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Der Tempel der Liebe

 

 

Der Tempel der Liebe

 

Kriminal-Roman

von

Walther Kabel

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Dresdener Straße 88–89

 

Alle Rechte, namentlich das Übersetzungsrecht vorbehalten.
Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck der Buchdruckerei P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Der große Haß.

Irma Hölsch hatte nach der letzten Unterrichtsstunde und nach all dem Ärger sehr schnell bei Frau Mikla, die angeblich einen ‚guten, billigen Mittagstisch‘ unterhielt, das mehr als mäßige Essen hinuntergeschlungen, hatte den schlanken Herrn Larisch, der wieder in seiner höflich bescheidenen Art eine Anknüpfung bei Tisch gesucht hatte, kühl mit ein paar fast unliebenswürdigen Worten abgeblitzt und war dann nach Hause geeilt in ihr bescheidenes möbliertes Zimmer, um endlich wieder allein zu sein mit ihren Gedanken, die ihr wie ein Bienenschwarm im Kopfe summten.

Sie warf jetzt das Paket Hefte, in die heute die fünfte Klasse den Aufsatz über ‚Mein liebstes Buch‘ hineingeschrieben hatte, mit einer Gebärde des Ekels auf den Mitteltisch und ließ sich selbst, ohne erst den einfachen Filzhut abzulegen, aufatmend in den Korbsessel am Fenster fallen, schloß die Augen und dachte nur immer dasselbe: ‚Ich begreife das alles nicht – ich begreife es nicht …!‘

Wie qualvoll war ihr nur heute das Unterrichten geworden! Noch schwerer als sonst! Sie eignete sich nicht zur Lehrerin. Das wußte sie längst, das hatte sie schon auf dem Seminar gemerkt. Sie konnte sich keinen Respekt bei diesem jungen, übermütigen Völkchen verschaffen, – vielleicht, weil sie Kinder zu gern mochte und daher nicht streng sein konnte. Heute hatte sie sich wie schon so oft über ihre eigene Milde und Nachgiebigkeit bis zu einer gelinden Wut gegen sich selbst aufgestachelt. –

Oder – war daran vielleicht doch nur das andere schuld gewesen, – das andere, das sie nicht ergründen konnte und daß ihr Denken seit Tagen völlig beherrschte …?! War es nicht lediglich die Enttäuschung darüber, daß ihr Verstand nicht hinreichte, diese Dinge aufzuklären, die da wie seltsame Rätselwesen aus dem Dunkel auf sie zu krochen und ihr höhnend zuflüsterten: ‚Rate, wer wir sind, was wir wollen …!‘ –

Ja, das war wohl nur das Außergewöhnliche, das sie so nervös, so zerfahren gemacht hatte, und als dessen nächste Folge dann all die kleinen Widerwärtigkeiten in ihren Schülerinnen hingekommenen waren.

‚Armes Völkchen!‘ dachte Irma. ‚Ich bin heute sicher sehr ungerecht gewesen … Es tut mir jetzt leid. Aber – ich fürchte, morgen werde ich nicht anders sein … Es muß etwas geschehen – muß! So darf es nicht weitergehen! Ich fühle, wie meine Nerven förmlich vibrieren …‘

Sie erhob sich langsam, nahm den Hut ab, hängte ihn über den Eckknopf des Kleiderschrankes, trat vor den hohen Spiegel und zupfte sich das zerdrückte, aschblonde Haar zurecht, stellte dabei fest, daß sie heute recht blaß aussah, gar nicht vorteilhaft. Und sie war bisher mit ihrem Äußeren doch stets leidlich zufrieden gewesen, konnte es auch wohl sein … Das bewiesen ihr ja auch die vielen Frechdachse von Herren, die auf diese oder jene Weise ihre Bekanntschaft zu machen suchten und ihr auf der Straße geduldig folgten …

Irma lächelte. Und in diesem Lächeln war so ein ganz klein wenig Eitelkeit und Freude. – Sie war jung, war Weib … Und es waren doch schließlich alles Huldigungen, die man ihrer eigenartigen Schönheit darbrachte.

Dann trat sie ans Fenster. Der Mittagssonnenschein des warmen Apriltages lag grell auf der nüchternen Front der Mietskaserne gegenüber. Auf dem kleinen Balkon begoß der alte Herr gerade wieder seine Blumenkästen. Und ein Stockwerk höher lagen wieder die Betten zum Lüften über dem Balkongitter.

Irma riß das Fenster auf. Frische Luft brauchte sie, Licht, Sonne … – Da, – wie gräßlich! – von drüben aus der Kneipe wieder die kratzenden Töne des Grammophons, – ein Gassenhauer …: ‚Paulinchen kann tanzen, habt ihr so was schon gesehn …‘ – Scheußlich … aber heute munterte es sie doch auf. Wie ein leiser Strom Berliner Leichtsinns drang’s mit den Tönen in das möblierte Zimmer – dreißig Mark mit Morgenkaffee! – hinein …

Irma ertappte sich darüber, daß sie die Melodien mitsummte. Sie merkte aber auch, wie sich die unerträgliche Spannung in ihrem Innern immer mehr löste. Sie wurde ruhiger. Und als sie jetzt leise vor sich hin sprach „Es muß etwas geschehen!“, da war schon wieder ein Überschuß von Kraft und Unternehmungslust in ihr. Sie würde doch dahinter kommen, was der Schreiber der Briefe eigentlich bezweckte! Eigentlich – war’s nicht lächerlich, sich über solchen Unsinn überhaupt aufzuregen …?! Hatte sie nicht schon genug Briefe ohne Unterschrift empfangen mit allen möglichen Ansinnen darin …?! – Freilich – all das hatte stets ihrer Schönheit gegolten. Diese drei Schreibmaschinenepistel dagegen, die waren so ganz anders abgefaßt, – ganz anders …

Irma mußte hier vorläufig ihren Gedanken halt gebieten.

Es hatte recht kräftig an die Zimmertür geklopft.

Ihre Wirtin, die verwitwete Frau Kanzleirat Mießtaler, trat ein, zwischen den dürren Fingern einen großen Brief haltend.

„Der Postbote wartet draußen, liebes Fräulein Hölsch,“ flötete die Mießtaler. „Hier, – die Zustellungsurkunde sollen Sie unterschreiben. Der Brief scheint vom Gericht zu sein.“

Frau Leontine Mießtalers Neugierde entsprach durchaus ihrer Gestalt – war übergroß! – Ein Gerichtsbrief – was mochte wohl dahinterstecken …?! – Zu gern hätte sie es gewußt. –

Irma war wieder allein. Zögernd öffnete sie das Schreiben. – ‚Amtsgericht Sziemanowo‘ stand oben in der linken Ecke des großen Bogens.

Irma las – las. Erst begriff sie nicht recht, faßte sich unwillkürlich mit der Linken an die Stirn …

Mein Gott – jetzt auch noch dies – dies …?! Was bedeutete das alles. Wie sollte sie sich nur zurechtfinden in den merkwürdigen Geschehnissen, die sich so plötzlich in ihr stilles Dasein gedrängt hatten …?!

Sie saß in dem Korbsessel. Der große, so streng amtlich ausschauende Bogen lag in ihrem Schoß. Und die Hände hatte sie darüber gefaltet, als wollte sie Gott anflehen, mit einem Lichtstrahl diese Dunkelheit zu erhellen, die um sie her war trotz des sonnigen Frühlingstages.

Nach einer Weile nahm sie das Schreiben wieder auf, las es nochmals ganz langsam durch.

Drüben in der Kneipe unten duldete das Grammophon als Begleitung den bekannten Marsch ‚So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage …‘

Irma hörte nichts davon …

Im Auftrage Ihrer am 3. April des Jahres verstorbenen Großmutter väterlicherseits, der verwitweten Frau Grundbesitzer Elvira Hölsch, geborenen Lammert, teilt Ihnen das unterfertigte Nachlaßgericht in Ausführung des letzten Willens der Verblichenen mit, daß die Beerdigung hier in aller Stille am 8. des Monats stattgefunden hat und daß nunmehr dem Antritt der Erbschaft nach der Erblasserin durch Sie nichts mehr im Wege steht. Näheren Aufschluß gibt Ihnen die untenstehende beglaubigte Abschrift des Testaments der p. Elvira Hölsch.

Dann stand da weiter:

Mein letzter Wille

Zu meiner alleinigen Erbin setzte ich hiermit meine einzige nähere Verwandte, meine Enkelin Irma, Agathe, Anna Hölsch, Lehrerin, wohnhaft in Berlin Moabit, Reutlingerstraße 16, 2 Treppen bei Mießtaler, ein. Mein Nachlaß besteht in der Hauptsache aus einem Sparguthaben von zwölftausend Mark und aus dem sogenannten Lammerthof, der einen Wert von etwa zweiundzwanzigtausend Mark haben mag.

An meine langjährigen treuen Gehilfen, das Ehepaar Parlitz, ist ein Legat von dreitausend Mark auszuzahlen. Außerdem sollen die Leute bis zu ihrem Tode kostenlos weiter auf dem Grundstück wohnen dürfen. Den Lammerthof, der sich seit zweihundert Jahren im Besitz meiner Familie befindet, soll mein Erbin, wenn irgend möglich, nicht veräußern. Ich lege ihr diese Bitte warm ans Herz.

Ich wünsche nicht, daß meine Enkelin von meinem Tode vor meinem Begräbnis benachrichtigt wird. Dieses soll in der einfachsten Form stattfinden.

Dieses Testament hinterlege ich bei dem Amtsgericht Sziemanowo, damit ich sicher bin, daß mein letzter Wille streng beachtet wird.

Frau verwitw. Elvira Hölsch

geb. Lammert

Irma ließ den Bogen wieder sinken.

Vor ihr tauchte das Bild einer alten Frau auf, – ein grobknochiger Körper, ein Kopf mit harten Zügen, strengen Augen … Sie hatte die Großmutter Hölsch nie geliebt, stets gefürchtet, obwohl sie sie kaum kannte.

Die geborenen Lammert, aus altem posener Bauerngeschlecht stammend, das sich mannhaft seine deutsche Art inmitten einer fanatischen polnischen Bevölkerung bewahrt hatte, vergaß es dem einzigen Sohne nie, daß er gegen ihren Willen das ‚Theatergeschmeiß‘ – anders nannte sie ihre Schwiegertochter nie! – geheiratet hatte. Und der verbohrte Haß gegen die kleine, bescheidene Schauspielerin, die dann Irmas Mutter wurde, hatte sich auch auf die Enkelin übertragen, war nie verhehlt worden. Dazu war die alte Frau Hölsch eine viel zu aufrichtige Natur.

Der Großmutter Bild verschwand …

Andere Erinnerungen stiegen vor Irmas geistigem Auge wie aus der Versenkung in bunter Folge auf – –: eine kleine Großstadtwohnung, in der es erst so fröhlich hergegangen war, in der die Liebe und das Glück sich so fest eingenistet zu haben schienen, bis dann die raue Faust des Schicksals die junge Menschenblüte knickte, an der sich eines Mannes schwacher Charakter wie ein haltsuchendes Schlinggewächs hochgerankt hatte. –

Das hatte die Großmutter Lammert aber nie einsehen wollen, daß der leichtsinnige Leutnant Günter Hölsch ohne das ‚Theatergeschmeiß‘ wahrscheinlich drüben in Amerika als Kellner oder dergleichen geendet hätte, daß er nur durch die kleine Schauspielerin Irma Werhofen ein strebsamer Versicherungsbeamter und glücklicher Ehemann geworden war …

Wie mußte der Vater doch seine Frau geliebt haben – wie sehr …! Ihretwegen der Bruch mit den Eltern, ihretwegen das Ausscheiden aus der Armee, ihretwegen die plötzlich erwachte Freude an geregelter Tätigkeit, an dem eigenen Heim, – und das trotz all der Sorgen! – und ihretwegen schließlich das gewaltsame Ende, – ein Revolverschuß an einem frischen Grabe …

Damals war die kleine Irma gerade zwölf Jahre alt gewesen. Und seitdem hatte sie unter Fremden gelebt. Die einzige Verwandte, die sie noch besaß, die harte, unerbittliche Frau auf dem Lammerthof bei Sziemanowo, hatte das Kind in Pension gegeben, es nur selten, sehr selten besucht. Auch zwischen ihr und dem zum Weibe heranreifenden jungen Mädchen gab es keine engeren Fäden, – nur lose Bande: die Pflicht, für die Enkelin zu sorgen …! – Und sie hatte auch bestimmt, daß Irma Lehrerin wurde, – ohne sie zu fragen. Sie verlangte Gehorsam, – denn sie gab ja das Geld …

Und diese Frau war jetzt tot … War von Fremden zu Grabe geleitet worden … –

Irma war stets ehrlich gegen sich selbst. – Wo sollte sie wohl ein Gefühl der Trauer über den Tod ihrer Großmutter hernehmen …?! – Nein, wenn sie überhaupt etwas empfand, war es lediglich ein wenig Freude, daß sie jetzt die nahe bevorstehenden Osterferien auf dem Lammerthof als dessen neue Herrin zubringen konnte …

Aber diese kleine Freude blieb stark gedämpft. Als Schatten fiel darauf … das Andere, Dunkle … die anonymen Briefe …

 

2. Kapitel.

Die treue Hand.

Irma verschloß das Schreiben des Amtsgerichts in der Blechkassette, die sie sich eigentlich nur Frau Mießtalers wegen angeschafft hatte, bei der sie nun schon ein Jahr wohnte und von deren Neugier sie sehr bald sichere Beweise erhalten hatte. Die Kassette hatte ein Schloß, das nur mit dem schmalen, langen Schlüssel mit den vielen Zacken zu öffnen war, – zu der Kanzleirätin großem Ärger.

Dann legte sich Irma wie immer auf den Diwan, schlief bis vier, wachte von selbst auf und machte sich zum Ausgehen fertig. Sie wollte ihre Freundin und Kollegin Hedwig Melcher besuchen, die schon etwas altjüngferliche Zeichenlehrerin, die doch ein so gutes Herz und einen so scharfen, feingebildeten Verstand besaß. Ihr wollte Irma sich endlich anvertrauen. Das Geheimnis der anonymen Briefe konnte sie jetzt nicht länger in ihrer Seele verschließen, jetzt, wo es durch den Tod der Großmutter nur noch rätselhafter geworden war.

Fräulein Melcher wohnte in der Invalidenstraße gegenüber einem alten Museum. Drei Geschwister hausten hier zusammen, zwei Schwestern und ein Bruder, stille, zufriedene Menschen, die die Arbeit nicht als Frondienst auffaßten, die an allem Freude hatten.

Hedwig war nicht daheim, auch die älteste Melcher nicht, Thilde, die als Buchhalterin in einem Warenhause zu der gemeinsamen Wirtschaft fast eben so viel beisteuern konnte wie Fritz Melcher, der pedantische Herr Polizeisekretär, trotz seiner achtundzwanzig Jahre bereits ein eingefleischter Junggeselle mit dem Glaubenssatz ‚Besser als bei meinen Schwestern kann ich’s nirgends haben!‘

Fritz Melcher hatte soeben eine harmlose Influenza überstanden und daher noch ein paar Tage Urlaub. Er führte Irma in das Wohnzimmer, setzte ihr eine Tasse Kaffee vor, strich ihr ein Brötchen, – alles mit der Selbstverständlichkeit erprobter Freundschaft.

„Hedwig wollte erst ein paar Besorgungen erledigen und dann zu Ihnen gehen, liebes Fräulein Hölsch,“ hatte er Irma aufgeklärt. „Sie wollte mit Ihnen irgendwohin ins Freie hinaus. Sie meinte heute beim Mittagessen, Sie seien in letzter Zeit stets sehr nervös und reizbar.“

Irma trank die halbe Tasse auf einmal aus. Sie fühlte sich schon wieder recht abgespannt.

Fritz Melcher saß ihr gegenüber und beobachtete sie unauffällig. Mit seinem blonden, dünnen Bart und der goldenen Brille, dem dunkelblauen Jackettanzug und der soliden schwarzen Schleife unter dem niedrigen Kragen brauchte er niemandem zu sagen, daß er Beamter sei, zumal der Ausdruck seines blassen Gesicht zumeist streng und verschlossen war. Nur jetzt leuchtete fast väterliche Güte und Milde auf diesem feingeschliffenen Antlitz, das durch jedes Lächeln wunderbar verschönert wurde.

„Was quält Sie eigentlich, Fräulein Hölsch?“ fragte er, als Irma nicht gleich etwas erwiderte, sondern nachdenklich vor sich hinschaute.

„Deshalb kam ich ja gerade zu Hedwig,“ meinte sie leise aufseufzend. „Ich wollte mich mit Ihrer Schwester einmal aussprechen.“

„Hm – wäre es unbescheiden, wenn ich Sie bäte, sich der Selbsttäuschung hinzugeben, daß nicht ich, sondern Hedwig Ihnen jetzt gegenübersäße …?! So halb und halb betrachte ich Sie ja doch als meine Adoptivschwester, Fräulein Irma. Natürlich will ich mich Ihnen wahrhaftig nicht aufdrängen. Aber …“

Sie hatte ihm die Hand über den Tisch hingestreckt.

„Für diese schlechte Welt sind Sie eigentlich viel zu gut, – wirklich! Sie finden für jeden das rechte Wort. Adoptivschwester …! Wie hübsch das klingt … Ich bin ja immer so allein gewesen. – Aber – was das Aufdrängen anbetrifft, das könnte doch nur mich angehen … Ich bin es doch, die Ihnen einen Teil meiner Seelenlast mitaufladen würde, meiner Geheimnisse …“

Er hatte ihre kühle, weiche Hand noch immer in der seinen.

Wie das Blut in bläulichen Adern pulste …! Und wie die feine Haut schnell wärmer und wärmer wurde …! –

Dem Herrn Sekretär ging’s mit einem Male wie ein Ruck durch den Körper. Hastig, verwirrt zog er seine Hand zurück, während ihm eine heiße Welle vom Herzen durch den ganzen Körper flutete.

Und verlegen stotterte er nun, nur um etwas zu sagen:

„Geheimnisse …? – Das klingt ja wirklich beinahe gefährlich.“

Irma war es entgangen, daß der ‚Adoptivbruder‘ soeben gefühlt hatte, welche Klippen dieser vorgetäuschte stille See geschwisterlicher Zuneigung doch vielleicht haben könnte.

„Gefährlich ist wohl zu viel gesagt,“ meinte sie ernst. „Immerhin handelt es sich um Dinge, die ich nicht begreife, das heißt, hinter deren Sinn ich nicht komme. Und das beunruhigt mich – sehr, sehr sogar.“

Sie nahm ihr ledernes Handtäschchen und brachte daraus drei Briefe zum Vorschein, die sie Fritz Melcher nun reichte, indem sie erklärte:

„Lesen Sie … Ich habe die Umschläge numeriert. Fangen Sie mit eins an.“

„Bedienen Sie sich aber zunächst noch, bitte. Darf ich Ihnen noch ein Brötchen streichen?“

Sie nickte. „Sehr lieb von Ihnen. – Danke. Die Marmelade ist vorzüglich.“

Während er las, beobachtete sie ihn. Mehrmals schüttelte er den Kopf, murmelte auch wohl etwas wie „Unglaublich – unbegreiflich!“ vor sich hin. Dabei war er noch immer bei dem ersten Brief, der noch, allein genommen, gar nicht so sehr wirkte. –

Er lautete:

Irma Hölsch!

Es können Ereignisse eintreten, die geeignet sein dürften, Ihr Leben stark zu beeinflussen – vielleicht nicht nach der guten Seite hin. Vergessen Sie dann nicht, daß es eine irdische Macht gibt, die Sie schützen kann. Bereiten Sie sich jedenfalls jetzt schon vor, Überraschungen durchzumachen, die Ihr seelisches Gleichgewicht stören werden.

die treue Hand

Fritz Melcher legte dieses Schreiben beiseite, wobei er zu Irma hinüberschaute und wie ratlos die Achseln zuckte.

Nun das zweite …

Irma Hölsch!

Die Wandlung in Ihrem Dasein ist eingetreten. Lassen Sie sich jedoch warnen! Bleiben Sie, was Sie sind! Und doch – zögern Sie nicht, an verschlossenen Türen zu rütteln! Der gute Ruf jener, von der nie Liebe ausging, muß Ihnen über allem stehen! – Wenn Sie nicht mehr aus noch ein wissen, schreiben Sie vertrauensvoll an Postamt Leipziger Platz postlagernd unter 91836.

die treue Hand

Der junge Sekretär warf diesen Brief zu dem ersten. – Er warf ihn! – Und brummte: „Ein lächerlicher Scherz!“

Aber Irma sagte leise: „Sie werden anderer Meinung werden!“

Dann der dritte Brief …

Irma Hölsch!

In kurzem werden Sie nun wissen, was geschehen ist. Ein Grab hat sich geschlossen. Und aus dieser Gruft reckt sich Ihnen flehend eine Hand entgegen: ‚Rüttele an verschlossenen Türen! Der Tempel der Liebe ruft! Wahre die Geheimnisse des Lammerthofes!‘ –

Lassen Sie sich nochmals warnen! Geben Sie Ihren Beruf nicht auf! Dort zwischen den kahlen Heidehügel blüht für Sie kein Glück! –

Sorgen Sie dafür, daß die Kiste bei Nacht verschwindet, daß der Tempel der Liebe leer wird – in aller Stille! Denken Sie an den guten Ruf Ihrer Großmutter und … an 91836.

die treue Hand

Fritz Melcher blickte auf, wollte etwas sagen. Aber Irma kam ihm zuvor.

„Auch ich habe den ersten Brief für einen schlechten Scherz gehalten,“ erklärte sie. „Den zweiten nicht mehr, denn er enthält eine Andeutung, die sich nur auf das Verhältnis zwischen meiner Großmutter Elvira Hölsch und mir beziehen kann. Sie hat mich ebenso wenig geliebt wie meinen Vater. Und weil auf die Kälte dieser unserer Beziehungen dort angespielt war, nahm ich dieses Schreiben recht ernst. Daher auch das dritte, das ich heute morgen erhielt. –

Und nun passen Sie auf, Herr Melcher. Heute morgen der dritte Brief, darin der Satz von dem Grabe, das sich geschlossen hat, und heute Nachmittag die amtliche Nachricht von dem am 3. April, also vor acht Tagen, erfolgten Tode meiner Großmutter, die am 8. ohne mein Wissen bereits beerdigt worden ist.“

Der junge Polizeisekretär saß wie versteinert da. Endlich brachte er ein „Hm – ja, – dann allerdings!“ mühsam hervor, überflog nochmals den dritten Brief und sagte dann kopfschüttelnd:

„Seltsam – seltsam!“

„Sehen Sie! Nun hat es Sie auch gepackt!“ meinte Irma befriedigt. „Nun müssen Sie zugeben, daß diese drei Schreiben der treuen Hand doch etwas auf sich haben! Und, um Sie gleich ganz einzuweihen, der erste Brief erreichte mich am Abend des 3. April, also am Todestage meiner Großmutter, und schon er enthält Anspielungen auf diesen Todesfall, spricht ja von Ereignisse, die mein Dasein stark beeinflussen …“

Fritz Melcher erwiderte nichts. Seine gutgepflegte Hand strich nur sehr nachdenklich den blonden Bart, und seine Augen waren sinnend auf die Sofaecke gerichtet, in der eng zusammengeringelt der Liebling der drei Geschwister Melcher lag, der Wolfspitz Kerlchen. Und Kerlchen hatte soeben die Lider aufgeschlagen, fühlte den Blick Herrchens und wedelte mit der buschigen Rute einen Gruß hinüber.

Dann kehrten des ernsten Beamten Augen zu Irmas reizvollem Gesicht zurück.

„Und in dieser Sache wollten sie Hedwigs Rat einholen?“ fragte er mit einem kaum merklichen Lächeln. „Hedwig ist dir wohl ein kluger Mensch. Aber es gibt doch Dinge, die anderswo besser aufgehoben sind. Auch ich bin für diese Sache kaum zuständig. Vielleicht einer unserer Kriminalkommissare oder … Egon Larisch.“

Irma horchte auf.

„Egon Larisch?“ meinte sie erstaunt. „Seit einer Woche sitzt mir bei Frau Mikla ein Schriftsteller mittags gegenüber, – Sie wissen, guter, billiger Mittagstisch, im Abonnement für 1,25 Mk. – Ist das etwa derselbe Herr Larisch?“

Fritz Melcher wurde etwas rot.

„Allerdings – ganz richtig, – mein Schulfreund Egon, der vor vierzehn Tagen seinen Wohnsitz von München nach hier verlegt hat,“ beeilte er sich zu erklären.

Irma maß ihn mit ebenso prüfenden wie verwunderten Blicken.

„Ja – aber den Namen habe ich weder von Ihnen noch von Ihren Schwestern bisher gehört?!“ sagte sie lauter und eindringlicher. „Wie kommt denn das?! Mögen Ihre Schwestern diesen Herrn Larisch etwa nicht gern? – Irgend eine Bewandtnis muß es doch haben, daß ich, die fast täglich hier im Hause ist, noch nie diesen Schriftsteller erwähnen hörte …?!“

Der blonde Sekretär fegte mit den Fingerspitzen die Krümel auf der Tischecke zusammen und schaute nicht auf.

„Ein Zufall,“ sagt er unsicher.

„Ist Egon Larisch denn schon mal bei Ihnen gewesen?“ forschte Irma hartnäckig weiter.

„Ja – öfters!“ Das klang wieder so merkwürdig verlegen. Und dann stand Fritz Melcher hastig auf, ging zu der großen Kanarienvogelhecke hin, die schräg vor dem einen Fenster ihren Platz hatte, und rief zwei sich zankenden Hähnen zu: „Schämt euch – werdet Ihr wohl Frieden halten!“

Irma merkte, daß die Freundschaft mit diesem Egon Larisch besonderer Art sein müsse und daß der junge Sekretär nicht mit der vollen Wahrheit herausrücken wollte.

Sie ließ daher diesen Gegenstand fallen und sagte möglichst gleichgültig:

„Ich denke, Herr Larisch ist Schriftsteller. Und doch nannten Sie seinen Namen in einem Atem mit Kriminalkommissaren?!“

„Freilich. Er schreibt nämlich Kriminalromane, – wie er stets sagt ‚als Akkordarbeiter‘. Dabei ist er aber noch so zu seinem Privatvergnügen auch Detektiv. Nein, ganz paßt diese Bezeichnung auf seine Neigungen doch wohl nicht. Er liebt alles Außergewöhnliche, mag es ein Angesicht haben wie es will! Nur alltäglich darf es nicht sein.“

„So, so. Und Sie meinen, Herr Larisch wäre also am besten ‚für meine Sache zuständig‘, wie Sie sich vorhin ausdrückten?“

„Ohne Zweifel. Er würde sich mit allem Eifer auf dieses Geheimnis stürzen. Ich kenne ihn. Wenn Sie mir diese drei Briefe für einen Tag überlassen und mir noch näheren Aufschluß über den Inhalt der heutigen amtlichen Benachrichtigung geben wollten, so glaube ich Ihnen versprechen zu können, daß Sie sehr bald wissen, wer hinter dieser ‚treuen Hand‘ steckt und was durch die anonymen Schreiben eigentlich beabsichtigt wird. –

Noch eine Frage. Haben Sie sich etwa schon unter 91836 an diesen rätselhaften Beschützer gewendet?“

„Nein. – Aber was Ihren Vorschlag anbetrifft, lieber Herr Melcher, – da sage ich ja! Gut, tragen Sie Herrn Larisch die Angelegenheit vor.“ –

Sehr bald darauf erschien Hedwig Melzer.

Sie hatte große Ähnlichkeit mit dem blonden Sekretär, war überschlank, zart, aber leider schon ein wenig verblüht. Etwas Herbes, kühl – zurückweisendes hatte ihrem Wesen stets angehaftet. Richtig jung war sie wohl nie gewesen. ‚Ein hartes Lineal ohne jedes Gefühl‘, sagten ihre Kolleginnen von der Moabiter Volksschule, an der sie ebenso wie auch Irma Hölsch angestellt war. Dieses grausame Urteil stimmte jedoch nicht, oder nur mit Einschränkungen. Hedwig Melcher ließ niemand einen Blick in ihr Inneres tun. Die einzige, die ihr näher stand, war Irma. Doch auch ihr gegenüber blieb Hedwig bis zu einem gewissen Grade scheu zurückhaltend.

Irma fiel es auf, daß sie von der Freundin heute kühler als sonst begrüßt wurde. Hedwig war zerstreut und leicht erregt. Als sie die anonymen Briefe auf dem Tisch bemerkte, fragte sie sofort:

„Habt Ihr hier etwa geschäftliche Dinge erörtert?“ Es machte den Eindruck als ob sie nur irgend etwas reden wollte. Auch Fritz wunderte sich über die Zerfahrenheit der Schwester und streifte sie mit prüfenden Blicken.

Irma teilte der Zeichenlehrerin mit, weshalb sie zu ihr gekommen war. Als im Laufe dieser Erklärungen über die geheimnisvollen Briefe dann auch Egon Larisch erwähnt wurde, veränderte sich Hedwig Melchers Gesichtsausdruck auffallend. Und mit einem halb ironischen, halb ärgerlichen Auflachen sagte sie, Irma wenig rücksichtsvoll ins Wort fallend:

„Ich begreife meinen Bruder nicht …! Wozu soll denn Herr Larisch mit dieser Sache behelligt werden?! Der schlägt sich doch wahrhaftig mühsam genug durch. Wo soll er wohl die Zeit hernehmen, sich auch noch den Angelegenheiten Fremder zu widmen!“

Irma wurde erst verlegen, dann aber kam doch die durchaus gerechtfertigte Empörung bei ihr zum Durchbruch. Hedwigs ganzes Verhalten war ihr heute völlig unerklärlich. Und so sagte sie denn ziemlich scharfen Tones, bevor noch der Sekretär sich einmischen konnte:

„Dein Bruder war es, der mir den Vorschlag machte, Herrn Larisch um Rat zu fragen. Ich habe jedenfalls nie daran gedacht, den Schriftsteller, den ich ja kaum kenne, zu behelligen. Im übrigen scheinst du heute nicht gerade bester Laune zu sein, liebe Hedwig. Da ist es wohl besser, ich gehe. Natürlich werde ich unter diesen Umständen die Briefe mitnehmen. Herr Larisch soll durch mich nicht seiner kostbaren Zeit beraubt werden.“

Hedwig Melcher lenkte jetzt plötzlich ein. Und dies gleich in einer Weise, daß Irma immer weniger aus der Zeichenlehrerin und deren schnell wechselnden Stimmungen klug zu werden vermochte.

Mit tränenfeuchten Augen und bittend vorgestreckten Händen kam das alternde Mädchen auf die Freundin zu und rief mit leicht vibrierender Stimme:

„Mein Gott, habe ich dich etwa verletzt?! Das will ich nicht, wirklich nicht! Verzeih’ mir, Irma! Bitte – bitte – sei wieder gut, Liebste! Wir beide werden uns doch nicht zanken! Ach – ich hatte mir diesen Nachmittag so anders gedacht. Ich komme ja soeben von dir, war enttäuscht, dich nicht anzutreffen. Ich hätte sodann mit dir einen Spaziergang gemacht. Ich habe dir auch ein paar Zeilen hinterlassen. In deinem Zimmer arbeitete gerade ein Elektromonteur, der die Lichtleitung nachsah. Über den Menschen habe ich mich auch noch geärgert. Es war so ein richtiger aufdringlicher Berliner. Er hatte dein Bild auf dem Schreibtisch gesehen, tat, als hätte er sich sofort in die Photographie vergafft und fragte mich nun nach dir aus, – so eine Unverfrorenheit! Na – als ich erst merkte, was mit dem Menschen los war, habe ich ihm gründlich heimgeleuchtet.“

Irma war schon wieder versöhnt, zumal auch Fritz Melcher jetzt betonte, Hedwig wäre wohl etwas überarbeitet.

„Jedenfalls kann davon keine Rede sein, Fräulein Hölsch,“ fügte er hinzu, „daß Egon Larisch durch eine Prüfung dieser Briefe irgendwie in seiner Arbeit beeinträchtigt wird. Ich bitte Sie also, lassen Sie die Briefe hier.“

„Gut denn,“ meinte Irma und reichte sie ihm zurück.

Hedwig aber warf so nebenbei hin:

„Natürlich kann er sie prüfen. Ich glaubte ja, Irma, es sollten vielleicht lange Beratungen zwischen euch stattfinden. Und die hätten doch wohl Larisch in seinem Schaffen gestört.“

Dann wurde dieser Gegenstand nicht weiter berührt. Irma begann von der Erbschaft zu sprechen und lud hierbei die Geschwister Melcher nach dem Lammerthof für die nahen Osterfeiertage ein.

„Ihr müßt meine Gäste sein, auf jeden Fall! Einen Korb nehme ich nicht an. Ich bin ja jetzt Gutsbesitzerin, – wenn auch nur von einer alten Raubburg, die als Wohnhaus genutzt wird, und zweihundert Morgen armseligen Heidelandes, auf dem nur Schafe ihr Auskommen finden.“

Die Einladung wurde angenommen. Dann setzte jetzt Melcher für Irma noch ein Schreiben an das Amtsgericht in Sziemanowo auf, damit dieses sich bis zum Beginn der Ferien des Lammerthofes ein wenig annehme, den das alte Ehepaar Parlitz vorläufig verwalten sollte.

 

3. Kapitel.

Egon Larisch.

Als Irma nach Hause kam, begegnete sie im Flur der Frau Kanzleirat Mießtaler.

„Ich habe gar nicht gewußt, Fräulein Hölsch, daß an der Lichtleitung in Ihrem Zimmer etwas in Unordnung war,“ sagte die spindeldürre Wirtin leicht gereizt. „Sie schicken mir da einfach einen Monteur ins Haus und noch so einen patzigen, frechen Menschen. Ein andermal wäre es mir lieber, wenn Sie mir die Erledigung derartiger Reparaturen überließen.“

Irma war einfach sprachlos.

„Ich – ich hätte den Monteur geschickt?!“ meinte sie verwundert. „Das muß ein Irrtum sein. Ich habe keinen Menschen beauftragt – wirklich nicht!“

„Na, da hört sich doch verschiedenes auf!“ rief die Kanzleirätin kopfschüttelnd. „Herr Gott – womöglich war der Kerl gar ein Gauner, ein Dieb …!“

Und prüfend musterte sie den ganzen Flur, den Garderobenständer und den Schrank hinter der Ecke, auf dem allerlei Kleinigkeiten herumstanden.

„Hier scheint ja noch alles da zu sein, Fräulein Hölsch,“ sagte sie erregt. „Aber – sehen Sie doch bitte gleich mal in Ihrem Zimmer auch nach. Der Mann ist ja dort mindestens zehn Minuten allein gewesen. Zuerst war noch Fräulein Melcher drin, aber …“

„Ich weiß, ich weiß …!“ Und Irma riß schon ihre Stubentür auf, trat mitten ins Zimmer und schaute sich mißtrauisch um.

Die Wirtin war ihr gefolgt.

„Na, fehlt was?“ fragte sie ängstlich.

Irma zuckte die Achseln, trat auf den Schreibtisch zu und – stutzte plötzlich.

Der Schreibtisch hatte einen Aufsatz mit einem verschließbaren Mittelschränkchen mit einer Doppeltür. Und von der Mittelleiste dieser Doppeltür war unten ein etwa vierzehn Meter langes Stäbchen abgesplittert, so daß das helle, ungebeizte Holz an dieser Stelle aufdringlich in die Augen fiel, während der Splitter auf der Tischplatte auf der roten Löschblattunterlage lag.

Irma deutete mit der Hand auf den Holzstäbchen.

„Das Schränkchen ist gewaltsam geöffnet worden,“ sagte sie leise. „Sehen Sie, Frau Kanzleirat, – ich kann mich gar nicht täuschen!“

Wenige Minuten später hatte die junge Lehrerin festgestellt, daß auch die in dem Schränkchen befindliche Kassette aufgebrochen worden war. Das Schloß war verdorben und der starke Zapfen losgesprengt. Von den in der Kassette aufbewahrt gewesenen Sachen fehlte ein Beutelchen mit vierzig Mark.

Irma wandte sich an die Mießtaler.

„Natürlich ist der Monteur der Dieb gewesen. Ich werde sofort zur nächsten Polizeiwache gehen und Anzeige erstatten,“ sagte sie.

Dann wurde sie erst gewahr, wie blaß die magere Frau ausschaute. Und begünstigend fügte sie hinzu:

„Regen Sie sich nur nicht auf, Frau Rat. Die vierzig Mark werde ich schon verschmerzen.

Die Mießtaler nickte zerstreut. In ihren Augen war ein ganz ungewohnter Ausdruck von innerer Angst. Dann stotterte sie geistesabwesend hervor:

„Nein – was man alles erlebt …! Ja, ja – Berlin – Berlin!“ Und sie beseufzte tief die Lasterhaftigkeit der Millionenstadt.

„Merkwürdig, daß der Spitzbube die goldene Kette nicht auch mitgenommen hat,“ meinte Irma, und ließ dieses einzige Andenken an ihre Mutter spielend durch die Flieger gleiten. „Es ist doch immerhin Gold, und einige fünfzig Mark dürfte die Kette wohl wert sein.“

Die Kanzleirätin stierte jetzt wie hypnotisiert auf die offene Kassette.

„Da – auf dem obersten Papier ist ein frischer Blutfleck,“ sagte sie zögernd. „Vielleicht hat der Spitzbube sich bei seiner Diebsarbeit verletzt.“

Irma hatte den roten Fleck schon vorhin bemerkt. Aber jetzt bemerkte sie noch etwas anderes! Die Mießtaler hatte um den rechten Zeigefinger ein ganz frisches Leinenläppchen gewickelt, also sich wohl geschnitten! Das Läppchen war jedoch noch nicht da gewesen, als sie Irma nachmittags den Brief des Amtsgerichts hineingereicht hatte. Darauf besann die junge Lehrerin sich ganz genau. Und nun war sie es, die wie gebannt, geistig förmlich gefangen genommen von einer mißtrauischen Ideenverbindung, auf den verbundenen Finger schaute. Dann hob sie den Blick. Zwei Augenpaare begegneten sich. Und die Rätin war im Gesicht jetzt ebenso weiß wie das unscheinbare Läppchen.

Plötzlich verschwand der rechte Arm der Mießtaler mit einer hastigen, vielleicht ganz unwillkürlichen Bewegung auf dem Rücken, während sie undeutlich stammelte …: „Ich habe ja Milch auf dem Feuer. Entschuldigen Sie …“ Und sie eilte hinaus. Den rechten Arm aber hatte sie wieder nach vorn genommen.

Irma Hölsch blickte ihr kopfschüttelnd nach. Sollte etwa …?! – Nein, – niemals! Mochte die magere Frau auch über alle Maßen neugierig sein, – stehlen, – dazu war sie doch nicht fähig.

Die junge Lehrerin schloß die Kassette in ihren Plattenkoffer ein, der ein Patentschloß hatte. Dann sah sie nach der Uhr. – Schon halb acht! – Eigentlich hätte sie auch so wissen müssen, daß ihre gewöhnliche Abendbrotzeit da war. Sie hatte recht ordentlich Hunger. – Ob sie wirklich gleich nach der Polizeiwache gehen sollte …?! – Unschlüssig unterzog sie ihre in der Ofenröhre aufbewahrten Eßvorräte einer kurzen Musterung. –

Dann ein anderer Gedanke. Heute konnte sie doch eigentlich mal leichtsinnig sein und sich ein warmes Abendessen auf die Erbschaft hin leisten …! Das Zipfelchen Wurst und der trockene Käse lockten nicht gerade sehr.

So fügte es sich, daß Irma Hölsch eine Viertelstunde später die Restaurationsräume des ‚Nordwest Hotel‘ in der Turmstraße betrat. Es war dies das einzige Lokal, das in Moabit für eine junge Dame in Betracht kam. Irma war schon häufiger, zumeist in Gesellschaft der Geschwister Melcher, dort gewesen.

Die Tische waren sämtlich besetzt, selbst in dem langgestreckten Nebenraum. Irma wollte schon enttäuscht wieder fortgehen, da sie sich nicht zu Fremden setzen mochte, als ein an einem kleinen Tischchen sitzender Herr sich schnell erhob und auf sie zukam.

„Darf ich Ihnen einen Platz bei mir anbieten, gnädiges Fräulein?“ fragte Egon Larisch sehr höflich, aber auch mit jener etwas überlegenen Sicherheit, die durch all seine liebenswürdige Bescheidenheit hindurchleuchtete. Und leise fügt er hinzu: „Fritz Melcher hatte die drei Briefe schon ausgehändigt.“

Irma verstand sofort, was Larisch mit dieser Bemerkung andeuten wollte: ‚Bisher hast du dich am Mittagstisch der Frau Mikla mir gegenüber ablehnend wie eine Fürstin verhalten. Jetzt brauchst du mich. Und wir können diese zufällige Begegnung gleich dazu benutzen, die bewußte Sache persönlich durchzusprechen.‘

Und Irma erwiderte daher auch:

„Sehr liebenswürdig, Herr Larisch. – Ich wollte hier nur zu Abend essen.“

Dann nahm er ihr den halblangen Frühjahrsmantel und dem Schirm ab und rückte ihr einen Stuhl zurecht. Dann ließ er die Speisekarte bringen, fragte, was sie trinken wolle, und bestellte bei dem Kellner nach ihren Angaben.

Seine zwanglose Art zerstreute schnell jede Spur von Verlegenheit bei ihr. Irma Hölsch war ja auch schon recht früh an die Selbstständigkeit des alleinstehenden Weibes gewöhnt worden, – vielleicht gerade dadurch, daß sie so ganz unter Fremden aufgewachsen war.

Verstohlenen betrachtete sie Egon Larisch jetzt genauer, – zum erstenmal, denn in dem stets halbdunklen großen Eßzimmer der Frau Mikla hatte sie hierzu kaum Gelegenheit gehabt.

Sie mußte sich eingestehen, daß der Schriftsteller das besaß, was auf viele Frauen mehr wirkt als ein regelmäßiges, sogenanntes ‚schönes‘ Gesicht, – eben einen Charakterkopf von imponierender Häßlichkeit. Am meisten fiel an diesem mageren Antlitz wohl das breite, vorspringende Kinn auf, über dem wie eine lange Kerbe der schmallippige, viel zu große Mund lag. Auch die Nase war reichlich lang, leicht gebogen, aber dünn wie ein Messerrücken, während die Stirn wieder mit dem Polizeiausdruck ‚gewöhnlich‘ am besten gekennzeichnet wurde. Anders die Augen. Die waren wirklich recht ausdrucksvoll, groß, dunkel und wirkten gerade im Gegensatz zu dem blonden, gescheitelten Kopfhaar und den hellen, kräftigen Brauen besonders leuchtend und lebendig.

