt auf und durchquerte ein paar Mal hastig die Zelle. Dann erst setzte er sich wieder und sagte leise, aber mit merklich vibrierender Stimme:

„Ihre Erzählung hat mich mehr gepackt als Sie ahnen, lieber Herr Marten. Während Sie hier ahnungslos in Ihrer Zelle von Stunde zu Stunde auf Baumerts Erscheinen warteten, haben sich in Frisko zwei Ereignisse abgespielt, für die man bisher keinerlei Erklärung gefunden hat, obwohl die hiesige Polizei mit ihrem ganzen Apparat ständig an der Arbeit zu sein vorgibt. Ich betone – vorgibt! Die hiesigen Polizeiverhältnisse sind nämlich nicht viel besser als die in New York, wo letztens noch durch Prozesse die haarsträubendsten Dinge über die Bestechlichkeit der Beamten ans Tageslicht gekommen sind.

Auch hier bei uns in Frisko ist für Geld so ziemlich alles zu haben, selbst die Polizei, wofür ich schon so und so oft in meiner Stellung als Anwalt ziemlich klare Beweise gefunden habe. Es ist daher auch ein wahres Glück, daß Sie sich nicht der Polizei anvertraut haben. Sahikaris Millionen hätten in diesem Kampf gesiegt, nicht Sie! –

Ich sagte: Zwei Ereignisse. Zunächst fanden Beamte einer Polizeipatrouille, die abends in Zivil den Washingtoner Park zu bewachen hatte, dort an demselben Abend, als Sie sich verhaften ließen, in einem Aussichtspavillon die Leiche eines durch Dolchstiche ermordeten Mannes, dem das Gesicht durch Messerschnitte bis zur vollständigen Unkenntlichkeit zerfetzt war und den man völlig ausgeraubt hatte. Ein Kellner desselben Hotels, in dem Sie abgestiegen waren, will nun in dem Toten, den er im Schauhause sich gestern ansah, der Kleidung nach einen Fremden wiedererkannt haben, der sich als Fritz Marten in das Gästebuch eingetragen, dann aber sehr bald wieder das Haus unter Zurücklassung seines bescheidenen Gepäcks verlassen habe und bisher nicht zurückgekehrt sei.“

Martens taumelte fast zurück. „Ich begreife, Herr Doktor, ich begreife!“ stotterte er ganz fassungslos. „Man hat den Portier statt meiner ermordet! Und nur Sahikari ist’s, der an diesem Verbrechen die Schuld trägt. –

Aber – eben fällt mir das ein – wie erklärt man sich denn das gleichzeitige Verschwinden des Portiers? Dieser Umstand muß doch aufgefallen sein?!“

„In den Zeitungen stand nichts darüber, kein Wort. Also dürfte man für jenes Mannes Abwesenheit wohl einen harmlosen Grund angenommen haben. Jedenfalls werde ich mir über diesen Punkt vorsichtig Aufklärung verschaffen. –

Halt, eine Frage. Wußte jemand, daß der Portier Ihren Anzug angelegt hatte?“

„Nein. Der Mann gelobte mir Stillschweigen. Und wir verließen dann durch einen Nebeneingang, der für das Personal bestimmt ist, hinter einander unbemerkt das Haus.“

„So. Das erklärt vieles. –

Jedenfalls lebt Sahikari, den ich ebenfalls für den Anstifter dieses Mordes halte, jetzt in dem Glauben, daß Sie tot sind, was unseren Zwecken nur förderlich sein kann. –

Nun zu dem zweiten Ereignis. – Baumert konnte nicht zu Ihnen kommen, da er verschwunden ist und zwar ebenfalls seit jener Nacht Ihrer Verhaftung. ‚Verschwunden‘ ist nach dem, was ich nunmehr alles weiß, nicht der richtige Ausdruck. Auch er muß Sahikari zum Opfer gefallen sein. –

Die Beweise für diese Annahme sind einfach genug. –

Ihr Warnungsbrief an Ihre Gefährtin ist sicher nicht in deren Hände gelangt. Dafür wird der Japaner schon gesorgt haben, was ich gleichfalls herausbekommen werde. Fräulein Baumert hat also fraglos ohne besondere Vorsichtsmaßregeln ihren Vater aufgesucht, ist dabei beobachtet worden und dürfte – auch das stelle ich heute noch fest! – von Sahikari sofort nachher irgendwie unschädlich gemacht worden sein.“ –

Bitte, unterbrechen Sie mich nicht. Ich begreife Ihre Erregung. Aber wir haben keine Zeit zu verlieren. –

Thomas Baumert selbst ist dann noch spät abends nach Ihrer Verhaftung auf ein Stadttelegramm hin, dessen ungefähren Inhalt die Polizei durch Nachfrage bei den Postämtern ermittelt hat, zu einer Unterredung an die Ecke der Regent- und der Kansasstreet bestellt worden. Sein Privatauto wartete jedoch in der Regentstreet bis zum Morgen vergebens auf seine Rückkehr. Seitdem hat niemand ihn mehr gesehen, niemand weiß, wo er geblieben ist – nur wir beide und die, die ihn in die Falle gelockt haben! – Sehen Sie ein, daß auch hierbei Sahikari mit im Spiel ist, der veranlaßte, daß Baumert spurlos verschwand, weil er durch seine Tochter zu viel von des Japaners Geheimnissen erfahren hatte!! Ich meine, hierüber kann gar kein Zweifel bestehen.“

Aber Marten war plötzlich ein anderer Gedanke gekommen. Er klammerte sich an diese Hoffnung, diese Möglichkeit, daß Alice ihren Feinden doch noch entgangen sein könne.

