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Der tote Missionar

 

 

Nic Pratt

Amerikas Meisterdetektiv

 

Heft 28

 

Der tote Missionar.

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1922 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.

 

Nic Pratt, Amerikas Meisterdetektiv.

Zu beziehen durch alle Buch- und Schreibwarenhandlungen, sowie vom
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 26 Elisabeth-Ufer 44.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin

 

1. Kapitel.

Die reiche Erbin.

Nic Pratt, als Detektiv eine Berühmtheit und als Mensch ein vornehmer Charakter, saß im Lesezimmer des Standard-Klub, Neuyork, Viktoriastreet 22–26, und studierte die Abendzeitungen.

Er lag in einem Klubsessel aus feinstem Saffianleder und hatte die Füße auf einen zweiten Sessel gelegt.

In dem weiten, hell erleuchteten Raume waren zur Zeit, und dies war der 2. April 1922 abends 9 Uhr, nur fünf Herren außer Pratt anwesend.

In die hier herrschende Stille, die nur durch das Rascheln der Zeitungen zuweilen gestört wurde, drang jetzt vom Billardsaal her ein so gellender Schrei, daß selbst Pratt hochfuhr.

Die Klubmitglieder starrten sich an.

„Was war das?“ meinte Mr. Godwin leise.

Er hatte die Frage an Pratt gerichtet.

Zum Erstaunen der anderen setzte sich Pratt wieder.

„Das war der neue Klubdiener Stellgrave,“ erklärte der berühmte Detektiv und legte die Beine auf den zweiten Sessel. „Der Mann leidet an Krämpfen. Es ist ein Kriegsinvalide, den Senator Bulk hier im Klub untergebracht hat.“

Mr. Allan Godwin, der Milliardär, rief ärgerlich:

„Dann soll man den Kranken nicht gerade in den Gesellschaftsräumen beschäftigen. Es ist –“

Indem flog die Tür zum Billardzimmer auf und ein Herr in Hemdärmeln, einen Billardstock in der Linken, trat rasch ein.

„Ah – da sind Sie ja, Pratt,“ sagte er erregt. „Denken Sie, der neue Klubdiener, der mir ein Glas Punsch bringen sollte, fiel mit einem Male um und schlug mit dem Hinterkopf auf das Vorsatzgitter des Kamins auf. Er ist bewußtlos. Sie verstehen doch etwas von der ärztlichen Kunst, lieber Pratt. Vielleicht –“

Pratt eilte schon in den Billardsaal. Die übrigen Herren folgten.

Pratt kniete neben dem vielleicht vierzig Jahre alten Klubdiener nieder und untersuchte ihn. Der Kops des Mannes hing noch über dem Gitter des Kaminvorsatzes. Das nach oben gerichtete Gesicht zeigte einen Ausdruck, der Pratt stutzig machte. Das war nicht die Verzerrung, wie ein Krampfanfall sie vielleicht hätte hervorrufen können. Das war Wut – Schreck – Haß, – all das sprach aus diesen bleichen Zügen und den stieren, großen, glasigen Augen. Der Mann war tot. Da kam jede Hilfe zu spät.

Pratt erhob sich.

„Stellgrave hat sich auf dem Gitter das Genick gebrochen,“ meinte er sachlich. Ihm war der Tod eines Menschen kein besonderes Ereignis „Man wird das nächste Polizeirevier benachrichtigen müssen. Bis ein Beamter eintrifft, werde ich den Billardsaal abschließen. Die neue Verordnung über die Untersuchung von Unfällen enthält recht scharfe Bestimmungen. Der Klub darf sich dieses Stellgrave wegen keine Unannehmlichkeiten zuziehen. Also entfernen Sie sich bitte, meine Herren. Sie, Toppsider, bleiben wohl im Lesezimmer. Der Beamte wird von Ihnen eine kurze Schilderung des Unfalles verlangen.“

Mr. Reginald Toppsider, seit einem Jahr Mitglied des Klubs, war der Herr, der den Diener nach dem Glase Punsch geschickt hatte.

Das zerbrochene Glas und dessen Inhalt lagen neben dem Toten auf dem Parkettboden. Das silberne Tablett war auf den Teppich gefallen.

Toppsider nickte. „Gut, ich bin im Lesezimmer.“ Und die Zigarre im Mundwinkel, die Hände in den Beinkleidertaschen ging er wiegenden Schrittes hinter den übrigen Herren her ins Lesezimmer.

Pratt schloß beide Türen des Billardsaales ab.

Dann trat er an das an der Wand hängende Telephon und verlangte eine bestimmte Nummer, die er auswendig wußte.

Es meldete sich Detektivinspektor Grablay, Pratts Freund.

„’n Abend, Stuart,“ begrüßte Pratt ihn. „Fahren Sie doch sofort nach dem 12. Polizeirevier und tun Sie nachher so, als wären Sie zufällig dort gewesen, als ich den hier vorgekommenen Unfall meldete. Ich befinde mich im Klub. Ein Klubdiener ist tot.“ Und leiser fügte er hinzu: „Wahrscheinlich ermordet.“ –

Eine Viertelstunde später traf Grablay mit zwei Beamten im Klub ein.

Pratt ließ sie in den Billardsaal ein.

„Ich habe inzwischen noch einiges entdeckt,“ flüsterte er dem Inspektor zu. „Stellgrave, der Klubdiener trägt Perücke und falschen Bart. Er ist durch einen Hieb mit der Kaminkrücke ins Genick niedergeschlagen worden. Dann hat man ihn auf das Gitter des Kaminvorsatzes fallen lassen. Der Hieb ist mit der Kraft eines Athleten geführt worden. Der Mann muß lautlos zusammengebrochen sein. Den Schrei, den wir im Lesezimmer hörten, hat der Mörder ausgestoßen. Stellgrave litt angeblich an Krämpfen. Gestern schon vernahm ich einen ähnlichen Schrei im Servierraum. Da wurde ich erst auf Stellgrave aufmerksam. Er war seit vier Tagen hier Diener.“

Grablay und die beiden Beamten, die gleichfalls in Zivil waren, schauten Pratt fragend an.