Während er in leichtem Plaudertone jetzt von seinem dreijährigen Münchener Aufenthalt erzählte, versuchte Irma sich darüber klar zu werden, weshalb ihr dieser Mann, den sie zunächst bei Frau Mikla als eine Zufallsbekanntschaft kaum beachtet hatte, trotz dieser ganz oberflächlichen Beziehungen sehr bald geradezu unsympathisch geworden war, wozu doch gar kein Grund vorlag. Hatte er sie doch stets in einer Weise behandelt, wie sie es als Dame verlangen konnte, wenn er auch kein Hehl daraus gemacht hatte, daß er ihrer eigenartigen Schönheit huldigen zu dürfen glaubte, so durch allerlei kleine Aufmerksamkeiten bei Tisch und durch unermüdliche Versuche, sein kühles Gegenüber in ein Gespräch zu ziehen.

Irma sann vergeblich über die Ursachen dieser leichten Abneigung nach. Vielleicht – ja vielleicht beruhte diese darauf, daß das Weib in ihr hier in dieser Persönlichkeit die starke, selbstbewußte und berechtigte Überlegenheit des Mannes spürte und daß aus einem ebenso starken Selbstständigkeitsgefühl heraus sich ihr Geist dagegen sträubte, diese Überlegenheit anzuerkennen.

Zu wirklich Klarheit schaffendem Grübeln ließ ihr Egon Larisch auch kaum Zeit. Aus einem trefflicheren Feingefühl heraus suchte er den Ton zwischen ihnen, während Irma jetzt Suppe und Braten verzehrte, auf eine gewisse kameradschaftliche Note abzustimmen, – eben damit das junge Mädchen bei den bevorstehenden Erörterungen über die geheimnisvollen Schreiben nicht mehr das Empfinden haben sollte, einem Wildfremden ihre verborgensten Gedanken über diese Sache anvertrauen zu müssen. Und dasselbe Feingefühl bestimmte ihn dazu, erst nachher, als Irma ihre Mahlzeit beendet und sich noch eine Tasse Kaffee bestellt hatte, auf die ‚treue Hand‘ zu sprechen zu kommen.

Inzwischen hatte Irma über Egon Larisch und dessen Beziehungen zu Melchers doch so manches durch unaufdringliche, in die Unterhaltung zwanglos eingestreute Fragen erfahren, daß ihr ihrer Freundin Hedwig heutiges Benehmen noch seltsamer und rätselhafter erschien.

Der junge Schriftsteller – Irma schätzte ihn auf vielleicht dreißig Jahre, obwohl er eigentlich jünger aussah und nur seine ganze Art sich zu geben diese Annahme beeinflußt hatte – war plötzlich als geborener Berliner, wie er andeutete, drunten in München von einer nicht zu überwindenden Sehnsucht nach dem großzügigeren Leben der Reichshauptstadt gepackt worden und hatte kurz entschlossen dann sein Bündel geschnürt, um wieder mal in der alten Heimat seine Zelte aufzuschlagen. Der Briefwechsel mit Fritz Melcher war schon lange gänzlich eingeschlafen, und erst die Übersiedlung nach Berlin hatte die beiden wieder zusammengeführt. Sie stellten fest, daß ihre einst so enge Freundschaft, die auf gegenseitiger Wertschätzung aufgebaut war, nichts an Aufrichtigkeit durch diese Jahre der Trennung eingebüßt hatte, traten sofort in regen Verkehr und hatten schon manchen Abend in der Wohnung der Geschwister angenehm durchplaudert, wobei Larisch dem an Influenza bettlägerig erkrankten Jugendgefährten die Zeit vertreiben half. Jedenfalls mußte der Schriftsteller bereits so oft bei Melchers gewesen sein, daß es schon aus diesem Grunde höchst merkwürdig war, weshalb keines der Geschwister Irma gegenüber je dieses häufigen Gastes Erwähnung getan hatten, zumal aus einer Bemerkung des ohne Rückhalt plaudernden Larisch hervorging, daß Melchers gewußt hatten, mit wem Irma jetzt fast täglich mittags bei Frau Mikla zusammenkam.

Das junge Mädchen, selbst eine sehr offenen Natur und allen Unklarheiten abhold, hätte zu gern den Schriftsteller gefragt, ob er vielleicht wüßte, aus welchem Grunde Melchers ihn vor ihrer Bekannten in dieser Weise geradezu verleugneten. Aber eine gewisse Scheu, hier an Dinge zu rühren, die vielleicht etwas heikler Art waren, verschloß ihr den Mund. –

Egon Larisch fragte jetzt, nachdem der Kellner den Kaffee gebracht hatte, ob er sich eine Zigarre anzünden dürfe.

Nach den ersten Zügen – man merkte ihm an, daß er leidenschaftlicher Raucher war – begann er dann:

„Wenn es Ihnen recht ist, gnädiges Fräulein, sprechen wir jetzt diese etwas dunkle Angelegenheit durch, die ich, offen gestanden, nicht für ganz harmlos halte.“ –

Als Irma eifrig nickte, fuhr er fort: „Zunächst einige Fragen. – Hat Ihnen ein Postbote diese drei Briefe persönlich übergeben, oder haben Sie sie im Briefkasten gefunden? – Ich nehme an, Sie haben einen eigenen Briefkasten an der Flurtür, zum mindesten doch aber Ihre Wirtin.“

„Einen eigenen. Und die beiden ersten Briefe fand ich abends darin vor, den dritten heute morgen.“

„So. Das dachte ich mir. – – Fritz Melcher wußte mir zu berichten, daß Sie den ersten Brief am Abend des Todestages Ihrer Großmutter, den dritten heute früh erhielten, – besser gesagt im Briefkasten vorfanden. Wann kann der zweite an?“

„Am 6. April abends, also drei Tage später als der erste. Und auch aus Hamburg. Nur der letzte ist hier in Berlin aufgegeben worden.“

„Hm – aus Hamburg und Berlin!“ Egon Larisch lächelte überlegen. Die beiden Städtenamen hatte er stark betont. „Hm – und aufgegeben!“ fügte er ebenso sonderbar hinzu. „Haben Sie sich die Briefumschläge recht genau angesehen, gnädiges Fräulein? Haben Sie daran etwas Auf–fälliges feststellen können?“ fragte er dann.

Irma war aufmerksam geworden. Hier stimmte mit den Briefumschlägen irgendetwas nicht.

„Sehr genau, Herr Larisch!“ erwiderte sie und suchte sich das Bild der drei Kuverts, die sämtlich aus starkem Papier und von derselben Größe waren, zu vergegenwärtigen. „Aber – es sind Umschläge wie sie zu Tausenden vorkommen dürften, mit Maschine geschrieben. Sonst …?! – Nein, ich wüßte nicht, wodurch sie sich von anderen unterscheiden sollten.“

„Die Umschläge sind Dutzendware, das stimmt. Ihre Besonderheit beruht nur darin, daß man mit ihnen eine plumpe Täuschung versucht hat. Es sollte der Eindruck hervorgerufen werden, als seien sie mit ihrem seltsamen Inhalt der Post in Hamburg beziehungsweise hier in Berlin zur Zustellung übergeben worden.“

„Ich verstehe Sie nicht ganz, Herr Larisch. Die Briefmarken zeigen doch deutlich die hamburger und die berliner Abstempelung.“

Wieder lächelte der Schriftsteller, holte die drei Briefe aus der Brusttasche hervor und reichte den mit 1 nummerierten seiner Tischgefährtin.

„Betrachten Sie sich jetzt nochmals die Marke,“ sagte er, „besonders den Stempel. Dem Stempelaufdruck nach ist der Brief am 2. April 1908 zwischen elf und zwölf Uhr vormittags in Hamburg aufgegeben worden. – Alles scheint also seine Richtigkeit zu haben. Und doch gehören lediglich ein wenig scharfsinnige Augen dazu, um sofort zu erkennen, daß diese Marke von einem anderen Briefe abgelöst und dann erst auf diesen Umschlag geklebt worden ist.“

Irma hatte den Umschlag schon in der Hand und starrte die Marke an, als wolle sie sie zur Preisgabe ihres Geheimnisses zwingen. Aber es blieb bei dem ersten Bemühen. Die Marke war stumm und – Irma auch. Nur ganz leise und kleinlaut sagte sie schließlich: „Meine Augen sind doch wohl nicht scharfsinnig genug …“

„Es mag eine gewisse Übung dazugehören, derartige geringfügige Auffälligkeiten sofort zu bemerken,“ meinte Larisch wie tröstend. „Ich habe diese Übung ja. Schon als Student jagte ich allem nach, was außergewöhnlich war. Und als Knabe hatte ich stets nur Abenteuerromane, gute Detektivgeschichten und dergleichen verschlungen, ein literarischer Geschmack, den viele belächeln mögen. Sehr zu unrecht! Wer zum Beispiel Detektivromane nicht lediglich aus Freude an der darin liegenden Nervenaufpeitschung liest, sondern sich bemüht, aus den scharfsinnigen Kombinationen irgendeines glänzend begabten Detektivs selbst etwas zu lernen, wird bald mit einer gesteigerten Beobachtungsfähigkeit auch an Ereignisse des praktischen, wirklichen Lebens herangehen, wird an sich selbst feststellen können, daß diese geistige Schulung durch die so oft in Grund und Boden verurteilten Kriminalgeschichten recht gute Früchte getragen hat, ganz abgesehen davon, daß man nie vergessen darf, wie wertvoll es ist, die heranreifende Phantasie anzuregen. Natürlich bin auch ich ein sehr entschiedener Gegner aller jener schriftstellerischen Machwerke, die auf eine Verherrlichung des Verbrechens und eine Verhöhnung der staatlichen Organe, der Polizei, hinauslaufen. Und in diese Kategorie fallen meines Erachtens auch die mit so viel Reklame-Tam Tam hier in Deutschland verbreiteten Sherlock Holmes-Erlebnisse des Herrn Sir Conan Doyle, da in diesen sämtliche Polizisten Idioten sind, welche gerade bei den jugendlichen Lesern nur zu leicht jede Achtung vor den Behörden untergraben wird. –

Doch – entschuldigen Sie diese Abschweifung. Sie wissen ja wohl, daß ich selbst Kriminalschriftsteller bin. Dieses Thema regt gerade mich etwas auf. Entschuldigen Sie meine Abschweifung… –

Zurück also zu der Briefmarke. Sehen Sie sich bitte den linken Rand an, gnädiges Fräulein. Der Stempel hätte hier doch noch mit einem kleinen Bogenteil auf dem Umschlag selbst aufgedruckt sein müssen. Aber – dieses Stückchen fehlt eben gänzlich. Das weiße Papier neben der Marke ist völlig sauber. Nicht mal ein Eindruck ist dort bemerkbar. Schon dies beweist, daß die Marke nicht abgestempelt wurde, als sie sich auf diesem Umschlag befand, sondern eben auf einem anderen, von dem sie nur – und das erkennt man auch an dem später verwendeten Klebstoff – losgelöst wurde, um zu einer Fälschung benutzt zu werden.“

„Ach, nun begreife ich. – Ja, ich sehe, der Stempelaufdruck der Marke hätte auch auf dem Papier ein wenig sichtbar sein müssen.“ – Irma Hölsch sprach voller Eifer. Ihr machte es Freude, sich derart belehren zu lassen.

„Mit den beiden anderen Briefmarken vom Schreiben Nr. 2 und 3 steht es ähnlich, wenn hier auch die versuchte Täuschung nicht ganz so deutlich in die Augen fällt. – Jedenfalls habe ich Ihnen jetzt schon bewiesen, daß die Post die drei Briefe nicht befördert hat, sondern daß diese von irgend jemandem in Ihren Briefkasten hineingeworfen worden sind.“

„Aber wozu nur diese aufgeklebten Marken?!“ meinte die junge Lehrerin kopfschüttelnd. „Die Briefe hätten doch denselben Erfolg gehabt, wenn ich gewußt hätte, daß sie persönlich überbracht worden wären.“

„So …?! Denselben Erfolg?! – Sagen Sie das nicht, gnädiges Fräulein! Wäre ich nicht hinter diesen Betrug gekommen, so hätte zum Beispiel der erste Brief den Eindruck hervorrufen müssen, als wäre der ‚treuen Hand‘ schon am 2. April bekannt gewesen, daß Ihre Großmutter am 3. das Zeitliche segnen würde, – worauf ja der Inhalt dieses Schreibens unfehlbar hindeutete, da es darin heißt: ‚es können Ereignisse eintreten …‘ und ‚… bereiten Sie sich vor, Überraschungen durchzumachen …‘. Und diese Ereignisse und Überraschungen sind eben der Tod der Frau Elvira Hölsch und die dadurch an Sie gefallene Erbschaft, wie sich heute nun durch die Benachrichtigung des Amtsgerichts herausgestellt hat. –

Der Absender wollte so tun, als ob er den Tod Ihrer Großmutter mit aller Bestimmtheit vorausgeahnt hätte. Hierdurch sollten Sie zu der Überzeugung gebracht werden, es gebe tatsächlich eine ‚irdische Macht‘ – so hieß es ja in dem Schreiben! – die über besondere Fähigkeiten verfügt. Man wollte Ihnen also imponieren! Sie sollten zu dem Glauben gebracht werden, die ‚treue Hand‘ wäre wirklich eine rätselhafte Macht, auf deren Rat zu hören nur vorteilhaft für Sie sein könnte. –

Doch wir wollen diese theoretischen Erörterungen hiermit fürs erste beenden. Die ganze Sache ist noch so unklar, so in der Entwicklung begriffen, daß ich über den Zweck der drei Briefe nur ziemlich unsichere Vermutungen aufstellen kann. Wir müssen abwarten, was weiter geschieht. Ich nehme an, es werden Ihnen noch mehr Briefe zugehen. Mittlerweile kann ich dann vielleicht schon einiges in die Wege geleitet haben, um dieser merkwürdigen ‚treuen Hand‘ hinter ihre Schliche zu kommen. Wie schon vorhin betonte, harmlos ist die Geschichte nicht! Dazu sind die Briefe zu schlau abgefaßt, dazu steigert sich ihr Inhalt zu raffiniert!“

Irma schaute den Schriftsteller dankbar an.

„Sie wollen sich also wirklich die Mühe machen, Herr Larisch, dieser Angelegenheit ihre gewiß kostbare Zeit zu opfern?“ meinte sie zögernd. „Das kann ich ja kaum zulassen. Meine Freundin Hedwig Melcher sagte mir ja schon, wie stark Sie durch Ihrem Beruf in Anspruch genommen sind.“ Absichtlich hatte sie diesen letzten Satz hinzugefügt. Sie war auch in ihrer Art ein wenig schlau, die hübsche, junge Lehrerin, und sie hätte eben zu gern gewußt, wie der Name der Freundin auf Egon Larisch wirken würde.

Und diese Wirkung blieb nicht aus. Über des Schriftstellers scharfgeschnittenes, durchgeistigtes und doch so energisches Gesicht lief ein Schatten hin.

„So, hat sie mit Ihnen darüber gesprochen?“ fragte er gedehnt. „Fräulein Hedwig ist als Jugendbekannte von mir wohl etwas zu besorgt um mein Wohl.“ Dann fügte er sofort hinzu, als ob er auf dieses Thema Hedwig Melcher nicht weiter eingehen wollte: „Wenn Sie mir gestatten, mich Ihrer Sache, eben der ‚treuen Hand‘, anzunehmen, würden Sie mir sogar einen großen Gefallen tun. Ich brauche derartige Anregungen. Man kann nicht dauernd am Schreibtisch sitzen.“

„Oh, wie gern tue ich’s, Herr Larisch, und wie dankbar bin ich Ihnen!“ meinte sie mit Wärme und reichte ihm die Hand. „Nennen Sie mich bitte beim Namen. Wir sind doch jetzt Verbündete. Und da klingt das ‚gnädige‘ Fräulein doch viel zu förmlich.“

Er nickte ihr heiter zu.

„Nun wird’s ja wohl auch mittags bei Frau Mikla etwas interessanter werden,“ scherzte er.

Irma wurde rot – und er fuhr fort: „Sie tun ganz recht daran, Fräulein Hölsch, möglichst zurückhaltend zu sein. Junge Damen wie Sie können nicht vorsichtig genug sein, besonders hier in dem Sündenbabel Berlin.“

Das war die erste versteckte Schmeichelei, die er ihr sagte.

Sofort kam er aber wieder auf das andere zu sprechen.

„Sie müssen mich jetzt bitte dauernd über alles auf dem Laufenden halten, was Ihnen irgendwie begegnet, selbst über Dinge, die Ihrer Ansicht nach kaum mit den anonymen Briefen in Zusammenhang stehen können. Achten Sie auch scharf auf Ihre Umgebung. Denken Sie stets daran, daß die ‚treue Hand‘ Zwecke verfolgt, die fraglos ganz besonderer Art sind.“

„Ich werde nichts verabsäumen, Herr Larisch. – Ah – da fällt mir ein, daß heute sich in meinem Zimmer etwas ereignet hat, worüber ich zuerst sehr erregt war.“ Und sie erzählte ihm nun ganz eingehend von dem Monteur, den niemand bestellt hatte, von dem aufgebrochenen Schränkchen, von der ebenfalls gewaltsam geöffneten Kassette und schließlich auch von dem Blutfleck auf dem amtlichen Schreiben aus Sziemanowo und von dem verbundenen Finger der Frau Kanzleirat Mießtaler, ihrer Wirtin.

Egon Larisch hatte dann noch allerlei über diesen Diebstahl zu fragen, dem er offenbar eine besondere Bedeutung beimaß. Nachher machte er Irma einen Vorschlag, der etwas eigentümlich war, auf den sie aber schließlich auch noch einging.

 

4. Kapitel.

Eifersucht.

Frau Mießtalers schrille Stimme drang von der Küche her trotz der geschlossenen Tür deutlich bis in den Flur. Dort stand in lauschender Stellung Herr Gustav Heberlein, der das kleine, einfenstrige Zimmer neben dem der jungen Lehrerin bewohnte.

„Du bleibst ein Liederjahn, der seine arme Mutter nur aussaugt!“ kreischte die Kanzleirätin in der Küche. „Wo soll ich wohl all das Geld hernehmen, daß du leichtsinnig vertust – – wo – wo?! Mit neunhundert Mark Witwenpension kann man verhungern! Schufte ich nicht schon den ganzen Tag, beschränke ich mich nicht auf das kleine Loch da hinten und vermiete die anderen Räume …?! Was soll ich wohl anfangen, um noch mehr Geld aufzubringen …! Wenn du etwas Vernünftiges gelernt hättest und nicht ausgerechnet Schauspieler geworden wärest, dann könnten wir sorgenfreier leben! – Schauspieler – Schauspieler, – Schmierenkomödiant, – nichts weiter! Und das ist die richtige Sorte; da hast du dir erst dieses Bummeldasein angewöhnt …! – – Nein, ich habe kein Geld! Und ich glaube dir auch nicht, daß du es brauchst, um deine Anzüge auszulösen, die du angeblich mit in ein neues Engagement nehmen willst. Zeige mir doch erst den Kontrakt …!“

Ein höhnisches Auflachen folgte.

Dann eine ebenso laute, aber recht angenehm klingende Stimme:

„Bitte – hier ist der Kontrakt …: Direktion des Wandertheaters in Posen, hundertachtzig Mark Gage und …“

Die Stimme wurde leiser. –

Nach einer Weile wieder die Kanzleirätin, offenbar schon ganz besänftigt:

„Mein Gott, Herbert, – ich habe wirklich kein Geld. Ich kann dir die dreihundert Mark auch unmöglich irgendwoher beschaffen. Du weißt, daß ich unsere Möbel schon als Sicherheit verpfändet habe für das Darlehen, damit du die Theaterschule durchmachen konntest. – Wirklich, Herbertchen, – ich bin ganz ratlos.“

„Dann kann ich das Engagement auch nicht antreten. Am 15. dieses Monats soll ich schon in Posen sein und an den Proben …“

Das weitere verstand der Lauscher wieder nicht.

Dann abermals das schrille Organ der Mießtaler …:

„Da fällt mir eben ein, daß …“

„Was denn, – so spricht doch!“

„Nein, nein. Laß nur! Vielleicht kann ich doch das Geld besorgen – vielleicht.“

„Woher? – Rede doch! Es ist ja scheußlich, jedes Wort wie mit der Zange aus dir herausholen zu müssen.“

„Frage nicht, Herbertchen. Deine Mutter wird schon sehen, was sich tun läßt.“

Die anfängliche Erbitterung der Frau Kanzleirat war schon wieder von der alten Affenliebe für ihr einziges Kind verdrängt worden. Im Grunde ihres widerspruchsvollen Herzens war sie ja doch stolz auf ihren hübschen Jungen.

„Was du tun willst, tue bald!“ deklarierte er mit Pathos

Da schrillte draußen anhalten die Flurglocke.

Der Herr Versicherungsart Gustav Heberlein verschwand blitzschnell in seinem Zimmer. –

„Guten Abend,“ sagte der späte Besucher zu der Kanzleirätin mit sehr höflicher Verbeugung. „Entschuldigen Sie, daß ich noch störe. Ich komme jedoch im Auftrage des Fräulein Irma Hölsch – – wegen dem Diebstahl,“ fügte er ganz leise hinzu. „Hier hat Fräulein Hölsch mir einen Brief für Sie mitgegeben, wehrte Frau Rat, – als Legitimation.“

Frau Mießtaler las. Ihr Mißtrauen schwand. Aber nicht ihre Angst. – So hatte ihre Mieterin sich also wirklich an die Polizei gewandt …! In dem Briefe stand ja: ‚der Überbringer dieses wird die Sache untersuchen. Bitte geben Sie ihm doch Auskunft, so gut Sie können, liebe Frau Rat. Ich selbst habe eine Abhaltung und komme wohl erst spät nach Hause. – Gruß – Irma Hölsch.‘

Zögernd sagte sie jetzt: „Bitte – dort ist das Zimmer.“

In der Küchentür stand Herbert Morano. So nannte der junge Mießtaler sich als Schauspieler, – denn … Mießtaler, der Name war auf einem Theaterzettel schlechterdings unmöglich.

Die Rätin knipste die Flurlampe an, und die beiden Männer musterten sich prüfend.

„Wer ist der Herr, Mutter?“ fragte Herbert etwas unsicher.

Sie zögerte mit der Antwort.

„Ach, ich habe ganz vergessen, dir zu erzählen, daß …“

Es folgte eine ziemlich wirre Schilderung des Diebstahles.

Dann meinte Herbert Morano: „Das hast du mir mitzuteilen vergessen, Mama?! – Fräulein Hölsch bestohlen …?! Unerhört! Und bei uns im Hause! Wie konntest du nur diesem angeblichen Monteur trauen?! Es ist deine Schuld, daß Fräulein Hölsch diesen Verlust der vierzig Mark zu beklagen hat, allein deine Schuld!“

Er war so erregt, daß selbst der Unbefangenste merken mußte, ein wie großes Interesse er an der schönen jungen Mieterin nahm. – Dann wandte er sich an Irmas Beauftragten:

„Sie sind Kriminalbeamter, mein Herr, nicht wahr?“

„Nein – nur Angestellter eines Detektivbureaus, dem Fräulein Hölsch den Fall zur Untersuchung übertragen hat.“

„Mein Gott, – wegen vierzig Mark!“ warf die Rätin achselzuckend ein.

„Es fehlen auch Papiere,“ meinte der bescheidene Herr sehr ernst, obwohl es gar nicht der Wahrheit entsprach.

Die Mießtaler zuckte zusammen.

„Auch … Papiere …?!“ stotterte sie. „Ja, aber davon hat Fräulein Hölsch mir doch gar nichts gesagt …!“

„Darf ich mir jetzt den aufgebrochenen Schreibtisch ansehen?“ fragte der Herr ausweichend. Er trug eine goldene Brille und hatte einen dicken, blonden Schnurrbart wie ein Wachtmeister, außerdem die reinen Posaunenengelbacken, was recht komisch wirkte. Seine Kleidung war beinahe elegant, wie Herbert Morano mit sachverständigem Blick feststellte.

Dann verbeugte er sich wieder sehr tief erst vor der Rätin, gemessener vor dem Schauspieler:

„Sie gestatten: Roderich Schinkel heiße ich.“

Herbert stellte sich gleichfalls vor. Hierauf ging man zu dreien in Irmas Zimmer, wo Schinkel, immer mit Mutter und Sohn ganz unbefangen plaudernd, etwa eine halbe Stunde blieb.

Nachdem er sich wieder mit vielen Bücklingen verabschiedet hatte, sagte der Schauspieler in der Küche zu seiner Mutter:

„Der Kerl war ein Idiot und ein wichtigtuender Schwätzer.“ Und nach einer Pause: „Fräulein Hölsch ist offenbar sehr mißtrauisch. Sie scheint zu fürchten, daß hier jemand in ihren Sachen herumschnüffelt. Daß sie eine solche Kassette besitzt, wußte ich noch gar nicht. Und jetzt hat sie sie in ihren Patentkoffer eingeschlossen. Der Schinkel bekam das Schloß erst gar nicht auf, obwohl Fräulein Hölsch ihm den richtigen Schlüssel mitgegeben hatte. Ein ungeschickter Peter!“

Herbert hatte seine Mutter so merkwürdig forschend angesehen, als er von dem ‚herumschnüffeln‘ sprach. Und die Rätin war recht rot und verlegen geworden, machte sich schnell am Herde zu schaffen und polterte mit den Blechkasserollen, als wolle sie des Sohnes Worte auslöschen.

Herbert lächelte nachsichtig.

„Du warst immer schon etwas neugierig, Mutter,“ sagte er dann mit Betonung.

Sie fuhr herum.

„Was heißt das?! Willst du etwa andeuten, daß die Hölsch meinetwegen so – so mißtrauisch ist?“

Er nickte. „Ja, Mutter! Neugier ist keine sehr empfehlenswerte Eigenschaft. Ich möchte so gern, daß Fräulein Irma nicht schlecht von dir denken. Du weißt, ich … ich …“

„Hast du dir den Unsinn noch nicht aus dem Kopf geschlagen!“ unterbrach sie ihn mit mildem Vorwurf. Sie war froh, daß das Gespräch eine andere Wendung nahm. „Die Hölsch und du …! Eine so eingebildete Person! Die hofft doch, mit ihrer Fratze mal mindestens nen Grafen zu angeln.“

Die Rätin konnte es sehr oft nicht ganz verleugnen, daß sie aus Berlin, Norden, Ackerstraße, stammte und Verkäuferin in einer Bäckerei gewesen war, bevor sie den Feldwebel Mießtaler geheiratet hatte, der es dann später bis zum Rechnungssekretär dank seines Fleißes und guter Empfehlungen durch frühere militärische Vorgesetzte brachte.

Herbert Morano erwiderte jetzt ziemlich scharf:

„Mäßige dich etwas in deinen Ausdrücken.“ Dann fielen ihm die dreihundert Mark ein und der fügte schnell hinzu: „Lassen wir die Geschichte ruhen, Mama. – Komm, wir wollen endlich Abendbrot essen. Es ist bereits zehn Uhr. Nachher können wir noch eine Partie Sechsundsechzig spielen. Ich gehe heute nicht mehr aus.“ – –

Roderich Schinkel stieg die Treppen langsam hinab, blieb dann unten im Hausflur in einer dunklen Ecke stehen, schaute sich vorsichtig um und löste den falschen Schnurrbart von der Oberlippe, steckte die Brille mit den grauen Gläsern in die Tasche und nahm aus den Backen zwei hohle Gummihalbkugeln heraus, so daß sein Gesicht nun wieder ganz dem des Schriftstellers Egon Larisch glich.

Dann horchte er plötzlich auf. Von oben kam jemand sehr schnell die Treppe herabgelaufen.

Larisch trat noch tiefer in die Ecke. Der, der es so eilig hatte, bemerkte ihn denn auch nicht und verließ das Haus.

Der Schriftsteller schlich bis zur Außentür und schaute auf die Straße hinaus, indem er sich ganz nach seitwärts an die Wand klemmte, so daß nur sein halber Kopf über den Fensterrand hinwegragte.

Der Eilige stand mitten auf dem Fahrdamm und blickte sich suchend um. Dann ging er mit langen Schritten nach links die Straße hinunter. – –

Im Restaurant des ‚Nordwest Hotel‘ saßen jetzt an dem kleinen Tischchen Irma Hölsch und Fritz Melcher. Den Sekretär hatte Larisch durch den Portier schnell holen lassen, dem er für den Freund ein paar aufklärende Zeilen mitgegeben hatte.

Fritz Melcher sah nach der Uhr.

„Halb elf, und Egon noch immer nicht zurück,“ meinte er etwas ungeduldig. Ihm war es nicht recht behaglich hier in dem stark besuchten Lokal. Er merkte, daß man ihn und seine hübsche Tischgefährtin von allen Seiten mehr oder weniger aufdringlich musterte. In dieser Beziehung war er eben etwas rückständig, der blonde Herr Sekretär, so ein wenig Kleinstädter.

Irma hatte sehr bald herausgefühlt, daß Fritz Melcher hier allein, ohne die Schwestern, genossen, kein liebenswürdiger Gesellschafter war. Er konnte seine Unsicherheit und Verlegenheit nur schlecht verbergen. Die Unterhaltung stockte alle Augenblicke. Und seine Taschenuhr hatte Fritz Melcher nun schon zum vierten Male gezogen – eigentlich sehr höflich, wenn man mit einer jungen Dame nur zu zweien war …!

Zum Glück erschien jetzt endlich der Schriftsteller, nickte den beiden vertraulich zu, hängte Mantel und Hut weg und setzte sich.

„Da wären wir wieder!“ lächelte er vergnügt. „He – Kellner, – einen Halben Echten. – Na, die Geschichte war recht interessant bei der Frau Mießtaler, wirklich …“ – –

*

In der Wohnstube bei Melchers brannte über die Mitteltische die leise summende Gaslampe.

Thilde Melcher las die Abendzeitung. Die Buchhalterin hatte mit den beiden anderen Geschwistern nicht die geringste Ähnlichkeit. Sie war ganz in die Familie des Vaters geraten, wie man zu sagen pflegt, besaß dessen eckigen Körper und Kopf und auch dieselben Unschönheiten des Gesichts.

Hedwig wanderte im Zimmer auf und ab, mit einer Miene, als müßte jeden Augenblick der in ihr angesammelte Ärger durch irgendetwas ausgelöst sich Luft machen.

Thilde hatte sich schon ganz scheu zusammengeduckt. Sie ahnte diese Explosion voraus. Und es dauerte auch nicht lange, dann platzte die Bombe. Hedwig war am Tische stehen geblieben, trommelte mit den Fingern einen Sturmmarsch auf dem Rand der Obstschale und sagte nun mit einer Stimme, die ganz heiser klang:

„Wirklich ein Benehmen von der Irma – unerhört – un – er – hört! Ein Stelldichein mit Larisch unter der Maske einer dringenden Besprechung – in einem öffentlichen Lokal …! In einem Restaurant …! Als Lehrerin – als Erzieherin der Jugend! – Das ist also bei dem gemeinsamen Mittagessen herausgekommen – in zehn Tagen – zehn – zehn! Sie versteht’s, die Irma …!“

Die Buchhalterin schaute kopfschüttelnd zu der Schwester auf.

„Sei doch nicht so ungerecht, Hedwig. Du weißt ganz gut, daß Larisch uns erzählt hat, wie ablehnend Irma ihm gegenüber bei der Mikla war und wie …“

„Alles Heuchelei – Schwindel!“ rief die jüngere Melcher dazwischen. „Aber ich lasse mir den Egon nicht wieder von einer anderen rauben – dieses Mal nicht! Damals vor fünf Jahren, als diese Person, diese Baronin, ihn in ihre Netze zu ziehen wußte, war ich noch ein dummes Gänschen. Heute – heute …!“ Und sie trommelte wieder auf der Porzellanschale so laut, daß Thilde nervös zusammenzuckte.

Dann raffte die Buchhalterin sich zu einem entschiedenen Entschluß auf. Hier mußte einmal reiner Tisch gemacht werden. So ging das nicht weiter.

„Hedwig, ich möchte mal als verständiger Mensch, der das Leben doch auch so ein wenig kennt, mit dir reden,“ sagte sie warm und herzlich. „Das ganze Unglück ist, daß du dir stets etwas eingebildet hast, was nie da war, daß Larisch ein stärkeres Interesse an dir hätte! – Glaube mir, du warst ihm stets nichts als die Schwester seines intimsten Freundes. Daß er dich damals vor – vor fünf Jahren in der Sektlaune auf dem Maskenball ein einziges Mal geküßt hat – ich war ja dabei! – das war eben Übermut, war ganz harmlos. Und wenn du dir trotzdem nicht ausreden läßt, daß …“

„Schweig – schweig!“ rief die Jüngere plötzlich dazwischen, und ihre Stimme schnappte förmlich über. „Du gönnst ihn mir nur nicht. Das ist es! – Weswegen ist er denn jetzt wohl aus München zurückgekehrt, weswegen kommt er so oft zu uns, weswegen nennt er mich wieder Fräulein Hete wie einst …?! Weil jenes Weib jetzt verheiratet ist, diese Abenteurerin, diese Baronin, weil er jetzt auf sie keine Rücksichten mehr zu nehmen braucht …! – Und da soll ich es dulden, daß dieses kokette Geschöpf, die Irma, mit ihm anbändelt, sich mit ihm Stelldicheins gibt und …“

Sie konnte nicht weitersprechen. Ein Schluchzen erstickte ihre Stimme. Dann sank sie in den nächsten Stuhl, warf sich über den Tisch, vergrub den Kopf in den Händen und weinte herzzerbrechend.

Draußen im Flur schnappte die Tür ein.

„Hedwig, nimm dich zusammen, – Fritz kommt!“ sagte die Ältere eindringlich.

Hedwig schnellte förmlich empor. Ihr Schmerz war verflogen. Hastig trocknete sie die Tränen von den Wangen. Der Bruder war ja mit den beiden zusammen gewesen. Er würde wissen, ob Larisch etwa schon sehr vertraut mit Irma stand.

Fritz Melcher warf einen scheuen Blick auf der Schwester verweintes Gesicht. Er ahnte, was hier vorgefallen war. Hedwig war’s ja gewesen, die es durchgesetzt hatte, daß Egon Larisch vor Irma Hölsch nie erwähnt und daß alles mögliche getan wurde, damit die beiden sich hier nicht begegneten.

Er setzte sich zögernd, fragte: „Ihr seid noch auf? Es ist jetzt gleich halb zwölf.“

Hedwig hatte sich in die halbdunkle Ecke auf dem Sofa niedergelassen und streichelte Kerlchen, den Wolfspitz, der dort friedlich schlummerte. Und schneidend fragte sie jetzt:

„Glaubst du wirklich, daß Larisch und Irma sich im ‚Nordwest Hotel‘ zufällig getroffen haben?“

„Es ist so, Hedwig, – tatsächlich!“ beeilte er sich zu erwidern. „Ich habe den ganz zuverlässigen Eindruck gewonnen, daß eine Verabredung hier auf keinen Fall vorliegt.“

Hedwig atmete auf.

„Erzähle – was gab’s denn da so wichtiges?“ meinte sie freundlicher.

„Ach – der Egon spielt ja leider den Geheimniskrämer. Er hat uns kaum ein paar Sätze gegönnt. Was er eigentlich in Irmas Zimmer festgestellt hat, verschwieg er. Nur das eine vertraute er uns vorläufig an, daß der Zimmernachbar Irmas ihm nachzuschleichen versuchte, als er das Haus verließ.“ Er schilderte genauer, wie Larisch dies bemerkt und wie er sich dann Aufschluß über die Person dieses Mannes verschafft hatte, der so eilig die Treppe hinabgelaufen war.

„Egon ist jetzt schon überzeugt,“ fügte er hinzu, „daß dieser Gustav Heberlein, der erst vier Wochen bei der Mießtaler wohnt, etwas mit der ‚treuen Hand‘ zu tun hat. Irma soll daher auch scharf auf diesen Menschen achten.“

Der Gedanke, daß Larisch in Irmas Zimmer gewesen sei, daß er sich dort ganz nach Gutdünken hatte umsehen können, trieb einen neuen Stachel in Hedwigs von krankhafter Eifersucht gequältes Herz.

„Natürlich hat Egon die Irma jetzt auch nach Hause begleitet,“ meinte sie spitz.

„Allerdings …“

„Und natürlich werden sie sich dieser lächerlichen Hilfe wegen nun häufiger sprechen müssen …“

„Hin und wieder wohl ja …“

„So – so! Wirklich – die Irma ist … ist ein Muster von Raffinement …!“ Hedwigs Stimme war kreischend wie ein rostige Türangel. „Wißt Ihr, was ich ihr zutraue, dieser … dieser … daß sie die Briefe selbst geschrieben hat, nur um Gelegenheit zu haben, unauffällig mit Egon näher bekannt zu werden …!“

Da riß auch dem blonden Sekretär endlich die Geduld.

„Du bist von Sinnen – vollständig!“ rief er ihr zu und erhob sich. „Gute Nacht! Sieh zu, daß du morgen wieder etwas klarer bei Verstand wirst!“

Auch Thilde stand auf.

„Hedwig – komm schlafen,“ bat sie sanft. Ihr tat die Jüngere von Herzen leid.

Keine Antwort.

Da ging auch sie hinaus.

Nach zehn Minuten kam Fritz Melcher und steckte den Kopf durch die Tür. Er wollte sich Kerlchen holen, der stets in seinem Zimmer schlief und den heute in der Aufregung er mitzunehmen vergessen hatte.

Er wunderte sich sehr, daß Hedwig am Mitteltisch saß und schrieb.

„So geh’ doch zu Bett,“ sagte er freundlich.

„Kümmere dich um deine Angelegenheiten!“ war die schroffe Antwort.

Da lockte er den Wolfspitz zu sich und ging wieder.

Die Feder flog über den Briefbogen hin. – Nun das letzte Wort – – fertig!

Hedwigs Wangen glühten. Ein Gefühl des Triumphes beherrschte das arme, alternde Mädchen, das um eine eingebildete Liebe kämpfte.

Gut, daß sie diesen Weg gefunden hatte, Larisch und Irma für immer zu trennen …! Ein selten glücklicher Gedanke, fürwahr, eine Eingebung des Augenblicks wie ein Wink des Schicksals.

 

5. Kapitel.

Der vierte Brief.

Am nächsten Vormittag begegneten sich Hedwig und Irma auf dem Flur in der Schule während der großen Pause.

Hedwig war herzlich und offenbar recht froher Laune.

„Liebste, du mußt heute unser Mittaggast sein,“ sagte sie im Laufe des Gesprächs. „Wir haben heute eine besonders saftige Hammelkeule. Die darf nicht ohne dich verzehrt werden. – Nein, nein, – eine Absage wird nicht angenommen, auf keinen Fall! Telephoniere der Mikla, daß du heute nicht zu Tisch kommst.“

Irma glaubte, die Freundin wollte die gestrigen kleinen Taktlosigkeiten wieder gut machen und sagte zu. Sie ahnte nicht, daß es Hedwig lediglich darum zu tun war, ein Zusammentreffen zwischen Larisch und ihr zu hintertreiben.

Die Mittagsmahlzeit bei Melchers litt jedoch unter einer Stimmung, der man das erzwungen Heitere nur zu sehr anmerkte. Besonders Fritz und Thilde wurden eine gewisse Befangenheit nicht los, da sie nur zu gut wußten, was diese Einladung zu bedeuten hatte, zu deren Ermöglichung Hedwig aus eigener Tasche fünf Mark für die Hammelkeule geopfert hatte, – nur damit Irma und Larisch sich nicht wieder bei der Mikla begegneten.

Jedenfalls fühlte Irma sich heute – eigentlich zum ersten Male – in dem gemütlichen Heim der Geschwister keineswegs wohl. Sie merkte, daß hier seit gestern seltsame Gespenster umgingen, vermochte sich aber nicht darüber klar zu werden, was diese Geister der Unbehaglichkeit heraufbeschworen haben konnte. Sie war daher auch froh, als sie gegen halb vier aufbrechen durfte, ohne befürchten zu müssen, die Gastgeber zu verletzen.

Der Apriltag war so warm und sonnig, daß man sich in den Juni versetzt glaubte. Irma gedachte daher auch noch einen Spaziergang durch den Tiergarten zu machen, wo der Rasen schon so wunderschön frisch aussah und alle Sträucher und Bäume kleine, zarte Blättchen angesetzt hatten. In der Siegesallee waren die Blumenbeete vor den Denkmälern bereits mit blühenden Tulpen gefüllt, und geputzte Menschen, Kinder und zahlreiche Fremde belebten die Promenadenwege.

Gerade vor dem Standbild Albrechts des Bären traf Irma mit Herbert Morano zusammen.

Der Schauspieler mit seinem stark hervorgekehrten Selbstbewußtsein auf seine klassische Schönheit – er hatte tatsächlich den Kopf eines Antonius! – war der jungen Lehrerin recht unsympathisch. Sie suchte daher auch schnell an dem schönen Herbert vorbeizukommen. Doch der war aufdringlich genug, sie ohne weiteres anzusprechen und zu fragen, ob er sie nicht begleiten dürfe.

„Ich habe Besorgungen zu erledigen, Herr Mießtaler,“ sagte Irma mit einer Unnahbarkeit, von der auch Egon Larisch manche Broker erhalten hatte. Dann neigte sie sehr hoheitsvoll den Kopf und ging weiter.

Man konnte dem Komödianten nun keinen ärgeren Schmerz bereiten, als daß man ihn mit seinem etwas mißtönenden Vatersnamen anredete. – Mießtaler …! Herr Mießtaler …! – Herbert war wütend. Diese eingebildete Pute, in so abfallend zu lassen …! Seine Mutter hatte ganz recht, die Hölsch jagte höherem nach …! Mochte sie …! Es gab noch mehr Weiber auf der Welt …“

Aber in Herberts Seele blieb doch ein trübes Gefühl von Enttäuschung zurück. Er war in die reizende Mieterin seiner Mutter in einer Weise verliebt, wie er dies bisher in seinem an galanten Abenteuern schon recht reichen Leben noch nicht durchgemacht hatte. Er fühlte, die Sache saß diesmal tiefer … Und gerade deswegen keimte jetzt etwas wie ein leiser Haß gegen Irma in ihm auf. –

Als Irma gegen fünf nachmittags nach Hause kam, fand sie in ihrem Briefkasten ein Schreiben vor, dessen Umschlag sie sofort an die anonymen Mitteilungen erinnerte.

Am Fenster stehend betrachtete sie die aufgeklebte Marke mit mißtrauischen Blicken. Der Brief war nach dem Stempel gestern zwischen sieben und acht Uhr abends auf dem Postamt 16 aufgegeben worden – scheinbar! Sie stellte jedoch fest, daß auch diese Marke nur nachträglich auf den Umschlag geklebt worden war, genau wie die der drei anderen Briefe.