„Sie denken also, Herr Doktor, daß die Depesche, die Baumert noch so spät nach jener Straßenecke bestellte, von Sahikari aufgegeben war?“ fragte er schnell. „Wie nun, wenn dies nicht zuträfe, wenn vielmehr Alice die Absenderin gewesen wäre und sie absichtlich sich zusammen mit ihrem Vater irgendwo verborgen hielte, um aus ihrem Versteck heraus den Kampf gegen den Japaner aufzunehmen?“

Aber der Anwalt schüttelte nur den Kopf. „Ausgeschlossen, lieber Herr Martens, leider ausgeschlossen. Jener Postbeamte, der das Telegramm damals annahm, hat nämlich – die Zeitung berichteten ja über diesen Sensationsfall mit allen Einzelheiten – bestimmt ausgesagt, ein Japaner habe die Depesche ihm am Schalter ausgehändigt, – ein Japaner!! Damit versinkt auch diese geringe Hoffnung. –

Doch – wir werden den Schuften schon vergelten, was sie verbrochen haben. Ich verfüge über ein Personal, das mit der Detektivarbeit sehr vertraut und dazu absolut zuverlässig ist. Beraten wir nun schnell die weiteren Schritte. Und morgen früh bin ich wieder bei Ihnen.“

Noch eine gute halbe Stunde flüsterten die beiden leise mit einander. Dann verabschiedete der Anwalt sich.

 

4. Kapitel.

Wieder brach ein Tag an. Den in der vorhergehenden Nacht versäumten Schlaf hatte Fritz Marten vollständig nachgeholt. Frisch und neugestärkt erhob er sich. Aber mit dem Erwachen kam auch wieder die Angst um Alice. Wie nahe dieses seltene, tapfere Mädchen seinem Herzen in Wahrheit stand, wußte er ja längst. Wäre Alice nicht die Tochter und einzige Erbin des millionenschweren Thomas Baumert gewesen, so hätte er aus seinen Gefühlen ihr gegenüber kein Hehl gemacht. So aber lebte die leise Furcht in ihm, man könne ihn vielleicht für einen berechnenden Mitgiftjäger halten. Nur aus diesem Grunde hatte er auch die vertrauliche Anrede, die er nur zu gern gebrauchte, wieder in das förmliche, kühle ‚Fräulein Baumert‘ verwandelt.

Fritz Martens Unruhe steigerte sich noch, als Doktor Müller trotz der vorgerückten Vormittagsstunde immer noch nicht erschien. Erst gegen ein Uhr, als der Verhaftete eben seine Mahlzeit hatte, klirrten draußen die Schlüssel und der Anwalt wurde eingelassen. Nach kurzer Begrüßung begann Müller dann, indem er seinem erhitzten Gesicht mit dem Taschentuch Kühlung zufächelte:

„Sie ahnen nicht, was ich heute schon alles hinter mir habe, lieber Herr Marten. Von sechs Uhr morgens an bin ich ununterbrochen auf den Beinen. Sie glauben aber auch nicht, welche Fülle von Neuigkeiten ich bringe. Unsere Sache hat eine Wendung genommen, die zur Entscheidung drängt. –

Doch eins nach dem andern. – Damit Sie begreifen, wie es Sahikari möglich machen konnte, so schnell Ihnen und Ihrer Gefährtin auf die Spur zu kommen und diese Anschläge auf die ihm gefährlich dünkenden Personen auszuführen, muß ich Ihnen einen kurzen Vortrag über die japanische Einwandererpolitik hier in Kalifornien halten.

Es dürfte Ihnen bekannt sein, wie sehr Amerika sich dagegen sträubt, die Japaner hier in Kalifornien als Einwanderer aufzunehmen. Gesetze sind erlassen, die den Erwerb von Grundbesitz für die gelben Inselbewohner wesentlich einschränken, andere an bestimmten Orten verbieten. Alles dies ist im Interesse der Vereinigten Staaten notwendig, da Japan mit lüsternen Augen auf Kalifornien blickt, welches seiner Lage nach für eine Ausbreitung des Reiches des Mikado am geeignetsten erscheint. Doch diese Gefahr haben die amerikanischen Staatsmänner längst erkannt und ihre Vorkehrungen dafür getroffen.

Als Gegengewicht gegen die der japanischen Einwanderung widerstrebenden gesetzlichen Bestimmungen hat sich in Japan ein Geheimbund gebildet, der seine Organe an allen Orten der Gestade des Stillen Ozeans besitzt und der bei einer außerordentlich straffen und streng geheimgehaltenen Einrichtung natürlich mit der japanischen Regierung nach außen hin nichts zu tun hat, in Wahrheit aber von dieser nach Möglichkeit gefördert wird.

Diese Geheimgesellschaft, die sich Mana Silato, Bund der Brüder, nennen soll – trotz aller Anstrengungen ist man über sie noch recht wenig genau unterrichtet –, arbeitet nun nicht nur mit großen Geldmitteln, sondern auf jede, selbst die ungesetzlichste Art im Stillen für die japanischen Interessen hier in Kalifornien. Sahikari, ferner der Generalkonsul Okiwata, sowie andere gebildete Japaner San Franziskos gehören ohne Zweifel als Führer dem Mana Silato an. Besonders Sadi Sahikari, der einst hier in Frisko jahrelang eine Hafenspelunke besaß, obwohl er, wie der hiesigen Regierung erst später bekannt wurde, früher japanischer Regierungsbeamter war und in Europa studiert hat, dürfte einer der obersten Leiter der Geheimgesellschaft sein. Als solchem steht ihm eine Macht zur Verfügung, von deren Umfang wir uns wahrscheinlich kaum einen rechten Begriff machen können. –