Dann flüsterte Stuart Grablay:

„Und der Mörder?“

„Es war nur ein Klubmitglied hier im Billardsaal, Kapitän Reginald Toppsider –“

„Ah – der Nordpolfahrer?!“

„Derselbe! Nur er kann Stellgrave niedergeschlagen haben – falls der Tote eben wirklich Stellgrave heißt! – Sie werden Toppsider gegenüber sich jedoch nichts merken lassen, Grablay! Dieser Mord muß mit aller Vorsicht untersucht werden. Wenn Sie den Kapitän jetzt vernehmen, bleibe ich draußen. Geben Sie sich den Anschein, als hätten Sie keinerlei Verdacht gegen ihn und als ob Sie dann erst bemerken, daß der Tote Perücke und falschen Bart trägt. Morgen hören Sie mehr von mir, Stuart. Auf Wiedersehen. Ich schicke Ihnen jetzt Toppsider hier hinein.“ –

Am nächsten Vormittag gegen neun Uhr saß Nic Pratt in seinem Studierzimmer (er wohnte in der Pearlstraße in einem eigenen Häuschen mit Vorgarten) beim Frühstück. Er war erst vor einer halben Stunde heimgekehrt, hatte ein Bad genommen und köpfte nun soeben das zweite weiche gekochte Ei, während seine Haushälterin Frau Allison neben dem Tische stand und aufmerksam zuhörte, was Pratt ihr als seiner langjährigen Vertrauten über seine Bemühungen, die Persönlichkeit des angeblichen Stellgrave festzustellen, mitteilte.

Der Maimorgen war sonnig und warm. Draußen im Weinspalier an der Hauswand lärmten die Sperlinge.

Mit einem Male sagte Frau Allison ärgerlich, da sie gerade zum Fenster in den Vorgarten hinausgeschaut hatte:

„Da ist das alte Weib schon wieder!“

„Schon wieder?!“ meinte Pratt.

„Ja – morgens um sieben klingelte sie schon an der Vordertür und bot Schnürsenkel und Hemdknöpfe an. Um acht kam sie abermals. Und jetzt –“

Pratt war ausgestanden.

„Dann ist es eben keine Hausiererin, Mutter Allison, sondern irgend jemand, der mich unerkannt besuchen will.“

Die Flurglocke schlug an.

Pratt ging und öffnete die Haustür.

Vor ihm stand ein altes ärmliches Weiblein, bucklig, faltig, mit einer Nickelbrille auf der blauroten Nase, ein wollenes Tuch um den Kopf gebunden und vor dem Leibe am Riemen einen kleinen Hausiererkasten.

Pratts scharfe Augen musterten die unauffällige ärmliche Erscheinung nur ein paar Sekunden. Bevor die Alte ihn noch anreden konnte, sagte er mit kaum merklichem Lächeln:

„Miß Goßpart, bitte treten Sie ein. Es ist mir eine Ehre, Sie persönlich kennen zu lernen, nachdem ich Sie auf der Bühne verschiedentlich bewundert habe.“

Er sah, daß die berühmte Schauspielerin doch etwas überrascht war, weil er ihre Maske so schnell durchschaut hatte.

Dann saß Ellen Goßpart in der Ecke des Klubsofas und Pratt im Sessel neben ihr.

Auch jetzt ergriff der Detektiv als erster das Wort:

„Ihre Maske ist tadellos, Miß Goßpart. Haben Sie diese Verkleidung aus Furcht vor Reginald Toppsider gewählt?“

Die Schauspielerin richtete ihre ausdrucksvollen Augen (die entstellende Brille hatte sie abgelegt) in sprachlosem Staunen auf Pratts schmales Gesicht.

„Mein Gott, sind Sie denn Gedankenleser?!“ entfuhr es ihr.

„Nein. Ich bin mehr. Ich bin ein moderner Detektiv,“ erklärte Pratt mit feinem Lächeln. „Gestatten Sie, daß ich Ihnen folgendes mitteile. Gestern abend starb ein gewisser Edward Stellgrave im Hause des Standard-Klubs. Der Mann trug falschen Bart und Perücke. Er interessierte mich. Ich habe in der verflossenen Nacht herausgebracht, daß er in Wahrheit Thomas Stalby heißt und ein Kollege von mir ist, der sich für den Klub als Diener engagieren ließ, indem er sich der Papiere eines Kriegsinvaliden namens Stellgrave bediente, dem er dafür eine große Summe bezahlt hat. Ich habe diesen Stellgrave gefunden und von ihm erfahren, daß Sie Miß Goßpart, den Kollegen Stalby, der übrigens ein recht vielseitiger Mensch war, beauftragt hatten, sich Zutritt zum Klub zu verschaffen. Da nun dieser Stalby von Reginald Toppsider ermordet –“

Die Schauspielerin schrie leise auf.

„Mein Gott – also wirklich! Ich habe es befürchtet! Stalby wollte in der Nacht zu mir kommen und mir Bericht erstatten. Als er nicht erschien, fragte ich im Klub als Frau Stellgrave telephonisch an. Man sagte mir, der Diener Stellgrave sei tot.“

„Das ist er, der Ärmste! Toppsider hat ihn auf dem Gewissen. – Weshalb hatten Sie Stalby in den Klub geschickt, Miß? Sollte er Toppsider beobachten? Und – aus welchem Grunde?“

Ellen Goßpart seufzte. „Wissen Sie, daß ich vor vierzehn Tagen meine Tante beerbt und seitdem mehrfache Millionärin bin, Mr. Pratt?“

„Ja. Es war in allen Zeitungen zu lesen.“

„Nun, diese Erbschaft setzte mich in den Stand, endlich einen längst gehegten Wunsch – nein, eine heilige Pflicht der alten Mutter eines Mannes gegenüber zu erfüllen, der mein Jugendgespiele gewesen. Dieser Mann heißt James Brock und ist vor drei Jahren als Missionar nach Grönland gegangen, nachdem er mich vergebens beschworen hatte, meiner Bühnenlaufbahn zu entsagen und seine Gattin zu werden.“

Pratt horchte auf. Der Fall versprach allerlei.

„James Brock,“ fuhr Ellen fort, „schied in Unfrieden von mir. Er war bis dahin Pfarrer im Dorfe New Hamponshire dicht bei Neuyork gewesen, wo seine betagte Mutter noch heute wohnt. Brock verließ sie im April 1919 und begab sich mit dem Dampfer Osborne, dessen Kapitän jener Toppsider war, nach Grönland. Dort ist er verschollen. Seit zwei Jahren ist keinerlei Nachricht mehr von ihm eingetroffen. Man weiß nur, daß er sich von Upernavik der Jagdexpedition Kapitän Toppsiders anschloß und in einem Eskimodorfe blieb, während Toppsider weiterzog und auf anderem Wege nach Upernavik zurückkehrte.“

Pratt nickte. „Jetzt besinne ich mich. Die Zeitungen haben sich vor einem Jahr viel mit James Brock beschäftigt. Unsere Regierung hat nach ihm forschen lassen!“

„Ohne Erfolg!“ seufzte Ellen schmerzlich. „Aber – die Presse wußte nicht alles. Selbst die Regierung nicht. Ich allein kenne die Vorgeschichte des Entschlusses meines Jugendgespielen, nach Grönland zu gehen. Toppsider ist gleichfalls eine Jugendbekanntschaft von mir.“