Als sie das Schreiben dann gerade mit einem Federmesser öffnen wollte, klopfte es.

Es war die Kanzleirätin. Sie war verlegen und unsicher, redete erst allerhand belanglose Dinge und schien nicht den Mut zu haben, offen mit dem herauszurücken, was sie in Wahrheit bedrückte.

Irma entging das nicht. Um die Mießtaler schneller wieder loszuwerden, denn der Brief brannte ihr auf der Seele, fragte sie schließlich geradezu:

„Liebe Frau Rat, sie scheinen irgend ein Anliegen zu haben. Bitte, sprechen Sie doch ganz offen.“

Und nun kam endlich die Geschichte von Herberts neuem Engagement und von den dreihundert Mark, die unbedingt beschafft werden mußten.

„Liebes Fräulein Hölsch, könnten Sie mir vielleicht das Geld leihen?“ fügte die Mießtaler weinerlich hinzu. „Mein Gott, ich habe ja niemanden, an den ich mich wenden kann, niemanden! – soll Herbert jetzt nur deswegen das Engagements verlustig gehen, weil … weil … Das wäre doch schrecklich …“

Irma fragte ganz erstaunt: „Ich – dreihundert Mark?!“ Dann fiel ihr plötzlich die Erbschaft ein. Aber dieses Geld konnte sie doch niemals so schnell flüssig machen …! Daher fuhr sie fort:

„Wo sollte ich eine solche Summe wohl hernehmen?! Wirklich – ich bin zur Zeit zu meinem großen Bedauern nicht in der Lage, Ihnen zu helfen.“

Aber die Mießtaler ließ nicht nach mit Bitten.

„Vielleicht besitzen Sie ein … Sparkassenbuch,“ sagte sie mit einem scheuen, lauernden Blick auf Irmas Gesicht. „Ich würde Ihnen gern jede Sicherheit geben. Sie erzählten mir doch gestern, daß Ihre Großmutter gestorben sei. Vielleicht …“

Die Blicke der beiden Frauen begegneten sich. In denen Irmas lag es wie überlegener Spott. Die gute Mießtaler hatte sich soeben verraten …! Sparkassenbuch und die versteckte Anspielung auf die Erbschaft. – Es genügte! Und auch dies mußte Egon Larisch möglichst bald erfahren!

„Ich kann Ihnen nur nochmals wiederholen, Frau Kanzleirat,“ sagte sie jetzt ziemlich ablehnend, „daß es mir tatsächlich nicht möglich ist, Ihnen mit dieser Summe zu dienen, wenigstens nicht sofort. In einigen Wochen vielleicht. Aber jetzt …“ Sie zuckte die Achseln und begann den Brief aufzuschneiden.

Die Mießtaler verstand und empfahl sich nach einigen Redensarten, hinter denen sie nur schlecht ihre ärgerliche Enttäuschung verbarg.

Irmas Gedanken waren schon wieder ausschließlich bei dem Schreiben mit der nicht hingehörigen Briefmarke.

Sie zog den Briefbogen aus dem Umschlag. Sie hatte richtig vermutet. Wieder … die ‚treue Hand‘ …

Irma Hölsch!

Sie sind undankbar! Statt auf unsere gutgemeinten Warnungen und Ratschläge zu hören, haben Sie sich einem Fremden anvertraut, dem Schriftsteller Egon Larisch, einem Manne, der seiner ganzen Vergangenheit nach sich kaum zum Beschützer einer jungen Dame eignet. Wissen Sie, daß Larisch vor drei Jahren eines Eheskandals wegen nach München übersiedelte, weil ihm eben das Berliner Pflaster zu heiß geworden war?! Wissen Sie, daß er jetzt nur eines jungen Mädchens wegen zurückgekehrt ist, die bestimmte Rechte auf ihn hat …?! Egon Larisch hat noch mit jedem bisher, der ihm näher trat, ein falsches Spiel getrieben. –

Wir haben für all dies Beweise! Erkundigen Sie sich mal nach einer Baronin Luzie von Szestöni, jetzigen Frau Kommerzienrat Miegler. –

Irma Hölsch, wir warnen Sie nochmals! Es werden böse, aufregende Tage für Sie kommen, in denen nur wir Ihnen wirklich helfen können. Bedenken Sie, daß bisher alles eingetroffen ist, was wir vorausgesagt haben. So wird es auch weiter sein! Sollten Sie daran festhalten, auch fernerhin unsere Briefe Egon Larisch vorzulegen, so werden wir Sie Ihrem Schicksal überlassen. Sehen Sie dann zu, wie Sie allein mit alledem fertig werden, was Ihnen bevorsteht. Sie unterschätzen uns und unsere Macht! Egon Larisch ist für uns nichts als eine Feder, die wir jederzeit beiseite blasen können. –

Zum Schluß: Vergessen Sie nicht die verschlossene Tür und den Tempel der Liebe auf dem Lammerthof!

die treue Hand

Irma sank in den Korbstuhl am Fenster. Und ihre Rechte, die den Brief hielt, hing schlaff nach unten.

Zum ersten Male, seit die seltsamen Briefe sie erreichten, kroch etwas wie dumpfe Angst ihr nach dem Herzen. Ganz mutlos, völlig verwirrt und ratlos war sie.

Woher nur wußte die ‚treue Hand‘ von dem erst gestern beschlossenen Bündnis mit Egon Larisch? Woher nur in aller Welt?! Das war ja wirklich beinahe unheimlich, diese Allwissenheit! – Und dann das andere, was noch in diesem letzten Briefe stand, diese Andeutungen, so wohl über Egon Larisch als auch über ihre eigene allernächste Zukunft, über … ‚allein fertigwerden mit dem, was Ihnen bevorsteht …‘

Sie überlas das Schreiben nochmals, ganz langsam, Wort für Wort. Und es wirkte nur noch stärker. Das dumpfe Furchtgefühl blieb. Und hinzu kam noch ein ganz leiser Schmerz im Herzen, Enttäuschung und dies wegen Egon Larisch, – wegen Frau Luzie Szestöni und des Mädchens, das gewisse Rechte auf ihn hatte …

Irma hatte den Schriftsteller gestern ehrlich bewundert. Er hatte ihr imponiert. Sie hatte gefühlt, daß er ein Mann war, der nicht so leicht in eine Alltagsschablone paßte. Einem Menschen wie ihm, so zielbewußt, so sicher im Urteil, dabei doch so bescheiden, so zwanglos vornehm im ganzen Auftreten und so ganz Mann, war sie bisher nicht begegnet. Sie war gewiß nicht romantischer veranlagt als alle jungen Mädchen in ihrem Alter, vielleicht sogar etwas prosaischer, nüchterner, und trotzdem erschien er ihr wie ein Held aus einem fesselnden Roman.

Ja – das war er wohl auch. Nun mußte dieser Roman nach dem, was in diesem neuen Briefe der ‚treuen Hand‘ zu lesen war, von menschlichen Leidenschaften durchglüht sein, die die Seele Egon Larischs böse versengt hatten …

Luzie Szestöni – Frau Miegler …! – Wer mochte das wohl sein? Und wer das Mädchen, die Ansprüche an diesen Mann hatte, begründete Ansprüche …? – Ob Hedwig Melcher hierüber vielleicht Auskunft geben konnte …?

Irma hatte sich in dem Korbsessel ganz klein zusammengekauert. Sie sann und sann … Und schließlich wurde ihr klar, daß es eigentlich doch nur die strenge, kalte Frau, Ihre Großmutter, war, die ihr all diese Unruhe durch das Testament aufgeladen hatte. Was hatte sie sich auf den Lammerthof gefreut. Das Bewußtsein war ja auch so schön, eine eigene Scholle zu haben, wo man die Ferien verbringen konnte. Jetzt empfand sie bereits geradezu eine Abneigung gegen den einsamen Besitz dort im Posenschen …

Und weiter grübelte sie darüber nach, was nun zwischen ihr und Egon Larisch werden sollte. War es nicht doch vielleicht klüger, ihn wieder auszuschalten aus ihrem Leben, ihn keinen weiteren Einfluß auf ihr Tun zu gestatten …?! So wünschte es ja die ‚treue Hand‘, die es doch offenbar nur gut mit ihr meinte, mochte auch dabei manches von ungeklärten Unredlichkeiten – die Briefmarken zum Beispiel – sein.

Wieder dachte Irma an Hedwig Melcher.

Richtig – der Kaufmann unten im Melcherschen Hause hatte ja Telephon …! Da konnte sie Hedwig leicht herbestellen … – –

Hedwig Melcher saß zu derselben Zeit im Wohnzimmer auf dem Sofa neben der großen Vogelhecke, einige Schritte entfernt in einem Schaukelstuhl Egon Larisch.

Hedwigs Wangen glühten und in ihren Augen war ein besonderer Glanz – wie immer, wenn sie mit ihm allein war, mit ihm … Aber dieses Glück, ihn gelegentlich ganz nah für sich zu haben, genoß sie nicht oft, obwohl sie dem Zufall nach Kräften nachhalf. Und zog sie wirklich einmal dieses große Los, denn für sie bedeutete dies ja mehr als aller Mammon der Welt, so wurde alles – alles so ganz anders, als sie sich im nächtlichen Stunden, fiebernd in den Kissen liegend, in ihrer Phantasie ausgemalt hatte, dann blieb, wenn das harmlose Tete–a–tete zu Ende, nichts zurück als eine trostlose Enttäuschung … und die Hoffnung, daß das nächste Mal sicherlich so verlaufen würde, wie sie es wünschte, dies herbeisehnte …

Egon Larisch hatte Fritz besuchen wollen, ihn aber nicht angetroffen, eben nur Hedwig.

Er war recht schweigsam heute. Zu Beginn ein paar Bemerkungen über das Wetter. Dann folgte Stille, eine recht beklemmende Stille.

Auch Hedwig fühlte sich heute in seiner Gegenwart noch unfreier als sonst. Sie hatte den ganzen Tag über mit ihrem Gewissen gerungen, diese Stimmen zum Schweigen bringen wollen, die ihr zuriefen: ‚Judas Ischariot – Verräterin!‘

Der Brief von gestern Abend war ja morgens in den Kasten gewandert – morgens um dreiviertel acht auf dem Wege zur Schule …

Larisch rauchte gedankenverloren seine Zigarre, die Hedwig ihm aus des Bruders Vorrat angeboten hatte. In der Vogelhecke zwitscherten, pfiffen und sangen die gelben, grünen, scheckigen Bewohner so recht frühlingsgemäß; und die langschwänzigen Zwergpapageien schnäbelten sich oder drückten sich eng aneinander, um ihrem Namen Inseparables, die Unzertrennlichen, ja Ehre zu machen.

„Woran denken Sie eigentlich?“ fragte Hedwig endlich leise und schaute ihn mit Augen an, in denen das Verlangen endloser Jahre der Sehnsucht brannte.

„An den Tempel der Liebe und die Kiste, die in aller Stille bei Nacht verschwinden soll,“ sagte er zerstreut. „Fritz hat Ihnen doch wohl von den Briefen erzählt, – oder wahrscheinlich sogar Fräulein Hölsch selbst. Zwischen Ihnen beiden gibt es doch wohl kaum Geheimnisse.“

Hedwig war schmerzlich zusammengeduckt. Wie ein Guß eisigen Wassers wirkte dieser Name auf ihre fast krankhaft angespannten Nerven. – Natürlich – natürlich Irma …! – Sie ballte unwillkürlich die Hände zu Fäusten. Um ihren welken Mund, dessen Lippen nur jetzt wieder glühten und schmachteten, gruben sich zwei messerscharfe Falten ein.

Sie erwiderte nichts, starrte zu Boden, dachte: ‚Er beschäftigt sich nur noch mit ihr, mit den Briefen …! Aber das wird anders werden …!‘ Und am liebsten hätte sie in höhnischem Triumph aufgelacht. Die vorwurfsvollen Stimmen in ihrem Innern schwiegen ganz, waren erstickt – wohl für immer.

Er schaute sie prüfend an. Ein Ausdruck von mitleidiger Nachsicht lief wie ein Schatten über sein Gesicht hin.

Hedwig sah ein, daß sie irgendetwas erwidern mußte.

„Die Briefe sind doch nur ein schlechter Witz eines Mannes, der sich an Irma rächen will, vielleicht dafür, daß sie ihn enttäuscht hat,“ meinte sie laut, und der Ton war schneidend und gehässig wie der einer Todfeindin.

Er stand auf, legte den Zigarrenrest in den Aschbecher und sagte, indem er Hedwig die Hand hinstreckte:

„Auf Wiedersehen. Ich muß fort. Ich habe jetzt wieder eine Arbeit, die all meine Gedanken gefangen nimmt.“

„Welche?“ fragte sie schnell, ihn unterbrechend.

„Ein Roman ist’s den das Leben geschrieben hat, – wenigstens die ersten Kapitel. Die Fortsetzung möchte ich selbst schreiben.“

Sie verstand ihn.

„Also der Briefe wegen?!“ Sie lachte kurz auf.

Er nickte ernst. „Auf Wiedersehen, Fräulein Hete.“

Seine Hand umspannte fieberheiße Finger. Dann fiel die Tür hinter ihm zu.

Hedwig stand und starrte auf die sich schnäbelnden Inseparables. Und keuchend drängte es sich über ihre Lippen …: „Ich hasse sie – ich hasse sie!“

Gleich darauf kam der Laufjunge des Kaufmannes aus dem Erdgeschoß und richtete Hedwig die Bestellung aus, sie möchte gleich zu Irma kommen. – –

Irma zeigte der Freundin den neuen Brief der ‚treuen Hand‘.

„Wozu rätst du mir? – Ich habe ja niemanden, den ich fragen könnte. Und allein möchte ich eine Entscheidung nicht treffen. Soll ich Larisch aus dem Spiel lassen? Und wenn – was für einen Grund gebe ich ihm an, daß ich allein meine Sache fernerhin ausfechten will …?“

Hedwig lehnte am Schreibtisch. Sie tat, als studiere sie noch immer den Brief. Aber ihre Augen lasen nicht, ihre Gedanken waren anderswo … Ein unterdrückter Jubel loderte in ihrer Seele. Diese Gelegenheit mußte ausgenutzt werden. Hier hieß es schlau sein, berechnend …

„Ja, du hast wohl niemanden, den du des Briefes wegen um Rat fragen könntest,“ meinte sie langsam, indem sie über den Briefbogen hinweg ins Leere schaute. „Aber gerade ich, – ob ich unparteiisch genug bin, hier zu raten?! Larisch ist meines Bruders bester Freund, – und auch wohl so etwas der meinige.“

„Wohl richtig. Aber ich stehe dir näher, nicht wahr?“

„Gewiß, gewiß. – Nun denn, – meine ehrliche Ansicht, bemühe Larisch nicht weiter! Einmal, weil dir doch offenbar daraus Nachteile erwachsen können, daß die ‚treue Hand‘ dich fallen läßt, dann aber auch, – – hm ja – weil – weil es für den Ruf eines jungen hübschen Mädchens nicht ungefährlich ist, mit Larisch vertrauter zu sein.“

Eine Weile Schweigen.

Drüben in der Kneipe spielte das Grammophon – ein merkwürdiger Zufall – den Gassenhauer: ‚Du bist zu schön, um treu zu sein …‘

Dann fragte Irma:

„Weißt du etwas über diese Baronin Szestöni?“

Hedwig nickte nur.

„Erzähle es mir,“ meinte Irma, indem sie im Zimmer auf und ab zu gehen begann. „Ich will mir selbst über des Schriftstellers Charakter klar werden,“ fügte sie hinzu.

„Gut. Aber ich kann dir nur mitteilen, was man sich damals von dieser Geschichte zuflüsterte – vor fünf Jahren. Laut redete niemand davon, denn Egon Larisch ist ein zu guter Pistolenschütze. Er hat auch schon mal wegen Zweikampfes auf Festung gesessen. –

Luzie von Szestöni kam mit ihrem kranken Gatten hier nach Berlin, aus Budapest. Der Baron Szestöni wollte sich eine Niere operieren lassen. Seine Frau lernt Larisch kennen, er verliebt sich in sie, sie vielleicht auch in ihn, beide sind dauernd zusammen, der Baron erfährt davon, steht heimlich eines Abends von seinem Krankenlager in der Klinik auf, fährt im Auto nach der Wohnung seiner Gattin, um das Paar zu überraschen, trifft die beiden aber nicht an, erkältet sich bei dieser Eifersuchtstragödie und … stirbt in derselben Nacht. Die Baronin ist schamlos genug, den Verkehr mit Larisch fortzusetzen, verliert bald darauf ihr ganzes Vermögen infolge unglücklicher Spekulationen, und … Larisch zieht plötzlich nach München, ohne die jetzt arme Szestöni geheiratet zu haben, worauf alle Welt wartete. Nachher hat die Baronin dann den Kommerzienrat Miegler sich … erobert, einige zehn Millionen schwer. –

Mehr weiß ich nicht.“

Wieder minutenlanges Schweigen. Das Grammophon kratzte jetzt ‚So leben wir – so leben wir …‘ herunter.

„Und das Mädchen, das noch in dem Brief erwähnt ist,“ fragte Irma dann kurz, indem sie vor der Freundin stehen blieb.

„Die Geschichte möchte ich für mich behalten,“ erwiderte Hedwig Melcher zögernd.

Irma zuckte die Achseln. „Du brauchst Larisch nicht zu schonen. Diese zweite Sache ist wohl noch … schmutziger als die erste. Ich will auch nichts mehr hören. – Was tue ich aber, um Larisch loszuwerden?“

„Hm … Wäre es nicht am besten, wenn du gleich für die wenigen Tage bis zu den Ferien Urlaub nimmst und nach Lammerthof fährst, Larisch aber mitteilst, daß du die ganze Angelegenheit vorläufig ruhen lassen willst …? Diesen Wink wird er schon verstehen.“

„Ich hoffe. – Ja – das ist wohl das richtigste. Den Urlaub kann der Direktor mir des Todesfalles und der Erbschaft wegen kaum abschlagen. – Also – ich fahre morgen, abgemacht!“ –

Hedwig Melcher verabschiedete sich sehr bald. Als sie die Treppe hinabging, lächelte sie …: ‚Gesiegt – gesiegt …!‘

 

6. Kapitel.

Die Frau Rat in Not.

In Berlin-Moabit gibt es noch hier und dort in den stillen Seitenstraßen recht merkwürdige Häuschen. Sie haben der modernen Zeit getrotzt, ducken sich zwischen den neuen, riesigen Mietskasernen wie verschüchterte, alte Dämchen zusammen und leben weiter als augenfällige Beweise dafür, daß Moabit einer der ältesten Stadtteile des vorortfressenden Molochs Berlin ist.

In einem dieser Häuschen in der Wundsiedler Straße, keine drei Minuten von der Turmstraße, der Hauptverkehrsader Moabits, entfernt, hatte Egon Larisch sein Heim aufgeschlagen.

Er war bei der Auswahl seines Zimmers auch diesmal sehr vorsichtig gewesen. Es mußte so allerlei besonderen Bedingungen entsprechen: einen Eingang direkt vom Hausflur haben und hochparterre liegen, während die Wirtin eine womöglich alleinstehende, peinlich saubere Frau sein mußte.

Diese Frau hieß diesmal Rosalie Pergament – ausgerechnet Pergament, was ja zu einem Schriftsteller recht gut paßte. Es war eine Jüdin, ein sehr bewegliches Mütterchen, die man kaum je anders als mit einem Putzlappen in der Hand sah. Sie litt so etwas am Reinlichkeitskoller, wie Larisch es nannte, den diese Eigentümlichkeit im übrigen wenig störte. Sehr bald hatte sich zwischen ihr und ihrem Mieter eine gewisse Vertraulichkeit herausgebildet, obwohl Frau Pergament eine schweigsame Natur war. Sie hatte Larisch schnell schätzen gelernt. Er streute keine Zigarrenasche umher, reinigte sich stets gut die Füße und war so fleißig, so sehr fleißig. All das gefiel Frau Rosalie. Sie hatte noch nie einen Schriftsteller bei sich aufgenommen, weil sie alle Künstler für unordentlich, leichtsinnig und zahlungsunfähig hielt. Aber Egon Larisch hatte ihr gleich imponiert. Er trat so bestimmt auf, sagte ganz genau, was er an besonderen Wünschen hatte und feilschte nicht lange um den Mietpreis.

Die Einrichtung des Zimmers verriet, daß Frau Rosalie Pergament einmal bessere Tage gesehen haben mußte. Später erfuhr Larisch, daß Herr Pergament Holzkaufmann gewesen sei, aber entgegen allem Brauche trotz viermaligen Konkurses auf keinen grünen Zweig kommen konnte, was er sich so zu Herzen nahm, daß er langsam dahinsiechte und seine Witwe und seine Tochter Rebekka in sehr bescheidenen Verhältnissen zurückließ.

Rebekka Pergament, klein, rundlich und heiterer Gemütsart, war in demselben Warenhause wie Thilde Melcher ebenfalls als Buchhalterin angestellt. Weder schön noch häßlich, eben eine Frauengestalt, über die man hinwegsieht, ließ sie es sich mit ihren fünfunddreißig Jahren eben so angelegen wie ihre Mutter sein, den Schriftsteller nach Kräften zu verwöhnen. Es waren zwei herzensgute Menschen, diese Pergaments, und Egon Larisch fühlte sich bei ihnen so wohl, als sei ihm plötzlich ein neues Elternhaus erstanden, und dies umso mehr, als er keine näheren Verwandten mehr besaß. –

Der ‚Akkordarbeiter auf Kriminalgeschichten‘ – so nannte er sich stets selbst mit ehrlicher Selbstverspottung – war soeben vom Mittagessen nach Hause gekommen. Nicht in bester Laune. Er hatte bestimmt gehofft, bei Frau Mikla mit Irma Hölsch zusammenzutreffen. Aber die junge Lehrerin war auch heute wie schon gestern nicht erschienen und Frau Mikla wußte ihm dann zu berichten, daß Irma vormittags antelephoniert und bis auf weiteres das Essen abbestellt habe, da sie verreise.

Egon Larisch hatte sofort geahnt, daß etwas besonderes sich ereignete haben müsse. Und nun fiel sein Blick auf einen Rohrpostbrief, der auf seinem Schreibtisch lag, mitten auf der weißen Löschblattunterlage.

Er kannte bisher Irmas Handschrift nicht. Und doch sagte er sich sofort, daß der Brief nur von ihr sein könnte. Er öffnete ihn mit dem bestimmten Gefühl, er würde wichtige Neuigkeiten erfahren.

Ah – das hatte er doch nicht vermutet! Also eine Absage, eine zart umschriebene Kündigung ihres Bundesverhältnisses …! …

Dringende Geschäfte rufen mich nach Lammerthof. Die Angelegenheit mit den Briefen mag daher vorläufig ruhen. Ich werde kaum Zeit finden, mich damit befassen zu können. Haben Sie jedenfalls vielen Dank für Ihre liebenswürdigen Bemühungen. –

mit Gruß

Irma Hölsch.

‚Abgewinkt – wahrhaftig abgewinkt!‘ dachte Egon und warf den Brief ärgerlich auf den Tisch. ‚Zum Donner, – was mag nur dahinter stecken?! Etwas bestimmt! Aber was?! Was nur?! – Ich muß dies unbedingt feststellen, und zwar sofort. Rücksichten darf ich hier nicht nehmen. Wer weiß, ob die ‚treue Hand‘ nicht wieder ein neues Schreiben abgefaßt hat! Das junge Mädchen nimmt die Sache fraglos noch immer viel zu leicht! Ja – es kann nur ein neuer Brief sein, der diese Wirkung hervorgebracht hat. Am besten ist, ich gehe direkt zu Irma; mag dieser Besuch nun passend sein oder nicht!‘ –

Als Egon Larisch im Flur der Frau Kanzleirat gegenüberstand und Fräulein Hölsch zu sprechen wünschte, musterte die Mießtaler ihn sehr durchdringen und sagte dann kurz:

„Fräulein Hölsch ist bereits mit dem Mittagszuge abgereist. – Dürfte ich fragen, wer Sie sind?“

„Ein Bekannter der jungen Dame.“

„So …?! – Fräulein Hölsch hat keine Herrenbekanntschaften außer dem Bruder ihrer Kollegin Melcher,“ meinte die Mießtaler spitz. Sie war heute im Recht gehobener Stimmung, da Herbert ihr vorhin erzählt hatte, daß ein Freund ihm die dreihundert Mark geliehen hätte. Und das Bewußtsein, diese Schwierigkeit aus der Welt geschafft zu sehen, gab ihrem Auftreten nicht nur eine starke Sicherheit, sondern sogar etwas Herausforderndes, fast Ungezogenes, wie eben allen Naturen, die zumeist unter einem Druck von Sorgen leben und dann sofort, wenn sie einmal aufatmen dürfen, nur zu leicht in einen Ton verfallen, der in scharfem Widerspruch zu ihrer sonstigen ängstlichen Unterwürfigkeit steht.

Egon Larisch hatte sie schon vorgestern Abend, als er unter dem Namen Roderich Schinkel bei der Frau Rat erschienen war, ein sehr richtiges Bild von deren Charakter gemacht. Ihr gegenüber war jedenfalls allzu viel Rücksichtnahme sehr schlecht angebracht. Hier hieß es die Peitsche schwingen, den harten Bändiger spielen.

Das Weib war eine nicht ganz ungefährliche Katze.

Und daher sagte er nun sehr kühl:

„Sie meinen mit diesem Bekannten Fräulein Irmas meinen Freund Fritz Melcher. Daß aber auch ich das Vertrauen Ihrer Mieterin besitze, kann ich Ihnen schnell beweisen. Fräulein Hölsch hat vorgestern noch spät abends einen Detektiv hergeschickt, um den Diebstahl untersuchen zu lassen. Der Herr hieß Roderich Schinkel. Und er ist mein Intimus, verehrteste Frau Rat. Ich bin der Schriftsteller Egon Larisch, Verfasser zahlreicher Kriminalromane, zu denen mir Freund Schinkel als Fachmann schon manchen Stoff aus dem wirklichen Leben geliefert hat. –

Ja, sehen Sie, – und in Schinkels Auftrag komme ich auch jetzt hierher. Nun, Ihre Mieterin ist nicht anwesend. Da muß ich eben mit Ihnen fürlieb nehmen. –

Können wir unsere Unterredung nicht wo anders fortsetzen als hier im Flur?“

Die Mießtaler duckte sich scheu zusammen. Wieder dieser Diebstahl …! Und sie hatte doch schon gehofft, daß die Sache nun mit der Abreise Irmas erledigt sein würde …!

„Ja – was wollen Sie denn von mir eigentlich?“ fragte sie hochfahrend. Aber der Ton gelang ihr nicht mehr so ganz. Der Rest von selbstbewußter Sicherheit war nur noch sehr gering.

Larisch beugte sich dicht zu ihr.

„Ich sollte Sie in Gegenwart Ihrer Mieterin im Auftrag Schinkels fragen, ob Sie zugeben wollen, sich an der Kassette etwas zu schaffen gemacht zu haben,“ sagte er leise.

Sie prallte zurück.

„Ich habe das Geld nicht gestohlen – bei Gott nicht!“ entfuhr es ihr in höchster Verwirrung.

„Wollen wir nicht anderswo uns aussprechen?“ fragte Larisch abermals mit milder Stimme.

Sie überlegte. Im Hinterzimmer hielt Herbert Mittagsschlaf. Aber Irmas Stube war ja frei. Und auch die andere, denn der Versicherungsagent war heute plötzlich ausgezogen, weil er von seiner Gesellschaft eine Vertretung nach auswärts erhalten hatte.

Sie öffnete also die Tür von Gustav Heberleins Zimmer und machte eine einladende Handbewegung.

Larisch sah sich schnell in dem kleinen, dürftig möblierten Raum um.

„Wer wohnt hier?“ fragte er, indem er sich auf einen der verschossenen Plüschsessel setzte.

„Zur Zeit niemand. Der Herr Heberlein ist seit heute morgen fort. Er mußte nach Eberswalde reisen.“

„Heberlein – Heberlein …? – Der Name kommt mir so bekannt vor. War der Herr nicht Versicherungsbeamter? Ich glaube, ich kenne ihn irgendwoher.“

Die Kanzleirätin nickte.

„Er ist also ausgezogen,“ meinte Larisch, stand auf und betrachtete sich ein Sportbild, ein Rennpferd darstellend, das neben einem Abreißkalender an der Wand hing.

Die Mießtaler suchte den unangenehmen Gast durch liebenswürdige Gesprächigkeit für sich zu gewinnen.

„Ja, ausgezogen, und die Miete für den Rest des Monats hat er einfach schießen lassen. – – Der Gaul da soll ja wohl schon viel Geld eingebracht haben. Heberlein war sehr für den Pferdesport, Herr Larisch. Das Bild hat er in der Eile vergessen mitzunehmen.“

„Es hat ja auch keinen Wert,“ meinte der Schriftsteller und setzte sich wieder. „Nun zu der Kassette, Frau Rat. – Aber – nehmen Sie doch auch Platz. So – es plaudert sich gemütlicher.“

Sie merkte, daß er mit ihr wie die Katze mit der Maus spielte. Ihre Unruhe wuchs.

„Ja – also die Kassette. Darin lagen so allerhand Papiere. Obenauf eine Zuschrift des Amtsgericht Sziemanowo an Fräulein Hölsch. Schinkel erzählte mir, daß dieses Schriftstück einen Blutfleck aufwies, und zwar den verwischten Abdruck eines Fingers, besser einer Fingerspitze. Sie haben da ein Stückchen Heftpflaster am rechten Zeigefinger. Wo haben Sie sich die Verletzung geholt?“

„Ich – ich weiß nicht recht, wo, – wirklich nicht. Es ist nur ein Riß,“ erwiderte sie sehr rot und verlegen werdend.

„Aber Schinkel weiß es. Als der angebliche Elektromonteur gegangen war, haben Sie aus Neugierde das Mittelschränkchen des Schreibtisches der Lehrerin mit einem Nachschlüssel geöffnet. Nein – nur öffnen wollen. Na – ich brauche Ihnen die Einzelheiten nicht zu erzählen. Jedenfalls rührt der blutige Fingerabdruck auf dem amtlichen Schreiben von Ihnen her. Sie hatten sich eben beim Aufmachen der Kassette an dem losgesprengten Zapfen geritzt, was Ihnen in der Aufregung gar nicht auffiel. Als Fräulein Hölsch dann heimkehrte, fingen sie absichtlich sofort von dem Monteur an, damit ja nicht auf Sie der Verdacht falle, die Kassette … revidiert zu haben. Sie haben nur dabei außer acht gelassen, daß so ein Fingerabdruck besser ist als die schönste Photographie. Schinkel hat Ihnen vorgestern abend einen Nickelteller zum Halten gegeben, unter irgend einem Vorwand. Und da hat sich trotz des Läppchen, daß um den Zeigefinger gebunden war, ein Teil ihrer Zeigefingerspitze auf dem blanken Nickel wie ein Stempel abgedrückt. Ein Detektiv besitzt geübte Augen. Schinkel konnte daher sehr schnell feststellen, daß beide Abdrücke sich glichen.“

Larisch wählte seine Worte mit klugem Bedacht. Er redete absichtlich so, als hielte er die Mießtaler für die Diebin, die durch den Blutfleck überführt wäre. Aber all das sagte er so versteckt, so andeutungsweise, daß er jederzeit seinen Worten eine andere Erklärung geben konnte.

Die Kanzleirätin saß starr und steif, jetzt ganz farblos im Gesicht, in dem zweiten Plüschsessel. Angst schnürte ihr die Kehle zusammen. Sie war nicht dumm, diese frühere Verkäuferinnen aus Berlin N., sah ein, daß sie in einer bösen Falle steckte. Wenn der falsche Monteur nicht gefunden wurde, konnte der Verdacht unter diesen Umständen allein an ihr hängen bleiben, das Geld sich angeeignet zu haben. Sie war ja stets in Geldverlegenheit.

Ihre unstäten Augen suchten jetzt das Gesicht des Mannes, der ihr soeben klar bewiesen hatte, wie gut er über alles unterrichtet war. Ihre Hände falteten sich unwillkürlich, reckten sich hoch und unterstützten nun ihre klägliche Bitte …

„Glauben Sie mir doch, ich habe die vierzig Mark wirklich nicht genommen – so wahr mir Gott helfe! – Ich will alles ehrlich eingestehen – alles! Nachdem der Monteur fortgegangen war, habe ich mit einem Schlüssel, der zu dem Mittelschränkchen paßt, dieses öffnen wollen. Ich bin neugierig, – leider, leider, und Fräulein Hölsch hatte damals einen eingeschriebenen Brief erhalten. Ich wollte sehen, ob ich ihn vielleicht in die Finger bekam. – Das Schränkchen war – zu meinem Schreck! – aufgebrochen worden, wie ich bald merkte. Das abgesplitterte Holzstückchen war nur lose eingeklemmt gewesen und fiel herab, als ich kaum den Schlüssel eingesteckt hatte. Am liebsten hätte ich mich nun schleunigst wieder fortgemacht. Aber ich ahnte schon, daß die Geschichte mit dem Monteur nicht ganz richtig war. Mir zitterten ordentlich die Hände, als ich dann die Kassette herausnahm. Auch sie war aufgebrochen. Den Blutfleck bemerkte ich gar nicht, den ich selbst verursacht hatte. Ich war so furchtbar aufgeregt, legte schnell das Schriftstück wieder zurück, nachdem ich den Inhalt überflogen hatte. Als Fräulein Hölsch dann nach Hause kam, wollte ich sie sofort auf den Monteur aufmerksam machen, damit ja kein Verdacht auf mich fiele, hier den Einbrecher gespielt zu haben. Ich tat etwas ungehalten, daß Fräulein Hölsch den Elektromonteur ohne mein Wissen bestellt hatte, und …“

„Schon gut!“ winkte Larisch kurz ab. Dann lächelte er, zuckte die Achseln und sagte:

„Schinkel nimmt an, daß der Monteur lediglich eine von Ihnen erfundene Phantasiefigur ist.“

Sie begriff sofort. Wieder hob sie flehend die gefalteten Hände. Sie ahnte nicht, daß er überzeugt war, daß sie soeben die volle Wahrheit gesprochen hatte. Egon Larisch konnte sehr grausam sein, wenn er sich auf der Jagd befand. Und hier war er der Jäger, der der ‚treuen Hand‘ nachsetzte.

„Ich kann jeden – jeden Eid schwören, daß ich nichts aus der Kassette gestohlen habe,“ sagte sie weinerlich. „Ich bin eine ehrliche Frau, und nur …“ Ein paar Tränen rollten über ihre fahlen Wangen. Die Stimme erstickte in einem verzweifelten Aufschluchzen.

„Beruhigen Sie sich, Frau Rat,“ meinte Larisch freundlich. Sie tat ihm leid. „Die Sache wird sich ja hoffentlich aufklären lassen. Nur müssen Sie weder Roderich Schinkel noch mir gegenüber irgendwelche Winkelzüge machen, verstanden?! Beantworten Sie alle meine Fragen ganz ehrlich und erzählen Sie niemandem etwas von diesen Dingen. Wollen Sie mir das versprechen?“

Eine Zentnerlast fiel ihr vom Herzen. Sie merkte es seiner Stimme an, daß er sie schonen würde. Und sie sagte alles zu, was er nur verlangte.

„Gut, Frau Rat. Nun machen Sie aber auch wieder ein anderes Gesicht,“ meinte er aufmunternd. „Betrachten Sie Schinkel und mich als Ihre Bundesgenossen. Wir werden den Dieb schon herausfinden. –

So, und jetzt einige Fragen. –

Haben Sie einen zweiten Schlüssel zu dem Briefkasten Fräulein Irmas? – Schön, Ihr Nicken genügt mir. Da werden Sie denn vielleicht auch wissen, daß Ihre Mieterin letztens ein paar Briefe erhalten hat, die mit Maschinenschrift adressiert waren?“

„Ja. – Fräulein Hölsch bekommt selten mal ein Schreiben von auswärts. – Sie steht ja ziemlich allein da. Die Briefe fielen mir auf. Es sind im ganzen vier gewesen.“

„Vier …?! – Ich denke, nur drei.“

„Nein, vier. Der letzte lag gestern Nachmittag im Kasten. Ganz bestimmt.“

‚Aha!‘ dachte Larisch. ‚Meine Vermutung ist also richtig gewesen. Die ‚treue Hand‘ war wieder an der Arbeit.‘

Laut sagte er: „Gut, – vier! – Wissen Sie etwas über diesen vierten Brief, – über den Inhalt.“

Die hagere Frau strich verlegen die Schürze glatt.

„Nichts genaues. Aber Fräulein Hölsch hat wohl wegen dieses Briefes an ihre Freundin telephoniert, die dann sehr bald zu ihr kam. Das war gestern gegen halb sieben abends. Ich … ich war gerade hier im Zimmer, als Fräulein Hedwig und Irma nebenan sich über den Brief unterhielten. Und da konnte ich …“

„Sagen Sie doch ehrlich, Sie haben dort an der Verbindungstür gelauscht,“ unterbrach Larisch sie. „Nur keine Schönfärbereien! Vielleicht ist es sogar ganz vorteilhaft, daß Sie haben.“

„Ja – ich konnte also nur verstehen, außer einzelnen Worten, wie Fräulein Melcher sagte: ‚Du hast niemanden, den du des Briefes wegen um Rat fragen könntest‘. Wenigstens so ähnlich lauteten die Worte.“

„Und sonst verstanden Sie nichts?“

„Nur mal halbe Sätze, aus denen ich mir aber nichts zusammenreimen konnte; auch Ihr Name wurde verschiedentlich genannt, wie ich mich jetzt entsinne, Herr Larisch. Dann noch der einer Baronin … Er klang so ungarisch …“

Egon Larisch machte eine gleichgültige Handbewegung.

„Lassen wir das. Es ist ja ganz unwichtig,“ meinte er dabei. Aber sein Hirn nahm diese merkwürdige Tatsache, daß zwischen den Freundinnen Luzie von Szestöni erwähnt worden war, in Wirklichkeit ganz anders auf.

Eine Weile schwieg er jetzt. Er hatte genug zu denken.

Dann bat er die Mießtaler um ein Glas Wasser.

„Ich habe zu Mittag gepökelten Fisch gegessen,“ erklärte er.

„Darf ich Ihnen nicht ein Glas Limonade geben?“ meinte sie diensteifrig. Dann eilte sie hinaus.

Larisch horchte. Er hörte den Drücker der Küchentür gegenüber kreischen, erhob sich schnell und riß von dem Kalender neben dem Sportbild ein ganzes Bündel Blätter ab, nahm dann das Bild selbst – es war in Schwarzeiche gerahmt – vom Nagel und betrachtete die Rückseite, wo das Reklameschildchen des Geschäftes aufgeklebt war, das den Rahmen geliefert hatte.

Als die Kanzleirätin mit der Limonade zurückkehrte, trank Larisch das ganze Glas auf einen Zug aus, dankte und verabschiedete sich, nachdem er Frau Mießtaler nochmals ermahnt hatte, immer an ihr Versprechen zu denken.

„Auch Ihrem Sohne gegenüber schweigen Sie,“ warnte er eindringlich. „Sie werden ja auch nicht wollen, daß er erfährt, welchen Verdacht wir in Ihrem Interesse beseitigen müssen.“

Zehn Minuten später klingelte er bei Melchers.

Der blonde Sekretär öffnete ihm. Larisch fragte, ob Fritz vielleicht wisse, weswegen Irma Hölsch, wie Frau Mikla ihm mitgeteilt hätte, so plötzlich verreist sei.

„Keine Ahnung,“ meinte der Sekretär. „Hedwig hat uns nur erzählt, Irma scheine besondere Gründe zu haben, möglichst schnell nach Lammerthof zu kommen.“

Sie standen noch im Flur.

„Ist Hedwig zu Hause?“ fragte der Schriftsteller.

„Ja, im Wohnzimmer.“

Hedwig suchte vergeblich ihre Verlegenheit zu bemänteln, als Larisch dieselbe Frage über die Ursache von Irmas plötzlicher Reise nun an sie richtete.

„Irma hat sich mir gegenüber nicht weiter ausgesprochen,“ sagte sie zögernd.

„Ob sie etwa wieder einen Brief von der ‚treuen Hand‘ erhalten hat?“

„Ich – ich glaube ja.“

„Bestimmt wissen Sie es nicht, Fräulein Hete?“

„Ich … soll darüber schweigen. Fragen Sie lieber nicht weiter danach.“

„Ach so – ich verstehe. Fräulein Hölsch hat mir ja auch per Rohrpostbrief leise abgewinkt. Man braucht meine Hilfe nicht mehr.“ Er sah die Geschwister nacheinander prüfend an. Beide schauten betreten zur Seite.

Larisch lachte zwanglos.

„Kinder – wozu die verlegenen Gesichter?! Ihr könnt doch nichts dafür, daß Fräulein Hölsch der ‚treuen Hand‘ jetzt mehr Vertrauen schenkt als mir! Im übrigen ist mir diese Wendung der Dinge auch nur angenehm. Ich habe nämlich heute früh,“ – jetzt log er mit größter Gewandtheit – „einen Auftrag bekommen, der sehr lohnend ist, muß deswegen schon abends nach Dresden fahren. Vielleicht hätte ich abgelehnt – es handelt sich um einen Gemäldediebstahl in einer Privatgalerie –, wenn Fräulein Hölsch nicht … Na, Ihr versteht! Unter diesen Umständen aber … Ich kann dabei viel Geld verdienen! – Lebt wohl, Kinder! Sollte was Wichtiges geschehen, so schickt nur nach meiner hiesigen Wohnung Nachricht. Die brave Rosalie Pergament befördert alles schon weiter an mich.“

Hedwig konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen.

„Wie lange werden Sie denn in Dresden zu tun haben?“ fragte sie zaghaft.

„Weiß ich nicht. – Also – auf Wiedersehen! Ihr glaubt ja gar nicht, wie sehr ich mich freue, daß ich als Amateurdetektiv doch schon bis nach Sachsen hin bekannt bin. Ich werde dort die Sache schon befingern! Wahrscheinlich muß ich noch weiter nach München. Die Spur weist dorthin. – Wiedersehen, Kinder, und grüßt Thilde von mir.“

*

„Liebe Mutter Schweinsleder, Sie müssen mir einen Gefallen tun, und auch Sie Fräulein Bekkchen.“

Larisch stand im Hinterzimmer der Pergamentschen Wohnung. Soeben hatte der alte Regulator an der Wand halb neun geschlagen. Mutter und Tochter saßen gerade beim Abendbrot.