So, und nun zu den Erfolgen meiner Nachforschungen. Zunächst: Fräulein Baumert hat Ihren Brief tatsächlich nicht mehr erhalten. Der Angestellte des Hotels, der das Schreiben nach Staaten-Point bringen sollte, ist am Hafenbollwerk, noch bevor er den Tourendampfer nach dem kleinen Badeort besteigen konnte, von einem Japaner angerempelt und dann in eine Schlägerei verwickelt worden, in deren Verlauf ihm Ihr Brief abhanden kam. Jetzt liegt der Mann übel zugerichtet im Krankenhause. –

Sie ersehen schon aus diesem Vorfall zur Genüge, Herr Marten, mit welch raffinierten Mitteln Sahikari arbeitet, ohne daß er selbst jemals zu fassen ist. –

Alice Baumert ist, wie ihre Zimmervermieterin anzugeben wußte, damals nachmittags gegen fünf Uhr nach Frisko gefahren, sagte noch, sie würde abends gegen neun zurück sein, kam aber bis heute nicht wieder. Die Wirtin hat denn auch gestern das angebliche Fräulein Doris Alban, die ihr Gepäck in dem Zimmer gelassen hatte, der Polizei als verschwunden gemeldet. –

Nun zu dem unglücklichen Portier, der an Ihrer Stelle von den gelben Schuften umgebracht worden ist. Dessen Fernbleiben fiel in dem Hotel niemandem auf, da er nur aushilfsweise eingestellt war und wiederholt erklärt hatte, er würde bei nächster Gelegenheit sich einem Goldgräberzuge nach den neu entdeckten Minen im Tale des Rio Pekos anschließen. Jedenfalls ist die Polizei also noch heute fest davon überzeugt, daß jener Fremde, der sich in dem Gasthause als Fritz Marten eingeschrieben hat, einem Raubmorde zum Opfer gefallen ist. –

Diese beiden Punkte sind bereits gestern Abend von einem meiner Schreiber, einem äußerst gewandten Menschen, in der eben geschilderten Weise aufgeklärt worden. Gleichzeitig habe ich zwei anderen Leuten meines Bureaus, die derartige Aufträge schon wiederholt zu meiner vollsten Zufriedenheit erledigt haben, die Beobachtung Sahib Sahikaris und seines Hauses bei eingehenden Verhaltungsmaßregeln anbefohlen. Diese beiden Männer ermittelten nun folgendes.

Um sieben Uhr abends verließ Sahikaris jugendlicher Sekretär Hajuma, der ein mindestens ebenso geriebener Schuft wie sein Herr ist, das Haus und begab sich nach dem Hafen, wo er mit dem Tourendampfer nach Staaten-Point fuhr. Einer meiner Leute, der Hajuma gefolgt war, benutzte dasselbe Schiff. Nach der Ankunft in dem kleinen Badeort bestieg der Sekretär ein für ihn am Landungssteg bereitliegendes Boot und ließ sich nach einem hellgestrichenen, schlanken Fahrzeug hinüberrudern. Einige Fischer wußten meinem Beauftragten zu erzählen, daß das weiße Fahrzeug, welches da draußen eine halbe Meile vom Ufer entfernt vor Anker lag, die Dampfjacht ‚Sonne‘ des japanischen Millionärs Sahikari sei. Nach einer Stunde etwa kehrte das Boot zurück, der Sekretär stieg aus und ging an das dicht am Landungssteg befindliche Hotel, wo er sich Essen bestellte und das letzte Schiff nach Frisko ruhig abfahren ließ. Hieraus schloß mein Spion, daß Hajuma in Staaten-Point noch irgend etwas vorhaben müsse. Er blieb also ebenfalls dort und belauerte den Sekretär unauffällig weiter. Gegen elf Uhr abends bezahlte dieser seine Zeche und schlenderte den gut gepflegten Weg entlang, der von Staaten-Point teilweise den Biegungen des Meeresufers folgend nach Frisko führt. Aus Hajumas ganzem Verhalten war zu entnehmen, daß er diesen nächtlichen Spaziergang zu einem sicher nicht ganz harmlosen Zweck unternahm. Er schaute sich häufig um, blieb auch öfters stehen, offenbar um sich zu vergewissern, daß ihm niemand heimlich nachschleiche. Trotzdem gelang es meinem mit solchen Schlichen gut vertrauten Angestellten, Hajuma ständig im Auge zu behalten. Dieser blieb dann an einer Stelle, wo die Straße sich bis auf zehn Meter etwa dem Ufer nähert, stehen, zündete ein Streichholz an und schaute nach der Uhr. Da mittlerweile der Mond aufgegangen war, der freilich des öfteren durch ziehendes, dichtes Gewölk verdeckt wurde, konnte mein Mann alles, was sich dann eine Viertelstunde später an dieser entlegenen Stelle der Bucht von San Franzisko abspielte, recht genau erkennen.