„Ah – und er und Brock waren Freunde?“

„Ja – Freunde dem Anschein nach! Toppsider haßte James weil ich James lieber hatte und weil der Kapitän glaubte, Brock sei das Hindernis, das ihm mein Herz versperrte.“

„Beide liebten Sie also,“ meinte Pratt bedächtig. „Da mag Toppsider dem Pfarrer den Gedanken eingegeben haben, nach Grönland zu ziehen –“

„So ist’s, Mr. Pratt. Brock hat es seiner Mutter gelegentlich eingestanden, daß Toppsider ihm Grönland als ein gutes Betätigungsfeld für eifrige Missionare geschildert hätte.“

„Und Sie, Miß Goßpart, nehmen nun an, daß Toppsider den Nebenbuhler beseitigt hat –“

„Ja! Deshalb sollte Stalby, nachdem mir jetzt die Mittel selbst für die kostspieligsten Nachforschungen zur Verfügung stehen, Toppsider unausgesetzt beobachten. Außerdem habe ich noch Stalbys Kollegen und Freund Warngate ebenfalls in meinem Dienst. Ich hoffte, daß Toppsider, der mich noch immer mit seinen Anträgen verfolgt, sich irgendwie einmal verraten könnte. Nun jedoch, nachdem Stalby ums Leben gekommen ist, hat Warngate mir geraten, mich an Sie zu wenden. Er fürchtet, in dieser Sache nichts ausrichten zu können. Ich wäre ja gleich zu Ihnen gekommen, Mr. Pratt, aber Sie waren gerade auswärts beschäftigt und Grablay sagte mir, Sie würden längere Zeit abwesend sein.“

 

2. Kapitel.

Der Mörder.

Pratt begann im Zimmer auf und ab zu gehen.

„Lassen Sie mich nachdenken,“ meinte er zerstreut.

Ellen Goßpart wartete geduldig, bis Pratt vor ihr stehen blieb.

„Läßt Toppsider Sie beobachten?“ fragte er nun gespannt.

„Ich glaube ja. Bestimmt kann ich’s nicht behaupten. Ich habe aber seit Wochen das Gefühl, als wären stets lauernde Augen auf mich gerichtet.“

„Deshalb also Ihre Verkleidung.“

Und Pratt schritt wieder mit gerenktem Kopf hin und her, blieb abermals stehen.

„Toppsider ist Stalbys Mörder,“ sagte er sinnend. „Er hat also gewußt, daß Stalby ihm nachspionierte. Aber – weshalb erschlug er ihn und setzte sich der Gefahr aus, als Mörder durchschaut und verhaftet zu werden?!“

Ellen schwieg.

„Es gibt da nur eine Erklärung, Miß. Und die ist: Stalby hatte irgend etwas erfahren, ermittelt, erlauscht, was für Toppsider gefährlich war. Da machte der Kapitän Stalby für immer stumm. So muß es sein – muß!“

Ellen Goßpart nickte eifrig. „Ja, ja, Sie haben recht, Mr. Pratt. So muß es sein.“

Pratt warf sich in den Sessel und bedeckte die Augen mit der Linken.

Minutenlang Stille.

Dann:

„Was ist Toppsider für ein Mann? Ich kenne ihn bisher nur als recht sympathischen Charakter, offen gestanden. Er ist im Klub allgemein beliebt.“

Die Schauspielerin zuckte leicht die Achseln.

„Wir Frauen sind meist schlechte Menschenbeurteiler, Mr. Pratt. Auch ich würde Toppsider nichts Schlechtes zugetraut haben, wenn – wenn – ich James Brock nicht – lieben würde.“ Sie errötete. „Ja – ich liebe James, liebe aber auch meine Kunst. Die Entscheidung wurde mir schwer, als ich zwischen James und meinem Beruf wählen sollte.“

„Ich verstehe, Miß. Ihr Verdacht gegen Toppsider entsprang mehr Ihrem Herzen als Ihrem Hirn.“

Pratt ließ die Hand von den Augen sinken.

„Was soll ich nun in Ihrem Auftrag tun, Miß Goßpart?“ fügte er hinzu.

„Nach Upernavik fahren und dort Ermittlungen anstellen,“ erklärte das schöne, reife Weib, deren Liebreiz trotz der entstellenden Maske sich wie die Sonne hinter dunklen Wolken zeigte, festen Tones. „Ich habe mich heute früh bereits im Büro der Grönland-Linie erkundigt. Upernavik ist eisfrei. Am fünften, also nach drei Tagen, geht der erste Dampfer dorthin ab. – Wollen Sie den Auftrag übernehmen?“

„Gern.“

„Die Kosten spielen keine Rolle. Ich werde Ihnen einen Scheck über –“

„Das hat Zeit, Miß. Ich –“

Er schwieg. Die Flurglocke schrillte. Man hörte Frau Allison mit jemand verhandeln, der immer lauter und erregter sprach.

„Toppsider!“ flüsterte Ellen erschrocken. „Ich erkenne ihn an der Stimme.“

„Dann treten Sie dort ein – rasch!“

Pratt deutete auf das Nebenzimmer.

Kaum war Ellen verschwunden, als die andere Tür aufgestoßen wurde und Reginald Toppsider, breitschultrig groß und mit wettergebräuntem, etwas brutal-energischem Gesicht, rasch eintrat.

„Morgen, Pratt,“ rief er dem Klubgenossen zu. „Teufel, weshalb wollte mich denn Ihre Haushälterin abweisen?! Sie behauptete, Sie schliefen noch! Dabei roch ich doch bis in den Flur Ihren Pfeifentabak!“

Er schmetterte die Tür zu und reichte Pratt die Hand.

Der Detektiv lachte harmlos. „Frau Allison wollte mir wohl das Frühstück nicht stören lassen! Ich war gerade beim zweiten Ei, wie Sie sehen. – Setzen Sie sich, Toppsider.“

Der Kapitän, der sich als Polarforscher einen Namen gemacht hatte, blieb stehen.

„Pratt, ich komme wegen des Unfalls von gestern abend,“ meinte er etwas zögernd. Seine dunklen Augen, scharf wie die eines Adlers und durchbohrend wie die eines Strafrichters, ruhten auf Pratts Gesicht. „Ich will Ihnen einen Vorschlag machen,“ fügte er leiser hinzu. „Sie sollen für mich ermitteln, wer dieser Stellgrave, der verkleidet war, gewesen sein mag. Ihr Freund Grablay meinte gestern, als er dem Toten Bart und Perücke abnahm, das Gesicht käme ihm bekannt vor –“

Pratt mußte sich alle Mühe geben, seine Überraschung zu verbergen. Dieses Ansinnen Toppsiders mußte einen besonderen Grund haben. Welchen wohl?