„Nein – bleiben Sie sitzen – lassen Sie sich nicht stören,“ fuhr Larisch fort. „Ich setze mich hier in die Sofaecke. – Also, einen Gefallen. Und dieser besteht aus mehreren Unterabteilungen. –

Ich bin heute 6,48 nach Dresden gereist, wenn jemand nach mir fragen sollte. In Wahrheit bleibe ich vorläufig hier, werde mir aber erlauben, mich äußerlich etwas zu verändern.“

„Wie interessant!“ rief die rundliche Rebekka.

„Sollte mich jemand von den Hausbewohnern in meiner Verkleidung zu Gesicht bekommen und neugierig werden, so sagen Sie, ich sei ein Verwandter von Ihnen aus Posen namens Jakob Mandelblüt – verstanden – Jakob Mandelblüt, der aus Posen in Geschäften nach Berlin gekommen ist und dem Herr Larisch während seiner Abwesenheit sein Zimmer zu benutzen erlaubt hat.“

„Machen Sie Witze, Herr?“ fragte Mutter Rosalie kopfschüttelnd.

„Im Gegenteil! – Vielleicht wird Herr Jakob Mandelblüt, den ich auch als Verwandten recht zärtlich zu behandeln bitte, bald nach Sziemanowo – das ist ein Städtchen im Posenschen – verreisen müssen. Dann schreiben Sie ihm mal eine Ansichtskarte – ganz kurz: ‚Wir sind wohl und munter und senden herzliche Grüße.‘ So in der Art. –

Fräulein Bekkchen, Sie sind ja ein heller Kopf. Sie verstehen wohl, ich bin hinter Leuten her, die im Trüben fischen wollen. Und da muß ich eben als Jakob Mandelblüt auftreten. Egon Larisch erregt Mißtrauen.“

Rebekka Pergament nickte eifrig.

„Die Hauptsache aber, meine Damen, Diskretion Ehrensache! – Kann ich mich darauf verlassen?“

 

7. Kapitel.

Der Tempel der Liebe.

Neben Irma Hölsch ging ein graubärtiger, knorriger Mann, gekleidet wie ein Landmann, der überall in seiner Wirtschaft selbst mitzugreift. Biederkeit, aber auch bäuerliche Schlauheit leuchtete aus seinen Zügen.

Irma hatte sich gleichfalls noch schnell vor ihrer Abreise für den Lammerthof mit passender Kleidung versehen, hatte sich ein graugrünes Lodenkostüm fertig gekauft, das trotzdem wie angegossen saß. Den Kopf trug sie unbedeckt, und der Wind spielte mit den wenigen losen Stirnhaaren, dieser laue Morgenwind, der von Westen über die Heide herüberstrich und Frühlingsdüfte der aus dem Winterschlaf erwachten Natur mitbrachte.

Die beiden kamen von dem langgestreckten Stalle her, hatten die Schafe sich angesehen, die jetzt auf des alten Parlitz Vorschlag wieder um ein halbes Hundert vermehrt werden sollten.

Links von dem Stalle stand das kleine Leutehaus. Dort wohnte das Ehepaar Parlitz, das jetzt allein für den Lammerthof sorgte, dort hatte auch Irma die beste Stube sich schnell herrichten lassen, denn allein im Hauptgebäude zu schlafen, davor hatte sie sich gefürchtet.

Irma sah etwas blaß aus. Sie hatte sich auf der Reise erkältet und fünf Tage zu Bett gelegen. Vielleicht war’s auch eine leichte Influenza gewesen. Frau Parlitz hatte jedenfalls darauf gedrungen, daß das Fräulein am Morgen nach ihrer Ankunft im Bett blieb, hatte sie gepflegt, ihr Haustränkchen bereitet und sie wie ein eigenes Kind bemuttert. So war es gekommen, daß Irma von ihrem neuen Besitz bisher noch so gut wie nichts kannte und daß sie erst ein einziges Mal in der ‚Burg‘ gewesen war, wie das Ehepaar Parlitz nach alter Gewohnheit das Hauptgebäude nannte.

Irma schaute sich um. Überall Zeichen des Verfalls, wenn auch sonst peinliche Ordnung herrschte. Die Großmutter hatte seit Jahren nichts mehr für den Besitz getan. Das hatte Martin Parlitz schon wiederholt betont. – ‚An uns hat es nicht gelegen, daß hier alles verwilderte,‘ hatte er gesagt. ‚Aber Frau Hölsch zeigte ja kein Interesse mehr an ihrem Eigentum.‘

An zwei halb zerbrochenen Ackerwagen gingen sie weiter auf den Hintereingang der Burg zu. –

Der Bau stammte aus dem sechzehnten Jahrhundert, sah mit seinem einen Eckturm und dem flachen Dach aus grünbemoosten Ziegeln wie eine verpfuschte Kirche aus. An der Westseite war ein Stück angeklebt worden, nur eine Zimmerbreite, um oben und unten hellere Gemächer zu erhalten. Scharf bog sich die Grenze ab, wo das alte und das neue Gemäuer aneinander stießen. Efeu umrankte das plumpe Gebäude, ließ die Fenster nur noch kleiner erscheinen. Nur der neue Flügel hatte große, breite Fenster. Und hier war auch eine Glasveranda in den geräumigen Vorgarten hineingebaut.

Die Erdgeschoßfenster des alten Flügels waren vergittert, mit dicken, rostigen Eisenstäben wie vor den Luftlöchern eines Verließes. Sie erhöhten noch den ungastlichen Eindruck.

„Meine Großmutter hat also ganz allein in der Burg gehaust all die Jahre?“ fragte Irma fast ungläubig.

Martin Parlitz klirrte mit dem Schlüsselbunde.

„Ganz allein. Es war eine gute, aber ein wenig absonderliche Frau.“

Er suchte den Schlüssel zur Hintertür heraus, die dicht neben dem runden Turme lag, auf dessen niedrigem Spitzdach eine Wetterfahne kreischte. Irma ging das Kreischen auf die Nerven. Sie war überhaupt so sehr empfindlich gegen alles, seit sie sich hier auf dem Lammerthof befand.

Auch die Türangeln kreischten.

„Ölen Sie sie gut ein, Parlitz,“ sagte sie gereizt. „Das ist ja scheußlich … Und auch die Wetterfahne, wenn es geht.“

Der Alte schaute sie von der Seite an. Ja, ja, so ein Berliner Fräulein …! Die waren ja wohl alle nur zum in den Glasschrank stellen.

Eine dumpfe, kühle Luft schlug den Eintretenden entgegen. Es roch wie nach faulendem Holz.

Langsam durchschritten sie die Zimmer. Die meisten waren unmöbliert hier im Erdgeschoß. Nur im neuen Flügel, den Frau Hölsch bewohnt hatte, gab es alten Hausrat, alles fast ärmlich. Und hier führte auch eine zweite Treppe, schmal, mit schlecht gestrichenen Holzstufen, in den Oberstock hinauf. Die Haustreppe lag in der Diele hinter dem Vordereingang in der Mitte des alten Flügels.

Irma hatte schon die ganzen Tage seit ihrer Ankunft eine Frage auf den Lippen gehabt. Jetzt tat sie die scheu und zögernd.

„Sagen Sie, Parlitz, es soll hier doch so etwas wie ein verschlossenes Zimmer gegeben?“

Der alte Mann blieb stehen. In seinen Augen, die er fest auf Irmas Gesicht richtete, lag ein Ausdruck der Verwunderung und leichter Unruhe.

„Woher – woher wissen Sie denn das?“ meinte er fast unhöflich.

Irma überhörte den Satz. Sie konnte Parlitz doch unmöglich von den Briefen der ‚treuen Hand‘ erzählen. – Also das verschlossene Zimmer war jedenfalls vorhanden. Zu ihrer Beruhigung trug das nicht gerade bei.

„Führen Sie mich hin,“ sagte sie kurz.

Parlitz schaute verlegen zu Boden, schlenkerte mit dem großen Schlüsselbunde hin und her. Dann schritt er kopfschüttelnd den Gang entlang bis zur Diele hin und erstieg die breite, knarrende Treppe mit den tief ausgetretenen Stufen.

Oben bog er in der Richtung auf den Turm ein. In dem Flur herrschte ein ungewisses Dämmerlicht. Vor der letzten Tür rechts blieb er stehen. Und Irma dachte: ‚Der Tempel der Liebe …‘

Alle diese Türen im alten Flügel bestanden aus Eichenholz, waren dunkel gebeizt, hatten geschnitzte Mittelfelder und plumpe, große Schlösser. An dieser Tür gab es zum Überfluß noch eine starke, eiserne Krampe, die mit einem modernen Vorhängeschloß verwahrt war.

Martin Parlitz deutete auf die Tür und sagte:

„Hier, Fräulein, das ist sie!“ Sein Gesicht hatte dabei wieder einen merkwürdigen Ausdruck von innerer Beunruhigung angenommen.

„Die Nebenzimmer sind doch sämtlich leer,“ meinte Irma zögernd. „Weshalb wird gerade dieses verschlossen gehalten?“

„Das weiß ich nicht, Fräulein. Ich war noch nie drin, noch nie, seit Frau Hölsch durch mich diese Krampe anbringen ließ. Das sind nun zehn Jahre her. Damals war es ebenso kahl wie die anderen nebenan. Was Ihre Großmutter dann dort eingeschlossen hat, kann ich Ihnen nicht sagen. Selbst das Schlüsselloch ist von innen verstopft worden.“

Irma schaute zaghaft auf die Tür, als lauere dahinter ein dunkles Geheimnis. Sie dachte an den dritten Brief der ‚treuen Hand‘ und die darin erwähnte Kiste. Wenn doch nur erst die drei Melchers hier wären! Gut, daß sie morgen abend eintrafen. Irma war es so unheimlich zumute hier im Lammerthof, obwohl die alten Leutchen, die Parlitz, für sie aufs beste sorgten und fraglos ehrenwerte, zuverlässige Menschen waren.

„Wo ist der Schlüssel zu diesem Patentschloß?“ fragte sie, auf die Krampe deutend. Ihre Neugier war doch größer als die heimliche Angst vor dem Ungewissen.

Der Alte hob die Schultern. „Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich aber in dem Schreibsekretär Ihrer Großmutter, Fräulein.“

„Suchen wir,“ meinte Irma. „Ich will wissen, was dieses Zimmer enthält.“

Der Schreibsekretär stand unten im Erdgeschoßzimmer, vor dem die Veranda lag und das sozusagen das Kontor der alten, einsamen Frau gewesen war. Martin Parlitz nannte es auch nur so. Vielleicht wollte er dadurch andeuten, daß der Lammerthof mehr war als ein gewöhnliches Bauerngehöft.

In einer Schublade fanden die beiden verschiedene Schlüssel. Der Alte erklärte, er wisse nicht genau, ob der richtige darunter wäre. So nahmen sie denn nachher alles an Schlüsseln mit, was sie auftreiben konnten und was ungefähr zu passen versprach.

Martin Parlitz verglich oben nun zunächst die Schlüssel mit dem Loche des Schlosses, um sich nicht unnötig mit Probieren aufzuhalten.

Mit einem Male ließ er aber die Hände schlaff herabsinken und blickte Irma ganz ratlos an.

„Was gibt’s denn, Parlitz?! – Vorwärts doch! Oder – am besten, ich versuche selbst zu öffnen.“ Die neue Herrin des Lammerthofes war schon etwas ungeduldig.

„Fräulein, ich glaube – ich glaube …“ Er beendete den Satz nicht, schüttelte den Kopf und beschaute sich das Schloß an der Krampe nochmals ganz eingehend.

Irma nahm ihm ein paar der Schlüssel ab.

„Wir können hier doch nicht ewig stehen!“ sagte sie gereizt. Ihre Nerven hatten auf dem Lammerthof wirklich schon gelitten.

Keiner der kleinen Schlüssel paßte zum Schloß der Krampe. Nur für das eigentliche Türschloß fand sich ein klobiger Schlüssel. Doch das nützte wenig. Die Krampe hatte der alte Martin eingeschlagen und sogar noch besonders gesichert. Und was der festhämmerte, hielt für ewig.

Irmas bleiche Wangen hatten sich gerötet.

„Dann müssen wir eben Gewalt anwenden,“ erklärte sie herrisch.

„Ich werde eine Eisenfeile holen.“ Und der alte Mann ging eilig davon.

Irma starrte wieder auf die dunkelgebeizte Tür. Wozu nur mochte die Großmutter gerade dieses Zimmer so sicher verwahrt haben?! – All das war doch recht seltsam. Aber am seltsamsten das andere, daß die harte, einsame Frau doch einen Mitwisser dieses Geheimnisses gehabt haben mußte, eben den Schreiber der anonymen Briefe – die ‚treue Hand‘!

Dann wanderte ihr Blick weiter nach links, wo der Flur mit der Mauerrundung des Turmes aufhörte. Die Mauer war hier fast bis zur Decke hinauf mit demselben dunklen Eichenholze verkleidet, aus dem auch die Zimmertüren hergestellt waren, und die breite Fläche zeigte genau dieselben Schnitzereien, ein Blumengebinde mit länglichen Blättern.

In der alten Burg herrschte eine geradezu beängstigende Stille. Nur hin und wieder hörte Irma verschwommen das Kreischen der Turmfahne und das Zwitschern der unzähligen Spatzen, die in dem Efeu an den Hauswänden nisteten. Dazu noch das ungewisse Dämmerlicht, das von dem Treppenaufgang bis hierher sich fortpflanzte, ferner dieses Bewußtsein, dicht vor irgend einem Geheimnis zu stehen, davon nur getrennt durch eine Eichentür … Irma fröstelte es. Der Lammerthof wurde ihr immer widerwärtiger, so sehr sie auch Gottes freie Natur liebte.

Martin Parlitz kam mit der Feile zurück, und das junge Mädchen atmete erleichtert auf.

Das Knirschen der Feile ging Irma durch Mark und Bein. Sie mußte die Finger in die Ohren stopfen. – Der Alte arbeitete indes unverdrossen, aber ohne großen Eifer. Dann war der Schloßbügel durchschnitten. – Martin Parlitz trat zur Seite. Er wollte Irma den Vortritt lassen.

Sie zögerte ein wenig, nahm sich aber schnell zusammen, legte die Hand auf den Türdrücker und öffnete.

Sie sah zunächst nichts als ein paar lange, dünne Sonnenstrahlen, die durch die Ritzen der Fensterläden hindurchschlüpften und in der Dunkelheit des Raumes wie silberne, schwebende Striche wirkten.

„Ich vergaß zu erwähnen, daß ich auch vor dem Fenster von innen Läden anbringen mußte,“ sagte Parlitz leise. „Auf der Außenseite sind sie nach Art der blinden Fenster bemalt und deshalb vom Hofe aus nicht gleich zu bemerken. Ich werde sie öffnen.“

Er schritt an Irma vorüber. Dann ein Poltern, ein leiser Ausruf, halb Verwünschung, halb aus Schmerz.

„Hier steht irgend etwas auf dem Fußboden dicht vor dem Fenster,“ knurrte er. „Mein Schienbein hat das abbekommen.“

Dann ein helles Kreischen. Eine Schraube wurde gedreht, – und nun plötzlich eine blendende Lichtflut, so daß Irma für einen Moment die Augen schloß.

Und in diesem einen Augenblick, wo der Gesichtssinn vollkommen ausgeschaltet war, merkte sie mit verstärkter Schärfe den unangenehmen Geruch, der in diesem Zimmer herrschte. Es war ein Gemisch von welken Blumen, faulenden Stoffen irgendwelcher Art und – Chlorkalk, – ganz fraglos Chlorkalk, jedenfalls ein Gemenge, das etwas ebenso Widerliches wie Atemberaubendes an sich hatte.

Irma war in der Tür stehen geblieben. Ihr Blick überflog suchend den einfenstrigen Raum, glitt achtlos über die bescheidenen, alten Möbelstücke aus Fichtenholz hin, über die Kränze an den Wänden, zwischen denen ein großer Armeerevolver hing, über das lebensgroße Bild eines jungen Offiziers auf einer Staffelei neben dem Fenster … Dieser Blick suchte etwas Bestimmtes – – die Kiste – die Kiste, die bei Nacht verschwinden sollte.

Und die Kiste war da. Der alte Martin hatte sie zuerst gefühlt, war darüber gestolpert.

Irma machte ein paar Schritte nach vorwärts. Unwillkürlich sah sie nach Parlitz hin. Der hatte sich gebückt, schien in der Luft herumzuschnuppern wie ein Jagdhund auf der Fährte. Den Kopf hielt er dicht über die Kiste. Sie war vielleicht eineinhalb Meter lang, schmal und niedrig. Dann murmelte er etwas vor sich hin, hob die Kiste wie prüfend auf einer Seite an, setzte sie wieder nieder, richtete sich auf und sagte langsam:

„Das ist aber mal sehr merkwürdig, Fräulein. Wie kommt die Kiste hier ins Zimmer? Sie ist groß und schwer. Frau Hölsch allein kann sie nicht hergebracht haben. Und – solche Kiste haben wir nie im Hause gehabt.“

Der Chlorgeruch war jetzt noch aufdringlicher, wo Irma dicht am Fenster stand. – Der Alte fügte nun noch hinzu, abermals die Luft prüfend einziehend:

„Chlor ist’s – Chlor! – Was bedeutet das alles?!“

Die neue Besitzerin des Lammerthofes hätte weiß Gott was darum gegeben, wenn jetzt an Stelle des Alten … Egon Larisch hier gewesen wäre.

Egon Larisch …! – Sie dachte nicht zum erstenmal in diesen Tagen an ihn. Nein – während sie drüben im Leutehause von Mutter Parlitz sich hatte pflegen lassen, während sie in dem riesigen Himmelbett lag und ihr Geist unter der Einwirkung eines leichten Fiebers doppelt rege arbeitete, hatte dieser Mann, dem sie so kurz das eben erst geschlossene Bündnis aufgesagt hatte, sich immer wieder in ihre Gedanken eingedrängt. Und da war ihr ganz plötzlich klar geworden, daß sie, die bisher an den wenigen Herren, die sie kennengelernt hatte, so kühl vorübergegangen war, in dieses einen Mannes Art etwas gefunden hatte, das sie fesselte. Was es war, wußte sie selbst nicht. Vielleicht seine Persönlichkeit, die so ganz auf Zielbewußtsein und scharfes Denken abgestimmt war, vielleicht auch dieser eigenartige Charakterkopf, der ihr in allen seinen Linien, die von sympathischer Häßlichkeit zu durchgeistigter Kraftfülle bei schärferem Hinsehen sich wandelten, so deutlich vorschwebte. –

Und weiter war ihr auch ebenso unvermittelt die Erkenntnis aufgestiegen, daß jener Rohrpostbrief, durch den sie seine weitere Hilfe abgelehnt hatte, lediglich unter dem Eindruck dessen entstanden war, was Hedwig ihr über des Schriftstellers Liebesabenteuer angedeutet hatte. Damals hatte sie einen dumpfen Schmerz empfunden, weil das Bild ihres neuen Verbündeten so häßlich durch diese Geschichten verdunkelt worden war. Fast wie Haß gegen ihn war es damals in ihr aufgestiegen. Und am ärgsten wirkte wohl noch das Ungeklärte bei ihr nach, – daß es ein Weib gab, die Rechte an ihm hatte, ein Weib, deren Namen sie nicht erfuhr … –

Wie unüberlegte war es nur von ihr gewesen, sofort in dieser Stimmung an ihn zuschreiben, kaum darüber nachzudenken, was sie schrieb … Das fiebererhitzte Hirn war ehrlicher, als sie es sonst wohl gegen sich selbst gewesen. Sie verschloß sich nicht der Erkenntnis, daß, wenn sie ihre damaligen Empfindungen genau zerlegte, bei dieser Seelenanalyse eine leise Regung von … Eifersucht herauskam.

Und jetzt, wo der Inhalt des dritten Briefes der ‚treuen Hand‘ sich bewahrheitet hatte, wo der Tempel der Liebe gefunden war und sie die rätselhafte Kiste vor sich sah, fiel ihr all dieses wieder ein, eben weil sie an die Worte dieses Mannes dachte, der so warnend zu ihr gesagt hatte: ‚Ich halte die Sache durchaus nicht für harmlos …!‘

Ja – wäre Egon Larisch jetzt doch hier! Sie selbst war ja vollkommen ratlos, fast kopflos … Was tun? Was tun? – Die Kiste sollte ja fort – bei Nacht und Nebel! Durfte sie hierzu das alte Ehepaar ins Vertrauen ziehen? Und sollte sie blindlings jenem Briefe gehorchen …?! War es nicht ihre Pflicht, sich erst davon zu überzeugen, was dieser längliche Holzkasten aus unbehobelten Brettern enthielt …?!

Der alte Martin räusperte sich nun schon zum zweiten Male sehr vernehmlich. Er schaute seine Herrin verwundert an. Deren Blick war geradeaus durch das Fenster auf die weite Heide gerichtet, auf das unfruchtbare Land, das zum Lammerthof gehörte. Zählte sie etwa die wenigen Schafe, die der bucklige Christian dort weidete und die wie graue Flecken sich von dem fahlen Grün des Heidekrautes abhoben …?!

„Fräulein,“ sagte er jetzt laut, „Fräulein – ich begreife das nicht, wie die Kiste hier in dies Zimmer, überhaupt ins Haus, gekommen sein kann …“

Sie drehte den Kopf nach ihm hin, nickte geistesabwesend.

Langsam brachte sie es fertig, die Ruhige, Beherrschte zu spielen. Sie mußte die Entscheidung über diese Sache hinausschieben – unbedingt. Allein durfte sie nicht handeln. Sie kam sich ja so unmündig, so haltlos vor. Und – nur um Martin Parlitz auf andere Gedanken zu bringen, wies sie nun mit matter Bewegung zu dem Bild auf der Staffelei und sagte:

„Mein Vater …!“ Und deutete weiter auf die Kränze an der Wand: „Von seinem Grabe …“, und wies schließlich auf den Revolver „ich glaube, das ist die Waffe, mit der …“ Sie führte den Satz nicht zu Ende.

Der alte Mann hatte jetzt erst Augen für all diese Gegenstände, die an Günter Hölsch, den Lieutenant a. D., den Gatten der kleinen Schauspielerin, erinnerten.

Da stand auch ein Schreibtisch aus Fichtenholz. Oh, Martin erkannte ihn sofort wieder – wie alle die Möbel hier, die früher in des jungen Herrn Stube ihren Platz gehabt hatten. Und die hatte unten im Erdgeschoß gelegen, und Frau Elvira Hölsch mußte jedes einzelne Stück allein hier heraufgeschleppt haben. Auf der Platte dieses Tisches waren viele Photographien aufgestellt, auch zwei von Irma darunter, und die Bilder des Selbstmörders waren mit jetzt welken Blumenkränzen umwunden, – Kränze, die kaum ein paar Wochen alt sein konnten, aus Anemonen, Schneeglöckchen und Primeln, den ersten Kindern des Frühlings.

Irma Hölsch würgte ein starker Hustenreiz in der Kehle. Das machte der scharfe Chlorgeruch.

„Kommen Sie, Martin,“ sagte sie mit belegter Stimme. Und hastig eilte sie hinaus …

Der Alte drückte die Tür leise zu.

„Soll ich den Schlüssel mitnehmen?“ fragte er, auf das plumpe Schloß deutend, aus dem der schwere Schlüssel herausragte.

„Nein – lassen Sie nur offen,“ meinte Irma und schritt schnell der Treppe zu und stand dann tief atmend vor dem Haupteingang im Freien, im Vorgarten, wo der runde Rasenplatz zu beiden Seiten durch eine Reihe dunkler Edeltannen eingesäumt war, wo die Rosenstöcke des Mittelbeetes noch die schützenden Winterhüllen trugen und eine so köstliche, kräftige Luft wehte, die Tannen rauschten, die Spatzen im Efeu skandalierten und ein prächtiger Hahn soeben vor seiner Hennenschar wie ein aufgeblasener Sultan krähte …

 

8. Kapitel.

Ein Gespenst – ein Einbrecher!

Irma schämte sich fast, weil sie ihre Gäste mit einem so armseligen Wagen vom Bahnhof Sziemanowo abholen mußte. Auch die beiden Ackergäule, die einzigen Pferde des Lammerthofes, waren nicht dazu geeignet, diesen Eindruck abzuschwächen, so sehr der alte Martin auch an den Tieren herumgeputzt und die Geschirre geschwärzt und gewichst hatte.

Den drei Melchers fiel das bescheidene Gefährt gar nicht weiter auf. Fritz und Thilde waren vergnügt und ausgelassen, wie Schulbuben, die in die Ferien ziehen. Ihnen hätte man auch ein Ochsenfuhrwerk anbieten können. Das hätte ihre Fröhlichkeit ebensowenig beeinträchtigt. Und Hedwig wieder achtete deswegen auf nichts, weil sie mit ihren Gedanken ausschließlich in Dresden weilte, wo Egon Larisch noch immer mit der Aufklärung des Bilderdiebstahls zu tun hatte – angeblich …

Die Begrüßung auf dem Bahnsteig war überaus herzlich gewesen. Hedwig hatte, aus einem starken, ehrlichen Schuldbewußtsein heraus, Irma besonders zärtlich geküßt und sogar ein paar Tränen mühsam zurückzuhalten versucht. Die Abendschatten lagerten bereits über dem kleinen Städtchen, als der Wagen vom Bahnhof durch die Straßen ratterte und dann links in die Chaussee einbog, die dicht am Lammerthof vorüberführte.

Fritz Melcher saß, Kerlchen, den Wolfspitz, auf dem Schoße haltend, auf dem Bock neben dem alten Martin, der sich sehr wichtig in seiner Kutscherwürde vorkam. Ja, die Sziemanowoer hatten auch wirklich was zu sehen an dem Wagen vom Lammerthof! Da saß ja heute nicht nur die schöne, neue Herrin drin, sondern auch noch zwei so recht großstädtisch gekleidete Damen und ein feiner Herr, der mindestens ebenso gelehrt wie der Herr Kreisarzt ausschaute.

Und wie leutselig und gesprächig dieser Herr Polizeisekretär war! Martin Parlitz’ altes Herz schwamm in Wonne. Vergessen war das verschlossene Zimmer und die rätselhafte Kiste! Das sollten mal wieder vergnügte Osterfeiertage auf dem Lammerthof werden.

Jetzt bot Fritz Melcher dem Alten gar noch eine Zigarre an und hielt die Zügel, damit auch sein Nachbar Dampf aufmachen konnte.

Auch hinter den beiden Insassen des Kutschbockes hörte das angeregte Sprechen nicht auf. Hedwig redete am meisten. Das Gewissen sollte übertönt werden, das ihr ständig zuflüsterte: ‚Judas Ischariot!‘ … –

„Sie kennen hier wohl jeden Stein, Herr Parlitz,“ meinte Fritz Melcher, indem er mit blanken Augen die Landschaft betrachtete.

„Kunststück, Herr Sekretär! Ich stamme aus Sziemanowo, und seit ich vom Militär weg bin, habe ich meine Stellung auf dem Hof inne. Ich war Sergeant bei den Ulanen in Thorn, aber dann verknackste ich mir das Knie und – vorbei war’s mit dem schönen bunten Rock. Nun, ich hab’s nicht bedauert. Auf dem Lammerthof wurde ich dann ja Inspektor, Kutscher, Rendant – alles in einer Person! Bin der Familie Lammert wahrhaftig zu großem Dank verpflichtet, Herr! Hab’s dort gut gehabt all die langen Jahre, sehr gut. Nur eins hat mir weh getan, sehen Sie, sehr weh, – daß die verstorbene Frau Elvira nach dem Tode des jungen Herrn Günther nichts mehr für die Besitzung tat, gar nichts! Alles wäre noch mehr verwahrlost, wenn wir, meine Frau und ich, nicht nach dem Rechten gesehen hätten, so gut es ging. Die Schafzucht ist ganz vernachlässigt worden. Vor fünfzehn Jahren hatten wir noch zweihundert Stück, alles edle Rassen. Mit der Wolle war ein gutes Geschäft zu machen. Aber dann – ja dann hatte die arme Frau für nichts mehr Interesse. Wenn sie wenigstens nicht so – so halsstarrig gewesen wäre und die verschiedenen Kaufgebote ausgeschlagen hätte, die ihr gemacht wurden. Waren wirklich sehr gute Gebote darunter – sehr gute. Ein Berliner wollte hier die Schafzucht im großen betreiben. Aber gegen Anhänglichkeit an Haus und Hof ist nichts zu machen. Der Besitz ist schon so lange in der Familie. –

Na – jetzt wird’s ja wohl anders, besser werden. Das Fräulein hat Vertrauen zu mir. Wir werden eine neue Stammherde anschaffen, und der Nachwuchs kommt von alleine.“

Er deutete jetzt mit der Peitsche nach rechts in ein flaches Tal.

„Da ist der Hof schon, Herr Sekretär,“ meinte er mit gewissem Stolz. „Sieht das Haus nicht wie’n kleines Schloß aus mit dem dicken Turm, wie’n richtiges Gutsgebäude? Eigentlich ist der Lammerthof ja auch ein Rittergut, wenigstens der Rest davon. Und der junge Herr Günther wär’ ja auch nie Leutnant geworden, wenn der selige alte Herr nicht mal die große Bescheidenheit, sich nur Hofbesitzer zu nennen, bei Seite gelassen und sich genannt hätte, was er mit Recht war, Rittergutsbesitzer auf Adlig Sziekra. Das ist nämlich der eigentliche Name des Hofes, nach den polnischen Grafen von Sziekra, deren Wappen noch am Turme zu sehen ist. Ich nenne das Haus auch immer nur die Burg, Herr Sekretär. Schaun Sie nur mal hinüber! Es gleicht doch wirklich einer alten Burg.“

„Gewiß – einer kleinen Burg, lieber Herr Parlitz. Und die dunklen Tannen davor geben dem ganzen einen noch romantischeren Anstrich. – Hm, mir fällt da eben etwas ein. Fräulein Hölsch erzählte mir gelegentlich von einem verschlossenen Zimmer in dem Wohnhause. Wissen Sie, was es damit auf sich hat?“

Der alte Martin knallte mit der Peitsche. – Zum Donner, fing der Berliner jetzt auch gleich von der Geschichte an! Aber – vielleicht hörte man jetzt endlich heraus, woher das Fräulein eigentlich überhaupt davon erfahren hatte.

„Ja, ja – so ein Zimmer gab’s schon, das stimmt, Herr Sekretär.“

„Gab? Wieso gab?“

„Na, weil wir, das Fräulein und ich, das Zimmer gestern geöffnet haben.“

„So?! – Und – war eine Kiste darin?“

Dem Alten gab’s einen ordentlichen Ruck. Wie – der Herr Sekretär wußte, daß man dort eine Kiste finden würde?! Also mußte auch das Fräulein davon Kenntnis gehabt haben …! – Seltsam – unerklärlich! Und das Fräulein hatte geschwiegen, so getan, als wäre ihr die Kiste höchst gleichgültig …!

Martin Parlitz wurde es ganz wirr im Kopf. Alle Freude auf die Osterfeiertage war mit einem Male dahin.

„Ja, eine Kiste stand da wohl unter dem Fenster,“ meinte er zögernd.

„Stand? Aha – sie ist weggeschafft worden, nicht wahr, – in der verflossenen Nacht?“

„Gott steh’ mir bei, Herr Sekretär …! Weshalb sollte sie denn weggebracht sein – und gar noch nachts?! – Ich verstehe das alles nicht – keine Spur davon verstehe ich! Schon gestern war das Fräulein so – so komisch, und nun – nun …“ Er schüttelte immer wieder den Kopf.

„Also die Kiste ist noch nach?“ fragte Fritz Melcher gespannt.

„Ja doch – natürlich! – Aber nun müssen Sie mir auch eine Frage erlauben, Herr Sekretär. Was bedeutet dies alles? Woher wußte das Fräulein von dem verschlossenen Zimmer, woher von der Kiste? – Sehen Sie, die verstorbene Frau Hölsch – sie ließ sich nie gnädige Frau nennen, obwohl’s doch eine feingebildete Dame war, wenn auch aus einer Bauernfamilie – hatte nie zu jemandem über das Zimmer gesprochen, nicht mal zu uns, meiner Frau und mir. Und jetzt – jetzt …! Nein – ich werde daraus nicht klug.“

„Lieber Herr Parlitz, wenn ich geahnt hätte, daß Fräulein Hölsch Ihnen bisher nichts von den …“ – er wollte sagen ‚anonymen Briefen‘, verbesserte sich aber – „nichts von den Gründen ihres Interesses für das erwähnte Zimmer erzählt hat, so hätte ich mich jeder Frage über diese Angelegenheit enthalten. Bitte sprechen Sie also auch unter diesen Umständen zu niemandem von diesen Dingen – verstanden?!“

„Jawohl, Herr Sekretär,“ erwiderte der Alte sehr einsilbig.

Da fuhr der Wagen auch schon vor der Veranda vor. – –

Im neuen Flügel waren die vier Zimmer für die Gäste und die Herrin hergerichtet worden. Oben sollten die drei Damen schlafen, unten in der Stube nach dem Hofe hinaus der blonde Sekretär, während das Kontor und die Veranda als gemeinsames Speise- und Wohnzimmer bestimmt waren.

Die vier Bekannten hatten nach dem Abendbrot noch bis gegen elf Uhr in der Veranda gesessen und geplaudert. Irma war es, die wie von selbst auf das verschlossenen Zimmer zu sprechen kam. Sie hatte genau erzählt, wie sie es vorgefunden hatte, und dann an Fritz Melcher die Frage gerichtet, ob es nicht ratsam wäre, die Kiste zu öffnen.

Der Polizeisekretär war recht nachdenklich geworden, als sie den scharfen Chlorkalkgeruch erwähnt hatte, und einer bestimmten Antwort ausgewichen, indem er meinte, man solle die Sache doch lieber erst morgen in Ruhe erörtern. Ganz unwillkürlich war ihm hierbei die Äußerung entschlüpft, wie schade es wäre, daß man jetzt nicht Egon Larisch zu Rate ziehen konnte. Worauf Hedwig sofort erklärte, man brauche ja nur an ihn zu schreiben. Frau Pergament würde den Brief schon weiterbefördern.

Irma hatte es einen kleinen Stich gegeben, als sie hörte, Larisch wäre nicht mehr in Berlin. Dann war sie schnell auf ein anderes Thema übergegangen, nachdem sie geäußert hatte, man könne ja morgen die Angelegenheit besprechen.

Nun hatten die Damen sich soeben nach oben in ihre Zimmer zurückgezogen, und auch Fritz Melcher begann bereits, es sich in seiner Stube bequem zu machen. Gerade hatte er Rock und Weste abgelegt, als es an eines der beiden Fenster klopfte, – recht kräftig sogar. –

Kerlchen knurrte, und Melcher fuhr leicht zusammen. Sofort dachte er an den alten Parlitz. Wer sollte es auch sonst ein?!

Die Fenster hatten von innen feste Holzläden. Als er nun den Verschlußhebel beiseite schob, klopfte es abermals.

Fritz Melcher nahm die Petroleumlampe und leuchtete hinaus. – Ja – es war der Alte, der ihm dann durch den geöffneten Fensterflügel zuflüsterte, er solle sofort die Lampe auslöschen.

Parlitz hatte sich eine kurze Leiter gegen die Mauer gelehnt, da die Fenster des Erdgeschosses ziemlich hoch lagen, kletterte jetzt recht gewandt für sein Alter in das Zimmer hinein und schloß dann Fenster und Laden hinter sich.

Ein Streichholz kratzte auf der Reibefläche, flammte auf, und gleich darauf brannte auch die Lampe wieder.

Der blonde Sekretär war gespannt, was des Alten später Besuch zu bedeuten haben könne. Erst hatte er daran gedacht, daß Parlitz vielleicht wegen des verschlossenen Zimmers käme – aus Neugierde. Dann aber sagte er sich, daß die näheren Begleitumstände dieses Eindringens in seine Schlafstube doch wohl ernstere Ursachen haben müßten.

Und – Parlitz sah wahrhaftig ganz blaß aus, beinahe verstört.

„Was gibt’s denn?“ fragte Melcher jetzt etwas ungeduldig den Alten, der eben sein rotes Taschentuch um die Lampenglocke knotete und mit zitternden Fingern den Docht niedriger schraubte.

Parlitz setzte sich schwerfällig auf den nächsten Stuhl und kraute dem Wolfspitz den schöngezeichneten Kopf, da Kerlchen sich sofort schmeichelnd an den Beinen des alten Mannes gerieben hatte, mit dem auf Grund verschiedener ihm gespendeter noch Fleischbehafteter Knochen bereits eine dicke Freundschaft zustande gekommen war.

Er war ganz geistesabwesend, der arme Martin, und Melcher mußte seine Frage wiederholen, ehe er eine Antwort erhielt.

„Ich – ich habe ein Gespenst gesehen,“ sagte der Alte leise, indem er scheu nach dem Fenster blickte.

Melcher hätte am liebsten aufgelacht. Aber das Gesicht des wackeren Parlitz war so bleich, daß der Sekretär nur meinte:

„Na, na – ein Gespenst?! Sie sind doch ein alter Kavallerist, Parlitz, sogar Ulan, vor denen die Franzosen 70/71 so schön ausrissen …! Da glaubt man doch nicht an solchen Unsinn.“

Der Alte reckte sich höher.

„Mir ist der Schreck nur so in die Glieder gefahren. Ich bin noch ganz verdattert – wahrhaftig!“

Melcher hatte ein Reisefläschchen mit Kognak vorhin auf den Tisch gestellt. Und Parlitz warf jetzt einen so sehnsüchtigen Blick auf das Stärkungsmittel, daß der Sekretär sofort die Situation richtig auffaßte.

Nachdem der Alte ein halbes, allerdings kleines Wasserglas hinuntergekippt hatte, erzählte er nun folgendes.

Er war vor fünf Minuten im Pferdestall gewesen, um den Gäulen, die sich warm gelaufen hatten, die Decken abzunehmen. Wie er dann aus dem Stall auf den Hof hinaustrat, hatte er vor dem Turm eine lange, dunkle Gestalt bemerkt, die gerade im hellen Mondlicht stand. Auf seinen Anruf war das ‚Gespenst‘ lautlos im Schatten des Turmes ver–schwunden.

„Ich dachte sofort an dies Diebsgesindel, die Zigeuner, lief, die brennende Petroleumlaterne in der Linken, auf jene Stelle zu, sah aber nichts mehr, obwohl die Gestalt weder nach rechts noch links ausweichen konnte, da sie sonst wieder in das Mondlicht geraten wäre. –

Wie gesagt, Herr Sekretär, – die Sache schien mir nicht mit rechten Dingen zugegangen zu sein. Wo war der Mensch geblieben, – falls es eben ein Mensch gewesen ist, – wo?! Ich hätte den Kerl sehen müssen, finden müssen, ganz sicher! Aber – nichts – nichts … Und da wurde mir mit einem Male himmelangst. Ich bin kein Hasenfuß, nein, das müssen Sie nicht glauben, und doch …“ Er schwieg plötzlich und lauschte. Auch Fritz Melcher hörte jetzt die schmale Treppe knarren, die hier im neuen Flügel die oberen und unteren Räume verband.

„Es kommt jemand von den Damen,“ flüsterte der Alte. „Da – es klopft …“

Fritz Melcher zog schnell den Rock über, öffnete.

Es war Thilde mit einem brennenden Licht in der Hand, – Thilde, und auch ganz blaß …

„Fritz – um Gottes willen, komm’ nach oben. Irma ist ohnmächtig geworden. Sie hat irgend etwas im Flur gesehen, – eine lange, dunkle Gestalt. Sie wollte uns noch ein paar Äpfel aus einem der leeren Zimmer holen, und da … da hörten wir sie mit einem Mal leise aufschreien, und sie kam uns entgegengewankt, konnte nur noch stammeln ‚Ein Dieb – eine Gestalt – schwarz –‘ – … und fiel Hedwig in die Arme … Komm’ sofort – sofort …!“

Zu vieren hastete man die Treppe empor, denn auch Kerlchen schloß sich von selbst an.

Irma war schon wieder zu sich gekommen, lehnte in der Sofaecke, war aber noch ganz matt.

„Bleiben Sie bei den Damen, Parlitz,“ befahl Melcher, nahm die Lampe vom Tisch und ging auf den Flur hinaus. Eine große Pendeltür trennte den alten von dem neuen Flügel. Der Sekretär drückte sie auf. Da kam ihm Thilde noch nachgelaufen und reichte ihm einen langen eisernen Ofenhaken. Er nickte der Schwester zu, pfiff leise nach Kerlchen, der auch sofort an ihm vorüber in das Dunkel schlüpfte und ließ die Tür hinter sich zuschlagen. Mit hoch erhobener Lampe leuchtete er umher. Nichts – nichts – natürlich nichts! Wo würde auch ein Einbrecher warten, bis man ihn hier suchte! Und um einen Dieb handelte es sich ja sicherlich.

Dann fiel Melcher plötzlich das sonderbare Benehmen Kerlchens auf. Der Wolfspitz hatte Polizeihundedressur und war sehr scharf und außerordentlich klug. Daß hier etwas Besonderes vorgefallen war, hatte er fraglos gemerkt, ebenso, daß sein Herr ihn als Schutz mitgenommen hatte.

Und nun stellte Kerlchen sich vor Melcher hin, schaute ihn ganz vergnügt an, wedelte ebenso vergnügt mit der buschigen Rute und winselte in einer Weise, wie er es nur bei freudigen Anlässen zu tun pflegte.

Melcher begriff seinen vierbeinigen Freund nicht.

„Such’, Kerlchen, such’!“ feuerte er den Hund an, indem er in die Tiefe des dunklen Flurs hinausdeutete.

Aber der Wolfspitz schnupperte nur ein wenig am Boden, wedelte noch stärker und machte ein paarmal blaff, blaff – ganz leise. Und das hieß in seiner Sprache: ‚Willst du mich etwa zum Narren halten, Herrchen?‘ –

Nach zehn Minuten kehrte Melcher zu den verschüchterten Damen zurück.

„Ich habe alle Zimmer abgeleuchtet, aber nirgends etwas Verdächtiges bemerkt,“ berichtete er gelassen. „Es wird vielleicht ein Dieb gewesen sein, der jetzt natürlich längst das Weite gesucht hat. Kerlchen mag hier oben bleiben. Jedenfalls brauchen Sie sich nicht weiter zu ängstigen.“

Es bedurfte doch noch langen Zuredens, ehe die drei Freundinnen sich ganz beruhigt hatten. Irma, die das Zimmer nach dem Hofe zu für sich bestimmt hatte, zog noch schnell zu den Schwestern um, wo auf einem alten, breiten Ledersofa für sie eine Lagerstatt hergerichtet wurde.

Dann begaben Fritz Melcher und der alte Parlitz sich wieder nach unten. Dort veränderte sich des Berliner Gastes Benehmen jedoch ganz wesentlich. Die heitere Gelassenheit seines Gesichtes wurde durch einen Ausdruck starker Erregung verdrängt.