Ein von Frisko kommendes Auto hielt dort, wo der Sekretär auf dem Wege Posto gefaßt hatte, an, löschte seine Scheinwerfer und stellte den Motor ab. Gleichzeitig steckte Hajuma für einige Sekunden eine grüne bengalische Flamme in Brand. Auf dieses Signal hin ertönten vom Wasser her bald leise Ruderschläge, und ein größeres Boot näherte sich dem Strande. Mein Beauftragter, der auf allen Vieren kriechend dem Auto – es war ein Lastautomobil, neben dem vier Leute außer dem Sekretär standen – ziemlich nahe gekommen war, sah nun, wie in großer Eile zwei längliche Kisten, die offenbar recht schwer waren, nach dem Strande geschafft und hier in das Boot verladen wurden, das sich sofort wieder entfernte, ebenso wie das Auto, auf dem der Sekretär nunmehr gleichfalls Platz genommen hatte, wendete und nach Frisko mit wieder brennenden Laternen zurückkehrte. –

Soweit die Erlebnisse des einen meiner Spione, der, da es für ihn nichts mehr zu erforschen gab, in Staaten-Point sich ein Fuhrwerk mietete und nach Frisko fuhr, um mir alsbald Bericht zu erstatten und dann seinen Beobachtungsposten vor dem Hause Sahikaris in einer Verkleidung wieder zu beziehen. –

Mein anderer Beauftragter war nicht minder glücklich. Eine Viertelstunde nach seinem Sekretär verließ auch Sadi Sahikari das Haus und begab sich auf Umwegen nach dem Hafenviertel, wo er durch eine Pforte der Hoftür in jener Matrosenkneipe, in der er einst zu irgend welchen Zwecken selbst den Wirt gespielt hatte, eilig hindurchschlüpfte, nachdem er sich mehrmals scheu ungesehen hatte. Kurze Zeit darauf erschienen noch mehrere andere Japaner, alles stadtbekannte, reiche Leute, die meinem Angestellten gut bekannt waren, darunter auch der Generalkonsul Dr. Okiwata. Diese Männer, die sicherlich nicht die in der Spelunke zum Ausschank kommenden Getränke angelockt hatten, verschwanden sämtlich ebenfalls hinter der Hoftür. Mein Spion harrte nun geduldig auf das Wiederauftauchen der Japaner. Aber zwei Stunden vergingen, ohne daß sich etwas Besonderes ereignete. Dann verließen die vornehmen Besucher der Spelunke einzeln nacheinander, wie sie gekommen waren, abermals durch das Pförtchen die verrufene Hafenkneipe, die jetzt von einem Japaner namens Sinto Oki bewirtschaftet wird. Nur Sadi Sahikari befand sich nicht darunter. Und deshalb blieb mein Mann auch noch auf seinem Lauscherposten hinter einem Stapel leerer Ölfässer. Bald darauf fuhr vor der Spelunke ein Lastauto vor, von dem eine Menge von Warenkistchen abgeladen und in den Hof gebracht wurden.

Als neue Fracht erhielt das Auto zwei längliche, große Holzkisten, deren Überführung aus dem Hofraum auf den Kraftwagen der inzwischen aufgetauchte Sahikari von weitem unauffällig beobachtete. Mithin müssen diese Kisten Dinge enthalten haben, die für den Japaner von größter Wichtigkeit waren. Und daß es ohne Frage dieselben waren, die in derselben Nacht später am Strande bei Staaten-Point in das ebenso sicher zu Sahikaris Jacht gehörige Boot, das der Sekretär bestellt hatte, verladen wurden, geht aus den Mitteilungen meines zuerst erwähnten Angestellten hervor. –

Sadi Sahikari kehrte darauf in seine Wohnung zurück. Mein Spion aber blieb jetzt wieder wie befohlen auf seinem Posten vor dem Hause und bemerkte daher, daß in dem Gebäude die ganze Nacht über Licht brannte und hinter den geschlossenen Fenstervorhängen häufig Gestalten hin und her huschten. Bei Tagesgrauen wurde dann offenbar, was dies zu bedeuten hatte: Sahikari verließ in Begleitung seines inzwischen heimgekehrten Sekretärs in seinem Privatauto unter Mitnahme einiger Koffer sein Haus, fuhr zum Hafen und bestieg mit Hajuma den ersten Tourendampfer nach Staaten-Point, wo auf ihn bereits ein Boot seiner Jacht wartete und sofort nach der ‚Sonne‘ hinüberruderte, die dann keine Viertelstunde später die Anker lichtete und in See stach.

So, mein lieber Herr Marten, das sind die Erfolge meiner bisherigen Detektivtätigkeit, – besser die meiner Angestellten. –

Ich merke Ihnen an, daß Sie jetzt unzählige Fragen an mich richten möchten. Dazu haben wir jedoch keine Zeit. Ich will Ihnen aber ganz kurz erklären, was ich nach all diesen Feststellungen annehme. –

In den beiden Kisten sind Thomas und Alice Baumert an Bord der ‚Sonne‘ geschafft worden und zwar – um Ihre Befürchtungen, die Sie sicher hegen, sofort zu zerstreuen – nicht etwa als Leichen, sondern lebend. Hätte Sahikari diese Opfer echt japanischer Gewissenlosigkeit ermorden lassen, so würde er mit den Leichen nicht so viel Umstände gemacht haben. Die wären auch ohne Schwierigkeiten auf andere Weise unauffällig zu beseitigen gewesen. Meiner Ansicht nach befinden sich also Thomas Baumert und seine Tochter zur Zeit als Gefangene Sahikaris auf dessen Jacht und zwar … auf dem Wege nach der Glücksinsel. Letzteres ist allerdings eine bloße Vermutung von mir, für die ich weiter keine Beweise habe. –

Nun noch zu meiner eigenen heutigen Tätigkeit. Die Nachrichten, die meine beiden Beauftragten gebracht hatten, drängten mich zu schnellen Entscheidungen. Ich brauchte nicht lange zu überlegen. Erstens mußte ich für Ihre sofortige Haftentlassung sorgen, zweitens mich an eine Behörde wenden, die in der Lage war, mir in kürzester Zeit ein schnelles, für eine längere Fahrt ausgerüstetes Schiff zur Verfügung zu stellen. –

Um halb sieben Uhr bereits war ich bei dem Richter, der Ihren Fall bearbeitet und bot für Ihre Entlassung aus der Untersuchungshaft Kaution in jeder beliebigen Höhe an. Mein Antrag wurde rundweg abgelehnt, da – hören und staunen Sie! – man in Ihnen den Mörder des im Washington Parke gefundenen, so völlig unkenntlich gemachten Toten vermutet. –

Ohne Säumen begab ich mich nun zu dem mir persönlich bekannten Senator Wallheeven, der holländischer Abkunft ist und in der Regierung Kaliforniens der Abteilung für Marine- und Seehandel-Angelegenheiten vorsteht. Gegen die Zusicherung ehrenwörtlichen Stillschweigens erzählte ich Wallheeven alle Ihre Erlebnisse, die mit Sahikari und der Glücksinsel zusammenhängen, sowie die Vorfälle hier in San Franzisko, bei denen der Japaner gleichfalls seine Hände mit im Spiel gehabt hat.