„Wer Stellgrave in Wirklichkeit war, wird die Polizei schon herausbringen,“ erwiderte er nun gleichgültig. „Die Sache hat für mich wenig Interesse, Toppsider. Warten Sie doch ab. Grablay arbeitet auf Staatskosten und ebenso schnell wie ich.“

Da erschien in dem von Wind und Sonne dunkelgegerbten Antlitz des Polarforschers ein Ausdruck überlegener Ironie.

Und – ehe Pratt sich’s versah, hatte der bärenstarke Mann ihn bei der Kehle, schmetterte ihm gleichzeitig die rechte Faust gegen die Stirn.

Wie ein Klotz sank der Detektiv um, wurde von Toppsider aufgefangen, auf den Teppich gelegt und mit dünnem geteerten Bindfaden gefesselt.

Dann breitete Toppsider ein bereitgehaltenes Tuch über des Bewußtlosen Gesicht und träufelte aus einem Fläschchen Chloroform auf das Tuch.

Pratt wäre nach dem Stirnhieb sehr bald wieder erwacht. So aber versank er in tiefe Narkose.

Nachdem der Kapitän auf diese Weise Nic Pratt für viele Stunden unschädlich gemacht hatte, legte er ihn auf den Diwan und deckte eine wollene Schlafdecke über ihn, ging leise durch den Flur in die Küche und hatte hier in kurzem die zitternde Frau Allison ebenfalls gefesselt und geknebelt, schleppte sie in ihre Stube und band sie auf dem Bett fest. –

Ellen Goßpart saß inzwischen in Pratts Bibliothek und blätterte nervös in einem Buche.

Durch die gepolsterte Tür drang kein Laut aus dem Studierzimmer hier in diesen ernsten Raum mit den hohen Büchergestellen.

Plötzlich ging die Tür auf.

Ellen sprang empor.

„Reginald –!“ entfuhr es ihr.

Toppsider drückte die Tür zu, verbeugte sich leicht und trat näher an die Jugendgespielin heran.

Sein Gesicht drückte jetzt nichts als tiefen Seelenschmerz aus.

„Ellen,“ begann er, indem er sich an den großen Tisch lehnte, „ich wußte, daß Sie hier sind. Pratt hat es dann auch zugegeben. Er läßt Ihnen sagen, daß er seinen Irrtum eingesehen hat.“

Die Schauspielerin hatte sich schon wieder gefaßt.

„Welchen Irrtum?“ meinte sie mißtrauisch.

„Verstellen Sie sich doch nicht!“ Auch das klang traurig und paßte im Ton ganz zu Toppsiders Miene. „Sie halten mich für Stalbys Mörder, Ellen! Stalby war Ihr Spion. Mich ließen Sie beobachten.“

Er holte sein Zigarettenetui hervor. „Ich muß mich ablenken, beruhigen. Sie gestatten doch, daß ich rauche. – Pratt ist jetzt bereits unterwegs, den wahren Schuldigen zu suchen. – Bitte, bedienen Sie sich, Ellen. Wir wollen Frieden schließen –“

Er hielt ihr das geöffnete Etui hin.

Ellen war jetzt überzeugt, daß Toppsiders Schuldlosigkeit sich wirklich herausgestellt hatte. Um ihn zu versöhnen, dem sie ja eigentlich nie so recht ein Verbrechen zugetraut hatte, nahm sie eine Zigarette.

Er hielt das brennende Zündholz in den Fingern.

„Sie haben mir sehr weh getan, Ellen,“ sagte er leise. „Sehr weh –!“

Sie rauchte den ersten Zug, setzte sich und fragte verwirrt:

„Reginald, Sie wissen also nicht, wo James sich befindet?“

„Nein! Ich schwöre es Ihnen, Ellen! – Schmeckt Ihnen die Zigarette nicht?“

„Doch!“ Und sie rauchte hastig, sah plötzlich Toppsiders Gestalt nur noch wie durch dichte Nebelmassen, fühlte eine unnatürliche, jähe Mattigkeit und sank in dem Sessel kraftlos nach vorn, wurde ohnmächtig.

Toppsider stützte sie.

Der Streich war geglückt. Und doch blieb auf seinem sonst so brutal-energischen Gesicht dieser melancholische, trübe Ausdruck.

Widerwillig nur drückte er Ellen nun das Tuch auf das Gesicht, goß Chloroform auf die Stelle wo Mund und Nase der Betäubten sich befanden, und entfernte das Tuch sehr bald wieder.

Dann ging er in Pratts Schlafzimmer und öffnete dort die Schränke, verkleidete sich mit viel Geschick und verließ das Haus eine Stunde später. –

Die beiden Polizeidetektive, die Reginald Toppsider seit gestern abend überwachten und jetzt in der Pearlstraße Pratts Häuschen gegenüber in einem Zigarrenladen standen, erkannten ihn nicht, als er jetzt langsam davonging.

„Das ist Pratt,“ sagte der eine. „Pratt als Dienstmann. Die Maske von ihm kenne ich!“

Als jedoch Toppsider nach zwei weiteren Stunden immer noch nicht erschien, wurden sie doch unruhig, riefen Grablay telephonisch an und baten um Anweisung, was sie tun sollten.

Grablay ahnte, daß in Pratts Heim besonderes vorgefallen sein müßte.

Eine halbe Stunde drauf fand man die drei Bewußtlosen auf: Pratt, Frau Allison und Ellen Goßpart!

Reginald Toppsider war auf diese Weise seinen Wächtern entschlüpft.

 

3. Kapitel.

Das Eskimodorf Unamok.

Pratt konnte erst eine Stunde später als Ellen Goßpart ins Bewußtsein zurückgerufen werden.

„Armer Kerl!“ sagte Stuart Grablay, der neben dem Diwan auf einem Stuhl saß und die Hand des Freundes in der seinen hielt. „Armer Kerl, dieser Toppsider hat Dir übel mitgespielt. Tröste Dich aber. Meine ganze Armee ist bereits alarmiert. Jeder Winkel in Neuyork wird durchsucht werden.“

Pratt war viel zu matt, um antworten zu können.

Als Grablay abends um neun Uhr wiederum zu Pratt kam, fand er ihn im Bett vor, Pfeife rauchend und ein Buch über Grönland studierend.

„Wieder auf dem Posten, Nic?“ meinte der Detektivinspektor scherzend. „Scheint so! Wenn die Pfeife schon wieder schmeckt, ist der Chloroformkater glücklich überwunden!“

Grablay setzte sich. „Ich habe mir inzwischen Reginald Toppsiders feudale Wohnung angesehen. Der Mann hat Geschmack. Acht Bilder von Ellen Goßpart fand ich im Schreibtisch.“

„Und er selbst?“ lächelte Pratt und kniff ein Auge zu.