„Parlitz, ich habe die Damen belogen,“ sagte er leise. „Ich bin überzeugt, daß ich den Eindringling in dem letzten Zimmer des oberen Flures rechter Hand eingeschlossen habe. Der Wolfspitz, dem bis dahin nichts Besonderes anzumerken war und der eigentlich recht unbegründete Zeichen von Freude geäußert hatte, sträubte nämlich vor jener Tür mit einem Male so auffällig das Rückenhaar und knurrte so dumpf, daß ich sofort auf den Gedanken kam, den in dem Schloß steckenden Schlüssel umzudrehen.“

„Letztes Zimmer rechts, Herr?“ meinte der Alte eifrig. „Aber das ist ja gerade der bewußte Raum, in dem die Kiste steht!“

„Wirklich?! – Nun, desto mehr Grund für mich, sofort nachzusehen, ob meine Vermutung zutrifft. – Besitzen Sie einen Revolver oder dergleichen, Parlitz?“

„Nur eine doppelläufige Vorderladerpistole. Sie hängt geladen über meinem Bett.“

„Gut. Holen Sie sie. – Wo haben Sie die Laterne? – Draußen unter mein Fenster gestellt? – So, bringen Sie sie auch mit und wenn möglich noch eine zweite. Und sagen Sie Ihrer Frau Bescheid, verstanden?! – Ich soll gleich mitkommen? – Wie Sie wollen! – gehen wir durch die Veranda hinaus. Aber leise. Die Damen sollen uns nicht hören.“

Nachher suchte der Alte den Schlüssel zum Haupteingang hervor, bewaffnete sich noch mit einem schweren Kavalleriesäbel und zündete eine zweite, große Laterne an. Dann schritten die beiden Männer über den Hof, gingen um das Wohngebäude herum und gelangten über die Haupttreppe in den alten Flügel vor die Tür des verschlossenen Zimmers.

Hier lauschten sie zunächst eine Weile mit angespannten Sinnen. Drinnen regte sich nichts. Nun nahm Fritz Melcher seine Laterne in die Linke, schob die Pistole unter den Rockaufschlag und öffnete schnell die Tür, indem er sie ganz weit aufriß.

Der rötliche Lichtschein der Laterne glitt suchend über den einfenstrigen Raum hin.

Da – wahrhaftig – da saß ja auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch ein Mensch, – ein Mann in einem langen schwarzen Kaftan, mit einem schwarzen Käppchen auf dem Kopf. Und … dieser Mensch mit dem langen dunklen Bart rauchte in aller Seelenruhe eine Zigarre, sagte jetzt, indem er eine Rauchwolke von sich blies, mit einer Stimme, bei deren Klang Fritz Melcher hoch aufhorchte:

„Ich fürchtete schon, ich würde hier die ganze Nacht zubringen müssen. – Aber bitte doch näherzutreten. Ich beiße nicht.“

 

9. Kapitel.

Das Geheimnis des Tempels der Liebe.

Der blonde Sekretär raffte sich auf, schüttelte die Erstarrung von sich ab.

„Die Stimme, – wär’s möglich, – etwa du, Egon?“

Der alte Parlitz stand mit einem Gesicht dabei, das nicht gerade geistreich war.

Und nun erwiderte der Mann, der ganz wie ein polnischer Jude aussah: „Allerdings, ich, – aber nicht Egon, sondern zur Zeit Jakob Mandelblüt, Grundstücksspekulant, augenblicklich wohnhaft im Gasthause zum ‚König von Polen‘ im nahen Dorfe Worszewo.“

Melcher ging eilig auf den Freund zu und drückte ihm die Hand.

„Oh, wie freue ich mich, Egon! Nein, das nenn’ ich wirklich eine Überraschung! Aber – um alles in der Welt, – was treibst du denn hier?“

„Ich spüre den Geheimnis der ‚treuen Hand‘ nach. Das ist doch wohl nicht schwer zu erraten. – Aber Herr Parlitz, weshalb bleiben Sie denn draußen im Flur stehen? Kommen Sie doch bitte auch herein und schließen Sie die Tür. Wir haben hier einiges zu besprechen.“

„Wie, du kennst Parlitz schon?“ fragte der Sekretär fassungslos? Diese ganze Szene kam in wie ein toller Nachtspuk vor.

„Von Ansehen und vom Hörensagen – natürlich! Ich wohne doch schon drei Tage im ‚König von Polen‘.“

Parlitz hatte die Tür hinter sich zugezogen und stellte seine Laterne nun auf die Ecke eines Kleiderschrankes.

„Denken Sie, lieber Parlitz,“ erklärte Melcher eifrig, „der Herr hier ist mein Freund Egon Larisch aus Berlin, ein Schriftsteller, der sich nebenbei auch als Detektiv betätigt. – Wissen Sie, was eine Detektiv ist?“

„Aber gewiß! Wir sind doch in der Leihbibliothek in Sziemanowo abonniert. Kriminalromane lese ich am liebsten.“ Der Alte starrte Larisch wie ein Wundertier an.

„Mein Freund hat sich verkleidet, wie Sie sehen,“ fuhr Melcher ganz stolz fort. „Sieht er nicht wirklich ganz echt aus? Der richtige Kaftanjude …! Sogar langschäftige Stiefel …! Nur die Brille stört etwas.“

„Meine Augen verraten mich zu leicht,“ meinte Larisch. Dann gähnte er. „Dies ist nun die dritte Nacht, in der ich nicht recht zum Ausschlafen komme. Ich muß auch gleich aufbrechen. Sonst nehmen meine Wirtsleute in Worszewo an meinen nächtlichen Radtouren Anstoßes und schöpfen wohl gar Verdacht, daß Jakob Mandelblüt nicht lediglich wegen Ankäufen von ländlichen Besitzungen die Umgegend abradelt.“

Er rauchte ein paar Züge.

„Es riecht hier nicht gerade angenehm,“ sagte er ernst zu Fritz Melcher, der schon eine Weile immer wieder prüfend die Luft eingesogen hatte. „Aber – bitte Platz zu nehmen, meine Herren. Ihren Säbel legen Sie nur weg, Herr Parlitz. In dieser Nacht brauchen Sie ihn noch nicht.“

„Ich finde, es stinkt hier fürchterlich,“ meinte der Sekretär. „Chlorkalk, welke Blumen und … noch etwas … so süßlich, so …“

„…nach Leichen,“ vollendete Larisch.

„Wie – wie – Leichen …?!“ Melcher war zusammengezuckt, starrte jetzt auf die Kiste am Fenster.

Larisch folgte der Richtung seiner Blicke.

„Weißt du etwa schon Bescheid, Fritz?“ fragte er. „Ich spreche von Leichen, und du schaust sofort nach der Kiste hin. Da muß ich wohl annehmen, daß du bereits den Inhalt kennst.“

Melcher stotterte, ganz blaß geworden: „Wirklich – eine Leiche …? – Mir zuckte der Gedanke nur flüchtig durch den Kopf, als ich den Chlorkalk roch, an die Kiste gleichzeitig dachte und daran, daß Chlor bei Massengräbern viel verwendet wird. – Mein Gott – eine Leiche! Also deshalb sollte Irma die Kiste heimlich verschwinden lassen – deshalb! Welch’ fürchterliches Geheimnis …! Ich bin ganz wirr im Kopf.“

„Nun setzt euch aber endlich!“ meinte Larisch schon etwas ungeduldig. „Hier ist meine Zigarrentasche. Bitte sich zu bedienen – auch Sie, mein Alter. Der Gestank hier muß betäubt werden. – Ich möchte jetzt an Sie so einige Fragen richten, Herr Parlitz.“

Er wollte wissen, seit wann dieses Zimmer derart als Erinnerungsstätte für Günter Hölsch hergerichtet worden war, und was Parlitz über die Kiste mußte.

Der Alte beantwortet alle Fragen der Wahrheit gemäß, wie er dies auch schon Irma gegenüber getan hatte und versicherte wiederholt, er könnte über die Kiste gar nichts sagen – gar nichts!

Larisch rauchte sich nachdenklich und langsam eine neue Zigarre an.

„In der Kiste befindet sich die bereits stark verweste, gänzlich unbekleidete Leiche eines etwa vierzigjährigen Mannes,“ sagte er dann. „Der Verwesungsprozeß ist dadurch, daß der Tote dicht mit Chlorkalk bestreut ist, aufgehalten worden, und es läßt sich daher schwer bestimmen, wann dieser Mann gestorben ist. Die Stirn zeigt eine klaffende Wunde über dem linken Auge. Die Verletzung zieht sich bis in die Haare hinauf. Der Schädel ist zertrümmert, und die Wunde wahrscheinlich die Todesursache.“

„Etwa Mord?“ entfuhr es Melcher ganz entgeistert.

Auch Martin Parlitz seufzte jetzt schwer auf aus tiefbekümmertem Herzen.

„Die Frage ist vorläufig nicht zu entscheiden,“ erwiderte Larisch. „Sie ist ebenso dunkel wie diese ganze Sache – von den Briefen angefangen. – Übrigens, Fritz, – hat Fräulein Hölsch inzwischen wieder ein solches Schreiben erhalten?“

Melcher wurde verlegen. Und der Schriftsteller fügte schnell hinzu: „Du brauchst mich nicht so scheu anzusehen, Fritz. Du kannst doch nichts dafür, daß Irma Hölsch nicht gewünscht hat, ich solle etwas von dem vierten Briefe erfahren. Hierüber spreche ich noch mit dir allein gelegentlich. – Ist ein fünfter eingetroffen?“

„Nein – nichts mehr.“

Der alte Parlitz war auf seinem Stuhl immer unruhiger geworden, rutschte hin und her und fand doch nicht recht den Mut zu fragen, was dies alles eigentlich zu bedeuten habe, – die Briefe, der verkleidete Detektiv und dessen Anwesenheit in der Burg. Jetzt faßte er sich ein Herz. Er konnte nicht länger schweigen.

„Würden die Herren mir nicht wenigstens so etwas von diesen Dingen erklären?“ bat er bescheiden. „Ich sitze hier und begreife nichts – nichts! Rein gar nichts! Mir ist so konfus im Schädel, als wäre ich betrunken.“

„Der Wunsch ist berechtigt, mein Alter,“ sagte Larisch freundlich. Und kurz und übersichtlich erzählte er von den Briefen der ‚treuen Hand‘, aber auch nichts weiter. „Selbstverständlich dürfen Sie zu niemandem hierüber etwas laut werden lassen, lieber Herr Parlitz. Auch Ihre Frau darf nichts erfahren. Ebenso bleiben die Vorgänge dieser Nacht ganz unter uns. Das gilt auch für dich, Fritz. Mögen die Damen vorläufig glauben, du hättest einen Einbrecher verscheucht.“

Er gähnte abermals und erhob sich.

„Ich muß jetzt fort. Wir beide, Fritz, wollen uns morgen drüben in der Heide bei der einsame Kiefer treffen und zwar nachmittags um zwei Uhr. Die Kiefer ist leicht zu finden. Sie steht auf einem kleinen Hügel, und an ihrem Fuße wachsen wilde Himbeeren in Menge, auch ein Dornenbusch. Parlitz kann dir ja die Richtung zeigen. Es ist keine tausendfünfhundert Meter weit bis zu der Kiefer. – Also um zwei, Fritz.“

Der blonde Sekretär hatte inzwischen Zeit gefunden, sich in dem Zimmer genauer umzusehen.

„Ich werde pünktlich dort sein,“ meinte er. Dann deutete er auf das Bild des jungen Offiziers. „Nun ist wenigstens der Ausdruck ‚Tempel der Liebe‘ aufgeklärt. Die alte Frau Hölsch muß ein eigenartiger Charakter gewesen sein. Niemandem hat sie einen Blick in ihr Herz gegönnt. Wie muß sie ihren Einzigen geliebt und betrauert haben, um hier in der Verborgenheit dieses Zimmers all das zusammenzutragen, was sie von Erinnerungen an den Sohn besaß oder sich noch verschaffen konnte. Jede Kleinigkeit hier mahnt an den, der das Leben von sich warf, weil es ohne die heißgeliebte Gattin keinen Wert mehr für ihn hatte.“

Dann schaute er, wie magnetisch angezogen, wieder auf die Kiste. „Kann man von dieser Frau wirklich annehmen, daß sie … daß sie …“ Er brachte den Satz nicht zu Ende, hatte das Letzte mit ganz gedämpfter Stimme gesprochen.

„…daß sie einen Mord begangen und den Toten hier verborgen hat …,“ vollendete der Schriftsteller sehr ernst. „Ja – kann man es? – Du sagtest selbst, welch eigenartiger Charakter, und ich möchte ergänzen, ein eiserner Charakter! Wenn diese Frau einen Feind zum Beispiel gehabt hätte, der ihr gefährlich zu werden drohte, dann darf man es ihr wohl zutrauen, daß sie diesen Feind … verschwinden ließ.“ Und an den nun wieder völlig verstört dasitzenden Parlitz sich wendend fragte er lebhafter:

„Denken Sie einmal genau nach, mein Alter. – Gab es in Frau Elvira Hölschs Leben irgendwelche Vorgänge, die diese meine Vermutung bestätigen? Ist Ihnen mal irgend etwas aufgefallen, und sei es noch so unbedeutend, das mit diesem Leichnam hier in den Zusammenhang gebracht werden könnte? – Schütteln Sie nicht gleich den Kopf, lieber Parlitz. Überlegen Sie sich meine Frage ganz genau, suchen sie in Ihrem Gedächtnis nach, vergegenwärtigen Sie sich besonders die letzten Monate recht sorgfältig! Vergessen Sie nicht, daß es sich darum handelt, einen schweren Verdacht von einer Frau zu nehmen, die Ihnen doch nur Gutes erwiesen hat, denn es ist ja kaum zu bezweifeln, daß die Behörden, sobald wir sie von dem Inhalt dieser Kiste benachrichtigt haben, was ja notwendig demnächst geschehen muß, sofort dieselbe Theorie aufstellen werden wie ich: heimliche Beseitigung eines Feindes! – Also strengen Sie Ihren Kopf ordentlich an, mein Alter! –

So, und jetzt wollen wir den Tempel der Liebe, der zu einer Leichenkammer geworden ist, verlassen.“

Draußen vor der Zimmertür deutete Larisch auf die eiserne Krampe, an der noch das durchfeilte Schloß hing.

„Diese Arbeit hier hat mir gezeigt, daß Fräulein Hölsch sich den Tempel der Liebe angesehen hat. Und ein paar Zeichen an dem Kistendeckel verrieten mir wieder, daß sie noch nicht weiß, was der Kasten enthält. Und sie muß vorläufig auch nichts davon erfahren. Sollte sie morgen deinen Rat einholen, Fritz, ob sie die Kiste öffnen oder fortschaffen müßte, letzteres um dem Befehlen der ‚treuen Hand‘ nachzukommen, so schlage ihr vor, du würdest deswegen schriftlich bei mir anfragen.“

Der alte Parlitz trat jetzt plötzlich dicht an den Schriftsteller heran.

„Herr Larisch, soeben ist mir was eingefallen,“ flüsterte er geheimnisvoll. „Was recht Merkwürdiges. Als wir, daß Fräulein und ich, vergeblich nach dem Schlüssel zu dem Krampenschloß gesucht hatten und dann viele Schlüssel hier ausprobierten, da habe ich plötzlich gemerkt, daß das Krampenschloß nicht mehr dasselbe war wie früher. Und das weiß ich ganz genau, daß das erste Patentschloß zwar so ähnlich wie dieses hier aussah, aber eben nur ähnlich. Es ist nicht dasselbe. Frau Hölsch muß es erst ganz kurz vor ihrem Tode umgetauscht haben, denn ich besinne mich, daß ich noch so drei oder vier Tage vor ihrem Hinscheiden hier vor der Tür war und nachsah, ob das Schloß frische Kratzer von dem Schlüssel abbekommen hatte. Ich wollte eben feststellen, wie oft Frau Hölsch das Zimmer besuchte. Man ist doch neugierig. Und da war noch das alte Schloß vorgelegt. Es sah viel abgenutzter aus wie dieses hier.“

Larisch nahm eine der Laternen und beschaute sich nun das Patentschloß sehr eingehend.

„Gut, daß Ihnen diese Kleinigkeit eingefallen ist, lieber Parlitz,“ sagte er dann. „Das Schloß ist offenbar absichtlich um das Schlüsselloch herum zerkratzt worden, um es älter erscheinen zu lassen, – immerhin eine Tatsache, die man mit in Betracht ziehen muß.“

Melcher wartete schon darauf, an den Freund eine Frage richten zu können.

„Sag’ mal, Egon, wie bist denn du eigentlich in das Zimmer gelangt?“

Jetzt huschte heute das erste Lächeln über das Kaftanmannes Gesicht. Und sonst strahlte sein häßlicher Römerkopf so gern und so oft vor Frohsinn und Heiterkeit.

„Durch diese Tür, also auf dem normalen Wege.“

„Dann wohl gestern nacht zum erstenmal, als ich das Patentschloss schon aufgefeilt und den Schlüssel des eigentlichen Türschlosses stecken gelassen hatte,“ warf der Alte ein.

Wieder ein Lächeln und ein Kopfschütteln. „In der vergangenen Nacht besuchte ich den Tempel der Liebe, etwa um dieselbe Zeit wie jetzt, den Schlüssel zu dem Patentschloß hatte ich mir aus dem alten Sekretär geholt, der im Verandazimmer steht. Dort lag er als einziger Gegenstand in der kleinen Schublade oben rechter Hand. Ich habe ihn noch in der Tasche.“

„Wie – so sind Sie auch im Kontor gewesen, Herr Larisch?“ meinte der Alte, dem der Amateurdetektiv langsam unheimlich vorzukommen begann. „Und Sie sagen, in der kleinen Schublade oben rechts! Hören Sie, das muß ein Irrtum sein, wirklich, denn als Frau Hölsch gestorben war, da hat doch das Gericht, der Herr Amtsrichter aus Sziemanowo war’s, gleich am nächsten Vormittag, also am 4. April, in meiner Gegenwart den Sekretär nach Wertpapieren durchsucht, und dabei habe ich mit meinen eigenen Augen gesehen, daß nur eine Schublade ganz leer war, eben die rechte oben zwischen den Schnitzereien, – nein, nicht ganz leer, es lagen nämlich zwei gelbseidenen Zigarrenbänder drin, die noch vom alten Herrn Hölsch herrühren müssen. Der rauchte nämlich nur die Marke Espaniola, und der Name war auf den Zigarrenbändern aufgedruckt.“

Larisch schlug dem Alten leicht auf die Schulter.

„Bravo, Sie haben für Ihre Jahre ein vorzügliches Gedächtnis, wahrhaftig! Ein Zigarrenbändchen war noch in der Schublade, als ich mir den Schlüssel mühsam suchte, das zweite aber…“ – und er holte aus der Tasche einen Schlüssel hervor, an dem an gelbseidenem Bande ein unbeschriebenes Papptäfelchen baumelte – „sehen Sie hier!“

„Merkwürdig!“ Martin Parlitz schaute den Schriftsteller ganz verdutzt an. „Merkwürdig – damals war kein Schlüssel da, sondern nur die beiden losen Bändchen. Das wird auch der Herr Amtsrichter Weber noch wissen.“

„Was hältst du davon?“ fragte Fritz Melcher gespannt. „Diese Tatsachen erscheinen recht eigentümlich.“

Larisch hob die Schultern. „Leider! Die Dunkelheit wird nur noch größer! – Doch – jetzt wollen wir wirklich gehen. – Nein, bitte nicht über die Haupttreppe. Es gibt einen kürzeren Weg, um ins Freie zu gelangen.“

Er hatte die eine Laterne noch in der Hand, beleuchtete damit, sich nach links wendend, das geschnitzte Mittelfeld der Holzvertäfelung der ihr den Abschluß des Flurs bildenden Turmmauer, drückte auf eine der Knospen der Blumenranke und schob so eine niedrige, schmale Tür auf, die völlig unsichtbar in die Täfelung eingearbeitet war.

Dann durchschritt er diese Tür, ließ die beiden anderen Teilnehmer dieses Nachtspukes an sich vorüber und schloß die geheime Pforte wieder.

Melcher und der Alte hatten in der letzten Stunde gewiß schon genug seltsame Dinge erlebt. Aber diese neue Überraschung, diese Selbstverständlichkeiten, mit der der Schriftsteller hier Geheimnisse enthüllte, von denen nicht einmal Martin Parlitz eine Ahnung hatte, verschlug ihnen völlig die Rede.

Die drei standen jetzt in einem kleinen, alten Gelaß, aus dem eine Steintreppe in einem engen Schacht abwärts führte.

Larisch ging wieder wortlos voran. Unten gab es ein ähnliches, leeres Gelaß, und hier bemerkte Fritz Melcher nun selbst an der linken Mauer den eisernen Mechanismus einer zweiten Geheimtür, die der Schriftsteller nun öffnete. Auf diese Weise gelangten sie in das unterste Turmgemach, und von hier durch eine eiserne Pforte, die Larisch mit einem Nachschlüssel aufschloß, auf den Hof hinaus.

Jetzt endlich bekam der Alte ein Wort über die Lippen.

„Herr, Herr, – sie kennen sich hier ja besser aus als ich. Ich habe nichts von diesen Geheimtüren gewußt, und auch die Herrschaft hat nicht geahnt, daß es hier …“

„Ein Irrtum, lieber Parlitz!“ unterbrach Larisch ihn. „Frau Elvira Hölsch kannte diese geheime Verbindung zwischen Turm und dem alten Flügel. – Aber dies alles jetzt noch zu erörtern ist unmöglich. Jedenfalls wissen Sie ja nun, wie ich Ihnen vorhin entschlüpft bin, als Sie mich, aus dem Pferdestall kommend, überraschten, – eben durch die Pforte in den Turm!“

„Wahrhaftig – an die Pforte habe ich gar nicht gedacht,“ brummte der Alte.

Larisch reichte erst Fritz, dann auch Parlitz die Hand zum Abschied.

„Gute Nacht! Und – zu niemandem ein Wort! – Nur Kerlchen darfst du von mir Grüßen, Fritz. Ich hörte ihn an der Tür des verschlossenen Zimmers knurren. Er hat fraglos die Leiche gewittert. Wäre ich allein darin gewesen, hätte er nur freudig gewinselt. Wir sind ja so gute Freunde, der Hund und ich.“

Dann verschwand er schnellen Schrittes nach links in der Richtung auf die Edeltannenkulisse des Vorgartens. Dort hatte er sein Rad versteckt. Er zog den Kaftan aus, band ihn sich auf dem Rücken fest, und gleich darauf sauste ein einsamer Radler dem etwa drei Kilometer entfernten Dorfe Worszewo zu.

Melcher und der Alte blieben noch ein Weilchen auf dem Hofe in leisem Gespräch beieinander.

„Vor Ihrem Freunde könnte man sich fürchten,“ meinte Martin Parlitz mit gedämpfter Stimme.

„Ja, er ist ein merkwürdiger Mensch. Ihm machen derartige Dinge Vergnügen. Er spielt wirklich nur aus Liebhaberei den Detektiv.“

Parlitz blickte scheu zu dem Fenster des Tempels der Liebe empor.

„Mein Gott, ich werde diese Nacht kein Auge zutun. Der Leichnam da oben, und im Chlorkalk … Schauerlich! Ob den wirklich Frau Hölsch …“ Er beendete den Satz nicht.

„So traurig es ist, lieber Parlitz, wissen Sie eine bessere Erklärung für den grausigen Fund in der Kiste, als den, den Egon Larisch uns andeutete …?!“

Der Alte seufzte kläglich.

Dann sagten auch sie sich gute Nacht.

 

10. Kapitel.

Judas Ischariot.

„Welch’ wunderbarer Frühlingstag! Und warm ist’s wieder wie im Juli! Wie dankbar bin ich Ihnen für diese Einladung, Fräulein Irma!“

Fritz Melcher stand neben der neuen Besitzerin des Lammerthofes im Vorgarten und beobachtete einen Schwarm Tauben, der den alten Turm der Burg umkreiste.

Man hatte heute recht lange geschlafen nach der aufregenden Nacht. Es war bereits halb zehn vormittags, und eben erst war Mutter Parlitz mit dem Decken des Kaffeetisches in der Veranda fertig geworden. Thilde hatte ihr dabei geholfen und rief nun den beiden im Vorgarten zu, daß man endlich mit dem Frühstück beginnen könne.

Die drei Damen standen noch immer etwas unter dem Einfluß der nächtlichen Geschehnisse. Fritz Melcher tat sein Bestes, die Stimmung zu beleben, zog die Sache ins Scherzhafte und meinte, Parlitz würde wohl recht damit haben, daß der Einbrecher nur ein Zigeuner gewesen sein könnte, der mit Hilfe einer Leiter oben in den Turm eingedrungen sei.

Der Sonnenschein draußen, die wundervolle Butter, der saftige Landschinken und das Bewußtsein, für einige Tage hier frei von der Alltagsarbeit Gottes schöne Natur ganz nach Gefallen genießen zu dürfen, verscheuchten denn auch bald die letzten Schatten. Man war heiter und fröhlich, und selbst Hedwig, die in letzter Zeit stets eine wahre Leidensmiene zur Schau getragen hatte, taute mehr und mehr auf.

Freilich – des blonden Sekretärs Fröhlichkeit war nichts als Schauspielerei. Er zwang sich dazu, so sehr seiner geraden Natur auch alles Heucheln verhaßt war. Wie sollte die Heiterkeit wohl auch bei ihm aus dem Herzen kommen, wo er immer wieder an den seltsamen Tempel der Liebe und dessen stummem Bewohner denken mußte, – und noch an so viel anderes, was wie eine drohende Wolkenwand vor ihm stand, hinter der allerlei Rätsel sich verkrochen.

Erst als die Damen den seelischen Druck ganz abgeschüttelt zu haben schienen, kam er auf das verschlossene Zimmer zu sprechen und schlug Irma vor, die Kiste vorläufig unberührt zu lassen und erst schriftlich den Rat Egons einzuholen.

Sie war sofort einverstanden.

„Mir ist es ganz recht, daß ich ein paar Tage nicht an diese Dinge zu denken brauche,“ meinte sie. „Ich bin so froh, daß ich euch drei hier bei mir habe. Wir wollen diese Tage nach Kräften genießen. Die Sorgen kommen nachher schon wieder von selbst.“

Die Tür der Veranda nach dem Vorgarten hin stand weit offen. Man konnte daher auch ein Stück der nahen Chaussee übersehen, von der soeben ein schlanker Herr in den nach dem Lammerthof führenden Fahrweg einbog.

Melcher bemerkte den städtisch gekleideten Herrn, der einen kurzen, hellen Sportpaletot trug, zuerst.

„Da – der Lammerthof scheint Besuch zu bekommen,“ sagte er.

Irma erhob sich halb von ihrem Stuhl und blickte hinaus.

„Ich müßte mich doch sehr irren, wenn das nicht Herbert Morano, der Sohn der Mießtaler, ist,“ meinte sie erstaunt. „Was führt denn den hieher?!“

Kerlchen lief dem Ankömmling kläffend entgegen. Er fühlte sich hier schon ganz zu Hause. Morano scheuchte den Wolfspitz mit seinem Spazierstock beiseite und trat nun mit abgezogenem Hut auf Irma zu, die ihm bis auf den Vorplatz entgegen gegangen war.

„Gnädiges Fräulein gestatten, daß ich Ihnen als der neuen Eigentümerin dieses romantischen Besitzes meine Aufwartung machen. Ich überbringe Grüße von meiner Mutter, von der ich gestern einen Brief erhielt. Es ist lediglich ein glücklicher Zufall, der mich diese Gegend kennenlernen läßt, gnädiges Fräulein, und mir Gelegenheit gibt, Sie wiederzusehen. Ich bin jetzt Mitglied eines Wandertheaters, das am ersten Mai in Sziemanowo und der Nachbarstadt Kraszin die Spielzeit beginnt. Unser Direktor hat mich vorausgeschickt, um hier alle Vorbereitungen zu treffen. Seit gestern morgen bin ich in Sziemanowo, und so ist es zu erklären, daß ich Sie, gnädiges Fräulein, auf Ihrem eigenen Grund und Boden begrüßen darf.“

Irma konnte nicht unhöflich sein, bat den ihr recht wenig sympathischen Gast näherzutreten, machte ihn mit den Geschwistern bekannt und ließ für ihn noch ein Gedeck bringen.

Herbert Morano bemühte sich, recht bescheiden sich zu geben, und verstand es, auf die drei Melchers einen recht günstigen Eindruck zu machen, so daß Thilde nachher, als sie mit Irma den Tisch abräumte, ihr zuflüsterte, dieser hübsche junge Mensch sei doch eigentlich ein ganz netter Gesellschafter.

Morano bat dann, ob er sich nicht das Haus einmal ansehen dürfe. Er interessiere sich für alte Gebäude, die doch alle etwas Poetisches an sich hätten. – Diese Bitte konnte ihm nicht gut abgeschlagen werden. Und da auch die Geschwister noch nichts von den älteren Räumen der Burg zu Gesicht bekommen hatten, wurde Parlitz herbeigerufen, damit er die Herrschaften begleite.

So kam man auch in den oberen Flur des alten Flügels. Sicherlich wäre nun Fritz Melcher nichts an dem Benehmen des schönen Herbert aufgefallen, wenn er sich eben nicht seit der vergangenen Nacht in einem Zustand von allgemeiner Sinnesanspannung befunden hätte, indem er auf Kleinigkeiten acht gab, die von ihm sonst wohl kaum bemerkt worden wären. Zunächst stellte er fest, daß Morano, als man den Turm und die Erdgeschoßzimmer besuchte, mit sehr mäßigem Interesse auf des alten Parlitz Erklärungen acht gab, der sich bemühte, all das bei dieser Besichtigung zu erzählen, was er von dem polnischen Grafengeschlecht wußte, dem der Lammerthof einst gehört hatte. Erst oben im Flur wurde Morano lebhafter, sonderte sich dann von den anderen ab und schien die Schnitzereien zu betrachten, die die Holzverkleidung der Wand neben dem verschlossenen Zimmer zierte. Es entging dem scharf aufpassenden Polizeisekretär nicht, daß der Schauspieler sich offenbar alle Mühe gab, auch die übrigen dorthin zu ziehen, was er durch mehrfache Ausrufe wie ‚Nein – wirklich wunderhübsch! – ‚fraglos hoher Altertumswert!‘ zu erreichen suchte.

Inzwischen hatten Irma und die drei Melchers aber bereits heimlich verabredet, diesen Teil des Flurs zu meiden, und auch der alte Martin war von seiner Herrin hiervon verständigt worden. Doch Herbert Morano blieb hartnäckig vor der Holztäfelung der Turmmauer stehen und rief nun, als alles andere nichts verfing, Irma zu, ob sie denn schon diesen Schatz von altertümlichen Schnitzereien in Augenschein genommen hätte.

„Gewiß – gewiß,“ erwiderte sie ihm. „So kommen Sie doch, Herr Morano! Parlitz will uns im Keller noch ein paar uralte Weinfässer zeigen.“

Doch der Schauspieler tat jetzt so, als bemerkte er zufällig die herabhängende Krampe mit dem durchfeilten Schloß an der nahen Tür des verschlossenen Zimmers.

„Einen Augenblick, gnädiges Fräulein,“ rief er wieder. „Gestatten Sie, daß ich Sie darauf aufmerksam mache, daß dieser Türverschluß hier gewaltsam geöffnet zu sein scheint.“

Irma wurde ungeduldig. „Danke – ist mir bekannt. Der Schlüssel war verlegt, und ich habe selbst angeordnet, daß Parlitz den Schloßbügel durchfeilt.“

Morano kam jetzt auf die übrigen zu, die vor der Haupttreppe standen.

„Wohl ein Vorratsraum, jenes Zimmer da hinten?“ meinte er so nebenbei. Aber Fritz Melcher schien es so, als ob der Schauspieler bei dieser Frage Irmas scharf fixierte.

„Ganz recht – ein Vorratsraum,“ nickte sie, wurde aber doch leicht verlegen und fügte etwas zu hastig hinzu: „Zu sehen gibt’s dort nichts Besonderes. – Nun vorwärts, in den Keller.“

Eine halbe Stunde später wollte Morano sich verabschieden. Mittlerweile hatte Fritz Melcher Irma aber beiseite genommen und mit ihr schnell eine Verabredung getroffen, deren Grund einzig und allein in des Schauspielers merkwürdigem Verhalten lag.

Der Polizeisekretär erklärte jetzt, er würde Morano nach Sziemanowo begleiten. Er müsse sich dort Zigarren einkaufen. Ob Irma ihnen wohl den Wagen zur Verfügung stellen könnte. In einer Stunde würde er dann ja wieder zurück sein.

Das Anspannen ging schnell. Morano fragte noch, bevor die Pferde anzogen, ob er sich erlauben dürfe, gelegentlich wieder nach dem Lammerthof herauszukommen.

„Aber gewiß, – finden Sie sich nur recht oft ein,“ erklärte Irma, eingedenk der Verabredung mit Melcher, sehr liebenswürdig.

Während der Fahrt nach der Stadt kam der Schauspieler dann wie zufällig wieder auf die Krampe mit dem durchfeilten Schloß zu sprechen, wobei er so tat, als wäre es ihm aufgefallen, daß Irma Hölsch seiner Frage nach der Bestimmung jenes Raumes offenbar ausweichen wollte.

„Das wäre mir wahrscheinlich gar nicht zum Bewußtsein gekommen,“ meinte er vertraulich, „wenn ich nicht gestern Abend in einer Kneipe mit Damenbedienung dort im Städtchen die Bekanntschaft eines polnischen Juden gemacht hätte, so eines Grundstücksschlächters, der hier in der Gegend zur Zeit in Geschäften sich aufhält und so allerlei Klatsch über den Lammerthof auskramte, als ich im Laufe der Unterhaltung erwähnte, daß ich die neue Besitzerin von Berlin her kenne. Dieser Mandelblüt, nebenbei ein sehr ulkiger Bursche, hatte sich einen Schwips angetrunken und war sehr redselig, erzählte mir und einem Freunde unter dem Siegel tiefster Verschwiegenheit, er hätte von einem alten Bauern aus einem Nachbardorfe gehört, daß es in dem früheren Grafensitz ein Spukzimmer gebe, welches die Frau Hölsch stets verschlossen gehalten habe. –

Sehen Sie, Herr Melcher, nur deswegen ist vorhin der Gedanke in mir aufgestiegen, jene Stube mit dem durchfeilten Schloß an der Tür könnte vielleicht das Spukzimmer sein. Ich bin wie gesagt ein wenig romantisch veranlagt, und derartige Geschichten interessieren mich sehr. – Waren sie vielleicht schon in jenem Zimmer, Herr Melcher?“

„Nein. Meine Schwestern und ich sind ja erst gestern abend hier eingetroffen, wie Sie wissen.“

„Ganz richtig. Nur gut, daß Fräulein Hölsch die Erkältung so schnell wieder losgeworden ist. Sonst wäre doch Ihr Besuch in Frage gestellt gewesen. Sie sah noch etwas angegriffen aus, fand ich. Auf meine teilnehmende Frage erzählte sie mir dann, daß sie die ersten Tage fest zu Bett gelegen hätte.“

Fritz Melcher gewann immer stärker den Eindruck, daß der Schauspieler als Spion, also im Auftrag anderer, den Lammerthof besucht hätte. Er war daher zunächst auch sehr zufrieden mit sich gewesen, weil er, einer augenblicklichen Eingebung folgend, Morano begleitet hatte, um in Sziemanowo auszukundschaften, ob des Schauspielers Angaben über den Grund seiner Anwesenheit in dem Städtchen wirklich stimmten. Freilich hätte Morano ihm schon auf dem Lammerthof erzählt, daß Mandelblüt bereits sich an den jungen Komödianten angepirscht hatte, dann wäre er ruhig draußen bei den Damen geblieben, denn Egon Larisch wußte ja sicherlich schon alles über den Schauspieler, was er nur wissen wollte.

Melcher gab sich daher auch in Sziemanowo keine besondere Mühe, irgend etwas zu ermitteln, kaufte eine Kiste Zigarren, trank noch mit Morano in dessen Hotel im Gastzimmer eine halbe Flasche Rotwein und fuhr wieder zurück. Um halb eins war er wieder auf dem Lammerthof. –

Irma hatte indessen Thilde und Hedwig schon davon unterrichtet, daß Fritz gegen Morano Verdacht geschöpft hätte. Die vier standen jetzt im Vorgarten. Der alte Martin war eben mit dem Wagen auf dem Hofe verschwunden.

Fritz Melcher erstattete kurz Bericht über den Abstecher nach dem Städtchen, erwähnte, daß der Schauspieler auffallenderweise nochmals auf das verschlossene Zimmer zu sprechen gekommen sei, verschwieg aber natürlich, daß es ein polnischer Jude gewesen wäre, der Morano von dem Spukzimmer erzählt hatte, und sagte nur, ein Händler hätte diesen Klatsch weitergetragen. Zum Schluß fügte er dann die Bemerkung hinzu, daß es jetzt wohl außer Frage stehe, daß der Schauspieler in bestimmter Absicht hier sich eingefunden habe.

Irma machte ein ganz trauriges Gesicht.

„Mit einem Wort, diese gräßlichen Geheimnisse sind wieder nur allzu lebendig geworden!“ meinte sie ehrlich bekümmert. „Nun ist es mit meiner Seelenruhe wieder vorbei! Man wird hier seines Lebens wirklich nicht froh! Ich wünschte weiß Gott, ich hätte diese Besitzungen nie geerbt. Dann wären mir all dies erspart geblieben!“

Und nachdenklich fuhr sie nach kurzer Pause fort: „Vielleicht hätte ich Larisch doch nicht so voreilig den Laufpaß geben sollen.“ Sie sah dabei Hedwig fragend an, als erwarte sie von ihr irgend eine Gegenäußerung.

Die jüngste Melcher zerpflückte ein Schneeglöckchen zwischen den Fingern, das sie vorhin zwischen den Tannen gefunden hatte. Das Blut war ihr in heißer Welle ins Gesicht geschossen. Wieder regte sich das Gewissen in ihr. Sie allein war’s ja gewesen, die dafür gesorgt hatte, daß Larisch die Untersuchung dieser dunklen Angelegenheit aufgeben mußte. Fritz und Thilde gegenüber hatte sie damals alles zwar so hingestellt, als hättet Irma aus freier Entschließung heraus gehandelt. Doch sie hatte auch sehr wohl gemerkt, wie die Geschwister von Zweifeln über ihre Uneigennützigkeit in dieser Angelegenheit befangen waren.

Jetzt fühlte sie nur nicht allein Irmas, sondern auch des Bruders und Thildes Blicke auf sich gerichtet. Es kam ihr vor, als lege in diesen drei Augenpaaren ein stiller Vorwurf. Sie fühlte sich unsicher und innerlich noch mehr zerfallen mit sich denn je. Ihr damaliges Verhalten erschien ihr heute als schmachvolle Heimtücke, als ein ganz zweckloses Intrigenspiel. Jeden Tag hatte sie gehofft, daß Egon Larisch an sie aus Dresden schreiben, ihr wenigstens einen kurzen Gruß senden würde. Nichts war eingetroffen, nichts. Tag für Tag verging. Und da hatte es denn Stunden gegeben, wo sie in seltener Ehrlichkeit gegen sich selbst Egons Benehmen ihr gegenüber genau kritisch geprüft, jede Kleinigkeit nach der Seite hin erwogen hatte, ob sie daraus den Schluß ziehen dürfe, daß er ihr ein wärmeres Gefühl entgegenbringe. Das Resultat war trostlos gewesen. Jetzt, da seine Gegenwart ihre Sehnsucht nach ihm nicht stets von neuem aufstachelte, war endlich in heiß durchweinten nächtlichen Stunden der Abrechnung mit sich selbst dieses Trugbild einer auf Gegenseitigkeit beruhende Neigung in nichts zerflattert, jetzt hatte sie erkannt, daß es ihr nie gelingen würde, diesen Mann für sich zu erringen. Viel hatte hierzu auch Irmas warme Herzlichkeit beigetragen, diese aufrichtige Freundschaft für die Geschwister, die immer wieder sich in zarten Aufmerksamkeiten zu bestätigen suchte. Und gerade in der verflossenen Nacht hatte sie sich dann zu dem Entschluß durchgerungen, durch eine offene Beichte ihr Gewissen zu entlasten, sobald irgendwelche Anzeichen dafür sprachen, daß Irma noch weiter unter diesen seltsamen Rätseln leiden mußte, die mit den anonymen Briefen begonnen hatten. Jetzt waren diese Geheimnisse tatsächlich wieder aufgetaucht wie alle Lebensfreude bedrohende Gespenster, jetzt hatte der Bruder soeben erklärt, daß er Morano nicht für harmlos halte, und Irma hatte voller Bedauern geäußert, daß hier nur Egon Larisch hätte helfen können, – denn das war schließlich doch der Sinn ihrer Worte gewesen.

Hedwigs Gewissen mahnte und mahnte: ‚Sei ehrlich, mache wieder gut, was du gefehlt hast!‘. Und die drei Augenpaare forschten und fragten immer noch während das arme Schneeglöckchen zerpflückt zu Boden fiel.

Zwei Tränen stahlen sich zwischen Hedwigs Wimpern hervor, drangen langsam über die heißen Wangen.

Da war der letzte Rest von Feigheit überwunden. Und ganz plötzlich sagte sie nun mit erstickter Stimme:

„Verachtet mich nicht … Ich habe bodenlos schlecht gehandelt an Irma … Ich habe an jenen Gustav Heberlein einen anonymen Brief geschrieben und ihm mitgeteilt, daß Egon Larisch damals abends in der Verkleidung als Roderich Schinkel bei der Mießtaler gewesen, und nachher beim Fortgehen auf Heberlein aufmerksam geworden ist, habe ihm auch all das über Egons Liebesgeschichten verraten was nachher in den vierten Briefe der ‚treuen Hand‘ gestanden hat. Ich durfte dies nicht länger verschweigen, denn es ist ja sonnenklar, daß dieser Heberlein bei all den Geheimnissen mit beteiligt ist, da auf meinen Brief hin Irma dann gleich jenes vierte Schreiben erhielt, in dem sie vor Larisch gewarnt wurde.“

Reichlich rannen die Tränen, und aufschluchzend lief Hedwig nun ins Haus, hinauf in ihr Zimmer, warf sich hier auf das Bett und weinte – weinte.