Über den Schluß meiner Unterredung mit dem geistvollen und energischen Beamten kann ich mich ganz kurz fassen. Wallheeven versprach mir, Ihre Haftentlassung sofort ohne nähere Angabe von Gründen aus Staatsinteresse durchzusetzen und hat dies auch erreicht. Hier ist die richterliche Verfügung, die Sie ohne Stellung einer Kaution bis auf weiteres in Freiheit setzt. –

Ferner hat der Senator auch dem hier im Hafen liegenden, amerikanischen kleinen Kreuzer ‚Atlantic‘ nach kurzem Telegrammwechsel mit dem Staatssekretär des Marineministeriums in Washington Befehl gegeben, sofort seeklar zu machen, uns beide an Bord zu nehmen und unseren Weisungen nach jeder Richtung hin Folge zu leisten. Sie sind also jetzt ein freier Mann, mein lieber Herr Marten, werden mich unverzüglich begleiten, sich neu einkleiden und um vier Uhr nachmittags mit mir auf der ‚Atlantic‘ sich einschiffen. Dafür, daß alle diese Maßnahmen, die Sadi Sahikari gelten, völlig geheim bleiben und daß niemand das Reiseziel des Kreuzers vorzeitig erfährt, wird der Senator gleichfalls sorgen.“

 

5. Kapitel.

Durch die langen Wogen des Stillen Ozeans schnitt der messerscharfe Bug der weißen Jacht Sadi Sahikaris schäumend seine Bahn. Drei Tage war die ‚Sonne‘ bereits mit zwanzig Knoten Geschwindigkeit unterwegs. Man näherte sich nunmehr dem Eiland, dessen höchste Erhebungen jeden Augenblick im Süden auftauchen mußten.

Neben Kapitän Taioto standen auf der Kommandobrücke Sahikari, Hajuma und zwei andere reiche japanische Kaufleute aus Frisko im Gespräch beisammen. Die Sonne hatte gerade am durchsichtig klaren Himmel ihren höchsten Punkt erreicht. Und soeben war von dem Mann im Ausguck des Vordermastes die Meldung eingegangen, daß der Horizont ringsum frei von Schiffen sei.

„Wir können also unbesorgt unseren Kurs beibehalten,“ meinte der Kapitän, der wie immer die größte Vorsicht walten ließ, sobald die Jacht in die Nähe der einsamen Insel kam, damit deren Vorhandensein auch fernerhin Geheimnis blieb. „Gegen vier Uhr nachmittags dürften wir vor der Klippen-Halbinsel vor Anker gehen,“ fügte er mit einem Blick nach dem Stande der Sonne hinzu.

Sahikari nickte. „Dann werden unsere beiden Gefangenen bei Nacht sofort auf das Eiland überführt,“ befahl er kurz. „Und zwar unter denselben Vorsichtsmaßregeln wie in Frisko. Es ist nicht gut, daß wir bei dieser Geschichte allzu viele Mitwisser haben. Die Besatzung ist zwar als verschwiegen erprobt, aber – sicher ist sicher. Nur die Führer des Bundes sollen von unseren letzten Geheimnissen und somit auch von dem Schicksal Baumerts und seiner Tochter Kenntnis haben.“

„Und welches wird dieses Schicksal sein?“ fragte der Kapitän gleichgültig.

Sahikari schaute ihn fast verwundert an. „Kann darüber überhaupt ein Zweifel herrschen?!“ erwiderte er kalt. „Unsere Sicherheit verlangt, daß die beiden für immer spurlos verschwinden. Okiwata wollte davon freilich nichts wissen. Er fürchtet die Nachforschungen der amerikanischen Regierung und politische Verwicklungen. So habe ich ihm denn versprochen, die Gefangenen lebend nach unserer Insel zu bringen. Weiter ging meine Zusage nicht. Wenn die letzten Goldbarren aus dem unter Wasser gesetzten Laderaum des ‚Kolumbus‘ gehoben sind, werden zugleich mit dem Wrack auch Thomas und Alice Baumert mittels Dynamit für alle Zeiten beseitigt werden.“

Die Nacht war angebrochen. Thomas Baumert und sein Kind, denen man im Mittelaufbau der Jacht zwei nebeneinander liegende Kabinen als Gefängnis angewiesen hatte, saßen auf dem schmalen Wandsofa der einen Kabine, die durch eine Tür mit der zweiten in Verbindung stand, dicht bei einander und starrten in wortloser Verzweiflung vor sich hin.

Der alte Baumert war in diesen Tagen, seit er sich in der Gewalt Sahikaris befand, furchtbar gealtert.

Auch Alice war in diesen Tagen sichtlich zusammengefallen. Die Ungewißheit des Schicksals, dem sie entgegengingen, raubte ihr jeden Schlaf. Umsonst zergrübelte sie ihren Kopf nach einem rettendem Ausweg. An ihrem Vater fand sie jetzt keinerlei Unterstützung. Thomas Baumert war beinahe zum stumpfsinnigen Greise geworden.