Grablay seufzte. „Bisher leider nichts – nicht die geringste Spur! – Übrigens bin ich durch Ellen genau unterrichtet worden, Nic. Ich weiß Bescheid. Wollen Sie wirklich nach Grönland?“

„Gewiß, Stuart.“ Pratt machte mit einem Male ein sehr ernstes Gesicht. „Dieser Fall liegt fraglos weit verzwickter als wir ahnen. Haben Sie zum Beispiel über Stalby Erkundigungen eingezogen?“

Grablay wurde stutzig. „Wie meinen Sie das, Nic?“

„Hm – Stalby war sehr vielseitig, wie ich festgestellt habe. Als ich gestern abend im Billardsaal eine Viertelstunde mit dem Toten allein war, habe ich seine Kleidungsstücke auf meine Weise untersucht. Die Sohle des linken Stiefels war durch vier neue Nägel unten befestigt. Ich habe sie losgelöst und wieder angenagelt, nachdem ich dies dem Versteck entnommen hatte.“

Er nahm unter dem Kopfkissen ein mehrfach gefaltetes Stück Papier hervor und reichte es Grablay, der es hastig entfaltete.

„Ah, – das – das ist –“

„Ja – das ist eine Schuldurkunde, ausgestellt von James Brock am 22. 4. 1919, also zwei Tage vor Brocks Abreise nach Grönland,“ vollendete Pratt.

Staunend las Grablay nochmals:

New Hamponshire, den 22. April 1919.

Ich bekenne, heute von Mr. Thomas Stalby, Neuyork, Wartonstreet 85, ein bares Darlehn von 500 000 Dollar erhalten zu haben, rückzahlbar mit 5 Prozent Zinsen nach dreimonatiger Kündigung. Als Sicherheit verpfände ich hiermit Mr. Stalby die mir gehörige Bibliothek von insgesamt 2000 Bänden.

James Brock, Pfarrer.

Dann schaute er Pratt unsicher an.

„Was bedeutet das?“ meinte er kopfschüttelnd.

„Das werden wir ermitteln, Stuart. nehmen Sie die Urkunde an sich und sagen Sie keinem Menschen etwas davon. – Sie sehen, Stalby machte Geschäfte besonderer Art!“

„Nic, Sie wissen noch mehr!“ platzte Grablay heraus.

„Ja. – Wollen Sie die Urkunde nicht mal genauer prüfen?“

Der Inspektor hielt sie jetzt dicht unter die Stehlampe des Nachttisches.

„Ist die Schrift gefälscht?“ fragte er nach einer Weile.

„Nein. Aber die Tinte ist zu frisch. Sieht das Papier so aus, als wäre es drei Jahre alt?!“

„Donnerwetter! Sie haben bessere Augen! Stimmt, diese Urkunde kann erst vor kurzem ausgefertigt sein. Sie ist zurückdatiert worden.“

„Das ist sie, Stuart. Und doch ist’s Brocks Schrift. Ich hatte Frau Allison vor einer Stunde zu Ellen geschickt und um Briefe Brocks bitten lassen. Hier sind sie. Vergleichen Sie.“

Grablay tat es. „Allerdings – eine Fälschung dieser merkwürdigen Handschrift ist ausgeschlossen. Die Schuldurkunde rührt von Brock her. Mithin lebt er noch.“

„Ja – und zwar hier in Amerika irgendwo, denn Stalby hat Neuyork seit einem Jahr nicht verlassen. Vielleicht hält Brock sich sogar in unserer Stadt auf.“

Grablays Gesicht wurde immer ratloser.

„Daraus werde ein anderer klug,“ murmelte er.

Pratt schwieg.

„Nic, raus mit der Sprache! Was halten Sie davon?“ rief der Inspektor dann ungeduldig.

„Wenn ich es Ihnen sagen würde, dürften Sie mich auslachen, Stuart. Lassen wir die Sache ruhen, bis ich Beweise habe. Ich werde heute nacht aus Neuyork verschwinden. Niemand als Sie darf es ahnen. Ich gelte für die Außenwelt für bettlägerig krank. Richten Sie sich danach, Grablay, kommen Sie jeden Tag her – zum Schein! Am sechsten können Sie Ihre Besuche einstellen. Denn dann schwimme ich bereits auf hoher See. In vier Wochen hoffe ich zurück zu sein. – Auf Wiedersehen also!“

Grablay verstand den Wink und verabschiedete sich. –

Die nördlichste Niederlassung an der Westküste Grönlands ist Upernavik, auch Upernivik genannt. Sie liegt auf einer Insel in der Nähe des Festlandes. Saubere Holz- und Steinhäuser, eine kleine Kirche, ein geschützter Hafen und im Sommer mit Zwergsträuchern, Krähen- und Rauschbeeren bedeckte Hänge lassen den Ort wie ein Paradies inmitten der Eiswildnis erscheinen.

Der Hafen war in diesem Jahre überraschend früh eisfrei geworden. Am 18. April lief der Frachtdampfer Boston als erstes Schiff in diesem Jahre ein. Unter der Besatzung befand sich ein buckliger, bärtiger Schiffskoch namens Galver, ein stiller, bescheidener Mann, der nun den Kapitän in dessen Kajüte sofort um Urlaub bat.

„Aber bitte, Mr. Pratt,“ meinte der Kapitän leise. „Wir bleiben etwa zehn Tage hier. Ich werde Ihnen einen Eskimoführer besorgen, der etwas englisch spricht.“

Bereits am folgenden Tage hatte Pratt, der sich jetzt als leidenschaftlicher Jäger gebärdete, mit dem Eskimo Ukranab den Marsch nach dem Eskimodorfe Unamok angetreten, das weiter südlich an der Festlandküste am Ufer eines der zahlreichen Fjorde lag.

Eine neue Welt tat sich Pratt hier auf. Er lernte die riesigen Gletscher kennen, die sich mit zwanzig Meter Geschwindigkeit am Tage über die Steilküste vorschieben, mit donnerähnlichem Krachen abbrechen und so jene gefährlichen Eisberge bilden, die nachher von den Meeresströmungen bis in den Atlantik getrieben werden.

An der Küste begann das Eis bereits wegzuschmelzen. Die ersten Sträucher und Beeren zeigten sich. Die Kälte war wenig lästig. Am Morgen waren Pratt und der Eskimo aufgebrochen. Abends erreichten sie das Dorf, dessen schneebedeckte Steinhütten weit zerstreut lagen.