Die drei Zurückbleibenden schwiegen eine Weile, mußten sich erst darüber klar werden, was dieses Geständnis bedeutete. Dann sagte Irma weich:

„Arme Hedwig! – Ich verstehe jetzt alles. Sie liebt Larisch …“

Und Thilde meinte leise: „Wir, Fritz und ich, haben umsonst versucht, ihr diese Torheit auszureden. In ihrer Eifersucht hat sie Larisch von dir fernhalten wollen, Irma.“

Fritz Melcher aber erklärte:

„Ich muß mit Hedwig sprechen. Sie muß mir genauer erzählen, was sie an Heberlein geschrieben hat, denn ich will Larisch diese Verfehlung meiner Schwester nicht vorenthalten, ich darf es nicht, – es ist zu wichtig! Ich habe mich ja schon für zwei Uhr mit ihm verabredet.“

„Verabredet?!“ Wie aus einem Munde riefen’s Irma und Thilde.

„Ja, jetzt kann ich wohl die Wahrheit sagen, wo die Dinge mir einer Lösung entgegenzutreiben scheinen. Larisch war der Dieb von gestern nacht. Er ist schon seit drei Tagen hier in der Nähe …“

 

11. Kapitel.

Il akla gerlam.

Jakob Mandelblüt lag hinter den Brombeersträuchern lang auf dem Bauch und rauchte gemütlich seine Zigarre.

„Tag, Fritz, du bist pünktlich,“ meinte er und reichte dem Freunde die Hand. „Bitte, streck’ dich gleichfalls auf dies Naturkanapee hin. Es ist hier wunderschön. Sieh nur diesen bläulichen, zarten Duft, der über der Heide schwebt. – Wie schmecken übrigens die Zigarren, die du heute in Sziemanowo gekauft hast? Und – war Fräulein Irma sehr überrascht über den Besuch des schönen Morano alias Mießtaler …? – Hm – Mieß – taler – mießes, schlechtes Dreimarkstück! Viel ist an dem Burschen auch wirklich nicht dran.“

Melcher hatte sich neben dem Freund ins Heidekraut geworfen.

„Du weißt, daß ich nach der Stadt gefahren war, Egon?“ meinte er erstaunt.

„Natürlich. Ein Detektiv muß alles wissen. – Doch erst wollen wir mehr System in unsere Unterhaltung bringen. Ich habe dir eine ganze Menge zu erzählen.“

„Ich auch,“ sagte der Sekretär mit Betonung.

„So?“

„Allerdings. Und zwar Dinge, die für mich als Hedwigs Bruder wenig angenehm sind. Hedwig hat nämlich heute mittag uns eingestanden, daß …“

„Daß sie es gewesen ist, die Irma Hölsch mit dazu veranlaßte, einen gewissen Schriftsteller ihr Vertrauen schleunigst wieder zu entziehen,“ vollendete Larisch selbst den Satz.

Fritz Melcher schaute den Freund ganz verwirrt an.

„Woher kennst du diese – diese …“

„Suche nicht nach einem passenden Ausdruck für diese merkwürdige Handlungsweise Hedwigs. Deine Schwester hat sich unter dem Zwange eines Gefühls zu dieser Beeinflussung Irmas hinreißen lassen, das leider im menschlichen Leben schon unendliches Unheil angerichtet hat. Frau Mießtaler hat damals das Gespräch zwischen Hedwig und Irma zum Teil belauscht. Von dieser spindeldürren, verkörperten Neugier erfuhr ich, daß Fräulein Hölsch einen vierten Brief erhalten hatte und daß bei jenem Gespräch mein Name und der Luzies von Szestöni genannt worden war. Vorher hatte ich Irmas Absageschreiben schon gelesen, – na, und da war’s nicht schwer, mir zusammenzureimen, wie die Dinge lagen. Deshalb eben entschloß ich mich auch, auf eigene Faust weiter für Fräulein Hölsch zu wirken und fuhr angeblich nach Dresden, um ganz freie Hand zu haben.“

„Und doch weißt du nicht alles,“ meinte Melcher ernst. „Hedwig hatte Irma nicht nur gegen dich eingenommen.“ Und nun hörte Larisch alles, was heute mittag sich auf dem Lammerthof abgespielt hatte.

Als Fritz Melcher zum Schluß noch erklärte, daß Hedwig ihren Brief an jenen Gustav Heberlein mit ‚eine, die auf Ihrer Seite steht‘ unterzeichnet hätte, lächelte Larisch ganz vergnügt, sehr zu des Sekretärs Erstaunen, und sagte dann:

„Deine Schwester hat uns mit jenem Briefe sehr viel genützt, sehr viel! Irma kann ihr eigentlich dankbar dafür sein, denn, wie du schon ausführtest, lieber Fritz, der Brief hat uns den Beweis erbracht, daß Heberlein mit zu der ‚treuen Hand‘ gehört! –

Bei Licht besehen ist diese ‚treue Hand‘ damals doch recht unvorsichtig gewesen und hat ihre Karten ein wenig aufgedeckt, da ja der vierte anonyme Brief in seinem Inhalt lediglich das wiedergab, was Hedwig an Herrn Gustav Heberlein ausgeplaudert hat, – eine kolossale Dummheit von den Leuten! Na – jedenfalls sehe ich jetzt schon ein gut Teil klarer.“

„Das klingt ja so, als ob du die inneren Zusammenhänge dieser teils außergewöhnlichen, teils unheimlichen Tatsachen, aus denen sich der Fall der ‚treuen Hand‘ zusammensetzt, bereits einigermaßen überschaust.“

„Da hast du mich falsch verstanden. Soweit bin ich leider noch lange nicht. Ich gestehe sogar ehrlich ein, ich tappe noch völlig im Dunkeln. Damit du dir nun selbst ein Bild von dem machen kannst, was ich bisher ermittelt habe und was man daraus vielleicht schließen kann – es ist ja möglich, daß dir in dieser Beziehung ein guter Gedanke zufliegt –, will ich der Reihe nach alle hier in Betracht kommenden Ereignisse nochmals vor dir aufrollen. Manches davon wird dir neu sein. –

Stecken wir uns zunächst aber mal eine frische Friedenspfeife an. –

Hm – ich soll eine der Sziemanowoer Zigarren probieren? Nun gut – ich bin in opferwilliger Stimmung. – Na – der erste Zug dieses Krautes ist gar nicht so übel. An den Grabenrändern hier scheint es doch nicht gewachsen zu sein. – So, dann kann ich wohl beginnen.

Das Präludium der großen hochdramatischen Oper brauche ich ja nur kurz zu streifen. Irma Hölsch erhält im Laufe von acht Tagen drei merkwürdige Briefe, durch die sie stark beunruhigt wird. An demselben Tage, an dem der dritte morgens in ihrem Briefkasten liegt, erreicht sie am Nachmittag die amtliche Mitteilung vom Tode ihrer Großmutter und von der hierdurch an sie gefallenen Erbschaft. Irma wird dann durch dich, lieber Fritz, auf mich als den Spezialarzt für derartige Fälle aufmerksam gemacht. Als sie von dem Besuche bei euch heimkehrt, sind ihr aus der Kassette vierzig Mark durch einen angeblichen Monteur gestohlen worden. Ich treffe abends zufällig mit ihr im ‚Nordwest-Hotel‘ zusammen und untersuche dann den Diebstahl an Ort und Stelle als Detektiv Schinkel. –

Hier muß ich nun Station machen. –

Du könntest mit Recht fragen, weshalb mir dieser Diebstahl so wichtig erschien, daß ich mich sofort zu der dürren Frau Mießtaler begab. Nun, du weißt, welcher Schwindel insofern mit den Briefen der ‚treuen Hand‘ versucht worden war, als der Absender entwertete Marken auf die Umschläge geklebt hatte. Die Briefe waren eben nicht durch die Post befördert, sondern von irgend jemandem in den Briefkasten Irmas geworfen worden. Von dieser hatte ich durch Fragen nach den anderen Mietern der Kanzleirätin erfahren, daß dort Tür an Tür mit ihr seit etwa vier Wochen ein Versicherungsbeamter Gustav Heberlein wohnte, der oft mehrere Tage hintereinander nicht nach Hause kam und offenbar vermied, sich vor Irma sehen zu lassen. Dies fiel mir auf. Aus den Briefen ging ja weiter auch sonnenklar hervor, daß die ‚treue Hand‘ für Fräulein Hölsch ein sehr großes Interesse hatte. Mithin lag der Gedanke an eine ständige unauffällige Überwachung Irmas durch die Leute, die hinter dieser Sache steckten – vielleicht handelt es sich auch nur um eine einzelne Person! – ziemlich nahe, und der Verdacht, Heberlein könnte dieser heimliche Beobachter sein, tauchte denn auch sofort in mir auf. Außerdem erschien mir der Diebstahl insofern etwas merkwürdig, als der Spitzbube die goldene Kette ruhig in der Kassette hatte liegen lassen. Und das hätte kein echter Dieb getan. Eine goldene Kette ist immer gefahrlos zu veräußern, wenn es sich nicht gerade um ein Kunstwerk der Goldschmiedekunst handelt. Und das war hier nicht der Fall. Mein Argwohn, es könnte nur ein scheinbarer Diebstahl vorgetäuscht worden, in Wahrheit aber damit etwas anderes bezweckt gewesen sein, hatte also eine gewisse feste Grundlage. Hinzu kam noch, daß Irma mir erzählt hatte, sie bewahrte auch das amtliche Schreiben in der Kassette auf, und daß ich hieran folgenden Gedankengang geknüpft hatte: die ‚treue Hand‘, die mit den Briefen fraglos bestimmte Absichten im Auge hat, muß von den Vorgängen auf dem Lammerthof sehr gut unterrichtet gewesen sein, kennt vielleicht aber nicht genau den Inhalt des Testaments der Frau Elvira Hölsch und sucht sich deshalb über dieses Testament dadurch zu informieren, daß ein Einbruch vorgetäuscht wird. –

Aus all diesen Gründen, also lediglich bewogen durch eine Reihe völlig in der Luft hängender Vermutungen, begab ich mich damals abends in die Wohnung der Mießtaler, begegnete im Flur dem schönen Herbert, machte so dessen Bekanntschaft, stellte fest, daß sich auf dem amtlichen Schreiben ein blutiger Fingerabdruck befand und daß dieser von der Mießtaler herrührte und hatte so einen Beweis für die unglaubliche Neugierde dieser Dame erhalten. Daß sie nicht selbst die Person gewesen, die das Schränkchen und die Kassette aufgebrochen hatte, sagte mir meine Menschenkenntnis. Das Weib ist zu feige für ein Verbrechen, ist ein schwacher, aber kein verderbter Charakter. Auf diese Einzelheiten will ich nicht näher eingehen. –

Als ich dann das Haus verlassen wollte, folgte mir jemand sehr eilig, wie ich euch, Irma und dir, schon damals im ‚Nordwest-Hotel‘ erzählt habe. Dieser Jemand schaute sich auf der Straße suchend um – natürlich nach mir. Ich schlich ihm nach, bis er die ergebnislose Jagd sehr bald einstellte und wieder zurück nach Hause schritt. Vor der Haustür stand der Portier, mit dem der Jemand sich ein Weilchen unterhielt. Als mein Verfolger, oder auch der, den ich verfolgte, ganz wie wir uns ausdrücken wollen, im Hause verschwunden war, trat ich an den Portier heran, fragte, ob hier im Hause wohl möblierte Zimmer zu haben wären, und kam ganz auf Umwegen auf den Herrn zu sprechen, der eben heimgekehrt war. So verschaffte ich mir Aufschluß über Namen und Stand des Herrn Jemand und war natürlich sehr befriedigt, als ich erfuhr, daß es also Heberlein war, der mich, den eben erst bei der Mießtaler tätig gewesenen Detektiv Roderich Schinkel, mit seinem regen Interesse beglückt hatte. – –

So, lieber Fritz, die erste Station wäre passiert. Also weiter. –

Du hast dann an jenem Abend nach der Rückkehr aus dem ‚Nordwest-Hotel‘ deinen Schwestern das wenige anvertraut, das ich Irma und dir mitzuteilen für nötig befunden hatte. Die Folge war, daß Hedwig an Irmas Zimmernachbarn jenen Brief schrieb, auf den hin die ‚treue Hand‘ ihr viertes Schriftstück entwarf und dann in den Briefkasten beförderte. Und dieser vierte Brief wieder gab die Veranlassung, daß ich meines Amtes als Detektiv enthoben wurde. Irma schickte mir einen Rohrpostbrief, und ich verstand den deutlichen Wink auch, dachte aber gar nicht daran, diesen prächtigen Fall nun wirklich ad acta zu legen, suchte vielmehr die Mießtaler auf und wurde von ihr – ein Glückszufall! – in Heberleins Zimmer geführt, der – sehr wichtig! – plötzlich ausgezogen war. Ich zwang die Kanzleirätin dann zu einem Geständnis, daß sie an der zerbrochenen Kassette sich zu schaffen gemacht und daß sie auch Irma und Hedwig belauscht hatte. Dies habe ich ja bereits erwähnt. –

Und nun kommt eine neue Station unserer Reise durch die Vergangenheit, – denn in der Stube Heberleins habe ich mir damals etwas angeeignet, das mir nachher viel Kopfzerbrechens bereiten sollte und – noch immer bereitet. Neben dem in Eiche gerahmten Bilde eines Rennpferdes hing ein großer Abreißkalender. Die bereits abgelaufenen Tageszettel waren jedoch nicht entfernt, sondern durch einen Einschnitt in der Pappe nach hinten geschoben. Sichtbar war das Blatt mit dem Datum des 14. Aprils. Und auf dieses Blatt waren mit Bleistift ein paar Worte geschrieben, dahinter eine Vier. Die Worte schienen mir türkisch, persisch, vielleicht auch indisch zu sein. Ein Bekannter hat mir später nach Prüfung jener Aufschrift jedoch erklärt, die Worte gehörten überhaupt keiner lebenden Sprache an.“

Er holte jetzt aus der Innentasche seines Rockes eine Brieftasche hervor, entnahm ihr ein Päckchen Blätter eines Abreißkalenders und reichte Fritz Melcher das oberste.

„Da – sieh dir die Aufschrift selbst an!

Il akla gerlam 4!

Was sagst du zu diesen Rätselworten?! Klingen Sie denn nicht wirklich orientalisch?! – Ich habe dieses ‚Il akla gerlam‘ geprüft, zerlegt, zerfasert, von allen Seiten betrachtet, – doch ich bin daraus nicht klug geworden! – Und nun gib acht, lieber Fritz! Hier habe ich noch drei weitere Blätter des Kalenders. Nummer eins zum 2. April. Ja, schau nur hin, – da hast du wieder das ‚Il akla gerlam‘, nur eine 1 steht dahinter, keine 4. Und hier bitte Nummer zwei vom 5. April mit einer 2 dahinter und hier Nummer drei vom 9. April mit einer 3 dahinter! – Geht dir schon ein Licht auf, alter Junge?“

„Freilich – freilich, – das sind die Tage, die den Daten auf den Briefmarkenstempeln der anonymen Schreiben entsprechen,“ rief der Sekretär erregt.

„Sehr gut – sehr gut! Wir halten hier also in diesen Kalenderzetteln den Beweis in Händen, daß Herr Gustav Heberlein Ursache gehabt hat, sich die Tage zu notieren, an denen die ‚treue Hand‘ scheinbar die Schreiben an Irma zur Post geben hat. Heberlein ist also entweder selbst diese ‚treue Hand‘ oder doch mindestens einer ihrer Finger. –

Nun nochmals zurück zu meinem Besuche bei der Mießtaler. Auch das Sportbild interessierte mich. Es stand nämlich in der rechten Ecke des Kartons eine mit Tinte geschriebene Widmung ‚G.H. z.frd.G. L.v.Sz. Mai 19…‘, was wohl heißen sollte: ‚Gustav Heberlein zum freundlichen Gedenken‘. Und L.v.Sz. ist natürlich der Name der Spenderin. Ich sage Spenderin – denn ich erkannte die Handschrift sofort als die der Baronin Luzie von Szestöni.“

„Unglaublich!“ entfuhr es Fritz Melcher. „Welch’ seltsamer Zufall! Gerade die Szestöni …!“

„Ja, und unter dem Rennpferde stand gedruckt: ‚Koloman Petra’s‘, und das war der berühmte Hengst aus dem Gestüt des Barons Szestöni. Außerdem schaute ich mir auch die Rückseite des Bildes an, das übrigens ein ziemlich wertloser Kupferdruck war. Auf der Rückseite war das Reklameschildchen des Geschäfts aufgeklebt, dem das Bild zum Einrahmen übergeben worden war. – –

So, das über meine Visite bei der Kanzleirätin. Ich habe sie dann am nächsten Tage nochmals aufgesucht und ihr befohlen, den Abreißkalender zu verbrennen, was sie auch in meiner Gegenwart tat. Heberlein sollte ihn eben, wenn er sich seiner erinnerte, nicht mehr vorfinden. Auf das Schweigen der Mießtaler konnte ich mich verlassen. Dem Heberlein sollte sie sagen, sie wüßte nicht, wo der Kalender geblieben wäre. Er hätte ihn doch wahrscheinlich mitgenommen.

Inzwischen war ich angeblich nach Dresden gereist. An meiner Stelle hatte ein Verwandter meiner braven Frau Pergament, Jakob Mandelblüt, mein Zimmer bezogen. Und Mandelblüt hat dann ein paar Tage ganz umsonst geopfert, um Herrn Heberlein in Berlin wieder aufzustöbern. Was ich als Mandelblüt, manchmal auch in anderer Verkleidung, alles versucht habe, Heberlein zu finden oder doch über seine Person näheren Aufschluß zu erlangen, ist ein kleiner Roman für sich. Wie er bei der Mießtaler ausgesehen hatte, wußte ich ja von dieser, merkte aber, daß er fraglos auch mit falschen Bärten, Schminken und so weiter umzugehen verstand. Die Rätin erklärte mir nämlich, er hätte eine fuchsige Perücke getragen und einen Vollbart, der ihr nicht ganz echt erschienen wäre. Und Schminke und Bärte hätte sie einmal ‚zufällig‘ in seinem Koffer gesehen. Na, dieses ‚zufällig‘ kennt man ja bei der neugierigen Person. Im übrigen beschrieb sie ihn als mittelgroß, sehr schlank und seine Hände als recht schmal, aber mit dick hervortretenden Adern. Ich hatte ihn ja auch selbst flüchtig damals abends gesehen. –

Nur eins brachte ich bei dieser Jagd nach Heberlein doch heraus, daß Gustav Heberlein auch ein falscher Name gewesen sein mußte! –

Ich habe keine Mühe gescheut, ihn zu fassen, weiß Gott nicht! Selbst die jetzige Kommerzienrätin Luzie Miegler zapfte ich an. Sie war ja die, die diesen Mann mit den Buchstaben ‚G.H.‘ kennen mußte. Jakob Mandelblüt bot ihr … russische Seifen an. Aber er war genötigt, sehr vorsichtig bei seinen Erkundigungen zu sein, sehr …! Und deshalb war auch Luzie Miegler eine Niete. Selbst eine Beobachtung der Leute, mit denen sie verkehrte, hatte keinen Erfolg.“

„Und sie hat dich nicht erkannt, als du bei ihr warst?“ meinte Melcher zweifelnd.

„Ganz bestimmt nicht. Sie ist recht gealtert. Sie hat auch ihrem zweiten Mann Unglück gebracht. Miegler soll vor dem Bankrott stehen. Es war jedenfalls ein seltsames Wiedersehen, Fritz. Du weißt, in welch’ freventlicher Weise die Frau mit meinem Herzen gespielt hat. Ich war ihr gut genug dazu, ihr die Zeit vertreiben zu helfen. Dann warf sie mich des reichen Mieglers wegen wie ein abgenutztes Spielzeug beiseite. Nun – ich habe das ja längst überwunden, zumal es ja stets bei der platonischen Verehrung geblieben war. Sie war zu raffiniert dazu, sich einem Mann ganz hinzugeben, der zu arm war, um ihn als Heiratskandidaten betrachten zu können. –

Doch – lassen wir diese Erinnerungen. Ich war damals noch ein blinder Tor. Heute würde ich mich nicht mehr derart am Narrenseil herumführen lassen. – –

Da in Berlin also mein Weizen nicht blühte, fuhr ich nach Sziemanowo. Ich will mich kürzer fassen als bisher. Mit Nachschlüsseln bin ich in das Wohnhaus des Lammerthofes eingedrungen. In dem alten Sekretär fand ich außer dem Schlüssel noch eine Art Tagebuch der verstorbenen Frau Elvira Hölsch, dessen erste Eintragungen zwanzig Jahre zurückliegen. Sie beziehen sich sämtlich auf geschäftliche Dinge, auf Viehpreise, Schafzucht usw. … Nur hinten auf der Innenseite des Deckels war ein Zettel aufgeklebt mit einer Art Skizze darauf, von ungeübter Hand gezeichnet. Erst nach längerem Raten wurde mir klar, daß es sich um einen Grundriß des Obergeschosses der Burg handelte und daß darin die geheime Turmtreppe angedeutet war. –

Was ich in dem Tempel der Liebe in der Kiste entdeckte, weißt du bereits, eine männliche Leiche mit einer furchtbaren Wunde über der Stirn, eingebettet in Chlorkalk und eingewickelt in ein großes Stück Leinen. –

Dies sind meine Erfolge auf dem Lammerthof. Aber auch in dem Städtchen habe ich herumgehorcht, so gut es ging, habe jeden Menschen, der leicht zum Schwatzen zu bewegen war, nach Einzelheiten über Elvira Hölsch ausgeforscht, indem ich stets vorschob, ich würde vielleicht versuchen, den Lammerthof zu erwerben. Daß es im Hause ein verschlossenes Zimmer gibt oder gab, das selbst das Ehepaar Parlitz nicht betreten durfte, ist in Sziemanowo ziemlich bekannt. Sonst hörte ich nur Gutes über die verstorbene Besitzerin, ein harter, strenger, aber aufrichtiger und peinlich ehrlicher Charakter. –

Gestern Abend war ich wieder in Sziemanowo, spielte in einer Kneipe mit Damenbedienung den splendiden[1] Gast, da die Wirtin auf dem Lammerthof mal Hausmädchen gewesen war und ich auch sie erst gesprächig machen und dann Ausfragen wollte. Und in jener Kneipe erlebte ich nun etwas, das mir wie ein Lichtstrahl aussieht, der das Dunkel all dieser Rätsel ein wenig erhellen kann. Herbert Morano pirschte sich an mich heran! Ich merke, daß ihm etwas daran lag, meine Bekanntschaft zu machen. Nachher kam noch ein Freund von ihm an unseren Tisch, ein Pferdehändler, der sich Hecker nannte. Die beiden hatten offenbar Interesse dafür, ob ich wirklich beabsichtigte, den Lammerthof zu kaufen. Wenigstens schien es mir so. Vielleicht irre ich mich auch. Jedenfalls wurde mir aber sehr bald klar, daß Morano und Hecker zu der ‚treuen Hand‘ in irgendwelchen Beziehungen stehen müßten. Als erst dieser Verdacht in mir aufgetaucht war, machte ich die Probe aufs Exempel, indem ich von einem Spukzimmer auf dem Lammerthof erzählte. Und da tauschten die beiden einen vielsagenden Blick aus und … lächelten sich verstohlen zu. Das genügte mir.“

„Gestatte eine Zwischenbemerkung, Egon. – Mithin stimmt also meine Vermutung doch fraglos, daß Morano heute als Spion nach dem Lammerthof gekommen war, wie ich dir vorhin schon näher auseinander setzte, als wir über Hedwigs … hm, ja – Hedwigs Verrat sprachen.“

„Allerdings. Jetzt steht fest, daß der Schauspieler und jener Hecker ebenfalls ‚Finger‘ der treuen Hand sind.“

„Sollte Hecker nicht vielleicht mit Heberlein identisch sein?“ fragte Fritz Melcher eifrig.

„Ausgeschlossen. Hecker ist ein sehr langer Mensch mit einem recht verschlagenen Gesichtsausdruck. Und Heberlein war nur mittelgroß. Nein, diesen Gedanken brauchen wir gar nicht weiter zu erwägen.

Doch ich will mit meinen Ausführungen endlich Schluß machen. Nachdem ich in jener Kneipe im Städtchen genügend schlechten, teuren Portwein getrunken hatte, radelte ich nach dem Lammerthof, geriet beinahe dem braven Parlitz in die Hände und erreichte schließlich doch meinen Zweck, allerdings nach einigen unnötigen Aufregungen. Ich wollte mich nämlich lediglich mit dir in Verbindung setzen, Fritz. Auf dem Wege nach der Treppe des neuen Flügels lief ich dann eben wieder Irma Hölsch fast in die Arme, und du sperrtest mich nachher in den Tempel der Liebe ein, da Kerlchens Knurren deinen Argwohn erregte. Nun, ich habe diese kurze Haft dazu benutzt, mir die Kiste nochmals von außen recht genau anzusehen. Und da ist mir aufgefallen, daß an zwei Stellen offenbar Frachtsignaturen sehr sorgfältig ausgekratzt sind, die mit schwarzer Farbe aufgemalt waren. Leider sind sie nun nicht mehr zu entziffern. – So, nun bin ich fertig.“

„Gestatte, – fertig?! Ich denke, jetzt kommt erst die Hauptsache,“ meinte der Sekretär etwas ungeduldig. „Was hältst du nun von dieser so verzwickten Geschichte?“

 

12. Kapitel.

Amtsrichter Weber.

Egon Larisch drehte die schwarze Seidenkappe, die mit zu seinem Kostüm als Mandelblüt gehörte, zwischen den Fingern, ließ die Zigarre in seinem Mundwinkel wippen und schaute den Freund trübselig an. Dann brummte er vor sich hin:

„Sehr richtig – verzwickte Geschichte! – Was ich davon halte? Bis jetzt nichts – nichts, – eben weil ich nicht weiß, was die ‚treue Hand‘ eigentlich beabsichtigt. – Sieh’ mal, Fritz,“ – er nahm die Zigarre aus dem Munde und sprach lebhafter, „es ist doch klar, aus reiner Menschenfreundlichkeit sind diese vier Briefe nie geschrieben worden! Es steckt ein genau überlegter Plan dahinter. –

Die Leute wollten etwas durch die Briefe erreichen! Aber was – was?! Lediglich um Irma Hölsch zu veranlassen, die Kiste mit der Leiche verschwinden zu lassen, damit ihr Scherereien mit dem Gericht erspart blieben, – deshalb ist diese Sache mit der ‚treuen Hand‘ nicht in Szene gesetzt worden. Das hätte sich durch einen einzigen Brief, in anderer Form abgefaßt, besser bewerkstelligen lassen. Nein – Irma sollte durch die Briefe beunruhigt und gleichzeitig in den Glauben versetzt werden, daß die ‚treue Hand‘ wirklich über eine geheimnisvolle Macht verfüge. Die Leute wollten Einfluß auf Sie gewinnen. Daher auch die Angabe der Chiffre für postlagernde Anfragen in den Briefen, die, wie ich dir schon einmal klarmachte, sich inhaltlich sehr geschickt steigern, immer deutlicher werden. Ja, das ist meine feste Überzeugung, es kam der ‚treuen Hand‘ lediglich darauf an, möglichst großen Einfluß bei Irma zu erlangen! Doch – hierüber hinaus ist Finsternis, weiß ich nichts mehr! Ich ahne auch nicht im entferntesten, wozu dieser Einfluß ausgenutzt werden soll!“

„Halt – eine Idee. – Irma ist sehr ablehnend Herren gegenüber. Sollte sich vielleicht jemand in sie verliebt haben und nun versuchen, auf diese Weise …“

Egon Larisch stieß einen leisen Pfiff aus.

„Donnerwetter – an diese Möglichkeit habe ich noch gar nicht gedacht!“ Er schaute eine Weile gedankenverloren ins Leere. Dann schüttelte er aber zweifelnd den Kopf.

„Möglich ist in Liebessachen freilich alles! Aus Liebe wird gestohlen, betrogen, sogar gemordet. Warum sollte da nicht ein ganz verrücktes Hirn auch auf eine derartige Idee verfallen! Trotzdem – ich kann nicht daran glauben. Immerhin, es könnte sein! Lassen wir diese Frage ruhig noch offen. –

Etwas anderes, sehr Wichtiges möchte ich dir jetzt vorhalten, das mir gar nicht aus dem Kopf will, nämlich daß die ‚treue Hand‘ gewußt hat, welchen gefährlichen, unheimlichen Inhalt die Kiste hat, was ja besonders aus dem dritten Briefe hervorgeht, daß also Frau Elvira Hölsch einen Vertrauten gehabt haben muß, einen Menschen, der ihr noch näher stand als das alte, treue Ehepaar Parlitz. Wer kann dies nur sein? Die Frau hat ganz einsam gelebt, völlig zurückgezogen. In Sziemanowo sagte man mir, sie hätte mit niemandem verkehrt.“

Abermals kam Fritz Melcher ein neuer Gedanke.

„Du, Egon, – wenn Martin Parlitz etwa ebenfalls mit der ‚treuen Hand‘ im Bunde wäre …?! Mir fällt da eben ein, daß er doch zugab, daß Patentschloß an der bewußten Tür wäre nicht mehr das ursprüngliche. Und weiter die Tatsache, daß du den Schlüssel zu dem neuen Schloß in der kleinen Schublade fandest, während Parlitz doch behauptete, bei der Sichtung des Nachlasses durch den Amtsrichter wäre sie leer gewesen. Könnte Parlitz nicht nach dem Tode der Frau Hölsch …“

„Hör’ auf – hör’ auf!“, rief Larisch in komischer Verzweiflung. „Diese Möglichkeit habe ich ja auch schon in Betracht gezogen, bin dadurch aber nur noch konfuser geworden! Traust du dem Alten denn zu, daß er sich mit solchen Dingen abgibt?! Vergegenwärtige dir einmal sein Benehmen in der vergangenen Nacht, als wir uns in dem traurigen, übelduftenden Tempel der Liebe befanden. Da erhielt ich die Gewißheit, daß Parlitz ganz harmlos ist. Er ist ein einfacher, alter Mann. Er kann nicht schauspielern. Er wußte auf keinen Fall, was die Kiste enthielt.“

„Ja, ja, – dieser Verdacht ist in der Tat beinahe lächerlich! Ich gebe es zu. Ich wollte ja auch nur die Geschichte nach jeder Richtung hin beleuchten.“

„Dann bleibt also die Tatsache bestehen, Frau Hölsch muß einen Vertrauten gehabt haben. – Nehmen wir zum Beispiel folgendes an, der Tote in der Kiste war ein gefährlicher Feind der Verstorbenen und wurde mit Hilfe des Vertrauten beseitigt. Nach dem Hinscheiden der Frau Hölsch mußte diesem Mitwisser nun viel daran liegen, daß die Kiste verschwand. Er allein konnte den schweren Kasten nicht wegschaffen und suchte nun Irma als Gehilfin zu gewinnen … –

Doch nein, – was schwatze ich da! Gegen diese Theorie spricht nur allzu vieles! Diese Theorie ist Blech! Wo werden vernünftige Menschen ihr ermordetes Opfer in einer Kiste aufbewahren, anstatt es irgendwo zu verscharren! Und dann, wir wissen ja schon, daß die ‚treue Hand‘ mehrere Finger, das heißt Eingeweihte hat, zum mindestens drei: Heberlein, Hecker und Morano! Und diese drei wird der Vertraute doch nicht angeworben haben! Das hieße ja für ihn, sich ganz in die Hände dieser Leute geben! –

Und doch – ich bleibe dabei, ein Mensch muß vorhanden sein, der außer Elvira Hölsch das schauerliche Geheimnis des Tempels der Liebe gekannt hat. –

Hm – eigentlich müßte man doch mal das Tagebuch der Verstorbenen ganz sorgfältig Zeile für Zeile lesen. Dazu habe ich noch nicht Zeit gefunden. Vielleicht steht in diesen Aufzeichnungen doch etwas von Wichtigkeit. Du könntest mir das Buch …“

Er sprach nicht weiter, richtete sich etwas auf und lauschte.

„Horch’ – dein Name wird gerufen, Fritz! Es ist Hedwig …“

Er sprang empor.

Es war Hedwig Melcher. Wie gehetzt stürmte sie herbei, blieb jetzt keuchend vor den beiden stehen.

„Fritz – sofort – auf dem Lammerthof – ein Gendarm – der Amtsrichter – Leiche oben in dem Zimmer – in der Kiste – –“

Die beiden Freunde trauten ihren Ohren nicht.

„Ruhe, Hedwig, – Ruhe, – berichte ausführlicher,“ brachte Fritz Melcher nur stockend hervor.

Sie weinte fast vor Aufregung.

„Mitkommen sollst du – sofort – bevor – Irma hat Weinkrämpfe – wir sind ganz ratlos –“

Da mischte sich Larisch ein, reichte Hedwig die Hand und nickte ihr freundlich zu.

„Tag, Fräulein Hete! – Eine Minute mehr oder weniger spricht hier nicht mit. Gerade ich muß wissen, was auf dem Lammerthof vorgefallen ist.“

Sie nahm sich zusammen, wagte ihn aber nicht anzusehen. Dann erzählte sie.

Vor etwa einer Viertelstunde war ein Wagen mit dem Amtsrichter Weber und einem Gendarm eingetroffen. Der Amtsrichter hatte Irma zu sprechen gewünscht und ihr dann eröffnete, daß er das Haus durchsuchen müsse, weil ein Leichnam hier verborgen gehalten würde. Er war dann geradeswegs nach dem verschlossenen Zimmer gegangen, hatte von dem Gendarm die Kiste öffnen und den Kopf des Toten freilegen lassen. Die Schwestern Melcher, die angstvoll draußen im Flur gestanden hatten, wurden dann durch Irmas gellende Schreie in das Zimmer gelockt. Auch Frau Parlitz hatte sich eingefunden, und man brachte Irma nun in ihr Zimmer im neuen Flügel. Der alte Martin wußte noch von nichts, da er in der Heide bei den Schafen war.

Larisch fragte nicht weiter. Nach kurzem Überlegen erklärte er den Geschwistern, selbst nur mühsam seine Erregung unterdrückend:

„Geht voraus. Ich komme nach. Unterrichtet Irma von meinem Erscheinen, auch Frau Parlitz. Ich will als früherer Geschäftsfreund der Frau Elvira Hölsch auftreten. – Dort in der Ferne kommt der alte Martin. Dem werde ich selbst Bescheid sagen. – Nun eilt euch – bis gleich!“

Larisch ging Parlitz entgegen.

Der alte Mann knickte beinahe um, als Egon ihm mitteilte, daß das Gericht die Leiche entdeckt hätte.

„Mein Gott, das arme, arme Fräulein!“ jammerte er. „Das ist ein schlechter Anfang ihres Besitzantritts. Helfen Sie, raten Sie, Herr Larisch …! Es kann ja nicht sein, daß Frau Hölsch den Mann dort … ermordet hat, – ganz unmöglich … Es ist ein Schurkenstreich … ein …“

„Fassung, Haltungen, mein Alter!“ meinte der Schriftsteller und zog ihn mit sich fort.

Als sie auf dem Lammerthof ankamen, schlüpften sie durch die Pforte ungesehen in den Turm, eilten die geheime Treppe empor und lauschten vor der verborgenen Tür, ob oben im Flur alles still war. Dann mußte der Alte feststellen, wo die Beamten sich befanden. –

Er kam sehr bald zurück.

„Sie sind in der Veranda, vernehmen gerade meine Frau,“ meldete er.

Larisch deutete auf die Tür des Tempels der Liebe.

„Versiegelt! Die Sache wird ernst,“ meinte er. „Wir werden jetzt ganz harmlos vom Hofe aus durch den Vorgarten nach der Veranda gehen.“ – –

Frau Parlitz weinte in ihre Schürze hinein. Sie saß neben der Verandatür, der Amtsrichter und der Gendarm an dem großen Tisch.

Weber war ein kleiner, feister Herr mit einem Genießergesicht, in dem ein paar rote Schmißnarben sich scharf abzeichneten. Sechs Jahre war er nun schon in Sziemanowo. Aber etwas derartiges hatte er noch nicht erlebt.

Als Parlitz, den er schon kannte, und der polnische Jude in der Tür erschienen, nickte er dem alten kurz zu und fragte sofort, auf den verkleideten Detektiv deutend:

„Wer ist der Mann?“

Parlitz zögerte etwas mit der Antwort. Er hatte nur Augen für seine treue Lebensgefährtin, die so jämmerlich schluchzte.

Da antwortete auch schon der Gendarm statt seiner:

„Ein Grundstückshändler, Herr Amtsrichter. Der Mann wohnt im Dorfe Worszewo im ‚König von Polen‘. – Wie heißen Sie? Mandelblüt, oder so ähnlich, nicht wahr?“

„Sehr ßu dienen, hohe Herren, – Jakob Mandelblüt aus Polen … Ich bin gekommen ßu käufen Grundstücke hier.“

„Heute ist nicht die Zeit, hier zu schachern, Herr Mandelblüt,“ sagte Weber ziemlich barsch. „Kommen Sie ein andermal wieder …“

„Sehr ßu entschuldigen, Herr Amtsrichter, – wenn Sie gestatten zu erlauben, ich soll Ihnen ausrichten e wichtige Botschaft von jemand. Würden Sie sein geneigt zu kommen for e paar Sekunden in den Garten …“

Dabei zwinkert er Weber heimlich zu.

Der zauderte erst noch, erhob sich dann aber und folgte Mandelblüt nach links hinter die Tannenkulisse.

Hier erst blieb der Jude stehen.

„Mann, was wollen Sie denn von mir,“ schnauzte Weber schlechtgelaunt. „Eine Botschaft sollen Sie ausrichten? Das ist doch Schwindel …!“

„Allerdings,“ sagte Larisch mit veränderter Stimme. „Sie gestatten, daß ich mich vorstelle, Egon Larisch, Schriftsteller und Privatdetektiv aus Berlin.“

„Ah – das hätte ich nicht erwartet!“ entschlüpfte es dem Amtsrichter.

Larisch lächelte. „Wir jagen demselben Wilde nach, Herr Amtsrichter. Auch ich bin hier, um das Geheimnis jenes Zimmers aufzuklären. – Damit Sie aber Vertrauen zu mir haben, bitte, dies ist ein Ausweis mit meiner Photographie. Zur Zeit habe ich allerdings wenig Ähnlichkeit mit dem Bilde. Auf dem Ausweis ist auf der Rückseite noch vermerkt, daß die Behörden gebeten werden, mich nach Möglichkeit zu unterstützen.“

„Danke – alles in Ordnung, Herr – Herr Larisch.“

„Nein – bitte Mandelblüt. Ich muß hier auf jeden Fall unerkannt bleiben. – Dürfte ich fragen, wie Sie davon benachrichtigt worden sind, daß sich in jenem Zimmer eine Leiche befindet?“

„Durch einen anonymen Brief, den mir ein Knabe heute nachmittag gegen zwei Uhr in meine Wohnung brachte.“

„Haben Sie den Brief bei sich?“

„Ja – bitte, hier ist er.“

Es war ein billiger, weißer Umschlag mit der Adresse des Amtsrichters, darin ein Zettel:

Auf dem Lammerthof oben im letzten Zimmer rechts am Turm is ne Leiche drin, ich mecht nicht dies länger bei mir behalten, und fahren Sie man gleich hin, in Sziemanowo weiß jeder was von dies Spukzimmer und Jerechtigkeit muß sein. –

Einer for viele.

Zettel und Adresse waren mit Bleistifte scheinbar von ungeübter Hand geschrieben.

Larisch gab den Brief dem Amtsrichter zurück.

„Ich darf Ihnen vielleicht auf Grund meiner Erfahrungen als Detektiv einen Vorschlag machen,“ meinte er. „Beschränken Sie sich jetzt auf die allernotwendigsten Vernehmungen und gewähren Sie mir abends in Ihrer Wohnung eine Unterredung. Ich will Ihnen dann ganz genau erzählen, was ich über die Sache hier weiß. Sie ist außerordentlich verwickelt. Es würde auffallen, wenn wir hier länger allein blieben. Und ich muß unbedingt für jeden weiterhin der harmlose Jakob Mandelblüt sein. Auch der Gendarm darf nicht wissen, wer ich bin.“

Dem Amtsrichter war es sehr lieb, daß ein anderer ihm helfen wollte, diese grausige Geschichte von der rechten Seite anzupacken.

„Gut, Herr Larisch. Ich bin ganz einverstanden.“

„Mandelblüt – bitte – Mandelblüt!“

„Ja doch – also, Herr Mandelblüt …! Was sage ich nun aber dem Gendarm? Er wird doch neugierig sein, was Sie mir zu bestellen hatten.“

„Schimpfen sie auf mich – fluchen Sie, weil ich so frech war, Sie zu bitten, mich in Ihrem Wagen mit nach Sziemanowo zu nehmen. Schauspielern Sie ein wenig. Und nun zurück zur Veranda.“

Weber ging voran, Mandelblüt schlich hinterdrein.

„So – nun los, schimpfen Sie, – der Gendarm schaut schon …“

Und Weber tat’s, während Mandelblüt mit abgezogenem Käppchen und fortwährenden Bücklingen ihm folgte. Dann verschwand der polnische Jude nach dem Hofe zu.

„Unverschämter Kerl!“ knurrte der Amtsrichter noch, während er wieder am Tische Platz nahm. Er richtete dann auch an Martin Parlitz nur wenige Fragen, so daß nachher in dem Protokoll nur negative Tatsachen standen. Nicht zu ermitteln, wie die Kiste in das Zimmer gelangt war. –

Von den Briefen der ‚treuen Hand‘ kam kein Wort darin vor.

Auf die Vernehmung Irmas wurde vorläufig verzichtet, und die Geschwister Melcher kamen als erst gestern eingetroffene Gäste auch nicht für eine Befragung in Betracht.

Der Gendarm Reikmar war mit dieser Erledigung nicht ganz einverstanden. Auf der Rückfahrt nach der Stadt wagte er dies auch anzudeuten.

„Ich glaube, es hätte sich mehr aus dem alten Ehepaare herausholen lassen, Herr Amtsrichter,“ meinte er.

Weber zuckte die Achseln.

„Keine Sorge, Reikmar! Ich werde schon Licht in die Sache bringen. Posaunen Sie nun aber gefälligst den Leichenfund nicht gleich überall aus, verstanden?! Morgen vormittag fahre ich wieder nach dem Lammerthof hinaus. Dann wird ja auch wohl das Fräulein vernehmungsfähig sein. Sie können nachher gleich eine Depesche an die Staatsanwaltschaft in Posen zur Post tragen.“

 

13. Kapitel.

Der rote Streifen.

Irma war sehr bald nach der Abfahrt der Beamten, gestützt auf Thilde und Hedwig, in die Veranda hinuntergekommen.