Der Eintritt des Sekretärs Hajuma ließ Vater und Tochter gleichzeitig aufblicken. Beide erkannten den Japaner, der in Frisko als die all–mächtige Hand seines Herrn nicht minder bekannt als dieser selbst war, hatten ihn häufig genug gesehen. Wieder begann der alte Baumert an diese neue Adresse seine Bestechungsversuche, seine Bitten und Drohungen zu richten, bis Alice ihn mit einem harten ‚Schweig’, Vater, – erniedrige dich nicht vor diesem Elenden!‘ unterbrach.

Hajuma grinste, daß seine gelblichen Zähne zwischen den dünnen, grausamen Lippen hervortraten. Und mit absichtlich von ironischer Höflichkeit triefenden Worten bedeutete er seinen Gefangenen dann, daß er sie abermals fesseln und in die schon bekannten Kisten verpacken müsse. In einer Viertelstunde würde er wiederkommen.

Als er gegangen, fragte Baumert kopfschüttelnd, was dies nun wieder zu bedeuten habe.

Alice zwang sich zu einem mutigen Lächeln. „Du wirst schon gemerkt haben, Pa, daß das Schiff seit einiger Zeit vor Anker liegt. Ich denke, man wird uns auf die Glücksinsel bringen und dort aussetzen.“

„Glücksinsel!! – Eine schöne Glücksinsel!“ klagte Baumert. „So sollen wir beide dort also jetzt als Robinson leben! Nun – an mir wirst du keinen so erfinderischen Gefährten finden wie an Fritz Marten.“

Das junge Mädchen jedoch gab noch nicht alle Hoffnung auf. Diese Hoffnung, von der sie selbst freilich nicht wußte, wie sie verwirklicht werden sollte, hieß Fritz Marten … – – –

Das von einer elektrischen Bogenlampe erhellte Deck der ‚Sonne‘ war leer. Nur Kapitän Taioto stand als Wache auf der Kommandobrücke. Die Mannschaft war in ihr Logis geschickt worden.

Dann schafften Sahikari, Hajuma und die beiden anderen Eingeweihten die zwei Holzkisten mit ihrem lebenden Inhalt in die inzwischen ergänzte Motorbarkasse mittels einer Handwinde hinunter. Gleich darauf schaltete Sahikari den Motor des Bootes ein und steuerte bei Scheinwerferbeleuchtung durch die Straße zwischen den Riffen der Bucht zu. Hier angelangt, wurde die Barkasse zwischen dem Lande und dem namenlosen Schiffe festgemacht, die Kisten geöffnet und die beiden Gefangenen entfesselt.

Zum ersten Mal standen sich jetzt Thomas Baumert und Sahikari nach des ersteren heimtückischer Überrumpelung in jener Nacht von Angesicht zu Angesicht gegenüber.

Der Deutsch-Amerikaner hatte seinen Feind kaum erkannt, als er auch schon drohend auf ihn eindrang.

„Gelber Schuft!“ donnerte er ihn an. „Du wagst es, du verkümmertes Ungeheuer, dich an Bürgern des Landes zu vergreifen, das dir und deiner ebenso schuftigen Vetternschaft eine zweite Heimat gegeben hat …! Du gelbgesichtiges Scheusal willst …“

Alice war schnell hinzugetreten und drängte ihren vor Wut sinnlosen Vater zurück. „Schweig’, Pa, – bedenke, daß wir in ihrer Gewalt sind!“ raunte sie ihm zu.

Sofort kam bei ihm der Rückschlag. Er sank in sich zusammen, stotterte unverständliche Worte hervor und begann zu weinen, fassungslos zu weinen.

Die vier Japaner lachten höhnisch auf. – Dann mußten die beiden an Deck des Wracks klettern, wo ihr Wärter Hajuma ihnen eine der leeren Kabinen anwies, in die er einige Decken und Eßvorräte hineintrug.

„Sie dürfen sich auf dem Schiffe frei bewegen,“ sagte er mit derselben ironischen Freundlichkeit. „Nur verlassen dürfen Sie es nicht. Sonst …!!“ Und er hielt wie spielend einen Revolver hoch. „Ich werde stets in Ihrer Nähe bleiben, Sie aber nicht weiter belästigen. Meine drei Freunde haben in dieser Nacht ein tüchtiges Stück Arbeit vor sich, bei der ich mich nun leider nicht wie sonst beteiligen kann. Vielleicht wollen Sie zuschauen. Das steht Ihnen frei.“ –

Das Wrack und seine Umgebung war jetzt durch zwei an den Masten angebrachte und durch Akkumulatoren gespeiste Bogenlampen erhellt. Thomas Baumert und Alice, die die frische Luft nun schon tagelang entbehrt hatten, gingen denn auch wirklich auf Deck auf und ab, während der Sekretär mittschiffs an der Reling lehnte.

Inzwischen war die Barkasse mit Sahikari und den beiden anderen Japanern wieder davongefahren, kehrte aber schon nach einer halben Stunde zurück. Sie hatte die Taucherapparate aus dem Versteck in den Klippen geholt.

Die Luftpumpe wurde auf dem Vorderdeck aufgestellt, und der Taucheranzug einem der beiden Vertrauten Sahikaris angelegt. Dieser stieg dann, begleitet von Sahikari durch die Vorderluke in den Laderaum hinab. Das nötige Licht spendete eine dritte Bogenlampe, die durch einen langen Draht an die Akkumulatoren angeschlossen war, ebenso wie man den Luftschlauch der Pumpe an den Taucherhelm angeschraubt hatte.