Der Detektiv hatte schon in Upernavik in Erfahrung gebracht, daß James Brock, der sich tatsächlich damals vor drei Jahren der Jagdexpedition Reginald Toppsiders angeschlossen hatte, hier im Dorfe Unamok zurückgeblieben war, wo er sich ein Steinhaus hatte errichten lassen, welches er zehn Monate lang auch bewohnte und von wo er beständig Ausflüge nach den anderen Eskimodörfern unternahm. Von einem dieser Ausflüge war er nicht zurückgekehrt. Etwa um dieselbe Zeit war Toppsiders Expedition wieder glücklich mit reicher Beute an Pelzen in Upernavik angelangt und weiter nach Neuyork heimgereist.

Es war mithin nicht ausgeschlossen, daß Toppsider dem zumeist allein im Hundeschlitten die Nachbardörfer besuchenden Brock begegnet war und daß er ihn heimlich beseitigt hatte. Diese Annahme hatte manches für sich. Und doch ahnte Pratt bereits, daß die Lösung des Rätsels eine ganz andere sein müsse. James Brock war ja seiner Überzeugung nach nicht tot. Er lebte. Er wollte jedoch für verschollen gelten. Weshalb wohl?!

Diese Frage zu klären, war Pratts hauptsächlichstes Bestreben.

Er fand bei Brocks Nachfolger, einem dänischen Missionar namens Svendsen, in dem behaglichen, geräumigen Missionshause die freundlichste Aufnahme. Auch sein Führer Ukranab, ein heller Kopf, wurde dort untergebracht.

Pratt spielte auch hier den einfachen Schiffskoch Galver weiter. Er wollte vorsichtig sein.

Svendsen, der Missionar entstammte selbst sehr bescheidenen Verhältnissen. Er war früher Zimmermann gewesen. Pratt wußte den frommen Mann richtig zu behandeln und hörte von ihm über James Brock so allerlei. Nichts Nachteiliges zwar, aber doch einiges, was zu denken gab.

Svendsen erklärte, was das Verschwinden Brocks betraf, es müsse ein Unglücksfall vorliegen. Wahrscheinlich sei Brock samt dem Hundeschlitten in eine Eisspalte gestürzt.

Die beiden Männer saßen in des Missionars Arbeitszimmer neben dem mächtigen Kachelofen. Vor ihnen dampfte in großen Gläsern ein steifer Grog.

Pratt gab kaum mehr auf das acht, was Svendsen erzählte. Seine Gedanken wanderten besondere Pfade.

So wurde es Mitternacht. Von den nahen Fjorden her kam das Dröhnen und Krachen der berstenden Gletscherzungen herüber. Draußen heulten die Polarhunde den Mond an. Ein heftiger Weststurm pfiff um das Haus.

Der Eskimo Ukranab war noch ins Dorf zu einer bekannten Familie gegangen. Er wollte sich um zwölf Uhr wieder einfinden. Doch erst gegen ein Uhr klopfte es an die Haustür.

Dann betrat Ukranab das Zimmer. Sein rundes verschmitztes Mongolengesicht leuchtete vor Eifer. Pratt hatte ihm auf dem Wege nach Unamok heute vormittag erklärt, daß er den verschwundenen Brock gut gekannt habe und daß er Ukranab hundert Dollar schenken würde, wenn dieser durch unauffällige Nachfragen bei den Dorfbewohnern etwas Neues ermittelte.

„Mr. Galver,“ rief der Eskimo nun, „ich weiß, wo Mr. Brocks Büchse ist, die er stets bei Schlittenfahrten mit sich nahm.“

Pratt schnellte von seinem Stuhle hoch.

„Wo denn, Ukranab?“

 

4. Kapitel.

Der Tote.

Der gerissene kleine Kerl, der durch den Umgang mit Europäern recht geschäftstüchtig geworden, grinste und machte die Fingerbewegungen des Geldaufzählens.

„Hier – hundert Dollar!“ meinte der angebliche Schiffskoch ungeduldig.

Svendsen stand mit erstauntem Gesicht dabei.

Ukranab prüfte erst die Banknote. Dann erwiderte er auf Pratts abermalige Frage:

„Die Büchse hat ein Eskimo im Besitz der ganz allein am nächsten Fjord nach Süden zu wohnt. Er heißt Damug. Mein Freund, bei dem ich soeben war, hat die Büchse in Damugs Hütte gesehen, als diesem mit dem Kajak auf Robbenjagd weit draußen war. Es ist bestimmt Mr. Brocks Gewehr. Mein Freund hat es sofort wiedererkannt.“

„Wann sah er die Büchse?“

„Vor zwei Wochen, Mr. Galver.“

„Gut, geh’ jetzt schlafen, Ukranab. Morgen werden wir Damug besuchen.“ –

Svendsen und Pratt waren wieder allein. Der Missionar lächelte ein wenig.

„Mr. Galver,“ meinte er, „entschuldigen Sie schon, aber – Sie sind nicht das, wofür Sie sich ausgeben. Unsereiner eignet sich sehr bald einige Menschenkenntnis an. Sie sind Polizeibeamter.“

„Nein – Privatdetektiv. Wären Sie Amerikaner, Mr. Svendsen, würden Sie meinen Namen kennen. Ich heiße Pratt – Nic Pratt.“

„Ah – Master Pratt! Man braucht nicht Bürger der Vereinigten Staaten zu sein, um Pratts Namen und Taten zu kennen. Ich freue mich, einen so interessanten Gast beherbergen zu dürfen. Aber – einen guten Rat, Mr. Pratt: wenn Sie Brocks Büchse noch finden wollen, dann lassen Sie uns sofort nach Damugs Hütte aufbrechen. Diese Eskimos halten zusammen wie – wie – Pech und Schwefel. Man wird Damug warnen. Glauben Sie mir. Ich begleite Sie gern. Der Marsch bis zum nächstem Fjord wird etwa anderthalb Stunden dauern.“

Pratt reichte dem Missionar die Hand.

„Ich danke Ihnen. Ja, brechen wir auf. Ich will Gewißheit haben. Unterwegs erzähle ich Ihnen die merkwürdige Geschichte Ihres verschollenen Vorgängers.“ –

In aller Stille verließen sie das Haus. Das Dämmerlicht der Polarnacht leuchtete ihnen. Svendsen hatte seine Büchse mitgenommen. Pratts Revolver steckten in den Außentaschen des Pelzes.

Bald hatten sie das Dorf und die kläffenden Hunde hinter sich.

Pratt berichtete nun die Vorfälle in Neuyork: die Ermordung Stalbys durch Toppsider, Ellen Goßparts Verdacht, die Schuldurkunde und Toppsiders Flucht.