Dort hatten Fritz Melcher und Mandelblüt schon an dem inzwischen von Frau Parlitz gedeckten Kaffeetisch gesessen, und der polnische Jude war Irma mit den Worten entgegengegangen:

„Liebes Fräulein Hölsch, eigentlich bin ich daran schuld, daß Ihnen die Wahrheit über den Inhalt der Kiste so unvermittelt beigebracht wurde. Wie konnte ich aber auch ahnen, daß …“

„Oh, Sie brauchen sich doch wirklich nicht zu entschuldigen,“ hatte Irma ihn matt, aber herzlichen Tones unterbrochen. „Sie haben es gewiß nur gut mit mir gemeint. Ich bin Ihnen ja zu so großem Danke verpflichtet, weil Sie ja in so selbstloser Weise für mich weiter tätig gewesen sind. – Nein – wie ist es aber nur möglich, daß Sie Ihr Äußeres so verändern können …?! Ich hätte Sie in dieser Verkleidung niemals wiedererkannt – niemals!“

Sie schaute ihn mit so leuchtenden Augen an, daß es Larisch ganz heiß überrieselte. Sie wußte jetzt ja, in welch’ seelischer Verwirrung Hedwig ihr damals den Liebesroman des Schriftstellers mit der Baronin Szestöni wiedererzählt hatte und daß Hedwig selbst das Mädchen war, daß Rechte auf Larisch zu haben glaubte. Die jüngste Melcher hatte ihr eben nachher alles ohne Rückhalt gebeichtet.

Irma wollte zum Kaffee nichts genießen. Aber die anderen ließen nicht nach, bis sie doch etwas aß.

„Ich möchte am liebsten fort von hier,“ wiederholte sie mehrmals, während sich ihre Augen mit Tränen füllten. „Ich hasse den Lammerthof. Nie werde ich mich hier heimisch fühlen. Jene Briefe hatten ganz recht, hier blüht für mich kein Glück! – Der Gedanke, daß da oben ein Toter liegt, einer, der vielleicht ermordet worden ist, wird mich ewig verfolgen.“

Larisch suchte Irma zu beruhigen.

„Die Leiche wird morgen sicherlich fortgeschafft. Im übrigen will ich Ihnen anvertrauen, daß ich mich dem Amtsrichter zu erkennen gegeben habe. Wir werden jetzt Hand in Hand arbeiten. Und im Interesse der Aufklärung dieser rätselhaften Dinge bitte ich Sie, mir zu gestatten, in Ihrem Namen ein Telegramm absenden zu dürfen – nach Berlin, Potsdam Leipziger Platz, postlagernd 91836.“

„Wie – an die … ‚treue Hand‘?“

„Allerdings. – Die Depesche wird lauten: ‚Wenn dort bekannt, was hier vorgefallen, raten Sie mir.‘ –

Parlitz mag gleich anspannen und das Telegramm in Sziemanowo aufgeben. Aber Sie müssen den Entwurf selbst schreiben.“

Eine volle Stunde später ratterte der Wagen davon. Egon Larisch aber hatte sich das Tagebuch der Frau Elvira Hölsch aus dem alten Sekretär geholt und las es Seite für Seite durch. Irma und die Schwestern gingen im Vorgarten währenddessen auf und ab, und Fritz Melcher saß in der Veranda still neben dem Freunde und beobachtete Kerlchen, der vor der Tür in der Sonne lag und hin und wieder nach einer frechen Fliege schnappte, die sich seine schwarze Nase zum Ruhesitz erwählen wollte.

Larisch las jetzt jetzt langsam Wort für Wort. Dann beugte er sich plötzlich tiefer über das Buch. Ein Name war ihm aufgefallen, und es hatte ihm förmlich einen Ruck gegeben, wie er gerade diesen Namen hier fand – Miegler – Miegler!

Da stand unter dem 10. Februar dieses Jahres folgendes:

Kommerz. Miegler angeschrieben.

Larisch dachte sofort daran, daß der so spurlos verschwundene Heberlein von der jetzigen Frau Luzie Miegler das Sportbild geschenkt erhalten hatte – merkwürdig, dieses Zusammentreffen!

Er las weiter. Halt – wieder der Name!

Miegler geschr., nur für 50 000 Mark. –

Diese Eintragung war unter dem 15. Februar gemacht.

Dann abermals, am 18. Februar:

Miegler geschr., kann Boden untersuchen.

Nunmehr kann der Name jedoch nicht wieder vor.

‚Ich muß doch mal Parlitz fragen, was Miegler eigentlich mit Frau Hölsch zu tun hatte,‘ dachte Larisch und starrte vor sich hin. ‚Offenbar handelt es sich doch um ein Kaufgebot. Jedenfalls muß ich dies genau aufklären.‘

Er legte die Notizen jetzt auf den Tisch.

„Hast du etwas gefunden, Egon?“ fragte Melcher gespannt.

„Nein.“ Der Schriftsteller trug das Buch in den Sekretär zurück und ging dann zu den Damen in den Garten hinaus.

Als der alte Martin dann nach seiner Rückkehr eine halbe Stunde später die Pferde im Stalle abschirrte, gesellte sich Larisch zu ihm.

„Hören Sie mal, mein Alter, ich habe da eben in dem Tagebuch der Frau Hölsch mehrmals den Namen Miegler gefunden. Es scheint zwischen den beiden ein Geschäft geschwebt zu haben. Wissen Sie näheres darüber?“

„Allerdings.“ Und Parlitz erzählte recht umständlich, was ihm von diesem Handel bekannt war.

Egon Larisch war offenbar recht befriedigt von dieser Auskunft.

Dann aber berichtete ihm der alte Mann ganz von selbst noch etwas, das ihn doch aufhorchen ließ.

„Da Sie gerade von diesem Miegler gesprochen haben, Herr Larisch, – einen von dessen Leuten habe ich vorhin in Sziemanowo auf der Straße gesehen,“ meinte er bedächtig. „Ja, in der Nähe der Post war’s. Und dieser Herr war mit dem Schauspieler zusammen, Morano, richtig Morano.“

„War dieser Herr sehr groß und hager? Und – besinnen Sie sich noch auf den Namen?“ fragte Larisch schnell. „Hieß er vielleicht Hecker, und war er Pferdehändler?“

„Nein – Ingenieur war er, oder so etwas ähnliches. Aber mit dem Namen stimmt’s und auch mit der Größe und der Dünnheit.“

Egon Larisch fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Wahrhaftig, das war eben gewesen, als hätte ihm jemand eine Binde von den Augen genommen.

Dann sagte er: „Alter, – reinen Mund gehalten über dieses Gespräch!“ Und tief aufatmend: „Wir sind eben einen gehörigen Schritt vorwärts gekommen!“

„Ah – wissen Sie jetzt, wer den Mann oben ermordet hat, Herr Larisch?“

„Nicht Larisch – Mandelblüt! – Ja, vielleicht weiß ich es jetzt, lieber Parlitz. – Auf Wiedersehen.“

Gleich darauf verabschiedete Egon sich auch von den Damen und dem Freunde.

„Was wolltest du eigentlich von Parlitz?“ fragte Melcher etwas mißtrauisch. Ihm schien es so, als ob der Schriftsteller schon vorhin nicht ganz aufrichtig hinsichtlich des Tagebuchinhalts gewesen war.

„Ich fragte nur, ob er Morano in der Stadt gesehen hätte. Und er hat ihn gesehen, zusammen mit jenem Hecker. Das war alles.“ –

*

Amtsrichter Weber wohnte allein in einem kleinen, villenartigen Hause außerhalb der Stadt.

Erst gegen halb zehn abends, als es schon völlig dunkel war, kam Jakob Mandelblüt angeradelt. Den Kaftan hatte er wieder auf dem Rücken wie einen Rucksack festgebunden.

Weber stand im Vorgarten, um den merkwürdigen Gast gleich in sein Arbeitszimmer zu führen.

„Die Dienstboten und meine beiden Jungens schlafen schon. Nur meine Frau ist noch auf. Und ihr habe ich notwendig sagen müssen, wen ich erwarte.“

„Ihre Frau Gemahlin wird uns ja wohl nicht verraten,“ meinte Larisch und legte sein Bündel auf einen Stuhl.

„Noch schöner! Ich weiß doch, um welch’ wichtige Sache es sich handelt. – Bitte, nehmen Sie Platz. – Trinken Sie ein Glas Rotwein? – Wir wollen es uns doch gemütlich machen.“

Der Schriftsteller hielt dann Weber etwa genau denselben Vortrag wie am Nachmittag in der Heide vor Fritz Melcher, nur noch ausführlicher.

Als er damit zu Ende gekommen war – Miegler und Hecker hatte er nicht erwähnt! – konnte der Amtsrichter nur immer wieder vor Staunen den Kopf schütteln.

„Das ist ja wahrhaftig der reine Kriminalroman. Aber ein Roman, dem noch aufklärende Kapitel fehlen. – Was soll nun geschehen, Herr Mandelblüt-Larisch?“

„Wir müssen den Jungen suchen, der Ihnen den Brief überbracht hat.“

„Das dürfte nicht schwer fallen.“

„So?! Na – ich denke darüber anders. – Doch – wir werden ja sehen! – Übrigens, Herr Amtsrichter, wenn die Posener Staatsanwaltschaft einen Kriminalbeamten herschicken sollte, so lassen Sie es mich sofort wissen. Ich möchte mich auch mit diesem Herrn ins Einvernehmen setzen.“

„Die Staatsanwaltschaft hat vorhin telephoniert. Morgen früh trifft mit dem ersten Zuge sieben Uhr dreißig ein Kommissar hier ein.“

„Sehr gut! – Könnte ich bei Ihnen übernachten, ohne daß außer Ihrer Frau Gemahlin jemand etwas davon erfährt? – Dann würde ich gleich morgen früh Gelegenheit haben, hier alles Nötige mit dem Kommissar besprechen zu können.“

„Aber gewiß geht das. Wir werden schon dafür sorgen, daß Ihre Anwesenheit nicht auffällt, nur müßten Sie mit dem Diwan dort fürlieb nehmen.“

Larisch lernte dann auch noch die Frau Amtsrichter kennen, eine zarte, feine Dame mit der vollendeten Ruhe der Großstädterin aus den besten Kreisen. Sie stammte aus Berlin und freute sich offenbar, daß durch den Schriftsteller einmal eine kleine Abwechslung in ihr eintöniges Dasein hineingebracht wurde.

Man saß denn auch noch bis lange nach Mitternacht zusammen. Weber war sein eigener bester Gast gewesen und hatte so viel von dem schweren Rotwein getrunken, daß er hin und wieder in seinem Klubsessel einnickte. Seine Gattin lächelte dann milde.

„Sehen Sie – das sind die geistigen Wirkungen Sziemanowos!“ hatte sie zu Larisch gesagt, dabei auf die Weinflasche und dann auf den Schlummernden deutend. „Hier taumelt man aus Stumpfsinn dem vollständigen Bildungsbankrott entgegen, wenn man nicht, wie ich es jetzt tue, einige dreißig Zeitungen und Zeitschriften hält. Die Sziemanowoer Damen nennen mich ihre Pythia, ihr Orakel! Es ist viel Hohn dabei. Mögen Sie! Aber ihre Nachmittagskaffees – nicht zehn Pferde kriegen mich da hin!“

Frau Weber hatte natürlich auch das lebhafteste Interesse für den Fall der ‚treuen Hand‘, über den Larisch ihr einen kurzen Überblick gegeben hatte. Als der Herr Gemahl wieder einmal sanft schnarchte, sagte sie leise:

„Nehmen Sie mir meine Offenheit nicht übel, Herr Larisch. Aber ich hatte vorhin so den Eindruck, als ob Sie doch schon mit Ihrem Urteil fertig wären, als ob Sie mit etwas zurückhielten … Jede Kriminalsache hat doch sozusagen einen Mittelpunkt, von wem die einzelnen Ereignisse wie Strahlen auslaufen. Wo liegt hier der Mittelpunkt?“

Egon Larisch wußte, daß er eine kluge Frau vor sich hatte. Und kluge Frauen verstehen zu schweigen. – Er lächelte, verbeugte sich leicht und erwiderte:

„Sie beobachten scharf und richtig, Gnädigste. Ja, ich weiß mehr, als ich preisgebe. Ich muß aber schweigen, denn der kleinste Fehler, die kleinste Unvorsichtigkeit von unserer Seite könnte mir die Fäden wieder entreißen, mit denen ich die ‚treue Hand‘ wehrlos zu machen gedenke. Ich betone aber, ganz klar sehe ich noch nicht! – Nur, was den Zentralpunkt anbetrifft, – der ist natürlich hier der Tempel der Liebe.“ Und dann fügte er nach kurzer Pause hinzu: „Ich erwähnte vorhin die Blätter des Abreißkalenders und die rätselhaften Worte darauf ‚Il akla gerlam‘. Wenn ich diese Worte enträtseln könnte, – davon bin ich überzeugt! – so hätte ich auch die Lösung vollständig in den Händen, selbst für das, was mir jetzt noch unklar ist.“

Er holte die Blätter hervor und reichte sie ihr mit einem: „Bitte, vielleicht haben Sie einen glücklichen Gedanken, gnädige Frau.“

Halblaut las sie sinnend: „Il akla gerlam – il ak la ger lam – – lam? – Lammert – Lammert!“

Larisch schien einen elektrischen Schlag erhalten zu haben.

„Himmel, wenn Sie recht hätten …! Wenn diese eine Silbe wirklich der Anfang von Lammert sein sollte?!“ stieß er hervor.

Sie lachte jetzt sehr melodisch auf, beugte sich nähern zu ihm hin, deutete mit dem Finger auf die mit Blaustift geschriebenen Worte und flüsterte ihm vier Silben zu.

Wieder rief Larisch: „Nein, daß ich Esel …“

„Pst! Mein Mann wird munter …!“

„Bitte – zu niemandem ein Wort, Gnädigste!“

Sie nickte eifrig und stolz. – –

Als der Amtsrichter am Morgen gegen sieben Uhr durch starkes Klopfen seinen Gast wecken wollte, öffnete der schon fix und fertig angezogen die Tür.

„Morgen, Herr Amtsrichter …!“

Weber prallte zurück.

„Alle guten Geister, – sind Sie das wirklich?“ stotterte er.

„Nein, das ist nicht mehr Jakob Mandelblüt, sondern ein Kriminalschutzmann namens – na sagen wir Meier mit ei, den der Kommissar sich aus Posen mitgebracht hat.“ –

Kommissar von Hartwig entpuppte sich als ein sehr zugänglicher Herr. Er war früher aktiver Offizier gewesen, hatte aber den Dienst eines Beinleidens wegen quittieren müssen und hinkte leicht.

Der Kriegsrat im Arbeitszimmer Webers dauerte fast zwei Stunden. Inzwischen war ein Wagen vorgefahren, in dem die drei Herren dann nach dem Lammerthof hinausfuhren. Der Kriminalschutzmann Meier, ein pausbäckiger Mann mit blondem Spitzbart und einem plumpen Nickelkneifer auf der verdächtig rot schimmernden Nase, nahm auf dem Bock neben dem Kutscher Platz. –

Larisch hatte alle notwendigen Reliquien in dem Kaftan verpackt gehabt, den er auf dem Rücken als Rucksack mitgebracht hatte.

Gegen elf Uhr vormittags war man auf dem Lammerthof. Während Weber dann Irma Hölsch vernahm, wobei er das schöne junge Weib immer wieder ganz verzückt anstarrte, waren Hartwich, Meier und Fritz Melcher nach dem Tempel der Liebe hinaufgegangen und hatten die Kiste auf zwei Stühle gestellt.

Der blonde Sekretär fiel aus allen Wolken, als Meier sich ihm zu erkennen gab und hinzufügte: „Aber laß dir nicht anmerken, daß Mandelblüt sich hat umtaufen lassen.“

Hartwig sah sich nur das Gesicht der Leiche an und meinte dann, den Körper könne man besser in Sziemanowo untersuchen, womit Meier ganz einverstanden war. Dieser hatte ein Vergrößerungsglas hervorgeholt und betrachtete damit Wände und Deckel der Kiste geduldig Zentimeter für Zentimeter.

Der Kommissar lächelte ein wenig. Ihm schien es, als wollte Larisch sich nur dadurch wichtig machen. Dann fragte er aber doch neugierig: „Was suchen Sie eigentlich?“

„Ich möchte feststellen, wie die Kiste hier nach dem Lammerthof geschafft worden ist. Parlitz weiß bestimmt, daß eine solche Kiste hier nicht vorhanden war. Also muß sie von auswärts gekommen sein.“

„Hm – dann wird sie wohl der Vertraute der Frau Hölsch, eben deren Mitwisser und Mitschuldiger, hergebracht haben,“ – meinte der Kriminalkommissar achselzuckend, der fest des Glaubens war, es liege hier die Beseitigung eines Feindes der Verstorbenen unter Beihilfe von Dritten vor, eine Theorie, die Larisch ihm als die wahrscheinlichste entwickelt hatte.

Larisch öffnete jetzt das Fenster und machte Zugluft, um den scheußlichen Geruch zu vertreiben.

„Schon fertig mit der Besichtigung?“ meint Hartwig.

„Ja. – Die Kiste ist in einem Auto nach hier transportiert worden.“

„Na nu – vorher wollen sie …“

„Bitte, sehen sie sich mal die Unterseite genau an.“ Larisch hatte vorhin mit Melchers Unterstützung den langen Kasten umgekippt. „Bemerken Sie etwas, Herr von Hartwig?“

„Ja – einen rötlichen Streifen, der sich über die Mitte der rauhen Bretter hinzieht.“

„Bitte – genauer! Der Streifen ist an einer Seite stärker ausgeprägt und verläuft etwa parallel zu den Schmalseiten. Und dieser Streifen ist dadurch entstanden, daß die Kiste in einem Auto mit roten Lederpolstern, angelehnt gegen diese, längere Zeit unterwegs war. Um das Scheuern der Polster gegen das Holz zu verhüten, hat man wohl eine Decke über den Sitz gebreitet. Die Decke hat sich jedoch während der Fahrt verschoben, so daß das rote Leder mit der rauen Unterseite in Berührung kam. Und hierdurch ist der etwa sechs Zentimeter breite Strich hervorgerufen worden, Herr von Hartwig. Nehmen Sie nur mein Vergrößerungsglas und schaun Sie sich den Streifen an. Sie werden an dem Holze noch ganz feine Lederkörnchen bemerken.“

Der Kommissar rief gleich darauf: „Wirklich – Sie haben recht! Alle Achtung vor Ihren Augen! – Doch, wird uns diese Feststellung etwas helfen?“

„Vielleicht. – Ich denke, wir lassen jetzt aber die Kiste nach Sziemanowo bringen. Der Kreisarzt ist ja bereits benachrichtigt. Er soll uns sagen, wann dieser Mann etwa den Tod gefunden haben kann.“

„Glauben Sie, daß er hier im Hause ermordet worden ist?“ fragte Hartwig wieder.

Larisch schüttelte den Kopf.

„Nein – auf keinen Fall.“

Der Kriminalkommissar machte ein ärgerliches Gesicht.

„Sie lassen sich alles wie mit der Zange herausholen, Herr Larisch. Ich fürchte fast, Sie spielen ein wenig Versteck mit mir. Haben Sie vielleicht eine Vermutung, wer dieser Vertraute der Frau Hölsch gewesen sein könnte.“

„Diese ganze Theorie von dem Mitwisser steht noch auf zu unsicheren Füßen,“ wich der Schriftsteller aus. „Wenn ich von Berlin zurückkehre, werde ich vielleicht mehr wissen als jetzt. Ich reise um zwei Uhr nachmittags ab. Vorher möchte ich aber noch das Urteil des Kreisarztes hören.“

Kurz bevor die Beamten dann wieder nach dem Städtchen zurückfuhren – die Kiste war hinten auf dem Wagen festgebunden worden –, nahm Fritz Melcher den Freund noch beiseite und sagte:

„Egon, vorhin ist eine Depesche aus Berlin für Irma eingetroffen, – die Antwort auf das gestrige Telegramm an die ‚treue Hand‘. Sie lautet: ‚Hof hat noch mehr Geheimnisse. Würde, um weiteren Unannehmlichkeiten aus dem Wege zu gehen, aufgeben. Treuhand.‘ –

Unglaublich, Egon?! Nicht wahr! Noch mehr Geheimnisse! Na, Irma hat schon erklärt, daß sie den Lammerthof verkauft, wenn er ihr halbwegs anständig bezahlt wird.“

„So so! – Über diese Depesche sprechen wir später, Fritz. Ich muß auf ein paar Tage verreisen. Sag das auch den Damen, die sich wundern dürften, wenn Mandelblüt sich nicht wieder sehen läßt. Und schicke doch Parlitz nach dem Dorfe Worszewo zu dem Wirte des ‚König von Polen‘. Er sollte diesem von Mandelblüt ausrichten, daß sein Gast plötzlich nach Posen fahren mußte.“ – –

Der Tote lag in einem hellen Keller des Amtsgericht auf einem einfachen Fichtenholztisch. Dieser Raum war schon wiederholt zu gerichtlichen Sektionen benutzt worden.

Anwesend waren außer dem Kreisarzt der Kommissar, ‚Meier‘, Weber und ein Referendar als Protokollführer.

Der Kreisarzt erklärte nach eingehender Untersuchung der Leiche, daß der Mann vor vielleicht drei Monaten infolge der Stirnverletzung gestorben wäre.

Das Gesicht des Toten war noch recht gut erhalten, und ‚Meier‘ machte davon mehrere Aufnahmen mit einer Momentkamera, die er sich von der Frau Amtsrichter geliehen hatte. Die Platten steckte er nachher samt den Kassetten zu sich. Er hatte auch Hartwig schon verständigt, daß dieser ihn scheinbar nach Posen zurückschicken solle, um die Fahrt nach Berlin verheimlichen zu können.

Jetzt deutete er auf die Hände der Leiche und sagte zu Hartwig:

„Sie gestatten eine Bemerkung. – Wir haben hier fraglos einen Mann aus dem Arbeiterstande vor uns, worauf die Schwielen in den Handflächen und an den Fingern und die ungepflegten Nägel hindeuten.“

„Sehr richtig! Wer dieser Mann ist, dürfte sich unschwer herausbringen lassen. In unserem geordneten Staatswesen kann ein Mensch nicht sang- und klanglos verschwinden. Eine Rundfrage bei allen Polizeiämtern nach einem Vermißten von dem Aussehen dieses Toten muß Erfolg haben.“

„Zumal wir ja noch die Photographien zur Verfügung haben und er auch ein besonderes Kennzeichen in Gestalt dieses großen Leberflecks an der linken Halsseite hat,“ setzte ‚Meier‘ hinzu. – –

Nachher begleitete Hartwig seinen ‚Untergebenen‘ noch zum Bahnhof.

„Eigentlich könnten Sie mir doch sagen, verehrtester Herr Larisch, was Sie eigentlich in Berlin wollen,“ meinte er, ein ganz klein wenig den Gekränkten spielend. „Es ist doch für mich als Beamten ein scheußliches Gefühl, noch völlig im Dunkeln umherzutappen, während ich allen Grund zu der Vermutung habe, daß Sie bereits mit Ihrer Geisteslaterne dieses Dunkel kräftig gelichtet haben. Die photographischen Platten nehmen Sie ja auch mit nach Berlin!“

„Geisteslaterne – ganz hübsch!“ lachte ‚Meier‘. „Nun, damit Sie nicht mehr so ganz im Finstern wandeln, ich will in Berlin mich nach dem Auto mit den roten Ledersitzen umtun und auch nach dem Manne mit dem Leberfleck. Sie aber, Herr von Hartwig, können zusehen, ob Sie den Jungen entdecken, der dem Amtsrichter die Denunziation ins Haus gebracht hat, jenen Brief, den ein Halbgebildeter geschrieben zu haben scheint – scheint! Suchen sie den Jungen aber nicht hier in Sziemanowo. Der Absender des Briefes wird nicht so töricht gewesen sein, einen in der Stadt ansässigen Boten zu benutzen. Der kleine Bursche dürfte in einem der nächsten Dörfer zu Hause sein. Ihrer vorsichtigen Aufmerksamkeit empfehle ich auch noch zwei Herren, die sich zur Zeit in Sziemanowo aufhalten, einen Schauspieler Herbert Morano und einen Menschen namens Hecker, der sich als Pferdehändler ausgibt. Vielleicht gelingt es Ihnen, sich eine Schriftprobe dieses Hecker zu verschaffen, und vielleicht finden Sie zwischen der verstellten Handschrift der Denunziation und Heckers Schrift eine Ähnlichkeit heraus. –

Auf Wiedersehen, Herr von Hartwig! Mein Zug läuft schon ein. Ich muß die Beine in die Hand nehmen …!“

Der Kommissar schaute dem Davoneilenden kopfschüttelnd nach.

„Der Teufel finde sich aus alledem heraus!“ knurrte er. „Amateurdetektiv …! Habe nie gedacht, daß es solche Leute gibt. Ja – aus Berlin, da kommt so alles mögliche her, – aus dem Zentrum des Reichs und der Intelligenz …!“

 

14. Kapitel.

Zwischenspiel.

Auf dem Lammerthof waren die Ruhe und der Frieden wieder eingekehrt, nachdem der Tempel der Liebe seinen stummen Bewohner an die Behörden abgegeben hatte.

Gewiß – hin und wieder ereignete sich in den folgenden zwei Tagen noch dieses und jenes, was dafür sorgte, daß Irmas Abneigung gegen dieses Besitztum rege erhalten wurde.

So kam am Nachmittag, als die Beamten kaum mit der schrecklichen Kiste abgefahren waren, Herbert Morano zu Fuß herausgepilgert, elegant wie immer und in rosigster Stimmung, die er dann aber sofort in würdigen Ernst dämpfte, da er sehr bald merkte, daß die Damen und Fritz Melcher auf seine wortreiche Begrüßung nur eine recht knappe Erwiderung fanden.

„Pardon, meine Herrschaften,“ hatte er mit prüfendem Blick auf die Gesichter der in der Veranda Versammelten gesagt, „Pardon, – ich fürchte fast, heute etwas ungelegen zu kommen. Die Mienen der Damen haben beinahe einen – ja wirklich! – tragischen Ausdruck. Sollte tatsächlich wahr sein, was die Fama in dem Klatschnest Sziemanowo herumträgt, was als unsicheres Gerücht von Mund zu Mund geht? Ich kann es gar nicht glauben. Es wäre ja so furchtbar.“ Und dabei schaute er Irma so fragend und so voller Teilnahme an, daß die junge Lehrerin nicht gut eine Antwort vermeiden konnte.

Der blonde Sekretär aber enthob Irma dieser Pflicht. Er hatte sofort gedacht: ‚Der Mensch kommt wieder als Spion, und er stellt sich recht geschickt an!‘ und sagte nun, seine Worte vorsichtig abwägend:

„Und was berichtete die Fama denn, Herr Morano?“

„Oh – schreckliche Dinge. Eine Leiche soll hier im Hause gefunden worden sein …“

Irma wehrte jedes weitere Wort durch eine hastige Bewegung ab.

„Bitte, meine Herren, – nicht wieder dieses Thema! Ich bin froh, daß das Schreckgespenst aus dem Hause ist.“

Auf diese Weise kam der peinlich Gegenstand nicht weiter zur Erörterung. Morano blieb dann auch bis zum Kaffee, obwohl er bei einigem Feingefühl hätte merken müssen, daß er heute hier sehr überflüssig war.

Gerade als Frau Parlitz mit der dampfenden, großen Porzellankanne erschien, fand sich noch ein zweiter Besucher ein: Herr von Hartwig.

Morano wurde ihm vorgestellt. Und dem Kommissar schoß es durch den Kopf: ‚Das nenne ich Glück haben! Morano – einer von den beiden, – der andere hieß Hecker!‘

Hartwig machte auch in Anwesenheit des Schauspielers durchaus keinen Hehl daraus, was ihn nach Sziemanowo geführt hatte, obwohl Fritz Melcher so vorsichtig gewesen war, bei der Vorstellung den Amtstitel des früheren Offiziers nicht zu nennen.

Auch er wurde zwanglos von Irma zu einer Tasse Kaffee eingeladen, nahm dankend an und vermied es taktvoll, auf seinen amtlichen Auftrag sofort zu sprechen zu kommen. Erst nachher bat er Irma um eine kurze Unterredung, im Verlaufe derer er nur den Wunsch äußerte, einmal die hinterlassenen Papiere der Verstorbenen durchsehen zu dürfen.

Hartwig wollte sich nämlich doch nicht allein damit begnügen, das auszuführen, was Larisch ihm geraten hatte. Die Rolle des bloßen Helfers eines Privatdetektivs behagt ihm nicht. Außerdem war er ehrgeizig und hoffte, auch auf eigene Faust hier eine Lösung des Geheimnisses des verschlossenen Zimmers zu finden.

Während der Kaffeetafel hatte es der Zufall gefügt, das Irma die Äußerung tat, ihr wäre der Lammerthof so zuwider, daß sie ihn auch gegen den Wunsch ihrer Großmutter – dies hätte Frau Hölsch in ihrem Testament besonders vermerkt – gern losschlagen würde, worauf Hartwig gesagt hatte, das gnädige Fräulein sollte hiermit nichts übereilen, man käme über derartige trübe Dinge leichter hinweg, als man anfangs denke.

Im Gegensatz hierzu hatte Morano erklärt, er fände es durchaus begreiflich, wenn Fräulein Hölsch dieses Haus verleidet sei. Und, was das schnelle Vergessen anbeträfe, das hinge doch sehr von der seelischen Veranlagung ab. Zartbesaitete Naturen würden so schauerliche Erinnerungen wohl recht schwer los. –

Nach kurzer Pause fügte er hinzu:

„Hm – wenn Sie an einen Verkauf der Besitzung denken, gnädiges Fräulein, – hier hält sich gerade ein Grundstückshändler auf, ein gewisser Mandelblüt. Ich lernte den Mann in Sziemanowo kennen. – Oder – sollte Mandelblüt schon mit Ihnen in Unterhandlungen getreten sein?“

Irma errötete merkwürdigerweise auffallend, als so die Rede auf Egon Larisch kam. Etwas verlegen verneinte sie, und Fritz Melcher hielt es für gut noch hinzuzufügen:

„Hier gewesen ist der Mandelblüt allerdings schon. Was er wollte, war jedoch nicht recht herauszubekommen. Er hat früher aber schon in Geschäftsbeziehungen zu Frau Hölsch gestanden.“ –

Hartwigs Arbeit war umsonst. Er fand in den Papieren nichts von Belang und kehrte daher gegen sechs Uhr in Gesellschaft Moranos nach der Stadt zurück, schimpfte absichtlich unterwegs auf dieses gottverlassenen Nest Sziemanowo und bat den Schauspieler, ihm abends die Zeit totschlagen zu helfen. Sie verabredeten sich für neun Uhr und trennten sich dann.

Morano suchte sofort Hecker auf, der mit ihm in demselben Hotel wohnte. Es gab nur zwei in dem Städtchen, von denen eins ausschließlich von Polen besucht wurde.

Hecker schrieb auf seinem Zimmer Briefe, stand aber sofort auf, als der Schauspieler eintrat.

„Nun – Erfolg gehabt?“ flüsterte der lange Mensch vorsichtig.

„Ja. Der Mandelblüt hat noch nichts unternommen, was auf Kaufabsichten schließen läßt. Aber die Irma Hölsch ist ganz niedergeschmettert von der Geschichte und äußerte beim Kaffee, sie möchte den Lammerthof gern loswerden. Dann habe ich noch eine sehr interessante Bekanntschaft dort drüben gemacht. Ein Posener Kommissar war da, der den Leichenfund untersuchen soll.“

Hecker zuckte die Achseln. „Interessant? Weshalb?! Was geht uns der Leichenfund an!“

Er setzte sich wieder und schob einen Brief in den Umschlag.

Morano zündete sich eine Zigarette an und betrachtete Hecker mit seltsam lauernden Blicken.

„Sagen Sie mal, wie lange soll’s mit der Geheimniskrämerei eigentlich noch weitergehen?“ meinte er recht trotzigen Tones. „Denken Sie, ich will hier den Spion spielen, ohne ganz eingeweiht zu sein?!“

Hecker drehte sich mit einem Ruck um.

„Was ist in Sie gefahren, Morano? – Sind Sie nicht für die Kleinigkeiten, die man von Ihnen verlangte, reichlich bezahlt worden?!“

„Bezahlt?! Große Sache – dreihundert Mark habe ich von Holwicki damals gerade erhalten, und dann hier von Ihnen hundert! Ich mache nicht mehr mit, wenn ich nicht erfahre, um was es sich hier handelt.“

„Mein Lieber, das brauchen Sie ja nicht! Wer zwingt Sie dazu!“

„Ah – so pfeift der Wind aus der Luke! Ich verstehe, der Mohr hat seine Schuldigkeit getan – der Mohr kann gehen! – Aber da haben Sie sich geschnitten, Wertester! So ganz von Dummsdorf sind wir doch nicht. Ich möchte Sie daran erinnern, was dieser feine Herr Gabriel Holwicki, der trotz seiner übervornehmen Kavalieremanieren doch in Verkleidung sich in anständiger Häuser einschleicht, mir seinerzeit versprochen hat, als er als Mieter bei meiner Mutter sich an mich heranschlängelte und mir nahelegte, mein Engagement beim Wandertheater hier in Sziemanowo noch für private Zwecke auszunutzen, – eben für ihn den Spion zu spielen! Fünfhundert Mark sollte ich noch bekommen, wenn …‚die Sache glückt‘, – so drückte er sich aus, – fünfhundert Mark! Und er fügte hinzu: ‚Worum es sich handelt, erfahren Sie später. Vorläufig lassen Sie alles Fragen!‘ – So liegt die Geschichte, Herr Erwin Hecker – so! Und jetzt verlange ich, daß sie als Holwickis Vertrauter dessen Versprechen einlösen. Heraus mit der Sprache also! Ich will nicht länger wie ein Blinder Ihr Werkzeug sein!“

Hecker lächelte spöttisch.

„Wissen Sie, wie man so etwas nennt, Morano? – Erpressungsversuch! Ihnen liegt doch nur an dem Gelde, und …“

Der Schauspieler war bleich geworden und mit einem schnellen Schritt dicht vor den anderen hingetreten.

„Kein Wort weiter!“ schnitt er Hecker den Satz ab, „kein Wort …! Ich mag ein Bruder Leichtfuß sein, – ein Lump bin ich nicht! Meine Beweggründe zu meiner Forderung nach voller Offenheit zwischen uns sind andere, ganz andere. Ich habe bis gestern geglaubt, daß es sich hier lediglich um eine harmloses Geschäft handelt, – welcher Art, blieb mir unbekannt. Dann schickten Sie mich nach dem Lammerthof und gaben mir den merkwürdigen Auftrag festzustellen, ob Fräulein Hölsch das Spukzimmer schon betreten hätte. Nachmittags wird in demselben Raum der Tote gefunden. Da wurde ich stutzig. Und heute mußte ich wieder hinaus, sah, daß die Kriminalpolizei schon die Arbeit begonnen hatte. Halten Sie mich wirklich für so – so dämlich, Hecker, daß ich nicht herausmerken sollte, wie weit Ihr Interesse an dem Lammerthofe geht, – eben bis hinein in das Spukzimmer und bis zu dem Toten?! Ich habe jetzt das ganz bestimmte Empfinden, daß hier eine Teufelei eingefädelt ist, bei der man mich nichtsahnend als Werkzeug gebraucht hat. Wenn ich mich irren sollte – sprechen Sie! Ich verehre Fräulein Hölsch, habe schon längst bedauert, mich auf die Sache überhaupt eingelassen zu haben. – Los, Mann, verteidigen Sie sich und Ihren sauberen Kumpan Holwicki!“

Heckers Stirn lag in Falten. Er blickte nachdenklich vor sich hin und spielte mit dem Federhalter.

„Sie sind ein kompletter Narr!“ sagte er dann. „Ich habe nicht das Recht, Sie aufzuklären, tatsächlich nicht. Aber ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, Morano, daß es sich ausschließlich um eine große Finanzspekulationen handelt. Hier noch meine Hand darauf. Im übrigen trifft Holwicki wahrscheinlich übermorgen hier ein. Dann können Sie auch ihn fragen.“

Morano war unsicher geworden.

„Es handelt sich also wirklich nicht etwa um ein Rachekomplott gegen die Familie Hölsch?“ meinte er langsam.

„Nochmals mein Wort – Nein, keine Spur davon! Und auch ich verspreche Ihnen heute nochmals: Glückt die Spekulation, so erhalten Sie noch mehr als nur fünfhundert Mark! – Hier, nehmen Sie gleich noch hundert als Abschlagszahlung! – So, das ist vernünftig! Weg mit dem blauen Lappen. Und nun seien Sie wieder friedlich.“

Morano hatte sein Gewissen beruhigt. Und bei seiner Charakterveranlagung taten die hundert Mark auch das ihrige.

Die Freundschaft war wiederhergestellt. Und als Beweis, daß er ein völlig reines Gewissen hätte, schloß sich Hecker dann dem Schauspieler an, als dieser zu der mit dem Kommissar getroffenen Verabredung aufbrach.

Hartwig merkte sehr bald, daß Hecker unmöglich Pferdehändler sein könne, obwohl der lange Mensch sich alle Mühe gab, sich nicht durch seine Manieren als Zugehöriger einer anderen Gesellschaftsschicht zu verraten. Dem Kommissar gelang es dann auch, bei einem soliden Skat Hecker ganz unauffällig eine Schriftprobe abzulisten. Als er diese nachher mit seinen in solchen Dingen geübten Augen mit der Denunziation verglich, fand er tatsächlich verschiedene Merkmale heraus, daß Hecker jenen Brief an den Amtsrichter geschrieben hatte. Desto mehr Achtung bekam er aber auch hierdurch vor Egon Larisch, der ihm ohnehin mit seiner bescheidenen Art recht sympathisch war. – –

Am folgenden Tage überbrachte der Postbote Irma Hölsch einen eingeschriebenen Brief aus Berlin.

Der Umschlag zeigte den Aufdruck:

Chemische Werke Berolina

Inh. Karl Miegler, Königl. Kommerzienrat

Berlin NW. Sickingenstraße 12 – 23

Fernruf Moabit 1438

‚Miegler! Miegler!‘ – Irma ging es wie ein leises Schmerzgefühl durch das Herz. – Luzie Miegler, verwitwete Baronen Szestöni …! Das war die Frau, die Larisch einst geliebt hatte und deretwegen er nach München gegangen war, um ihr nicht mehr zu begegnen …

Irma starrte noch immer wie gebannt auf den Firmenaufdruck. Und ihre Gedanken eilten in die Ferne, – dorthin, wo der Mann jetzt weilte, der sich so uneigennützig dieser dunklen Rätsel angenommen hatte. Und wieder dachte sie wie so oft in den letzten Tagen: ‚Welch’ seltener Mensch – wie klug, wie energisch, wie so ganz anders als die Herren, die ich bisher kennen gelernt habe …‘

Langsam schnitt sie dann den Brief auf, indem sie zu ihren Gästen sagte, mit denen sie gerade an der Mittagstafel saß: „Merkwürdig – ein Einschreibebrief von Kommerzienrat Miegler …!“

Dann las sie den mit Maschine geschriebenen Geschäftsbogen.

Fräulein Irma Hölsch
z.Z. Lammerthof bei Sziemanowo
Provinz Posen

Sehr geehrtes Fräulein !

Wie ich durch meinen Posener Vertreter erfahren habe, sind Sie durch Erbschaft Eigentümerin des Lammerthofes geworden, den ich bereits einmal von Ihrer Frau Großmutter käuflich erwerben wollte, um dort einen Schafzuchtbetrieb im großen einzurichten. Die Verhandlungen haben sich damals aber zerschlagen, da Frau Hölsch einen Preis forderte – fünfzigtausend Mark –, der den Wert der Besitzungen um das Doppelte überstieg. Mit fünfundzwanzigtausend Mark ist der Lammerthof reichlich bezahlt, was Ihnen jeder Sachverständige bestätigen wird. Ich biete Ihnen auch heute diese Summe und würde zehntausend Mark sofort anzahlen, den Rest mit fünf Prozent verzinsen. Ich bitte um umgehende Antwort, da ich noch wegen eines zweiten mir geeignet erscheinenden Besitzes in Unterhandlungen stehe.

Hochachtungsvoll

p.P. Holwicki
erster Prokurist

Chemische Werke Berolina

Irma reichte den Brief Fritz Melcher und sagte:

„Ein Wink des Schicksals! Man bietet mir fünfundzwanzigtausend Mark für den Lammerthof. Und meine Großmutter hat in ihrem Testament nur zweiundzwanzigtausend Mark als Wert angegeben. Ich werde zugreifen. Ich werde seit der Antwortdepesche der ‚treuen Hand‘ die Angst nicht los, daß hier noch mehr Schrecken meiner harren.“

Fritz Melcher nickte. „Verdenken kann man’s Ihnen nicht, liebe Irma. – Aber, was meinen Sie, – ob wir nicht erst telegraphisch bei Egon anfragen, was er Ihnen rät. Frau Pergament wird schon wissen, wo er zu finden ist.“

„Ja – ja, – Sie haben recht, Fritz, – wir dürfen Larisch nicht übergehen. Ich habe so großes Vertrauen zu ihm.“

Sie war ganz rot geworden vor Eifer.

Und Hedwig Melcher lächelte schmerzlich … – –

Abends neun Uhr war Egons telegraphische Antwort da:

Rate dringend anzunehmen per Draht und Miegler zum Kaufabschluß nach dort zu bitten. –

Larisch

„Seht Ihr,“ sagte Irma zu den Geschwistern, „auch er hält es für besser, daß ich dieses unheimliche Haus verkaufe. – Parlitz soll sofort anspannen und meine Depesche an Miegler in Sziemanowo aufgeben.“

 

15. Kapitel.

Am Tage des Verkaufes.

Am nächsten Tage gegen Mittag fand sich Herr von Hartwig wieder einmal auf dem Lammerthof ein, hauptsächlich um Fritz Melcher bei guter Gelegenheit beiseite zu nehmen und ihn zu fragen, ob denn Larisch nichts von sich habe hören lassen.

„Sehen Sie, Herr Melcher,“ meinte er ehrlich, „ich allein werde mit dieser Geschichte nicht fertig. Ich habe ja den Toten nochmals photographieren lassen und Abzüge mit genauer Beschreibung an alle größeren Polizeiämter geschickt, damit man nachforscht, ob ein Mann von diesem Aussehen irgendwo vermißt wird. Na – und wenn diese Nachforschungen erfolgreich sein sollten, – was hilft mir das?! Nichts – nicht! Der Kreisarzt meint, der Mann könnte sehr wohl ermordet worden sein, sogar sehr wahrscheinlich! Wo aber den Mörder suchen?! Ist’s wirklich die alte Frau Hölsch gewesen, der man hier nur das allerbeste Zeugnis ausstellt?! –

Ich sage Ihnen, diese ganze Geschichte ist ein reiner Rattenkönig von Rätseln! Auch der Amtsrichter gibt mir in dieser Beziehung recht. – Nebenbei – Weber hat eine reizende Frau. Sie interessiert sich kolossal für diesen Fall. Gestern Abend war ich bei ihnen zu Gast. Da haben wir wieder viel über Ihren Freund Larisch gesprochen, auch großes Rebusraten veranstaltet. Und das Rebus waren die geheimnisvollen Worte ‚Il akla gerlam‘. –

Die Frau Amtsrichter hat sich totgelacht, als ihr Mann und ich einen ganzen Bogen mit Lösungsversuchen vollgeschmiert hatten.“

Hartwig empfahl sich dann bald wieder, nachdem er als einzige Neuigkeit von dem Kaufangebot Mieglers durch Irma erfahren hatte.