Thomas Baumert und sein Kind standen jetzt in der Nähe und sahen zu, wie der eine der Japaner die Luftpumpe bediente. Sie wußten natürlich nicht, was ihre Feinde bezweckten, und tauschten leise Bemerkungen darüber aus.

Da gesellte sich Hajuma zu ihnen.

„Merkwürdige Arbeit das, nicht wahr?“ meinte er grinsend. „Ich will Ihnen gern die Erklärung dafür geben. Dort unten in dem halb mit Wasser gefüllten Wrack lagerten einst in kleinen Kisten verpackte Goldbarren von einigen fünfundzwanzig Millionen. Diese Kisten haben wir nach und nach nach Frisko geschafft. Heute wird der Rest auf die Jacht gebracht.“

Thomas Baumert vergaß vor Erstaunen alle seine verachtungsvolle Zurückhaltung, die er seinen Feinden fortan hatte bezeigen wollen. Bei der Erwähnung der Goldbarren war sofort eine Erinnerung in ihm aufgezuckt. Und unsicher stieß er hervor:

„Ist dies Wrack etwa der ‚Kolumbus‘, der vor …“

„Er ist’s,“ unterbrach Hajuma ihn fast stolz. „Sie können sich etwas darauf einbilden, daß Sie hier auf den Deckplanken eines so berühmten Schiffes stehen. – Wollen Sie vielleicht erfahren, wie der ‚Kolumbus‘ mit seiner kostbaren Ladung hier in diese Bucht geriet? Ich bin gerade zum Plaudern aufgelegt. –

Am vierten Tage seiner Reise begegnete das Goldschiff drei großen Booten, die vollgepfropft von angeblichen japanischen Schiffbrüchigen eines Auswandererdampfers waren, der allerdings nie existiert hat. Der ‚Kolumbus‘ nahm die siebzig Japaner arglos auf, mußte es dann aber schon in der nächsten Nacht erleben, daß die mit versteckten Waffen versehenen ‚gelben Schufte‘ – das scheint Ihr Lieblingsausdruck für meine Landsleute zu sein! – die Besatzung im Schlaf überfielen, nachdem die Wachen beseitigt waren, und sich zu Herren des Schiffes machten. Der Plan war einfach und glückte vortrefflich. Auf ein Raketensignal hin erschien unsere Jacht, die sich in der Nähe gehalten hatte, und begleitete uns hier nach diesem Eiland, dessen Vorhandensein bisher wohl ausschließlich von Generation zu Generation vererbtes Geheimnis der Seemannsfamilie unseres Kapitäns ist. Daß die angeblichen Schiffbrüchigen in ihren Booten kurz vor dem Zusammentreffen mit dem ‚Kolumbus‘ erst die Jacht verlassen hatten, wird Ihnen klar sein. Hier wurde der Golddampfer auf die Riffe gesetzt. Er lief halb voll Wasser, wurde völlig ausgeplündert, um ein Wiedererkennen zu verhüten, und sodann von uns Eingeweihten von Zeit zu Zeit besucht, um jedes Mal einen Teil der Schätze zu heben. –

Das ist ganz kurz die Geschichte des verschwundenen Goldschiffes.“

Thomas Baumerts Körper überlief ein Zittern. „Und die Besatzung?“ keuchte er. „Wo sind all die Menschen geblieben, die …“

„Leider … verunglückt,“ fiel ihm Hajuma ins Wort und ging davon. –

Die beiden Gefangenen aber schritten Arm in Arm mit vor Entsetzen entstellten Gesichtern ihrer Kabine zu, wo der Sekretär sie dann einschloß, während er sich selbst vor der Tür auf einige Decken legte.

Bis zum Morgengrauen arbeiteten die Japaner fast ohne Unterbrechung. Nachdem der Taucher die Kisten aus dem Raume des Schiffes einzeln heraufgeholt hatte, wurden sie auf Deck geschafft. Von hier beförderte die Barkasse sie in sechs Fahrten nach der Jacht. Nun war das namenlose Schiff restlos ausgeplündert, und die drei begannen mit der Anbringung der Sprengkörper, deren Ladung so stark war, daß der rostbedeckte ‚Kolumbus‘ in Atome auseinanderfliegen mußte. Die Dynamitpatronen sollten elektrisch zur Entzündung gebracht werden. Sahikari selbst legte die Drähte bis auf etwa tausend Meter vom Wrack weg landeinwärts und schraubte sie an der tragbaren Batterie fest, so daß ein Druck auf den Knopf genügte, um den ‚Kolumbus‘ in die Luft fliegen zu lassen. Als er mit diesen Vorbereitungen fertig war, kehrte er nochmals zu dem Wrack zurück und berief Hajuma auf die Barkasse, die man in der Einfahrt zwischen den Klippen festlegen wollte, bevor das Goldschiff für alle Zeiten verschwand – und mit diesem die beiden unglücklichen Gefangenen.

Inzwischen war die Morgendämmerung immer lichter geworden. Alice Baumert, die ebensowenig wie ihr Vater in dieser Nacht ein Auge hatte zutun können, war, als sie des Sekretärs sich entfernende Schritte hörte, an das runde Kabinenfenster getreten und hatte, von einer unsicheren Hoffnung getrieben, hinausgeschaut. So sah sie denn die Barkasse, auf der sich alle vier Japaner befanden, in schneller Fahrt die Bucht verlassen. Diese Gewißheit gab ihr ihre ganze Energie zurück. Wenige Worte an ihren Vater genügten. Thomas Baumert rannte gegen die leicht gearbeitete Kabinentür an, einmal, immer wieder.