Svendsen schüttelte nur immer wieder den Kopf.

„Ein Roman – eine Eifersuchtstragödie – ein Rätsel!“ meinte er. „Glauben Sie wirkliche daß James Brock lebt?“

„Jetzt weiß ich bestimmt, daß er lebt,“ erklärte Pratt. „Sie, Mr. Svendsen, haben mir den Beweis dafür geliefert.“

„Das verstehe ich nicht! Ich denke, den besten Beweis, daß Brock umgekommen ist, liefert die Büchse!“

„Ein Trugschluß, Mr. Svendsen! Ich werde Ihnen später von Neuyork aus die Lösung des Rätsels schriftlich mitteilen.“

Schweigend setzten die beiden Männer den Weg an der Küste entlang fort.

Bis der Missionar auf einer Schneehalde stehen blieb und auf die frische Spur eines Hundeschlittens zeigte.

„Wir kommen zu spät, Mr. Pratt. Leider! Sehen Sie, hier ist vor kaum fünf Minuten ein Schlitten dahingejagt. Man warnt Damug. Ich wußte es.“

Pratt preßte die Lippen ärgerlich zusammen.

„Vielleicht rechnet Damug erst am Vormittag mit unerwünschten Gästen,“ meinte er dann wieder hoffnungsfroher. „Schreiten wir rascher aus! – Vertragen Sie einen Dauerlauf?“

„Nein. Bei zwölf Grad Kälte nicht.“

„Und der Weg zu Damugs Hütte? Immer an der Küste weiter?“

„Ja. Vielleicht noch eine halbe Stunde –“

„Dann eile ich voraus – Auf Wiedersehen!“

Pratt begann zu traben. Den schweren Pelz hatte er über den Arm genommen. Sein trainierter Körper, seine stählernen Muskeln werden auch hier nicht versagen.

Durch die großartige Einsamkeit der grönländischen Küstengebiete, vorbei an Gletscherströmen, vorbei an zackigen Eishäuptern verfolgte er seinen Weg mit der Zähigkeit des Schweißhundes, der ein Wild vor sich hat.

Dann rechts ein schmaler Fjord.

Dann Hundegebell weit in der Ferne – aber vom Fjordufer her.

Pratt hielte sich mehr von der Küste ab. Er wollte an Damugs Hütte von hinten heran.

Noch drei Minuten.

Und jetzt drüben auf einem Schneefeld ein Hundeschlitten wie ein dahinjagender Schatten. Der Schlitten nahm die Richtung nach Unamok. Der Warner kehrte heim.

Noch drei Minuten Dauerlauf.

Das Gekläff der Polarhunde schon ganz nahe.

Ein Etwas wie ein Schneehügel dort vorn. Aber – ein Schornstein aus Felsstücken oben darauf – leichte Rauchwolken, der primitiven Esse entquellend: Damugs Hütte!

Vier – fünf Hunde sprangen Pratt plötzlich an. Ein paar Fußtritte – weiter – um die Hütte herum.

Dort ein Eskimo, hastig fortschnellend von einer Schneeschanze.

Pratts Arm flog hoch. Der Revolver blinkte.

„Bleib’ stehen!“ drohte Pratt.

Der Überraschte hatte eine Harpune ergriffen.

Abermals drohte Pratt:

„Wirf das Ding weg – sofort!“

Damug ließ die Harpune fallen. Der Revolver warnte ihn.

Pratt sah erst jetzt, daß Damug aus dem vereisten Schnee – eine bekleidete Leiche hatte herausschaufeln wollen, sah erst jetzt das bleiche bärtige Totenantlitz.

„Geh’ in Deine Hütte!“ befahl er dem Eskimo mit einer kurzen Handbewegung.

Damug gehorchte. –

Zehn Minuten später traf der Missionar ein. Pratt zeigte ihm den bereits freigelegten Kopf des Toten.

„In Neuyork werde ich diesen Fall zu Ende führen,“ meinte er.

Damug erschien im Eingang der Hütten näherte sich angstzitternd dem Missionar und reichte ihm eine verrostete doppelläufige Büchse.

Pratt hatte für die Waffe kein Interesse mehr.

„Der Tote muß dort in dem Schneehaufen vorläufig bleiben, Mr. Svendsen,“ erklärte er ebenso kurz. „Damug aber soll schweigen. Fragen Sie ihn bitte folgendes –“

Die Antworten des Eskimos genügten Pratt.

Die beiden Männer machten sich auf den Heimweg. Svendsen war wie benommen von alledem. Er wagte nicht mehr, den schweigsamen Pratt um Aufschluß zu bitten über die Zusammenhänge all dieser dunklen Rätsel. –

Der Schiffskoch Galver war am folgenden Abend wieder an Bord des Dampfers. Er behauptete, sein Jagdeifer sei bei dieser Temperatur rasch abgekühlt worden.

Am 6. Mai lief der Dampfer Boston in den Hafen von Neuyork ein.

 

5. Kapitel.

James, der Lump.

Ellen Goßpart wurde am 7. Mai vormittags neun Uhr angerufen.

„Hier Nic Pratt,“ meldete der Detektiv sich durch den Fernsprecher. „Bitte besuchen Sie mich doch sofort Miß Goßpart. Halten Sie sich auch für eine kleine Reise bereit. Abends sind wir wieder in Neuyork. – Wiedersehen.“

Um zehn war Ellen in Pratts Studierzimmer, wo sie außer Pratt auch Grablay vorfand.

„Ich will Ihnen beiden nun Bericht über meine Grönlandfahrt erstatten,“ begann der Detektiv. „Brocks Nachfolger Svendsen erzählte mir, daß im Frühjahr 1920 die bekannte Sportlady Miß Samter, Besitzerin ungezählter Millionen und einer Luxusjacht, südlich von Upernavik mit ihrer Jacht acht Wochen in Godhavn auf der Disko-Insel geweilt und von dort Jagdausflüge unternommen hätte. Mir war dies nicht neu. Ich habe für Kleinigkeiten ein zuverlässiges Gedächtnis. Ich erinnerte mich, daß in den Zeitungen damals April oder Mai 1920 erwähnt worden war, auf welch tragische Weise der Missionar Beverhaart, der Miß Samter ins Innere begleitet hatte, umgekommen war. Er rutschte in eine Gletscherspalte, und ehe man die Leiche herausholen konnte, schloß sich die Spalte infolge der Bewegung des Gletschers wieder. Beverhaart, der in Godhavn gewirkt hatte, war mit Brock, der vier Wochen später verschwand, befreundet gewesen. Die Leiche Beverhaarts hat dann fast zwei Jahre drauf, etwa vor sechs Wochen, ein Eskimo namens Damug am Rande des Gletschers unweit seiner Hütte gefunden, daneben eine Büchse, die Brock gehört hatte. Damug verschwieg den Leichenfund, um die Büchse nicht herausgeben zu müssen. Den Toten bedeckte er mit Schnee. Ich überraschte ihn dann, als er die Leiche wieder ausgrub, um sie im Fjord zu versenken. Beverhaart hatte ein sehr charakteristisches Gesicht. Da der Tote infolge der Kälte noch nicht im geringsten verwest war, da Beverhaarts Bild seiner Zeit veröffentlicht wurde, erkannte ich ihn sofort. – Ich ermittelte weiter, daß Brock gleichfalls die Sportlady kennen gelernt hatte und dabei gewesen [war][1], als Beverhaart verunglückte. Er wurde nachher zuletzt drei Tage vor der Abfahrt der Jacht Miß Dorritt Samters aus Godhavn gesehen. – So – das Auto wartet draußen. Ich will Sie beide mit nach dem idyllischen Bergvorort Pleasant Valley nehmen.“