Nachmittags gegen vier Uhr trafen dann auf dem Lammerthof, im Wagen von Sziemanowo kommend, Kommerzienrat Miegler und sein erster Prokurist Gabriel Holwicki ein.

Miegler war ein etwas korpulenter, sehr elegant gekleideter Herr mit blassem Gesicht und einer überlegenen Ruhe. Er hatte stark vorquellende Augen, deren Ausdruck nicht gerade angenehm war, – prüfend und lauernd.

Gegen seine abgeklärte Gelassenheit stach die nervöse Quecksilbrigkeit des geckenhaften, schlanken Holwicki stark ab. – ‚Holwicki sieht wie ein Rennreiter aus mit seinem mageren Gesicht,‘ dachte Fritz Melcher.

Die beiden Herren nahmen mit Irma in der Veranda Platz. Nachher rief die junge Besitzerin des Lammerthofes auch noch Melcher hinzu, da sie in geschäftlichen Dingen allzu umgewandt war.

Irma hielt sich für verpflichtet, Miegler mitzuteilen, was ihr geschehen war, erzählte von der Auffindung der Leiche, ohne jedoch Einzelheiten zu erwähnen, die nicht direkt etwas mit der Entdeckung des Toten zu tun hatten.

An Stellen Mieglers antwortete Holwicki, der überhaupt zumeist das Wort führte.

„Dieser Tote ist für uns kein Grund, den Abschluß des Kaufvertrages zu verzögern oder gar von dem Geschäft Abstand zu nehmen,“ erklärte er.

In diesem Augenblick erschien Thilde Melcher in der Veranda und bat Irma für einen Augenblick hinaus.

„Frau Parlitz will dich etwas fragen, wegen des Abendbrotes,“ sagte sie, „die Herren entschuldigen die Störung wohl.“

Als die beiden Damen über den Hof gingen, flüsterte Thilde ganz aufgeregt:

„Irma, das mit dem Abendbrot ist nur eine Finte. Denk’ dir, – Larisch ist wieder da – wieder als Mandelblüt verkleidet.“

Irmas Herz begann schneller zu klopfen.

„Wirklich? Larisch? Wo ist er denn?!“ fragte sie freudig.

„In der Parlitzschen Wohnung.“

Der Kaftanjude hielt bei der Begrüßung Irmas Hand sehr lange in der seinen.

„Ich bringe gute Botschaft,“ sagte er strahlend. „Heute habe ich jedoch nicht Zeit, Ihnen über meine Berliner Erlebnisse zu berichten. Vielleicht morgen. – Noch etwas, die Hauptsache. Ich weiß, daß Miegler und der Prokurist bei Ihnen sind. Dringen Sie darauf, daß der Kaufvertrag morgen Vormittag vor dem Grundbuchrichter in Sziemanowo abgeschlossen wird, nicht vor einem Notar. Geben Sie als Grund an, Sie hätten mehr Vertrauen zu Amtsrichter Weber als zu dem alten Justizrat Neubauer. –

So, nun gehen Sie wieder. – Auf Wiedersehen morgen, Fräulein Irma.“

Miegler erklärte dann, ihm sei es sehr gleichgültig, ob er mit Hilfe des Gerichts oder eines Notars Besitzer des Lammerthofes würde, und man trennte sich in vollem Einvernehmen.

Am Abend dieses Tages goß es in Strömen. Gegen zehn Uhr schlüpfte Mandelblüt in das Haus des Amtsrichters, pudelnaß, so daß er den Kaftan zum Trocknen ablegen mußte.

Auch Herr von Hartwig war von dem Amtsrichter hinzugebeten worden.

Wenn die Herren aber gehofft hatten, daß Larisch nun endlich über die ‚treue Hand‘ und das Geheimnis des Tempels der Liebe sich rückhaltlos äußern würde, mußten sie eine herbe Enttäuschung hinnehmen.

„Morgen, meine Herren, morgen ist der große Tag, und der Schauplatz der Handlung wird Ihr Dienstzimmer sein, Herr Amtsrichter.“

Trotzdem hatte man noch verschiedenes zu besprechen.

Larisch übernachtete dann wieder bei Webers auf dem Diwan.

*

Der große, dreifenstrige Raum, das Grundbuchamt von Sziemanowo, wurde am anderen Morgen auf Anordnung Webers besonders hergerichtet. Die Tür, die in das Zimmer der Gerichtsschreiberei führte, erhielt eine dicke, grüne Portiere, so daß in der Türfüllung ein Stuhl untergebracht werden konnte, auf dem Herr von Hartwig alles mitanhören sollte, was vor dem Grundbuchrichter verhandelt wurde.

Um neun Uhr erschienen die Parteien gleichzeitig, Irma und Fritz Melcher, Miegler und der Prokurist. Vorher hatte der Kommissar hinter dem Vorhang Platz genommen.

Weber, leicht erregt, bat die Herrschaften, mit den Stühlen näher an seinen Amtstisch heranzurücken. So saßen denn Fräulein Hölsch und Melcher links an der Schmalseite des Tisches, der Kommerzienrat und Holwicki rechts am Fenster.

Der Prokurist begann sofort zu erklären, um was es sich handle.

„Ah, Sie wollen den Lammerthof verkaufen, Fräulein Hölsch?“ fragte Weber darauf. „Weiß denn die Gegenpartei auch, was – hm, ja – was für ein Geheimnis auf dem Hause lastet?“ –

Der Amtsrichter verfuhr genau so, wie Larisch es gewünscht hatte.

„Jawohl, natürlich,“ beeilte sich Holwicki zu erwidern. „Fräulein Hölsch hat uns die Geschichte gestern mitgeteilt. Für Geschäftsleute will eine aufgefundene Leiche aber nicht viel besagen.“ Der Prokurist lächelte ein wenig, als ob er dadurch andeuten wollte, daß ihm und Miegler der Tote höchst gleichgültig wären.

„Gut, gut, – dann zu den näheren Bedingungen des Kaufabschlusses,“ meinte Weber. „Der Preis soll also fünfundzwanzigtausend Mark betragen, davon werden zehntausend Mark …“

Er unterbrach sich, rief „Herein!“, da es geklopft hatte.

Niemand erschien. –

Wieder klopfte es.

„Herein!“ brüllte der Amtsrichter jetzt, – „Herein, zum Donner! – An der Flurtür steht doch groß genug: Nicht anklopfen!“

Nun erst schob sich Jakob Mandelblüt mit vielen Bücklingen ins Zimmer.

„Sie wern verßein, Herr von Richterleben, wo ich doch stere die Herrschaften. Aber ich komme erfahren zu haben heite morgen soeben auf dem Lammerthof, daß das Freilein will tun verkaufen ihren scheinen Besitz, auf dem ich hab geworfen auch seit langem ein Auge. Ich mecht’ machen auch e Angebot, wo doch is der Grundstückshandeln mei Geschäft. Dreißigtausend Mark biet ich – dreißigtausend.“

Holwicki war aufgesprungen, ganz rot vor Wut.

„Hier ist nichts mehr zu machen, Jude! Die Sache ist schon erledigt,“ rief er.

„Gestatten Sie,“ mischte Weber sich ein, „erledigt? Das ist ein Irrtum, Fräulein Hölsch hat noch freie Hand, dieses günstigere Angebot anzunehmen.“

Miegler und der Prokurist steckten jetzt die Köpfe zusammen und flüsterten eine Weile miteinander. Dann sagte Holwicki mit erheuchelter Ruhe:

„Wir bieten einunddreißigtausend Mark.“

Mandelblüt wiegte wie mißbilligend den Kopf hin und her.

„Gott – was for e Geld! Und for nix wie Schafweide! Nu, da muß ich wollen nehmen Abstand von die Sach’.“

Miegler und Holwicki atmeten sichtlich erleichtert auf.

Aber Mandelblüt blieb noch immer, obwohl Weber recht deutlich nach der Tür gezeigt hatte, rückte seine Brille zurecht und starrte Miegler jetzt unverwandt an. Dann sagte er bedächtig:

„Sie werdn verßein, – sind Sie der Kommerzienrat Miegler, wie man mir hat gekonnt sagen heit auf dem Lammerthof?“

„Ja. Der bin ich. – Aber, was wollen Sie denn noch hier?! Sie halten uns ja nur auf.“

„Oh, – verßein, Herr von Miegler, ich war letztens bei Ihre sehr scheine Frau Gemahlin, ihr zu verkäufen gute Seif’. Und da war jener Herr bei ihr, wo eben mich hat geschrien an mit Jude, was e feingebildeter Mann nich tut. Und jener Herr sah damals aber ganz e bißchen anders aus, ganz. Ich habe gute Äugen, und damals hab ich gesehn, daß der Herr war nur verkleidet.“

„Blödsinn!“ Holwicki lachte auf. „Der Mensch ist betrunken. Ich kenne ihn nicht. Weisen Sie ihn hinaus, Herr Amtsrichter.“

„Nu nu – ich bin nüchtern – ganz. Aber ich will geben zu, ich kann mich irren. Dann war’s nich gewesen bei die sehr scheine Frau Miegler, sondern bei die Frau Mießtaler in Berlin-Moabit. Aha – nu werd’n Sie blaß, Herr, sehn Sie. ’s stimmt also – bei die Mießtaler, wo gewohnt hat auch das Fräulein Hölsch.“

Der Prokurist hatte sich schnell erhoben.

„Einen Augenblick Entschuldigung, Herr Amtsrichter,“ sagte er mit etwas erzwungenem Lächeln. „Ich will nur draußen auf dem Flur mich mit diesem mosaischen[2] Herrn auseinandersetzen. – Kommen Sie,“ wandte er sich an Mandelblüt. „Wir wollen die Herrschaften hier nicht belästigten.“

Auf dem Flur trat Holwicki ganz dicht an den Kaftanjude heran.

„Wozu reden Sie eigentlich all diesen Unsinn?“ fragte er unsicher.

„Wozu?! Na – meine guten Äugen sind doch e Stück Geld wert. Sie haben gewohnt bei die Mießtaler als Gustav Heberlein, und der Herr, wo jetzt ist hier in Sziemanowo als Pferdehändler, der lange, große, is Ihr Freind, und er war gewesen zu reparieren das Licht bei der Mießtaler in die Stube von das Fräulein Hölsch, wo dann war’n verschwunden vierzig Mark, wie mir hat gewußt ßu erzählen die Frau Mießtaler. For solche gute Äugen gibt mancher e Hundertmarkschein.“

Holwicki war wieder sehr blaß geworden.

„Mann, das ist ja alles Blech,“ preßte er hervor. „Aber damit Sie das Ihnen eben an der Nase vorbeigegangene Geschäft leichter verschmerzen – hier haben Sie einen Blauen! Und nun verschwinden Sie!“

„Sehn Sie – e Stück Geld for gute Äugen!“ grinste der Kaftanjude. „Nu – ich weiß Bescheid. Aber ich wird’ nix reden mehr – gehn Sie man, Herr Heberlein.“

„Blödsinn!“ Und Holwicki kehrte schnell in das Amtszimmer zurück, wo er achselzuckend sagte: „Ich habe dem Manne ordentlich heimgeleuchtet. – Bitte – beeilen wir uns jetzt.“

Aber Weber zog die mündliche Aussprache absichtlich in die Länge, so daß Miegler schon ungeduldig wurde.

Gerade als der Amtsrichter dann den schriftlichen Vertrag aufzusetzen begann, trat Larisch ein, aber der wirkliche Larisch, verbeugte sich leicht und sagte, sich an Holwicki wendend, der ganz steif auf seinem Stuhl saß und den Schriftsteller wie einen bösen Geist anstierte:

„Persönlich kennen wir uns ja noch nicht, Herr Holwicki, aber wir haben trotzdem einiges Interesse für einander bezeigt.“

Er holte sich einen Stuhl und setzte sich.

„Sie werden dieses Interesse kaum leugnen können,“ fuhr er dann fort. „Ich habe erst kürzlich erfahren, daß Sie sich bei meiner Wirtin, der Frau Pergament, nach mir erkundigt haben, allerdings in einer Verkleidung. Ich war damals gerade in … Dresden. Frau Pergament ist nun eine sehr argwöhnische alte Dame und hat Ihnen ihren Verwandten, einen jüdischen Händler, heimlich nachgeschickt. So kam heraus, daß Sie derjenige waren, der sich so sehr für mich interessierte. Ich kann Ihnen jederzeit die Frau Pergament gegenüberstellen, falls Sie wirklich Ausflüchte machen sollten, auch den jüdischen Händler, der sich zufällig jetzt hier in der Stadt auffällt und dem ich vorhin auf der Straße begegnet bin.“

Holwicki betupfte sich die Stirn mit dem Taschentuch.

„Ich weiß wirklich nicht, zu welchem Zwecke Sie …“ Er suchte umsonst nach einer Fortsetzung des begonnenen Satzes.

„Sie geben also dieses merkwürdige Interesse zu?“ fragte Larisch gelassen.

„Ich – ich hatte meine Gründe dafür,“ stotterte der in die Enge getriebene Holwicki. Er fürchtete, daß der Schriftsteller womöglich den Kaftanjuden herbeirufen und dies noch bösere Folgen haben könnte.

„So – sehr wichtig. – Ich bitte sich das zu merken, Herr Amtsrichter! Herr Holwicki gesteht ein, mir nachspioniert zu haben.“ Und zu dem Prokuristen: „Übrigens sind Sie eben in eine Falle gegangen. Die Pergament hat gar nicht daran gedacht, Ihnen jenen Händler nachzuschicken. Ich vermutete nur, daß Sie es gewesen waren, der gern wissen wollte, wo ich steckte und der dann sehr befriedigt schien, als er hörte, ich wäre in Dresden. – Welche Gründe hatten Sie denn nun, mir eine derartige Beachtung zu schenken?“

Holwicki merkte, daß es hier um den höchsten Einsatz ging, daß Larisch mit ihm abrechnen wollte. In seinem Hirn jagten sich die Gedanken in angstvoller Hetze. Was wußte Larisch …? Wie weit war er von allem unterrichtet …? – Gerade diese Ungewißheit war fürchterlich.

Und die Zuschauer dieses messerscharfen Wortgeplänkels warteten in atemloser Spannung auf das, was sich aus diesen Anfangsszenen entwickeln würde. Nur der Kommerzienrat lehnte bleich wie ein Toter mit halb geschlossenen Augen in seinem Stuhl und suchte vergeblich das nervöse Flattern seine Hände zu unterdrücken.

„Bitte – Ihre Gründe, Herr Holwicki,“ sagte Larisch jetzt befehlen. „Ah – Sie ziehen es vor zu schweigen. Oder läßt Sie Ihr Gedächtnis im Stich? Dann darf ich Ihrem Erinnerungsvermögen wohl etwas aufhelfen. – Als Sie bei Frau Mießtaler unter den Namen Gustav Heberlein wohnten, erhielten Sie eines Tages einen anonymen Brief, aus dessen Inhalt Sie erfuhren, daß Sie meinen Verdacht erregt hatten, als ich in einer Verkleidung die Kanzleirätin eines bei Fräulein Hölsch verübten Diebstahles wegen aufgesucht hatte. Dieser Brief ist dann zur Abfassung eines anderen benutzt worden, der Fräulein Hölsch zuging, und zwar zu dem Zweck, sie vor mir zu warnen. Näher brauche ich auf den Inhalt dieser beiden Briefe nicht einzugehen, da er Ihnen ja bekannt ist.“

Inzwischen hatte Holwicki aber doch soweit seine Unverfrorenheit wiedererlangt, um Larisch durch ein höhnisches Auflachen zu unterbrechen, dem er die Worte folgen ließ:

„Ich staune! Erzählen Sie hier ein Kapitel aus einem Ihrer Romane …?! Dazu dürfte dieser Ort sich kaum recht eignen.“

„Allerdings, – ein Kapitel aus dem Roman ‚Der Tempel der Liebe‘, den ich zum Teil miterlebt und … mitbearbeitet habe – als Detektiv …! – Ich glaube, Sie werden Ihren Ton mir gegenüber sehr bald ändern. Wenn Sie sich einmal Ihren Herrn Chef da neben Ihnen ansehen wollen – so schaut nur das verkörperte Schuldbewußtsein aus!“

Miegler versuchte hochmütig zu lächeln. Aber es wurde nur ein Verzerren des blassen Gesichts.

„Dieser Brief an Fräulein Hölsch,“ fuhr Larisch fort, „war der vierte, den sie von der ‚treuen Hand‘ erhielt. Er wirkte auch, das heißt, die junge Dame legte mir nahe, mich nicht weiter mit der Untersuchung der geheimnisvollen Briefe zu befassen. Ich tat es trotzdem, begab mich wieder zu der Mießtaler, erfuhr dort, daß Sie plötzlich ausgezogen waren, und fand in Ihrer Stube ein Bild und einen recht interessanten Wandkalender. Beides war Ihr Eigentum. Das Sportbild hatte Luzie von Szestöni Ihnen geschenkt, und der Abreißkalender trug auf vier Blättern eine kurze Notiz in einer Geheimschrift ‚Il akla gerlam‘, dahinter die Zahlen 1, 2, 3, 4. Diese Kalendertage waren die, an denen die vier Briefe der ‚treuen Hand‘ zur Absendung – scheinbar – gelangt waren, – scheinbar, weil eben auf die Umschläge entwertete Marken geklebt waren und in Wirklichkeit Sie selbst die Schreiben in Fräulein Hölsch Briefkasten geworfen hatten. Daß Sie also mit zu der ‚treuen Hand‘ gehörten, war erwiesen.“

„Unglaublich albern!“ lachte Holwicki auf.

Larisch nahm keinerlei Notiz davon, berichtete vielmehr weiter alles das, was er dann unternommen hatte, um den verschwundenen Heberlein zu finden und was sich auf dem Lammerthof bis zu dem Augenblick abgespielt hatte, wo die Behörde nach der Denunziation die Leiche in dem verschlossenen Zimmer auffand.

Jetzt mischte sich der Kommerzienrat ein, erhob sich plötzlich und sagte zu dem Amtsrichter ziemlich hochfahrenden Tones:

„Ich ersuche Sie, diesen Herrn da,“ – auf Larisch deutend – „hinauszuwerfen. Es ist doch geradezu unerhört, daß wir hier von einem Schwätzer belästigt werden, der …“

Hier unterbrach ihn Weber jedoch kurz und schneidend:

„Ich verbiete mir derartige Äußerungen, Herr Kommerzienrat. In diesem Zimmer habe ich zu entscheiden, was geschehen darf und was nicht. – Setzen Sie sich wieder.“

Miegler schaute ganz hilflos auf seinem Prokuristen. Aber der starrte zu Boden. – Und Larisch sprach schnell weiter.

„Ich gebe zu, daß ich zuerst angenommen habe, es könnte sich um einen Mord handeln. Jedenfalls war ich mir über die ganze Sache recht lange im unklaren. Zuerst wurde ich etwas stutzig, als mich der alte Parlitz darauf aufmerksam machte, daß ohne Zweifel seit kurzem ein neues Schloß sich in der Krampe befand. Noch stutziger wurde ich, als herauskam, daß nach dem Tode der Frau Hölsch in der kleinen Schublade des Sekretärs kein Schlüssel zu diesem neuen Schloß gelegen hatte, während ich doch dort einen solchen vorfand, und daran ein Papptäfelchen, festgebunden mit gelbem Zigarrenband. Hierdurch war schon eine Vermutung von recht großer Wichtigkeit gegeben. Es mußte jemand in das Haus nach dem Tode der Frau Hölsch eingedrungen sein und den Schlüssel in die Schublade gelegt haben. Und hieraus ließ sich wieder der naheliegende Schluß ziehen, daß dieser Jemand gleichzeitig auch das neue Schloß vor den Tempel der Liebe gelegt und das alte entfernt hatte; und weiter fragte ich mich nun, wozu hat dieser Jemand das Schloß ausgetauscht? – Antwort, weil er zu dem früheren Schloß den Schlüssel nicht besaß, auch nicht fand, so daß er, um in das Zimmer zu gelangen, das alte Schloß aufbrechen mußte. Und weiterhin mußte ich mich fragen, wozu wollte der Unbekannte durchaus in jenen Raum hinein? –

Hier war eine zuverlässige Antwort schon schwerer zu finden. Ich habe viel darüber nachgegrübelt. Aber ich kam auf keine Lösung, die mich befriedigte. Dann erschien Amtsrichter Weber auf dem Lammerthof, um auf die Denunziation hin die Leiche zu beschlagnahmen. Ich gab mich zu erkennen, und wir wollten gemeinsam weiter an der Aufklärung der mysteriösen Geschichte arbeiten. An demselben Nachmittag noch nahm ich das Tagebuch der Frau Hölsch, das mich schon die geheime Treppe hatte finden lassen, nochmals vor, stieß so auf den Namen Miegler und ging zu Parlitz, der mir folgendes erzählte:

Miegler hatte mit Frau Hölsch wegen Erwerbes des Lammerthofs in Unterhandlung gestanden, hatte auch mit deren Erlaubnis in der Heide Bohrversuche gemacht, angeblich, um die Bodenbeschaffenheit kennen zu lernen, also um durch die Erdbohrer Bodenproben herauszuholen. Aus dem Geschäft wurde nichts. –

Zum Schluß sagte mir Parlitz bei dieser Gelegenheit noch, daß er den Ingenieur, der damals für Miegler die Bohrversuche geleitet hatte, in Sziemanowo jetzt wieder in Begleitung Moranos gesehen hätte. –

In diesem Augenblick, als der Alte mir solches zu berichten wußte, zerriß das Dunkel, wie von einem Blitzstrahl urplötzlich erhellt, – denn ich war ja mit diesem Ingenieur und mit Morano – ersterer spielte jetzt allerdings den Pferdehändler – in einer Kneipe zusammengewesen und hatte beobachtet, daß beide sich vielsagend ansahen, als ich das verschlossenen Zimmer erwähnte, von dem man in Sziemanowo als von dem Spukzimmer spricht. Der eine sehr beredte Blick, zwischen diesen Männern ausgetauscht, genügte, als ich diese Tatsache jetzt in meine bisherigen Feststellungen einreihte. Da ergab sich eben der Verdacht, daß diese Leute auch von der Leiche etwas wußten, daß womöglich jener Hecker der Unbekannte war, der das Schloß ausgewechselt hatte …! So stellte ich in Gedanken eine Verbindung her, die von den Briefen der ‚treuen Hand‘ über Heberlein, Miegler, den Bieter auf den Lammerthof, Morano und Hecker zu der Leiche in der Kiste führte. Ich erblickte mit einemmal ein ganzes Komplott, eine Anzahl von Personen, die unfehlbar mit zur ‚treuen Hand‘ gehörten, und gelangte zu der Überzeugung, daß – – Fräulein Hölsch durch die Briefe der Lammerthof hatte verleidet werden sollen, daß Miegler seine Kaufabsichten noch lange nicht aufgegeben hatte, jetzt aber mit anderen Mitteln vorging, um seinen Zweck zu erreichen.“

„Unglaublich! Ein gemeiner Streich!“ sagte Amtsrichter Weber schneidend, indem er Miegler und Holwicki einen vernichtenden Blick zuwarf.

„Gemeiner Streich ist noch sehr milde ausgedrückt,“ meinte Larisch. „Das werden Sie bald einsehen, Herr Amtsrichter. Die Hauptsache kommt ja noch! – Um die Probe aufs Exempel zu machen, wurde nach Berlin postlagernd an die ‚treue Hand‘ depeschiert. Die Antwort ist bekannt, daß der Lammerthof noch weitere unangenehme Geheimnisse hätte! –

Ich überschaute trotz alledem die Zusammenhänge der Dinge doch immer noch nicht völlig. Zwei dunkle Punkte blieben. Erstens der Tote in der Kiste und zweitens die Frage: weshalb liegt Miegler so ungeheuer viel daran, die Besitzung an sich zu bringen? –

Zunächst die Leiche. –

Handelte es sich hier wirklich um ein Verbrechen, von dem die ‚treue Hand‘ zufällig Kenntnis erhalten hatte, so daß sie dieses Wissen mit dazu benutzen konnte, den Briefen einen besonders geheimnisvollen Anstrich zu geben, um so deren Wirkung auf Fräulein Hölsch zu erhöhen? –

Und dann, mußte nicht Miegler am Lammerthof geradezu ungeheuer viel liegen, da der einen solchen Apparat in Szene setzte, um in den Besitz des Grundstücks zu gelangen?! Und was ist nun der Lammerthof? –

Alte Gebäude und Heideboden – nichts weiter, also etwas, das Miegler mit Leichtigkeit auch anderswo finden konnte! Und trotzdem diese Machenschaften, dieses ganze heimliche Spiel, das mit den Briefen und dem verkleideten Heberlein beginnt und hier eine Fortsetzung findet durch die Anwesenheit Heckers in Sziemanowo und durch den Spionendienst des Schauspielers. Warum all das um den Lammerthof?! –

Ist man romantisch veranlagt, könnte man an einen Schatz denken, der vielleicht in dem alten Flügel, dem Turme etwa, verborgen liegt und nach dem Miegler mit allen Mitteln trachtet. Auch ich habe dies einen Moment ins Auge gefaßt, den Gedanken aber wieder verworfen. Wenn man weiß, wo ein Schatz liegt, kann man ihn, zumal aus dem Lammerthof, dessen Wohnhaus nach dem Tode der Frau Hölsch viele Tage leerstand, bei Nacht und Nebel holen, braucht den Grund und Boden nicht zu erwerben und wird nicht eine ganze Verschwörung anzetteln, wie dies hier geschehen ist. Also den Schatz verwarf ich und … stand weiter vor dieser ungelösten Frage, der nicht beizukommen war.

Dann erschien der Kriminalkommissar von Hartwig auf dem Plan. Wir besichtigten gemeinsam den Tempel der Liebe. Und dabei machte ich eine sehr wichtige Entdeckung.“

Larisch schilderte den von ihm bemerkten rötlichen Streifen auf der Unterseite der Kiste, entwickelte die Schlußfolgerungen, die er aus dem durch Scheuern auf dem roten Leder entstandenen Strich gezogen hatte und fuhr fort: „Bei der Besichtigung der Leiche durch den Kreisarzt gab dieser sein Urteil dahin ab, daß der Mann vor etwa drei Monaten den Tod gefunden haben könne. Außerdem wurde von mir der Kopf der Leiche photographiert, und wie stellten noch ein Leberfleck am Halse als besonderes Merkmal fest. –

Da entschloß ich mich, nach Berlin zu fahren. Meine Gründe hierzu waren folgende: Jener rötliche Streifen auf dem Kistenboden konnte nur, wie ich schon entwickelt habe, durch einen längeren Transport der Kiste in einem Auto hervorgerufen worden sein. Hinzufügen möchte ich jetzt noch, daß ich mir auch gesagt hatte – und hierauf mache ich ganz besonders aufmerksam! –, daß, wenn die Kiste ohne Inhalt in dem Auto die Fahrt mitgemacht hätte, ihr Druck gegen das Sitzpolster nie so stark gewesen wäre, um einen derartigen Scheuerstrich zur Entstehung gelangen zu lassen, daß also aller Wahrscheinlichkeit schon – – die Leiche darin lag, als sie nach dem Lammerthof gebracht wurde. Und sie war ohne Zweifel hineingebracht worden, denn der alte Parlitz hatte eine derartige Kiste im Hause vorher nie bemerkt, die dann vielleicht zur Aufbewahrung des Toten hätte benutzt werden können. – –

Ich hoffe, die Herrschaften haben meinen Ausführungen folgen können,“ wandte er sich fragend an den Amtsrichter.

Der nickte eifrig. „Weiter – nur weiter. Mir ist schon ein Licht aufgegangen, wer …“

„Bitte – ich fahre schon fort. – Wie ich nun erst diese neue Theorie aufgestellt hatte, daß der Tote vermutlich von auswärts herbeigeschafft worden wäre, sah ich auch die Bemühungen der ‚treuen Hand‘, Fräulein Hölsch zu beeinflussen und ihr den Besitz des Lammerthofes zu verleiden, in ganz anderem Lichte. Konnte nicht, fragte ich mich, die gewissenlose Raffiniertheit dieser an dem Komplott beteiligten Leute soweit gegangen sein, daß sie selbst es waren, die den Leichnam in das verschlossenen Zimmer gebracht hatten, wobei sie eben das alte Patentschloß zerstören mußten, um Fräulein Hölsch durch die später zu erwartende Untersuchung des grausigen Fundes eine so unüberwindliche Abneigung gegen den ererbten Besitz einzuflößen, daß die junge Dame sofort auf ein Kaufangebot eingehen würde, – was dann ja auch geschehen ist?! Und zu dieser Annahme paßten eine solche Menge meiner Feststellungen, daß die Dämmerung abermals einen guten Teil mehr sich lichtete. Man denke nur an folgendes. Im dritten Briefe der ‚treuen Hand‘ war die Kiste erwähnt und der Rat erteilt worden, sie in der Nacht beiseite zu bringen, – Fräulein Hölsch war also direkt auf die unheimliche Kiste hingewiesen worden; das alte Schloß wieder war ausgewechselt; und der Schlüssel lag, leicht zu finden, in der vorher leeren Schublade, – und somit waren auch eine einleuchtende Erklärung dafür gefunden, was der unbekannte Jemand in dem Tempel der Liebe eigentlich wollte! Diesen Punkt soll nicht noch eingehender erörtert werden. Jedenfalls hätte wohl niemand jetzt noch gezögert, schleunigst sich nach Berlin zu begeben und dort – nach dem Auto und dem Toten zu forschen.

Und ich habe beide gefunden“ – Larisch’ Stimme schwoll an – „beide, den Kraftwagen mit den roten Polstern, die noch deutlich die Scheuerstelle erkennen lassen, und die Angehörigen jenes Mannes, der, ein armer Verunglückter, Fräulein Hölschs Schrecken vor dem Lammerthof steigern sollte.“

Larisch stand auf und hob die Hand, auf Miegler deutend:

„Ihnen gehört das Auto, und in Ihrer Fabrik kam ein geistesschwacher Maurer namens Karl Gutknecht vor etwa drei Monaten durch Sturz vom Dache zu Tode! Sie waren es dann, der am 3. April der in kümmerlichen Verhältnissen lebenden Witwe fünfhundert Mark bot, wenn sie ihren Mann wieder ausgraben ließ, um ihn angeblich auf einem anderen Friedhof beigesetzten zu lassen, sie sorgten dafür, stets unterstützt von Gabriel Holwicki, daß ein mit Steinen beschwerter Sarg neu der Erde übergeben, die Leiche Gutknechts aber in die Kiste verpackt und im Auto nach dem Lammerthof transportiert wurde, nachdem Hecker, der in Sziemanowo und Umgegend seit langem als Ihr Beauftragter sich aufhielt, Ihnen telephonisch von dem Tode der Frau Hölsch Mitteilung gemacht hatte, die schon seit einem Monat bettlägerig und mit deren Genesung nicht mehr zu rechnen war. Seit einem Monat – und zu derselben Zeit zog Heberlein-Holwicki, dieser frühere ungarische Kavallerieoffizier und Bekannte der Baronin Szestöni, zu der Mießtaler, um die Erbin der Frau Hölsch ständig beobachten und rechtzeitig Briefe in den Briefkasten der jungen Lehrerin werfen zu können, jene Briefe, mit denen dieses Ränkespiel dann begann. Um es hier gleich noch zu erwähnen, Hecker war jener Monteur, der die vierzig Mark stahl, der sich in Wahrheit aber nur Kenntnis von dem Inhalt des Testaments verschaffen wollte, um festzustellen, ob die alte Frau Hölsch nicht irgendwelche Bestimmungen darin getroffen hatte, die einen Verkauf des Lammerthofes durch Irma Hölsch unmöglich machten. Ich habe der Mießtaler Heckers Äußeres beschrieben, und sie sagte sofort: ‚Das ist der Mann, wenn er auch damals eine Verkleidung trug!‘ –

Auch auf Moranos Tätigkeit hier will ich noch kurz eingehen, da sie das Zusammenarbeiten aller an diesem Komplott Beteiligten recht gut kennzeichnet. Der Schauspieler kam zum erstenmal nach dem Lammerthof, um festzustellen, ob Irma Hölsch bereits den Tempel der Liebe hatte öffnen lassen. Er sah das durchfeilte Schloß, – das genügte! Nun trat Hecker in Aktion, holte zum nächsten Schlag aus, und das war die Denunziation ans Gericht! Und als Morano zum zweiten Male sich als Gast einfand, hatte er fraglos den Auftrag zu erkunden, ob die Entdeckung der Leiche genügend gewirkt hatte. Da hörte er dann aus Fräulein Hölsch eigenem Munde, daß ihr der Lammerthof verhaßt geworden war, da fragte er auch sehr vorsichtig, ob etwa Mandelblüt Kaufabsichten auf den Lammerthof hätte. Die Saat schienen reif, und so traf denn sehr bald der eingeschriebenen Brief der Farbwerke Berolina ein, – Mieglers Angebot! – –

Herr Kommerzienrat, bedarf es noch weiterer Beweise gegen Sie und Ihre Mitschuldigen, muß nicht jeder Unbefangene zugeben, daß diese Beweise wie die Räder eines Uhrwerks ineinandergreifen, – wollen Sie nun gestehen, daß alles den Tatsachen entspricht, was ich hier eben ausgeführt habe?“

Holwicki stieß eine gellende Lache aus.

„Herr Miegler, ist Ihnen je solch ein fein ausgetüftelter Blödsinn vorgekommen?!“ rief er. „Dieser Detektiv da gehört in einer Irrenanstalt! Der Mann ist gemeingefährlich!“

Larisch trat dicht auf Holwicki zu.

„Schweigen Sie, Elender!“ sagte er voller Verachtung. „Wissen Sie, wer jener Kaftanjude war, dem Sie vorhin im Flur hundert Mark Schweigegeld in die Hand drückten?! – Ich war’s, ich, und hier haben Sie Ihr Sündengeld zurück.“

Miegler, der völlig in sich zusammengesunkenen dagesessen hatte, erhob sich jetzt schwerfällig. Seine vorquellenden Fischaugen schauten Larisch in ohnmächtiger Wut an. Und dann zischte er förmlich hervor:

„Gut – mag ich mein Spiel verloren haben! Was kann das Gericht mir tun?! Nichts – nichts! Ich habe mit Einwilligung der Ehefrau die Leiche jenes Gutknecht in ein leeres Haus bringen lassen! Das ist höchstens Hausfriedensbruch, weil Holwicki und Hecker unberechtigt dort eindrangen. Ich scheide überhaupt aus, mein Herr Detektiv! Sie haben also nicht gerade viel erreicht, nicht einmal jemanden fürs Zuchthaus reif gemacht …! Viel Arbeit, viel Lärm – um nichts!“

„So, meinen Sie, – um nichts?!“ sagte Larisch voll beißender Ironie. „Und – ‚Il akla gerlam‘, Herr Kommerzienrat, dieser Zauberspruch, der der ‚treuen Hand‘ … Firmenschild war …?!“

Miegler zuckte zusammen.

„Ah – sehen Sie: ‚Il akla gerlam‘ wirkt! – Sie haben sich der Hoffnung hingegeben, ich würde nicht dahinter kommen, was diese Rätselworte bedeuten …! – Nun – ich konnte sie leider wirklich nicht enträtseln.“

Des Kommerzienrats Augen leuchteten auf.

„Nein, – ich nicht,“ fuhr Larisch fort. „Aber Frau Amtsrichter Weber gelang es! Nimmt man die beiden ersten Silben ‚Il ak’ und liest man sie von rückwärts, so ergibt das – – Kali, – Kali! Und die beiden nächsten Silben ‚la ger’ ergeben ‚Lager’, also Kalilager, und das ‚lam’ zeigt, wo das wertvolle Kalisalz sicherlich in großen Mengen in tieferen Bodenschichten zu finden ist – eben auf dem Gelände des Lammerthofes!“

„Teufel – Sie Teufel!“ gurgelte Miegler hervor.

„Für Sie, der Sie vor dem Bankrott stehen und alles auf diese eine Karte gesetzt haben, auf den Lammerthof, um durch dessen Erwerb in den Besitz der sicherlich ungeheuer wertvollen Kalilager zu gelangen und sich so von dem geschäftlichen Zusammenbruch zu retten, mag ich ein Teufel sein, – für Fräulein Hölsch aber wohl so etwas wie das Gegenteil, da ich ihr ihren Besitz vor den Klauen einer Horde gewissenloser Spekulanten schützte.“

Miegler hatte seinen Hut ergriffen und wollte das Zimmer verlassen.

Da hob sich der grüne Vorhang, und der Kriminalkommissar vertrat dem Kommerzienrat den Weg, legitimierte sich und sagte kalt: „Ich erkläre Sie und Holwicki wegen Betrugsversuchs für verhaftet. Sie haben gewußt, welchen Wert der Lammerthof durch die Kalilager hatte, und wollten ihn recht billig durch all diese Machenschaften an sich bringen.“

Holwicki zeigte jetzt, was für ein Charakter er war. Er fächelte sich mit dem seidenen Taschentuch in affektierter Weise Kühlung zu, verbeugte sich ironisch vor Egon Larisch und näselte:

„Eigentlich der reinen Treppenwitz der Weltgeschichte! Sie famoser Detektiv haben das Werk einer Frau zerstört, die Sie mal geliebt haben, – den Luzie Szestönis klugem Schlangengehirn ist dieser ganze Plan entsprungen, als Hecker damals bei den Bohrversuchen die Kalilager festgestellt hatte. Miegler wollte nämlich, als er mit der alten Hölsch in Unterhandlungen stand, tatsächlich nur Schafe züchten. Nun ist aus alledem nichts geworden. Ein Wunderlamm, um nicht Wunderschaf zu sagen, hat die Schlange – die geliebte Schlange, besiegt …“

Larisch wandte sich nur achselzuckend ab. Der Bursche war es nicht wert, ihm etwas zu erwidern.

 

Schluß.

Einen Monat später, an einem prächtigen Junimorgen.

Der Bummelzug lief in den Bahnhof von Sziemanowo ein. Auf dem Bahnsteig standen zwei Damen und der Amtsrichter Weber. Sie warteten auf Egon Larisch, der aus Posen kam, wo der Prozeß gegen Miegler und Genossen gestern vor der Strafkammer verhandelt worden war.

Irma Hölsch stand da, sehr rot im Gesicht, die zarte Frau Amtsrichter, ihre neueste Freundin, untergefaßt. Drei Wochen hatte sie Larisch nicht gesehen, nur recht häufig mit ihm Briefe gewechselt. Jetzt war er von Webers eingeladen worden, einige Tage ihr Gast zu sein.

Frisch, blühend und beweglich wie immer sprang Larisch aus einem Abteil. Irmas Hand behielt er dann wohl etwas länger als nötig in der seinen, und Frau Weber fand, daß sie noch nie bei einem Manne so frohe, glückliche Augen gesehen hätte.

„Na, was ist denn bei der Geschichte herausgekommen?“ fragte der Amtsrichter. „Hoffentlich hat man die Gesellschaft ordentlich verknackt, die Herren von der treuen untreuen Hand.“

„Freispruch für Morano, der tatsächlich ein ganz anständiger Kerl ist, drei Monate Gefängnis für … Frau Miegler, zwei für ihren Mann, ebenso viel für Holwicki und für Hecker einer!“

„Zu wenig – viel zu wenig! – Aber nun nach Hause, Kinder! Und mittags gibt’s eine neue Marke Rotwein – ein Rotweinchen, – ich sage euch …! Alles Ihnen zu Ehren, Larisch! Der Sieger im Kampf gegen die Spekulanten-Hydra zieht in Sziemanowo ein!“ – –

Über der Heide lag wieder der feine, bläuliche Schimmer …

Und Irma und Egon schritten langsam dahin über den Boden, in dem die Kalischätzte ruhten. Amtsrichters waren in der Veranda auf dem Lammerthof geblieben. Angeblich war es ihnen für einen Spaziergang zu heiß gewesen.

Die Unterhaltung zwischen den beiden jungen Menschenkindern, die da, die Herzen voller Sommerfreude, nebeneinander hergingen, kam alle Augenblicke ins Stocken.

„Ihre Entlassung aus dem Schuldienst haben Sie also schon erhalten?“ fragte Larisch, nur um etwas zu sagen.

„Ja. Und jetzt will ich an die Erschließung der Kalilager mich heranwagen. – Ein Wagnis ist’s, wo ich doch so gar keine geschäftlichen Erfahrungen besitze.“

„Hm, Sie müssen sich natürlich nach einem Menschen umsehen, der …“ Er sprach nicht weiter, blieb plötzlich stehen und nahm ihre Rechte zwischen seine beiden Hände, schaute sie übermütig, zärtlich und flehend an …

„Irma, – wenn dieser Mensch nun vor Ihnen stünde, zu dem Sie volles Vertrauen haben könnten, wenn er Ihnen eine wirklich … treue Hand zum Bunde fürs Leben anbietet, – was würden Sie dann antworten …?“

Ein seliges Lächeln strahlte auf ihrem Antlitz.

„Ja würde ich antworten, – ja, – ja …!“

Und die Kalisalze dort unten in der Erde ahnten nicht, daß sie dabei mitgeholfen hatten, daß zwei Herzen sich fanden … –

Als Martin Parlitz eine Stunde später mit vor Rührung feuchten Augen dem jungen Brautpaare gratulierte, meinte er in seiner gewichtigen Art, und er sprach damit ganz schlicht einen großen, schönen Gedanken aus:

„Tempel der Liebe wurde in jenen Briefen das verschlossene Zimmer genannt … Ganz richtig, Tempel der Liebe! Dort in der Stille, in der Einsamkeit, hat eine Mutterherz, das seine weichen Regungen verbergen wollte, den Erinnerungen an ihren Sohn nachgehangen, hat Andacht abgehalten mit sich selbst … Und aus demselben Tempel der Liebe wuchs jenes dunkle Geheimnis heraus, aus dem zum Schluß doch ein großes Glück wurde, eine große Liebe, wie wir heute zu unserer Freude gesehen haben … Also wirklich – ein Tempel der Liebe!“

 

 

Anmerkungen:

  1. freigiebig
  2. jüdischen