Da endlich flog die Füllung heraus. Beide zwängten sich durch das Loch hindurch, schlichen an Deck, sprangen ins Wasser und erreichten schwimmend das Land. In wilder Hast strebten sie nun der Felsterrasse zu, dem früheren Baumversteck der Schiffbrüchigen. Keuchend langten sie, offenbar bisher unbemerkt, am Fuße des Baumes an.

Da – eine Stimme aus deren obersten Ästen, eine jubelnde Stimme: „Alice–Alice!“ Und ein schlanker Mann turnte nun gewandt von Ast zu Ast, sprang auf die Erde …, – nein, nicht auf die Erde, – in die geöffneten Arme des jungen Mädchens.

Schnell war alles, was nötig erschien, erklärt. Der Kreuzer hatte, da er bei Entfaltung seiner Höchstgeschwindigkeit sechsundzwanzig Knoten lief, die Jacht, deren Kurs man von mehreren Dampfern unterwegs erfahren hatte, am dritten Tage eingeholt, war dann aber vorsichtig außer Sicht geblieben und erst bei Nacht mit abgeblendeten Lichtern dem auf diese Weise endlich entdeckten Eiland von Westen her nahegekommen. Sofort wurde eine bewaffnete Landungsabteilung ausgeschickt, die, begünstigt durch ruhige See, nach langem Suchen einen Durchgang mit ihren Booten durch die Brandung an der Westseite fand und sich, von Fritz Marten geführt, zunächst nach der Terrasse begeben hatte, wo sie eben erst angelangt war. Der Kreuzer sollte dann, sobald es hell genug geworden war, die Insel umfahren und sich der Jacht bemächtigen. – –

Sahikari hatte gerade die Barkasse in der Klippeneinfahrt festgemacht, als er von Süden her das Kriegsschiff unter Volldampf auftauchen sah. Da ihm und seinen Begleitern, die sofort die drohende Sachlage erkannten, alles daran gelegen sein mußte, schleunigst die Gefangenen als die Hauptbelastungszeugen spurlos zu beseitigen, kehrten die vier nach dem Wrack zurück, erkletterten es und stürmten nach der Kabine, wo sie ihre Opfer noch immer vermuteten.

Inzwischen war jedoch die Landungsabteilung nach der Bucht zu vorgerückt. Da bemerkte einer der Matrosen den umsponnenen Leitungsdraht auf der Erde. Man ging diesem nach und entdeckte so hinter einem Hügel die Batterien und den gefährlichen Druckknopf auf dem geöffneten Kasten. Ehe noch Doktor Müller, der den gefährlichen Zusammenhang erahnte, eine Warnung aussprechen konnte, hatte der die Abteilung kommandierende Offizier den weißen Knopf berührt.

In demselben Augenblick erschütterte eine furchtbare Detonation die Luft. Das Wrack des namenlosen Schiffes war nicht mehr … Mit ihm hatten auch die vier Japaner ein wohlverdientes Ende gefunden.

* * *

Der Prozeß gegen die Mitglieder des japanischen Geheimbundes Mana Silato hätte beinahe zu politischen Verwicklungen von größter Tragweite geführt, da unter den zum Tode Verurteilten sich außer dem Kapitän Taioto auch der Generalkonsul Dr. Okiwata befand, der als Vertreter Japans in San Franzisko seit Jahren beglaubigt war. Als die japanische Regierung jedoch sah, wie schwer sie selbst durch die sämtlich ans Tageslicht gekommenen Umtriebe der Geheimgesellschaft und besonders durch Papiere, die an Bord der von dem Kreuzer ‚Atlantic‘ beschlagnahmten Jacht aufgefunden worden waren, kompromittiert schien, ließ sie Dr. Okiwata fallen und bestrafte sogar zum Schein einige Beamte, deren Verbindung mit dem Bunde klar erwiesen war. Außer den beiden oben erwähnten Japanern wurden noch die meisten Mitglieder der Mana Silato, unter diesen auch der von dem Korallenriff abgeholte Steuermann Watson, zu langjährigen Zuchthausstrafen verurteilt. Sinto Oki, der Wirt jener verrufenen Kneipe am Hafen, in deren verborgenen Kellerräumen Thomas und Alice Baumert gefangen galten worden waren, erhielt sogar Zuchthaus auf Lebenszeit. Leider konnten die Mörder des Portiers jenes Gasthauses nicht ermittelt werden, wie die Angeklagten denn überhaupt durch keinerlei Mittel zu einem umfassenden Geständnis gebracht wurden. Genaue Kenner der kalifornischen Verhältnisse behaupten daher auch, daß der Geheimbund durch jenen Prozeß zwar einen schweren Schlag erhielt, aber nicht gänzlich ausgerottet wurde und noch heute seine Ziele mit derselben Gewissenlosigkeit weiterverfolgt.

Von den Millionen des Goldschiffes konnte der größte Teil durch Beschlagnahme der Vermögen der Geheimbündler für das damals so schwer geschädigte Syndikat noch gerettet werden. Fritz Marten erhielt von diesem eine runde Million Dollar als Belohnung, und auch Doktor Müller ging nicht leer aus.

Alice Baumert aber wurde bereits vier Wochen nach ihrer Befreiung aus den Händen Sahikaris die Gattin des Mannes, der ihr auf der Glücksinsel ein so treusorgender Gefährte gewesen war. Freilich hatte ihr Vater seine Zustimmung zu dieser Eheschließung von einer Bedingung abhängig gemacht: Sein Schwiegersohn mußte auch sein Teilhaber werden.

Die Hochzeitsreise führte das junge Paar auf der von Thomas Baumert angekauften, einst ‚Sonne‘, jetzt ‚Glücksstern‘ getauften Jacht nach dem Eiland hin, auf dem es sich während der drei Monate seines Robinsonlebens erst so recht kennen und daher lieben gelernt hatte.