Grablay rief sofort:

„Dort wohnt ja Miß Samter, die jetzt –“

Pratt fuhr dazwischen.

„Schweigen Sie, Stuart! Dort wohnt Frau Korb, sonst niemand. – Bitte, Miß Goßpart, gehen Sie voran. Ihre Fragen sparen Sie sich für später auf. Dann werden Sie nichts mehr fragen!“ –

Der Kraftwagen hatte Neuyork sehr bald hinter sich.

„James Brocks Mutter wünschte wohl stets, daß aus Ihnen und Brock ein Paar würde,“ sagte Pratt plötzlich zu seiner Nachbarin.

Ellen errötete und nickte. Ihr war das Herz so schwer, so voll trüber Ahnungen.

„Stand Brock mit seiner Mutter auf sehr zärtlichem Fuße?“ fragte Pratt weiter.

„Leider nein,“ erklärte Ellen widerstrebend. „James war als Sohn wohl wenig rücksichtsvoll. Er trug es seiner Mutter nach, daß sie ihn zu dem Beruf eines Geistlichen halb und halb gezwungen hatte. Sie hat es dabei jedoch nur gut gemeint. James war als Knabe schon ebenso hübsch wie leichtsinnig.“

Eine Stunde später hielt das Auto vor dem Gittertor eines Parkes in Pleasant Valley.

Die drei Insassen stiegen aus. Neben dem Tor lehnte ein rotbärtiger Bettler, der Ellen nun die schäbige Mütze hinstreckte und – ganz laut sagte:

„Erkennen Sie mich, Ellen? So weit ist es mit mir gekommen – Ihretwegen!“

Ellen Goßpart schrie auf.

„Reginald – Reginald Toppsider!“

„Allerdings, Reginald Toppsider, der – Mörder!“ meinte der Strolch bitter. „Verhaften Sie mich nur, Mr. Grablay,“ wandte er sich an den Detektivinspektor. „Nehmen Sie mich aber bitte mit in die Villa Korb hinein. Ich möchte dabei sein, wenn Ellen die Augen geöffnet werden!“

Ellen wurde bleich. Eine Ahnung durchzuckte sie, daß James Brock dort in der weißen Villa wohnte.

Pratt hatte bereits das Tor geöffnet.

Die vier schritten schweigend die Allee entlang.

Auf der Terrasse der Villa saßen ein Herr und eine Dame beim Frühstück. Pratt eilte die Treppe empor, grüßte.

„Mr. Brock, jetzt Mr. Korb, Sie gestatten in Gegenwart Miß Goßparts, Inspektor Grablays und Reginald Toppsiders einige Fragen,“ sagte er eisig.

Der Herr fuhr aus dem Rohrsessel hoch.

Ellen lehnte leichenblaß an der Steinbrüstung.

„James – James, – Du?“ stammelte sie.

Dann Toppsiders Stimme: „Ja – James, der verschollene James! Seit anderthalb Jahren Gatte Dorritt Samters! Der Feigling James, der seiner Mutter und Ihnen, Ellen, nicht mehr vor die Augen zu kommen wagte, der sich schämte, Sie so schnell vergessen und sich in Miß Samter damals in Grönland verliebt zu haben, der sich von ihr mitnehmen, verbergen ließ, sich einen anderen Namen kaufte und sein Geheimnis um jeden Preis zu hüten suchte, der dem Detektiv Stalby eine halbe Million gab und eine weitere halbe Million schriftlich versprach, falls es Stalby, den Sie, Ellen, in Ihre Dienste genommen, so einrichten würde, daß ich als Mörder des angeblich Verschollenen unter Anklage käme, da er die Aufdeckung der Wahrheit durch mich befürchtete, – ja, dieser James steht da vor Ihnen! Ein Mörder bin ich – aber aus Notwehr, wie ich nun eingestehen will, wo ich Ihnen diese Enttäuschung doch nicht mehr ersparen kann, einem Unwürdigen nachgetrauert zu haben! Damals im Billardsaal wollte Stalby sich die zweite halbe Million auf einfachere Art verdienen, wollte mich hinterrücks niederstechen. Aber ich war auf ähnliches vorbereitet. Im Zorn schlug ich zu kräftig zu, nachdem ich Stalby zurückgestoßen hatte.“

Er holte einen langen Dolch hervor.

„Hier – diese Waffe sollte mein Leben auslöschen! Ich steckte sie zu mir. Ich verschwieg die Wahrheit. Ich wollte nicht, daß Sie, Ellen, erfuhren, wie schändlich James an Ihnen und seiner alten Mutter gehandelt hatte!“

James Brock hatte sich bereits gefaßt.

„Verlassen Sie meinen Grund und Boden!“ rief er. „Sie alle! Ich habe nichts Strafwürdiges getan! Es ist eine Lüge, daß ich Stalby dazu angehalten haben soll, Sie Reginald Toppsider, zu verderben! Beweisen Sie mir das erst“!

Toppsider lachte verächtlich. „Beweisen kann ich’s nicht! Stalby ist tot! Aber die öffentliche Meinung wird Dich richten, James!“

Er schritt die Treppe wieder hinab, und Ellen folgte ihm, hängte sich in seinen Arm ein, flehte schluchzend: „Verzeihen Sie mir, Reginald, – verzeihen Sie mir!“ –

Pratt und Grablay gingen hinter den beiden drein.

„Stuart, ich glaube, das gibt ein Brautpaar,“ meinte Pratt schmunzelnd.

„Ja, Nic, das glaube ich auch!“ lächelte Grablay zufrieden.

Und sie behielten recht!

 

Nächster Band:

Das Geheimnis des Waldes.

 

 

Anmerkung:

  1. Fehlendes Wort „war“ ergänzt.